Helden des Olymp 3: Das Zeichen der Athene - Rick Riordan - E-Book
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Helden des Olymp 3: Das Zeichen der Athene E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Mit einem magischen Schiff ins alte Rom: Die Mission der legendären Sieben beginnt! Sieben Halbgötter werden den Olymp vor dem Untergang bewahren – so sagt es die alte Prophezeiung. Als Annabeth und Percy zusammen mit ihren neuen Freunden wieder aufeinandertreffen, scheinen sich diese sieben endlich gefunden zu haben. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Rom, um ihren Auftrag zu erfüllen. Doch die alte Feindschaft zwischen den Nachkommen der griechischen und römischen Götter keimt immer wieder auf.     Helden des Olymp: die Fortsetzung der Jugendbuch-Bestsellerserie 'Percy Jackson'   Nachdem Jason ohne Erinnerung auf einer Klassenfahrt aufwacht, überschlagen sich die Ereignisse: Als Sohn des Jupiter zählt er zu den sieben legendären Halbgöttern, die den Olymp gegen die Urgöttin Gaia und ihre Gefolgschaft verteidigen sollen. Doch nur, wenn sich die römischen und die griechischen Halbgötter zusammenschließen können sie den Kampf gegen Gaia aufnehmen.  "Helden des Olymp" ist eine fünfteilige Fantasy-Buchreihe rund um die jugendlichen Halbgötter Jason, Piper, Leo, Percy, Annabeth, Hazel und Frank. Der spannende Mix aus Action, Witz und Mythologie begeistert Jung und Alt.    ***Griechische Götter in der Gegenwart: actionreich, wild und urkomisch – für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der griechisch-römischen Mythologie***  

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Seitenzahl: 732

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Rick Riordan: Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Sieben Halbgötter werden den Olymp vor dem Untergang bewahren – so sagt es die alte Prophezeiung. Als Annabeth und Percy zusammen mit ihren neuen Freunden wieder aufeinandertreffen, scheinen sich die sieben endlich gefunden zu haben. Mit ihrem Schiff, der Argo II, machen sie sich auf den Weg nach Rom. Aber können sie die alte Feindschaft zwischen den Nachkommen der griechischen und römischen Götter überwinden? Und Annabeth hat noch eine eigene, wenn auch etwas unklare Mission zu erfüllen: »Folge dem Zeichen der Athene«, hat ihre Mutter ihr aufgetragen. Aber was ist das und wohin wird es sie führen?

Alle Bände der »Helden des Olymp«-Serie: Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Helden des Olymp – Das Haus des Hades (Band 4) Helden des Olymp – Das Blut des Olymp (Band 5)

Wohin soll es gehen?

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  Glossar

  Viten

Für SpeedyStromer und Wanderer sind oft von den Göttern geschickt.

 

 

I

Annabeth

Ehe sie auf die explodierende Statue gestoßen war, hatte Annabeth geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein.

Sie war an Deck ihres fliegenden Kriegsschiffes, der Argo II, hin und her gelaufen und hatte immer wieder die Katapulte überprüft, um ganz sicher zu sein, dass sie verriegelt waren. Sie überzeugte sich davon, dass die weiße Wir kommen in friedlicher Absicht-Flagge am Mast wehte. Sie ging den Plan mit der restlichen Mannschaft durch – und den Notfallplan, und den Notfallplan für den Notfallplan.

Wichtiger noch war, dass sie ihren kriegsverrückten Betreuer Trainer Gleeson Hedge beiseitegenommen und ihn überredet hatte, sich einen freien Morgen in seiner Kabine zu gönnen und Wiederholungen von Kampfkunstmeisterschaften anzusehen. Das Letzte, was sie brauchten, während sie mit einer magischen griechischen Triere in ein möglicherweise feindliches römisches Lager flogen, war ein Satyr mittleren Alters im Trainingsanzug, der eine Keule schwang und »sterbt!« brüllte.

Alles schien in Ordnung zu sein. Sogar die unerklärliche Kälte, die sie beim Start verspürt hatte, war verschwunden, für den Moment jedenfalls.

Das Kriegsschiff sank durch die Wolken, aber Annabeth fragte sich noch immer: Was, wenn das hier keine gute Idee war? Was, wenn die Römer in Panik gerieten und sie angriffen, sowie sie sie entdeckt hatten?

Die Argo II sah eindeutig nicht gerade freundlich aus. Fast siebzig Meter lang, mit einem mit Bronze beschlagenen Rumpf, am Bug und am Heck mit mechanischen Armbrüsten bestückt, mit einem flammenden Metalldrachen als Galionsfigur und mittschiffs zwei rotierenden Katapulten, deren explosive Bolzengeschosse sogar Beton durchschlagen konnten … Tja, es war wirklich nicht das passende Fahrzeug für einen Freundschaftsbesuch bei den Nachbarn.

Annabeth hatte versucht, die Römer vorzubereiten. Sie hatte Leo gebeten, eine seiner ganz besonderen Erfindungen zu schicken – eine holographische Schriftrolle –, um ihre Freunde im Camp zu warnen. Hoffentlich war die Botschaft angekommen. Leo hatte eine riesige Mitteilung unter den Rumpf malen wollen – WAS GEHT?, mit einem Smiley daneben –, aber Annabeth hatte ihr Veto eingelegt. Sie war nicht sicher, ob die Römer Humor hatten.

Jetzt war es zu spät zur Umkehr.

Die Wolken um den Rumpf rissen auf und zeigten unter ihnen den goldgrünen Teppich der Oakland Hills. Annabeth packte einen der Bronzeschilde, die steuerbords an der Reling hingen.

Die drei anderen bezogen ebenfalls ihre Plätze.

Leo rannte wie ein Irrer auf dem vorderen Zwischendeck umher und überprüfte Ventile und Hebel. Die meisten hätten sich mit einem Steuerrad oder einer Ruderpinne zufriedengegeben. Aber Leo hatte außerdem eine Tastatur, einen Bildschirm, das Steuerungssystem aus einem Learjet, ein Dubstep-Mischpult und Bewegungskontrollsensoren aus einer Nintendo Wii eingebaut. Er konnte das Schiff lenken, indem er am Schubhebel zog, er konnte Geschütze abfeuern, während er ein Album sampelte, oder die Segel hissen, indem er sehr schnell seine Wii-Controller schüttelte. Selbst für einen Halbgott war Leo enorm hyperaktiv.

Piper lief zwischen dem Hauptmast und den Katapulten hin und her und übte ihren Text.

»Die Waffen nieder«, murmelte sie. »Wir wollen nur reden.«

Ihr Charmesprech war so mächtig, dass die Worte über Annabeth hinwegspülten und ihr das Verlangen einflößten, ihren Dolch fallen zu lassen und in aller Ruhe zu plaudern.

Für ein Kind der Aphrodite gab Piper sich große Mühe, ihre Schönheit zu verbergen. Sie trug zerfetzte Jeans, ausgelatschte Turnschuhe und ein weißes Trägerhemd mit HELLO KITTY-Aufdruck. (Vielleicht war das auch ein Witz, obwohl Annabeth sich bei Piper niemals sicher war.) Ihre ungleichmäßig geschnittenen braunen Haare waren rechts mit einer Adlerfeder geschmückt und zu einem Zopf geflochten.

Dann war da noch Pipers Freund, Jason. Er stand am Bug auf der höher gelegenen Armbrustplattform, wo die Römer ihn mit Leichtigkeit entdecken könnten. Seine Fingerknöchel waren weiß auf dem Griff seines goldenen Schwertes. Ansonsten sah er gelassen aus für jemanden, der sich gerade zur Zielscheibe machte. Über seinen Jeans und seinem orangefarbenen T-Shirt aus Camp Half-Blood trug er eine Toga und einen lila Umhang – Symbole seines alten Ranges als Prätor. Mit seinen vom Wind zerzausten blonden Haaren und den eisblauen Augen sah er auf raue Weise gut und gebieterisch aus – wie es sich für einen Sohn des Jupiter gehörte. Er war in Camp Jupiter aufgewachsen und sein vertrautes Gesicht würde die Römer hoffentlich davon abhalten, das Schiff vom Himmel zu pusten.

Annabeth versuchte, es zu verbergen, aber sie vertraute dem Typen noch immer nicht so ganz. Er verhielt sich zu perfekt – befolgte immer die Vorschriften, tat immer das, was anständig war. Er sah sogar zu perfekt aus. Im Hinterkopf hatte Annabeth einen bohrenden Zweifel: Was, wenn das ein Trick ist und er uns verrät? Was, wenn wir ins Camp Jupiter segeln und er sagt,›He, Römer! Seht euch mal das tolle Schiff und diese Gefangenen an, die ich euch mitgebracht habe!‹

Annabeth bezweifelte, dass das passieren würde. Trotzdem konnte sie Jason nicht ansehen, ohne einen bitteren Geschmack im Mund zu bekommen. Er war ein Teil von Heras erzwungenem »Austauschprogramm« gewesen, um die beiden Lager miteinander bekannt zu machen. Ihre Überaus Nervtötende Majestät, die Königin des Olymp, hatte den anderen Göttern eingeredet, dass die beiden Gruppen von Kindern – römische und griechische – sich zusammentun müssten, um die Welt vor der bösen Göttin Gaia, die aus der Erde erwachte, und ihren grauenhaften Kindern, den Giganten, zu retten.

Ohne Vorwarnung hatte Hera sich Annabeths Freund Percy Jackson geschnappt, seine Erinnerungen ausgelöscht und ihn ins römische Lager gesteckt. Im Austausch hatten die Griechen Jason bekommen. Nichts davon war Jasons Schuld, aber immer wenn Annabeth ihn ansah, wurde sie daran erinnert, wie sehr Percy ihr gefehlt hatte.

Percy … der jetzt irgendwo unter ihnen war.

O, Götter! Panik wogte in ihr auf und sie kämpfte dagegen an. Sie durfte sich jetzt nicht gehenlassen.

Ich bin ein Kind der Athene, sagte sie sich. Ich muss mich auf meinen Plan konzentrieren und darf mich nicht ablenken lassen.

Sie spürte es wieder – dieses vertraute Zittern, als ob ein psychotischer Schneemann hinter sie geschlichen wäre und ihr in den Nacken hauchte. Sie drehte sich um, aber da war niemand.

Sicher ihre Nerven. Nicht einmal in einer Welt der Gottheiten und Monster konnte Annabeth sich vorstellen, dass es auf einem neuen Kriegsschiff spukte. Die Argo II war gut geschützt. Die Schilde aus Himmlischer Bronze an der Reling waren besprochen worden, um Monster abzuwehren, und der schiffseigene Satyr, Trainer Hedge, würde jeden Eindringling wittern.

Annabeth wünschte, sie könnte ihre Mutter um Rat bitten, aber das war im Moment nicht möglich. Nicht nachdem sie im vergangenen Monat diese entsetzliche Begegnung mit ihrer Mom gehabt und das schlimmste Geschenk ihres Lebens erhalten hatte …

Die Kälte drängte sich noch näher an sie heran. Sie glaubte, im Wind eine leise Stimme lachen zu hören. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Irgendetwas würde gleich furchtbar schiefgehen.

Fast hätte sie Leo befohlen, den Kurs zu ändern. Dann erklangen unten im Tal Hörner. Die Römer hatten sie entdeckt.

Annabeth glaubte zu wissen, was sie erwartete. Jason hatte ihr Camp Jupiter in allen Einzelheiten beschrieben. Trotzdem konnte sie ihren Augen kaum trauen. Das von den Oakland Hills umgebene Tal war fast doppelt so groß wie Camp Half-Blood. Ein kleiner Fluss schlängelte sich an der einen Seite vorbei und bog sich zur Mitte hin zu einem großen G, um dann in einen blitzblauen See zu münden.

Gleich unter dem Schiff, am Ufer des Sees, funkelte die Stadt Neu-Rom im Sonnenlicht. Sie erkannte die Wahrzeichen, die Jason ihr geschildert hatte – das Hippodrom, das Kolosseum, die Tempel und Grünanlagen, das Wohnviertel Seven Hills mit seinen verwinkelten Straßen, bunten Villen und blühenden Gärten.

Sie sah die Spuren der kürzlich stattgefundenen Schlacht der Römer gegen eine Armee aus Monstern. Die Kuppel eines Hauses, das sie für das Senatsgebäude hielt, war eingestürzt. Das riesige Forum war von Kratern durchsetzt. Etliche Springbrunnen und Statuen waren nur noch Trümmer.

Dutzende von Jugendlichen in Togen strömten aus dem Senatsgebäude, um die Argo II in Augenschein zu nehmen. Weitere Römer kamen aus Läden und Cafés, glotzten und zeigten auf das sich senkende Schiff.

Einen knappen Kilometer weiter im Westen, wo die Hörner erklangen, ragte auf einem Hügel eine römische Festung auf. Sie sah genau aus wie die Illustrationen, die Annabeth aus Büchern über Militärgeschichte kannte: ein mit Metallstacheln besetzter Verteidigungsgraben, hohe Mauern und Wachttürme mit Katapulten. In der Festung säumten perfekte Reihen aus weißen Baracken die Hauptstraße – die Via Principalis.

Eine Kolonne aus Halbgöttern kam aus dem Tor, ihre Rüstungen und Speere funkelten, als sie in Richtung Stadt liefen. Mitten in der Truppe gab es einen echten Kriegselefanten.

Annabeth wollte die Argo II landen lassen, ehe die Soldaten eintrafen, aber der Boden lag noch immer über hundert Meter unter ihnen. Sie suchte die Menge ab und hoffte, dabei Percy zu entdecken.

Dann machte etwas hinter ihr BUMM!

Die Explosion hätte sie fast über Bord geworfen. Sie wirbelte herum und fand sich einer wütenden Statue gegenüber wieder.

»Inakzeptabel!«, schrie das Standbild.

Offenbar war es hier auf Deck ins Dasein explodiert. Schwefelgelber Rauch hob sich von seinen Schultern. Asche stob um seine Locken auf. Unterhalb der Gürtellinie war es nur ein viereckiger Marmorsockel, oberhalb ein muskulöser Mann in einer gemeißelten Toga.

»Ich dulde innerhalb der Demarkationslinie keine Waffen!«, verkündete er mit der Stimme eines pingeligen Lehrers. »Und Griechen dulde ich schon gar nicht.«

Jason warf Annabeth einen Blick zu, der sagte: Überlass das mir.

»Terminus«, sagte er. »Ich bin’s. Jason Grace.«

»Ach, an dich erinnere ich mich, Jason«, knurrte Terminus. »Ich hätte dich für gescheiter gehalten, als dich mit den Feinden Roms einzulassen.«

»Aber das sind keine Feinde …«

»Stimmt«, schaltete sich Piper ein. »Wir wollen nur reden. Wenn du bitte erlaubst …«

»Ha«, fauchte die Statue. »Komm mir ja nicht mit deinem Charmesprech, junge Dame. Und leg diesen Dolch weg, ehe ich ihn dir aus der Hand schlage!«

Piper warf einen Blick auf ihren Bronzedolch, offenbar hatte sie vergessen, dass sie ihn in der Hand hielt. »Äh … na gut. Aber wie willst du mich denn schlagen? Du hast doch keine Arme!«

»Unverschämtheit!« Ein scharfes POP war zu hören und ein gelber Blitz leuchtete auf. Piper wimmerte und ließ den Dolch fallen, der jetzt dampfte und Funken sprühte.

»Dein Glück, dass ich gerade erst eine Schlacht hinter mir habe«, verkündete Terminus. »Wenn ich im Vollbesitz meiner Kräfte wäre, hätte ich diese fliegende Monstrosität schon vom Himmel geholt.«

»Moment mal.« Leo trat vor und schwenkte seinen Wii-Controller. »Hast du mein Schiff als Monstrosität bezeichnet? Ich bin mir sicher, dass du das nicht getan hast.«

Die Vorstellung, Leo könnte die Statue mit seinem Spielzeug angreifen, reichte, um Annabeth aus ihrem Schock zu reißen.

»Jetzt alle mal ganz ruhig.« Sie hob die Hände, um zu zeigen, dass sie keine Waffen hatte. »Ich vermute, du bist Terminus, der Gott der Grenzen. Jason hat mir erzählt, dass du die Stadt Neu-Rom beschützt, richtig? Ich bin Annabeth Chase, Tochter der …«

»Oh, ich weiß, wer du bist.« Die Statue starrte sie aus blanken weißen Augen wütend an. »Ein Kind der Athene, Minervas griechischer Ausgabe. Skandalös! Ihr Griechen habt kein Gefühl für Anstand. Wir Römer wissen, welcher Platz dieser Göttin zukommt.«

Annabeth biss die Zähne zusammen. Die Statue machte es ihr nicht leicht, diplomatisch zu sein. »Wie genau ist das zu verstehen, diese Göttin? Und was ist so skandalös an …«

»Genau!«, fiel Jason ihr ins Wort. »Jedenfalls, Terminus, sind wir in friedlicher Absicht gekommen. Wir bitten um Landegenehmigung, damit wir …«

»Unmöglich!«, quiekte der Gott. »Legt eure Waffen nieder und ergebt euch. Und verlasst augenblicklich meine Stadt.«

»Also was jetzt?«, fragte Leo. »Ergeben oder verlassen?«

»Beides!«, sagte Terminus. »Ergeben, dann verlassen. Ich hau dir eine runter für diese alberne Frage, du lächerlicher Knabe. Merkst du das?«

»Mannomann.« Leo musterte Terminus mit beruflichem Interesse. »Du bist ja ziemlich überdreht. Hast du irgendwelche Federn, die überspannt sind? Ich könnte mal nachsehen.«

Er ersetzte den Wii-Controller durch einen Schraubenzieher aus seinem magischen Werkzeuggürtel und klopfte gegen den Sockel der Statue.

»Aufhören!«, befahl Terminus. Eine weitere kleine Explosion sorgte dafür, dass Leo den Schraubenzieher fallen ließ. »Innerhalb der Demarkationslinie sind auf römischem Boden Waffen nicht gestattet.«

»Der was?«, fragte Piper.

»Stadtgrenze«, übersetzte Jason.

»Und dieses ganze Schiff ist eine Waffe«, sagte Terminus. »Ihr dürft nicht landen.«

Unten im Tal hatten die Verstärkungstruppen die Hälfte des Weges zur Stadt hinter sich gebracht. Die Menge auf dem Forum zählte jetzt über hundert Menschen. Annabeth musterte die Gesichter und … o Götter, da war er. Er kam auf das Schiff zu und hatte die Arme um zwei andere Jugendliche gelegt, als ob die seine besten Freunde wären – ein kräftiger Junge mit kurz geschorenen schwarzen Haaren und ein Mädchen mit einem römischen Kavalleriehelm. Percy sah so entspannt aus, so glücklich. Er trug einen lila Umhang, genau wie Jason – das Zeichen eines Prätors.

Annabeths Herz vollführte eine Turnübung.

»Leo, Schiff anhalten«, befahl sie.

»Was?«

»Du hast mich gehört. Lass uns genau hier bleiben.«

Leo zog seine Fernbedienung heraus und riss sie nach oben. Alle neunzig Ruder erstarrten mitten in der Bewegung. Das Schiff senkte sich nicht mehr.

»Terminus«, sagte Annabeth. »Es gibt doch keine Regel, die es untersagt, über Neu-Rom zu schweben, oder?«

Die Statue runzelte die Stirn. »Na ja, das nicht …«

»Wir können das Schiff hier oben halten«, sagte Annabeth. »Dann nehmen wir eine Strickleiter, um aufs Forum zu gelangen. Auf diese Weise berührt das Schiff nicht den römischen Boden. Technisch gesehen.«

Die Statue schien darüber nachzudenken. Annabeth fragte sich, ob Terminus sich wohl mit imaginären Händen am Kinn kratzte.

»Technisch gesehen stimmt das«, gab er zu. »Trotzdem …«

»Alle unsere Waffen werden an Bord bleiben«, versprach Annabeth. »Ich vermute, die Römer – und sogar die Verstärkung, die da auf uns zumarschiert – müssen sich ebenfalls an eure Regeln innerhalb der Demarkationslinie halten, wenn du ihnen das befiehlst?«

»Natürlich«, sagte Terminus. »Sehe ich aus, als ob ich Regelbrecher duldete?«

»Äh, Annabeth«, fragte Leo, »bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Sie ballte die Fäuste, um ihre Hände am Zittern zu hindern. Das kalte Gefühl war noch immer da. Es schwebte hinter ihr her, und jetzt, da Terminus nicht mehr herumbrüllte oder Explosionen auslöste, glaubte sie, dieses Etwas lachen zu hören vor Freude über die falschen Entscheidungen, die sie hier traf.

Aber Percy war dort unten … Er war so nah. Sie musste zu ihm.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte sie. »Niemand wird bewaffnet sein. Wir können friedlich miteinander reden. Terminus wird dafür sorgen, dass beide Seiten sich an die Regeln halten.« Sie sah die Marmorstatue an. »Ist das abgemacht?«

Terminus schnaubte. »Bis auf weiteres. Du kannst deine Strickleiter nach Neu-Rom hinabsteigen, Tochter der Athene. Bitte versuche meine Stadt nicht zu zerstören.«

II

Annabeth

Ein Meer aus eilig zusammengeströmten Halbgöttern teilte sich für Annabeth, als sie über das Forum ging. Manche sahen angespannt aus, andere nervös. Einige trugen von der Schlacht gegen die Giganten noch Verbände, aber keiner war bewaffnet. Keiner griff sie an.

Ganze Familien hatten sich eingefunden, um die Neuankömmlinge zu bestaunen. Annabeth sah Paare mit Babys, kleine Kinder, die sich an die Beine ihrer Eltern klammerten, sogar einige ältere Leute in einer Mischung aus römischen Gewändern und moderner Kleidung. Waren das alles Halbgötter? Annabeth ging davon aus, auch wenn sie noch nie einen solchen Ort gesehen hatte. Im Camp Half-Blood waren die meisten Halbgötter im Teenageralter. Wenn sie lange genug überlebten, um die Highschool zu beenden, blieben sie entweder als Betreuer da oder versuchten, so gut wie möglich in der Welt der Sterblichen zu überleben. Hier dagegen gab es eine ganze Gemeinschaft aus vielen Generationen.

Ganz hinten in der Menge entdeckte Annabeth Tyson, den Zyklopen, und Percys Höllenhund Mrs O’Leary – der als Erster aus den von Camp Half-Blood ausgesandten Suchmannschaften in Camp Jupiter eingetroffen war. Sie schienen beide guter Laune zu sein. Tyson winkte ihr zu und grinste. Er hatte sich ein SPQR-Banner umgebunden wie ein riesiges Schlabberlätzchen.

Ein Teil von Annabeths Gehirn registrierte die Schönheit der Stadt – den Duft der Bäckereien, die plätschernden Springbrunnen, die blühenden Blumen in den Gärten. Und die Architektur – o Götter, die Architektur: vergoldete Marmorsäulen, blendende Mosaike, monumentale Bögen und Villen mit Terrassen.

Vor ihr machten die Halbgötter einem Mädchen in voller römischer Rüstung und mit einem lilafarbenen Umhang Platz. Dunkle Haare fielen ihr über die Schultern. Ihre Augen waren schwarz wie Obsidian.

Reyna.

Jason hatte sie gut beschrieben. Aber auch ohne diese Beschreibung hätte Annabeth sie als die Anführerin erkannt. Sie strahlte ein solches Selbstvertrauen aus, dass die anderen Halbgötter zurückwichen und ihren Blick abwandten.

Annabeth erkannte noch etwas in ihrem Gesicht – die fest zusammengepressten Zähne und die Art, wie sie ihr Kinn hob, als sei sie bereit, jegliche Herausforderung anzunehmen. Reyna zwang sich dazu, mutig auszusehen, während sie eine Mischung aus Hoffnung und Sorge und Angst unterdrückte, die sie in der Öffentlichkeit nicht zeigen durfte.

Annabeth kannte diesen Ausdruck. Sie sah ihn jedes Mal, wenn sie in einen Spiegel schaute.

Die beiden Mädchen musterten einander. Annabeths Freunde verteilten sich auf ihren Seiten. Die Römer murmelten Jasons Namen und starrten ihn voller Ehrfurcht an.

Dann tauchte aus der Menge noch jemand auf und Annabeths Blickfeld wurde ganz schmal.

Percy lächelte sie an – dieses sarkastische, provozierende Grinsen, das sie jahrelang genervt hatte, das sie aber am Ende lieben gelernt hatte. Seine meergrünen Augen waren so wunderbar wie in ihrer Erinnerung. Seine dunklen Haare waren zur Seite geweht, als ob er gerade von einem Strandspaziergang zurückkäme. Er sah noch besser aus als vor sechs Monaten – brauner und größer, schlanker und muskulöser.

Annabeth war zu verblüfft, um sich zu bewegen. Sie hatte das Gefühl, alle Moleküle in ihrem Körper müssten bersten, wenn sie dichter an ihn heranträte. Sie hatte sich schon mit zwölf Jahren heimlich in ihn verliebt. Im vergangenen Sommer war es dann richtig ernst geworden. Vier Monate lang waren sie ein glückliches Paar gewesen – und dann war er verschwunden.

Während dieser Trennung war mit Annabeths Gefühlen etwas passiert. Sie waren schmerzlich intensiv geworden – als ob sie gezwungen worden wäre, eine lebensrettende Medizin abzusetzen. Jetzt wusste sie nicht so recht, was quälender war – mit dieser entsetzlichen Sehnsucht zu leben oder wieder mit Percy zusammen zu sein.

Reyna, die Prätorin, richtete sich gerade auf. Mit sichtlichem Widerstreben wandte sie sich Jason zu.

»Jason Grace, mein ehemaliger Kollege …« Sie sprach das Wort Kollege aus wie eine Beleidigung. »Willkommen daheim. Und deine Freunde hier …«

Annabeth wollte es gar nicht, aber sie stürzte vorwärts. Percy kam ihr im selben Moment entgegen. Die Menge erstarrte. Einige griffen nach ihren nicht vorhandenen Schwertern.

Percy schlang seine Arme um sie. Sie küssten sich und für einen Moment spielte nichts anderes mehr eine Rolle. Ein Asteroide hätte die Erde treffen und alles Leben auslöschen können, und Annabeth wäre es egal gewesen.

Percy roch nach Meeresluft. Seine Lippen waren salzig.

Algenhirn, dachte sie verwirrt.

Percy wich zurück und musterte ihr Gesicht. »O Götter, ich hätte nie gedacht …«

Annabeth packte sein Handgelenk und warf ihn über ihre Schulter. Er knallte auf das steinerne Pflaster. Die Römer schrien auf. Einige kamen näher, aber Reyna rief: »Halt! Zurückbleiben!«

Annabeth stemmte Percy ihr Knie auf die Brust. Sie drückte mit dem Unterarm auf seine Kehle. Ein weiß glühender Ball aus Wut wurde in ihrer Brust immer größer – eine Wucherung aus Sorge und Verbitterung, die sie seit dem vergangenen Herbst mit sich herumgeschleppt hatte.

»Wenn du mich je wieder verlässt«, sagte sie und ihre Augen brannten, »dann schwöre ich bei allen Göttern …«

Percy war frech genug, zu lachen. Plötzlich schmolz der Ball aus erhitzten Gefühlen in Annabeth.

»Ich betrachte das als Warnung«, sagte Percy. »Du hast mir auch gefehlt.«

Annabeth erhob sich und half ihm auf die Beine. Sie hätte ihn sooo gern wieder geküsst, konnte sich aber beherrschen.

Jason räusperte sich. »Also ja … schön, wieder hier zu sein.«

Er stellte Reyna Piper vor, die ein wenig sauer wirkte, weil sie ihren eingeübten Text nicht hatte aufsagen können, und dann Leo, der grinste und das Peace-Zeichen machte.

»Und das ist Annabeth«, sagte Jason. »Äh, normalerweise legt sie die Leute nicht mit Judogriffen aufs Kreuz.«

Reynas Augen sprühten Funken. »Bist du sicher, dass du keine Römerin bist, Annabeth? Oder Amazone?«

Annabeth wusste nicht, ob das ein Kompliment sein sollte, aber sie streckte die Hand aus. »Ich mache das nur mit meinem Freund«, versprach sie. »Schön, dich kennenzulernen.«

Reyna schüttelte ihr energisch die Hand. »Offenbar haben wir eine Menge zu besprechen. Zenturionen!«

Einige Römer aus dem Camp traten vor – offenbar die rangoberen Offiziere. Zwei Jugendliche stellten sich neben Percy, dieselben, die Annabeth schon vorher mit ihm herumkumpeln gesehen hatte. Der bullige Asiate mit den kurz geschorenen Haaren war um die fünfzehn. Er war niedlich auf eine überdimensionale Pandabärenkuschelige-Art. Das Mädchen war jünger, vielleicht dreizehn, mit bernsteinfarbenen Augen, schokoladenbrauner Haut und langen lockigen Haaren. Ihr Kavalleriehelm klemmte unter ihrem Arm.

Annabeth konnte der Körpersprache der beiden entnehmen, dass sie Percy nahestanden. Sie hielten sich beschützerisch in seiner Nähe, als ob sie bereits viele Abenteuer geteilt hätten. Annabeth musste einen Moment ihre Eifersucht unterdrücken. War es möglich, dass Percy und dieses Mädchen … Nein. Die Chemie zwischen diesen dreien war anders. Annabeth hatte ihr Leben lang gelernt, Menschen einzuschätzen. Sie brauchte das zum Überleben. Ihrer Einschätzung nach war der große Asiate der Freund des Mädchens, auch wenn sie annahm, dass die beiden noch nicht lange zusammen waren.

Eins aber begriff sie nicht: Warum starrte das Mädchen immer wieder stirnrunzelnd zu Piper und Leo hinüber? Es war, als ob sie ihr bekannt vorkämen und die Erinnerung wehtäte.

Inzwischen erteilte Reyna ihren Offizieren Befehle. »… sag der Legion, sie soll wegtreten. Dakota, sag den Küchengeistern Bescheid. Sie sollen ein Willkommensfest vorbereiten. Und, Octavian …«

»Du willst diese Eindringlinge ins Camp lassen?« Ein großer Typ mit strähnigen blonden Haaren drängte sich zu Reyna durch. »Reyna, das Sicherheitsrisiko …«

»Wir lassen sie nicht ins Camp, Octavian«, Reyna warf ihm einen strengen Blick zu. »Wir essen hier, auf dem Forum.«

»Na, das ist ja deutlich besser«, knurrte Octavian. Er schien der Einzige zu sein, der Reyna nicht als überlegen anerkannte, trotz der Tatsache, dass er mager und bleich war und aus irgendeinem Grund drei Teddybären an seinem Gürtel hängen hatte. »Du willst also, dass wir im Schatten ihres Kriegsschiffes feiern.«

»Sie sind unsere Gäste«, Reyna spuckte jedes Wort aus. »Wir werden sie willkommen heißen und wir werden mit ihnen reden. Als Augur solltest du eine Opfergabe verbrennen, um den Göttern dafür zu danken, dass sie Jason heil zu uns zurückgebracht haben.«

»Gute Idee«, schaltete sich Percy ein. »Geh und verbrenn deine Teddys, Octavian.«

Reyna schien ein Lächeln zu unterdrücken. »Ihr habt meine Befehle gehört. Also los.«

Die Offiziere verschwanden. Octavian sah Percy hasserfüllt an. Dann musterte er Annabeth misstrauisch von Kopf bis Fuß und stakste davon.

Percys Hand schob sich in Annabeths. »Mach dir keine Sorgen wegen Octavian«, sagte er. »Die meisten Römer sind in Ordnung – wie Frank und Hazel hier und Reyna. Das wird schon.«

Annabeth hatte das Gefühl, als hätte jemand einen kalten Waschlappen in ihren Rücken geklatscht. Sie hörte wieder dieses wispernde Lachen, als ob das Wesen ihr vom Schiff her gefolgt wäre.

Sie sah zur Argo II hoch. Der massive Bronzerumpf funkelte im Sonnenlicht. Ein Teil von ihr hätte Percy am liebsten sofort entführt, um mit ihm an Bord zu klettern und zu verschwinden, solange das noch möglich war.

Sie konnte das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde, einfach nicht abschütteln. Und nie im Leben würde sie riskieren, Percy noch einmal zu verlieren.

»Das wird schon«, wiederholte sie und versuchte, es zu glauben.

»Hervorragend«, sagte Reyna. Sie wandte sich Jason zu und Annabeth glaubte, in ihren Augen eine Art hungriges Funkeln zu erkennen. »Also, reden wir, und dann können wir richtig Wiedersehen feiern.«

III

Annabeth

Annabeth wünschte, sie hätte Appetit, denn die Römer wussten wirklich, was gutes Essen ist.

Ruheliegen und niedrige Tische wurden aufs Forum gebracht, bis es aussah wie ein Möbelladen. Römer lungerten in Gruppen von zehn oder zwanzig herum, redeten und lachten, während Windgeister – Aurae – über ihnen umherwirbelten und endlose Mengen von Pizzen, belegten Broten, Pommes, Limonade und frisch gebackenen Plätzchen brachten. Violette Geister – Laren – in Toga und Legionärsrüstung schwebten durch die Menge. Und am Rand der Feiernden trotteten Satyrn (nein, Faune, dachte Annabeth) von Tisch zu Tisch und bettelten um Essen und Kleingeld. Auf den Wiesen in der Nähe tobte der Kriegselefant mit Mrs O’Leary herum und Kinder spielten Fangen an den Statuen des Terminus, die die Stadtgrenzen kennzeichneten.

Der ganze Anblick war so vertraut und doch so total fremd, dass es Annabeth dabei schwindlig wurde.

Sie wollte doch nur mit Percy zusammen sein – am liebsten allein. Aber sie wusste, sie würde warten müssen. Wenn ihr Einsatz ein Erfolg werden sollte, brauchten sie diese Römer, und das bedeutete, dass sie sie kennenlernen und ihr Vertrauen gewinnen mussten.

Reyna und einige ihrer Offiziere (auch dieser blonde Junge, Octavian, der wieder da war, nachdem er für die Götter einen Teddybären verbrannt hatte) saßen bei Annabeth und ihren Freunden. Percy schloss sich ihnen mit seinen beiden neuen Vertrauten, Frank und Hazel, an.

Während ein Tornado aus Schüsseln auf dem Tisch eintraf, beugte Percy sich vor und flüsterte: »Ich möchte dir Neu-Rom zeigen. Nur du und ich. Diese Stadt ist unglaublich.«

Annabeth hätte eigentlich glücklich sein müssen. Nur du und ich, genau das wollte sie doch auch. Aber ihre Kehle schnürte sich vor Ärger zusammen. Wie konnte Percy so begeistert über dieses Lager reden? Was war mit Camp Half-Blood – ihrem Lager, ihrem Zuhause?

Sie versuchte, die neuen Zeichen auf Percys Arm nicht anzustarren: ein eintätowiertes SPQR, wie Jason es hatte. Im Camp Half-Blood bekamen die Halbgötter Holzperlen für jedes Jahr des Trainings. Hier brannten die Römer ihnen Tätowierungen ins Fleisch, wie um zu sagen: Du gehörst zu uns. Für immer.

Sie schluckte einen bissigen Kommentar hinunter. »Klar. Sicher.«

»Ich hab mir was überlegt«, sagte er nervös. »Ich hätte da so eine Idee …«

Er verstummte, als Reyna auf die Freundschaft anstoßen wollte.

Nachdem sich alle vorgestellt hatten, begannen die Römer und Annabeths Mannschaft, Geschichten auszutauschen. Jason erzählte, wie er ohne Gedächtnis in Camp Half-Blood eingetroffen war und dann mit Leo und Piper losgezogen war, um die Göttin Hera (oder Juno – ob griechisch oder römisch, nervig war sie immer) aus ihrer Gefangenschaft im Wolfshaus in Nordkalifornien zu retten.

»Unmöglich«, schaltete sich Octavian ein. »Das ist unsere heiligste Stätte. Wenn die Giganten dort eine Göttin gefangen gehalten hätten …«

»Sie hätten sie vernichtet«, sagte Piper. »Und die Schuld den Griechen zugeschoben und einen Krieg zwischen beiden Camps ausgelöst. Jetzt sei still und lass Jason ausreden.«

Octavian öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Annabeth war hingerissen von Pipers Charmesprech. Sie bemerkte, wie Reynas Blicke zwischen Jason und Piper hin und her wanderten und wie sie die Stirn runzelte, als ob ihr jetzt erst aufginge, dass die beiden ein Paar waren.

»Also«, sagte Jason. »So haben wir von der Erdgöttin Gaia erfahren. Sie liegt noch immer im Halbschlaf, aber sie ist diejenige, die die Monster aus dem Tartarus befreit und die Riesen herbeiruft. Porphyrion, dieser große Trottel von Anführer, den wir beim Wolfshaus bekämpft haben, der hat gesagt, er wolle sich in die Alte Welt zurückziehen – also nach Griechenland. Er will Gaia aufwecken und die Götter vernichten, indem er … Wie hat er das noch genannt? … sie mit der Wurzel ausrottet.«

Percy nickte nachdenklich. »Gaia war auch hier am Werk. Wir hatten schon selbst eine Begegnung mit Königin Lehmgesicht.«

Percy erzählte seinen Teil der Geschichte. Er erzählte, wie er im Wolfshaus aufgewacht war, ohne irgendeine Erinnerung außer an einen Namen – Annabeth.

Als sie das hörte, musste Annabeth sich alle Mühe geben, um nicht in Tränen auszubrechen. Percy erzählte ihnen, wie er mit Frank und Hazel nach Alaska gereist war – wie sie den Riesen Alcyoneus besiegt und den Todesgott Thanatos befreit hatten und dann mit dem verlorenen goldenen Adler des römischen Lagers zurückgekehrt waren, um einen Angriff der Riesen zurückzuschlagen.

Als Percy fertig war, stieß Jason einen bewundernden Pfiff aus. »Kein Wunder, dass sie dich zum Prätor gewählt haben.«

Octavian schnaubte. »Was bedeutet, dass wir jetzt drei Prätoren haben. Aber die Vorschriften sagen deutlich, dass es nur zwei geben darf.«

»Die gute Nachricht«, sagte Percy, »ist, dass Jason und ich beide einen höheren Rang innehaben als du. Also dürfen wir dir beide befehlen, die Klappe zu halten.«

Octavian wurde so lila wie ein römisches T-Shirt. Jason schlug mit seiner Faust gegen Percys.

Sogar Reyna brachte ein Lächeln zu Stande, obwohl ihre Augen düster dreinblickten.

»Wir werden das Problem des überzähligen Prätors später klären«, sagte sie. »Im Moment haben wir dringlichere Themen.«

»Ich trete gern für Jason zurück«, sagte Percy. »Ist doch nicht der Rede wert.«

»Nicht der Rede wert?« Octavian hätte sich fast verschluckt. »Das römische Prätorenamt nicht der Rede wert?«

Percy achtete nicht auf ihn, sondern wandte sich Jason zu. »Du bist der Bruder von Thalia Grace, oder? Ihr habt aber überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.«

»Ja, ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Jason. »Egal, danke, dass du meinem Camp geholfen hast, während ich unterwegs war. Du hast verdammt viel geleistet.«

»Danke, gleichfalls«, sagte Percy.

Annabeth versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Sie störte ja nur ungern eine beginnende Romanze, aber Reyna hatte Recht: Sie hatten dringlichere Dinge zu besprechen. »Wir wollten über die Große Weissagung reden. Die Römer scheinen die ja auch zu kennen.«

Reyna nickte. »Wir nennen sie die Weissagung der Sieben. Octavian, weißt du sie auswendig?«

»Natürlich«, sagte er. »Aber, Reyna …«

»Dann sag sie bitte auf. Auf Englisch, nicht auf Latein.«

Octavian seufzte. »Dem Ruf werden folgen der Halbblute sieben. Die Welt wird sterben in Sturm oder Feuer …«

»Ein letzter Atem ist zur Erfüllung des Eides geblieben«, fügte Annabeth hinzu. »Und der Feind trägt Waffen zu des Todes Gemäuer.«

Alle starrten sie an – außer Leo, der aus der Alufolie, in der Tacos gewesen waren, eine Windmühle konstruiert hatte und sie den vorüberhuschenden Windgeistern in den Weg hielt.

Annabeth wusste nicht, warum ihr diese Zeilen der Weissagung herausgerutscht waren. Sie hatte einfach nicht anders gekonnt.

Der große Junge, Frank, starrte sie voller Faszination an. »Bist du wirklich ein Kind der Min… ich meine, der Athene?«

»Ja«, sagte Annabeth und fühlte sich plötzlich angegriffen. »Wieso überrascht dich das so?«

Octavian schnaubte verächtlich. »Wenn du wirklich ein Kind der Göttin der Weisheit bist …«

»Das reicht jetzt«, fauchte Reyna. »Annabeth ist, was sie sagt. Sie ist in Frieden gekommen. Außerdem …« Sie bedachte Annabeth mit einem Blick voll widerstrebendem Respekt. »Percy hat nur Gutes über dich gesagt.«

Annabeth konnte die Untertöne in Reynas Stimme nicht sofort entschlüsseln. Percy schlug die Augen nieder und interessierte sich plötzlich sehr für seinen Cheeseburger.

Annabeths Gesicht glühte. O Götter … Reyna hatte ihr Glück bei Percy versucht. Das erklärte den Beiklang von Verbitterung, vielleicht sogar von Neid in ihren Worten. Percy hatte Annabeth ihr vorgezogen.

In diesem Moment verzieh Annabeth ihrem albernen Liebsten alles, was er jemals angerichtet hatte. Sie hätte ihn so gern umarmt, befahl sich aber, ruhig zu bleiben.

»Äh, danke«, sagte sie zu Reyna. »Jedenfalls wird jetzt ein Teil der Weissagung klar. Die Feinde, die Waffen zu des Todes Gemäuer tragen … das sind Römer und Griechen. Wir müssen uns zusammentun, um das Tor in diesem Gemäuer zu finden.«

Hazel, das Mädchen mit dem Kavalleriehelm und den langen lockigen Haaren, hob etwas auf, das neben ihrem Teller gelegen hatte. Es sah aus wie ein riesiger Rubin, aber ehe Annabeth es genauer ansehen konnte, ließ Hazel es in der Tasche ihres Jeanshemdes verschwinden.

»Mein Bruder Nico hat sich auf die Suche danach gemacht«, sagte sie.

»Warte mal«, sagte Annabeth. »Nico di Angelo? Der ist dein Bruder?«

Hazel nickte, als ob das selbstverständlich wäre. Ein Dutzend weitere Fragen wirbelte Annabeth durch den Kopf, aber darin drehte sich ohnehin schon alles so wie Leos Windmühle. Sie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Okay. Und weiter?«

»Er ist verschwunden«, Hazel feuchtete sich die Lippen an. »Ich fürchte … Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, ihm ist etwas zugestoßen.«

»Wir werden ihn suchen«, versprach Percy. »Wir müssen ja ohnehin die Tore des Todes ausfindig machen. Thanatos hat uns gesagt, dass wir beide Antworten in Rom finden – dem eigentlichen Rom. Das liegt doch auf dem Weg nach Griechenland, oder?«

»Das hat Thanatos euch gesagt?« Annabeth versuchte, sich mit dieser Vorstellung anzufreunden. »Der Todesgott?«

Ihr waren schon viele Götter begegnet. Sie war sogar in der Unterwelt gewesen, aber Percys Bericht, wie sie den Inbegriff des Todes befreit hatten, verpasste ihr eine Gänsehaut.

Percy biss in seinen Burger. »Jetzt, da der Tod frei ist, werden Monster wieder zerfallen und in den Tartarus zurückkehren, so wie früher. Aber solange die Tore des Todes offen stehen, werden sie immer wieder zurückkommen.«

Piper spielte an der Feder in ihren Haaren. »Wie Wasser, das durch einen Damm sickert«, sagte sie.

»Ja«, sagte Percy. »Wir haben ein ver-Damm-tes Problem.«

»Was?«, fragte Piper.

»Nichts«, sagte er. »Insiderwitz. Entscheidend ist, dass wir die Tore finden und schließen müssen, ehe wir nach Griechenland aufbrechen können. Das ist unsere einzige Chance, die Giganten zu besiegen und dafür zu sorgen, dass sie auch besiegt bleiben.«

Reyna nahm sich einen Apfel aus einer vorüberschwebenden Obstschale. Sie drehte ihn in ihren Fingern und betrachtete die dunkelrote Oberfläche. »Ihr wollt mit eurem Kriegsschiff nach Griechenland fahren? Euch ist doch klar, dass die Alte Welt – und das Mare Nostrum – gefährlich sind?«

»Was für ein Mare Monster?«, fragte Leo.

»Das Mare Nostrum«, erklärte Jason. »Unser Meer. So haben die alten Römer das Mittelmeer genannt.«

Reyna nickte. »Das Gebiet, das einst das Römische Reich war, ist nicht nur der Geburtsort der Götter. Es ist auch die ursprüngliche Heimat der Monster, Titanen und Riesen … und noch schlimmerer Dinge. Reisen für Halbgötter ist hier in Amerika schon gefährlich genug, aber dort ist es noch zehnmal schlimmer.«

»Du hast auch gesagt, Alaska wäre schlimm«, sagte Percy mahnend. »Und das haben wir überlebt.«

Reyna schüttelte den Kopf. Ihre Fingernägel bohrten kleine Halbmonde in den Apfel, als sie ihn umdrehte. »Percy, eine Reise auf dem Mittelmeer ist eine ganz andere Liga. Es war für römische Halbgötter viele Jahrhunderte lang verbotenes Terrain. Kein Held, der bei klarem Verstand ist, würde sich dort blickenlassen.«

»Dann sind wir genau die Richtigen«, Leo grinste über seine Windmühle hinweg. »Denn wir sind doch alle verrückt, oder? Außerdem ist die Argo II ein supertolles Kriegsschiff. Sie wird uns da rausholen.«

»Wir müssen uns beeilen«, fügte Jason hinzu. »Ich weiß nicht genau, was die Giganten vorhaben, aber Gaia kommt immer mehr zu sich. Sie dringt in Träume ein, erscheint an seltsamen Orten, ruft immer mächtigere Ungeheuer zusammen. Wir müssen die Giganten stoppen, ehe sie sie vollständig aufwecken.«

Annabeth bekam eine Gänsehaut. Sie hatte in letzter Zeit schon genug eigene Albträume.

»Dem Ruf werden folgen der Halbblute sieben«, sagte sie. »Und sie müssen aus beiden Camps kommen. Jason, Piper, Leo und ich. Das sind vier.«

»Und ich«, sagte Percy. »Dazu Hazel und Frank. Macht sieben.«

»Was?« Octavian sprang von seiner Liege. »Das sollen wir einfach so hinnehmen? Ohne Abstimmung im Senat? Ohne richtige Diskussion? Ohne …«

»Percy!« Tyson, der Zyklop, kam dicht gefolgt von Mrs O’Leary auf sie zugesprungen. Auf dem Rücken des Höllenhundes saß die magerste Harpyie, die Annabeth jemals gesehen hatte – ein kränklich aussehendes Mädchen mit roten Haaren, einem Kleid aus Sackleinen und rot gefiederten Flügeln.

Annabeth wusste nicht, woher die Harpyie stammte, aber es wärmte ihr das Herz, Tyson in zerfetztem Flanell und Jeansstoff mit dem umgekehrten SPQR-Schriftzug auf dem Banner über seiner Brust zu sehen. Sie hatte ziemlich schlechte Erfahrungen mit Zyklopen, aber Tyson war ein ganz liebes Exemplar. Außerdem war er Percys Halbbruder (lange Geschichte) und deshalb gehörte er fast zur Familie.

Tyson blieb neben ihrer Liege stehen und rang seine kräftigen Hände. Sein großes braunes Auge war voller Sorge. »Ella hat Angst«, sagte er.

»K…k…keine Boote mehr«, murmelte die Harpyie vor sich hin und zupfte fieberhaft an ihren Federn. »Titanic, Lusitania, Pax. Ella hat Angst«, sagte sie.

Leo kniff die Augen zusammen. Er sah Hazel an. »Hat diese kleine Henne eben mein Schiff mit der Titanic verglichen?«

»Sie ist keine Henne.« Hazel wandte sich ab, als ob Leo sie nervös machte. »Ella ist eine Harpyie. Sie ist nur eine bisschen … aufgekratzt.«

»Ella ist hübsch«, sagte Tyson. »Und hat Angst. Wir müssen sie wegbringen, aber sie will nicht auf das Schiff.«

»Kein Schiff«, sagte Ella noch einmal. Sie sah Annabeth ins Gesicht. »Nur Pech. Da ist sie: Die Tochter der Weisheit geht allein …«

»Ella!« Frank war aufgesprungen. »Vielleicht ist das nicht der richtige Moment …«

»Athenes Zeichen in Rom brennt sich ein«, fuhr Ella fort, hielt sich die Ohren zu und wurde lauter. »Engelsodem die Zwillinge aushauchen, um die Schlüssel zum ewigen Tod zu gebrauchen. Der Fluch der Giganten steht golden und bleich, in Schmerz gewonnen aus gewebtem Reich.«

Es war, als hätte jemand eine Leuchtgranate auf den Tisch fallen lassen. Alle starrten die Harpyie an. Niemand sagte etwas. Annabeths Herz hämmerte. Athenes Zeichen … Sie widerstand dem Drang, in ihrer Tasche nachzusehen, aber sie konnte spüren, wie die Silbermünze wärmer wurde – die verfluchte Gabe ihrer Mutter. Folge dem Zeichen der Athene. Räche mich.

Um sie herum ging der Lärm des Festmahls weiter, aber gedämpft und fern, als ob ihre kleine Gruppe von den Ruheliegen in eine ruhigere Dimension geglitten wäre.

Percy fasste sich als Erster. Er stand auf und nahm Tyson am Arm.

»Ich habe eine Idee!«, sagte er mit gespielter Begeisterung. »Wie wäre es, mit Ella ein bisschen frische Luft zu schnappen? Du und Mrs O’Leary …«

»Moment mal.« Octavian packte einen seiner Teddybären und würgte ihn mit zitternden Händen. Sein Blick haftete an Ella. »Was hat sie da gesagt? Das klang wie …«

»Ella liest sehr viel«, sagte Frank eilig. »Wir haben sie in einer Bücherei gefunden.«

»Ja«, sagte Hazel. »Sicher hat sie das irgendwo in einem Buch gelesen.«

»Bücher«, murmelte Ella hilfsbereit. »Ella mag Bücher.«

Jetzt, da sie ihren Spruch aufgesagt hatte, wirkte die Harpyie viel entspannter. Sie saß im Schneidersitz auf Mrs O’Learys Rücken und putzte ihre Flügel.

Annabeth sah Percy neugierig an. Offenbar hatten er und Frank und Hazel etwas zu verbergen. Und offenbar hatte Ella eine Weissagung aufgesagt – eine Weissagung, die Annabeth betraf.

Percys Gesicht sagte Hilfe.

»Das war eine Weissagung«, erklärte Octavian störrisch. »Das klang wie eine Weissagung.«

Niemand sagte etwas.

Annabeth wusste nicht so recht, was hier vor sich ging, aber ihr war klar, dass Percy große Probleme bekommen könnte.

Sie zwang sich zu einem Lachen. »Wirklich, Octavian? Vielleicht sind Harpyien hier, bei den Römern, ja anders, aber unsere sind gerade intelligent genug, um Hütten zu putzen und Essen zu kochen. Sagen eure häufiger die Zukunft voraus? Befragst du sie für deine Augurien?«

Ihre Worte hatten die ersehnte Wirkung. Die römischen Offiziere lachten nervös. Jemand musterte Ella, sah dann Octavian an und schnaubte. Die Vorstellung, so eine kleine Henne könne Weissagungen äußern, war für die Römer offenbar ebenso lachhaft wie für die Griechen.

»Ich, äh …« Octavian ließ seinen Teddybären fallen.

»Sie sagt nur irgendwelche Zeilen aus einem Buch auf«, sagte Annabeth. »Wie Hazel vermutet hat. Außerdem haben wir schon eine echte Weissagung, über die wir uns Sorgen machen können.«

Sie wandte sich Tyson zu. »Percy hat Recht. Geh doch einfach mit Ella und Mrs O’Leary auf eine kleine Schattenreise. Wäre Ella das recht?«

»Große Hunde sind gut«, sagte Ella. »Sein Freund Jello, 1957, Drehbuch von Fred Gipson und William Tunberg.«

Annabeth wusste nicht so genau, was sie von dieser Antwort halten sollte, aber Percy lächelte, als sei das Problem damit gelöst.

»Super«, sagte Percy. »Wir schicken euch eine Iris-Botschaft, wenn wir fertig sind, und stoßen dann zu euch.«

Die Römer sahen Reyna an und warteten auf ihre Entscheidung. Annabeth hielt den Atem an.

Reyna hatte ein hervorragendes Pokergesicht. Sie musterte Ella, aber Annabeth konnte ihre Gedanken nicht erraten.

»Schön«, sagte die Prätorin endlich. »Geht.«

»Jay!« Tyson lief um die Ruheliegen herum und umarmte alle energisch – sogar Octavian, der darüber nicht gerade glücklich aussah. Dann kletterte er mit Ella auf Mrs O’Learys Rücken und der Höllenhund rannte vom Forum. Die drei tauchten in den Schatten des Senatsgebäudes und waren verschwunden.

»Nun gut.« Reyna legte den ungegessenen Apfel weg. »Octavian hat in einem Punkt Recht. Wir brauchen die Zustimmung des Senats, bevor wir unsere Legionäre auf einen Einsatz ziehen lassen können – vor allem auf einen so gefährlichen, wie ihr hier andeutet.«

»Das Ganze stinkt doch nach Verrat«, knurrte Octavian. »Diese Triere ist ein Kriegsschiff.«

»Komm an Bord, Mann«, bot Leo an. »Ich führ dich rum. Du darfst mal am Steuerrad drehen, und wenn du das richtig gut machst, kriegst du eine Kapitänsmütze aus Papier.«

Octavian blähte die Nasenflügel. »Wie kannst du es wagen …«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Reyna. »Octavian, geh und sieh dir das Schiff an. Der Senat tritt dann in einer Stunde zusammen.«

»Aber …« Octavian unterbrach sich. Offenbar konnte er Reyna ansehen, dass weiterer Widerspruch nicht gut für seine Gesundheit wäre. »Schön.«

Leo stand auf. Er drehte sich zu Annabeth um und sein Lächeln veränderte sich plötzlich. Es ging so schnell, dass Annabeth glaubte, es sich nur eingebildet zu haben, aber für einen kurzen Moment schien jemand anders an Leos Stelle zu stehen und mit einem grausamen Funkeln in den Augen kalt zu lächeln. Dann blinzelte Annabeth und da stand wieder der gute alte Leo mit seinem üblichen Koboldgrinsen.

»Bin bald wieder da«, versprach er. »Das wird großartig.«

Eine furchtbare Kälte überkam Annabeth. Als Leo und Octavian auf die Strickleiter zuliefen, hätte sie sie fast zurückgerufen – aber wie hätte sie das erklären sollen? Allen sagen, dass sie verrückt wurde, Dinge sah und Kälte spürte?

Die Windgeister fingen an, das Geschirr einzusammeln.

»Äh, Reyna«, sagte Jason. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich Piper vor der Senatsversammlung gern herumführen. Sie war doch noch nie in Neu-Rom.«

Reynas Ausdruck verhärtete sich.

Annabeth begriff nicht, wie Jason so dumm sein konnte. War ihm denn wirklich nicht klar, wie sehr Reyna ihn mochte? Für Annabeth lag das auf der Hand. Sie zu fragen, ob er seiner neuen Freundin Reynas Stadt zeigen dürfe, bedeutete doch, Salz in die Wunde zu streuen.

»Natürlich«, sagte Reyna mit kalter Stimme.

Percy nahm Annabeths Hand. »Ja, also, ich auch, ich würde Annabeth gern zeigen …«

»Nein«, fauchte Reyna.

Percy runzelte die Stirn. »Bitte?«

»Ich möchte kurz mit Annabeth reden«, sagte Reyna. »Allein. Wenn du nichts dagegen hast, mein Mit-Prätor.«

Ihr Tonfall stellte klar, dass sie nicht um Erlaubnis bat.

Die Kälte wanderte Annabeths Rücken hinunter. Sie hätte gern gewusst, was Reyna vorhatte. Vielleicht passte es der Prätorin nicht, dass gleich zwei Jungen ihre Freundinnen durch die Stadt führen wollten. Oder vielleicht wollte sie ihr wirklich etwas unter vier Augen sagen. Jedenfalls hatte Annabeth keine große Lust, mit der römischen Anführerin unbewaffnet und allein zurückgelassen zu werden.

»Komm, Tochter der Athene«, Reyna erhob sich von ihrem Lager. »Gehen wir.«

IV

Annabeth

Annabeth hätte Neu-Rom gern gehasst. Aber als angehende Architektin musste sie die Terrassengärten, die Springbrunnen und Tempel, die verschlungenen Pflasterstraßen und die leuchtenden weißen Villen einfach bewundern. Nach dem Titanenkrieg des vergangenen Sommers hatte sich ihr Traum erfüllt, Paläste für den Olymp zu entwerfen. Während sie durch diese Miniaturstadt ging, dachte sie immer wieder: Ich hätte so eine Kuppel bauen sollen. Ich finde es wunderschön, wie diese Säulen in den Innenhof führen. Wer immer Neu-Rom entworfen hatte, hatte eine Menge Zeit und Liebe in dieses Projekt investiert.

»Wir haben die besten Architekten und Baumeister auf der ganzen Welt«, sagte Reyna, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Das war in Rom schon immer so. Viele Halbgötter bleiben hier, wenn sie ihre Zeit als Legionäre hinter sich haben. Sie besuchen unsere Universität. Sie gründen Familien. Percy schien das interessant zu finden.«

Annabeth fragte sich, was das wohl bedeuten sollte. Sicher hatte sie wütend die Stirn gerunzelt, denn nun lachte Reyna.

»Du bist wirklich eine Kriegerin«, sagte die Prätorin. »Du hast Feuer in den Augen.«

»Tut mir leid.« Annabeth versuchte, nicht ganz so wütend zu starren.

»Nicht nötig. Ich bin die Tochter der Bellona.«

»Römische Kriegsgöttin?«

Reyna nickte. Sie drehte sich um und pfiff wie nach einem Taxi. Gleich darauf kamen zwei Metallhunde auf sie zugerast – Automaton-Windhunde, einer silbern und der anderen golden. Sie rieben sich an Reynas Beinen und starrten Annabeth aus funkelnden Rubinaugen an.

»Meine Schoßhunde«, erklärte Reyna. »Aurum und Argentum. Du hast doch nichts dagegen, wenn sie uns begleiten?«

Wieder hatte Annabeth den Eindruck, dass das eigentlich keine Frage war. Sie sah, dass die Windhunde Zähne wie stählerne Pfeilspitzen hatten. Okay. Waffen waren in der Stadt nicht gestattet, aber Reynas Schoßhunde könnten sie trotzdem in Fetzen reißen.

Reyna ging mit ihr zu einem Straßencafé, wo der Kellner sie offenbar kannte. Er lächelte und reichte ihr einen Pappbecher, dann bot er auch Annabeth einen an.

»Möchtest du?«, fragte Reyna. »Sie machen hier wunderbare heiße Schokolade. Nicht gerade ein römisches Getränk …«

»Aber Schokolade ist international«, sagte Annabeth.

»Genau.«

Es war ein warmer Juninachmittag, doch Annabeth nahm den Becher dankend an. Die beiden Mädchen gingen weiter und Reynas Gold- und Silberhund hielten sich in ihrer Nähe.

»In unserem Camp«, sagte Reyna, »heißt Athene Minerva. Weißt du, worin sich ihre römische Gestalt von der griechischen unterscheidet?«

Annabeth hatte sich das noch nicht richtig überlegt. Ihr fiel ein, wie Terminus Minerva diese Göttin genannt hatte, als ob sie ein Skandal wäre. Octavian hatte geklungen, als sei Annabeths bloße Existenz schon eine Schande.

»Ich vermute, Minerva wird … äh, hier nicht ganz so geachtet?«

Reyna blies in ihren Becher. »Wir achten Minerva durchaus. Sie ist die Göttin des Handwerks und der Weisheit … aber sie ist eben keine echte Kriegsgöttin. Nicht für die Römer. Sie ist zudem eine jungfräuliche Göttin, wie Diana … die ihr Artemis nennt. Du wirst hier keine Kinder der Minerva finden. Die Vorstellung, dass Minerva Kinder haben könnte – ehrlich, die ist ein kleiner Schock für uns.«

»Ach.« Annabeth merkte, wie ihr Gesicht rot anlief. Sie wollte nicht ins Detail gehen, was Athenes Kinder betraf – dass sie aus dem Geist der Göttin geboren wurden, so wie Athene der Stirn des Zeus entsprungen war. Bei diesem Thema fühlte Annabeth sich immer komisch, wie eine Art Missgeburt. Sie wurde oft gefragt, ob sie einen Bauchnabel habe oder nicht, wo sie doch auf magische Weise geboren worden war. Natürlich hatte sie einen Bauchnabel. Sie konnte nicht erklären, warum. Sie wollte das auch gar nicht wissen.

»Ich weiß ja, dass ihr Griechen das nicht so seht«, sagte Reyna jetzt. »Aber die Römer nehmen das Gelübde der Jungfräulichkeit sehr ernst. Die Vestalischen Jungfrauen zum Beispiel … Wenn sie sich in jemanden verliebten und ihre Gelübde brachen, wurden sie lebendig begraben. Deshalb ist die Vorstellung, dass eine jungfräuliche Göttin Kinder haben könnte …«

»Schon verstanden.« Annabeths heiße Schokolade schmeckte plötzlich nach Staub. Kein Wunder, dass die Römer sie so seltsam angesehen hatten. »Mich dürfte es gar nicht geben. Und wenn es in eurem Camp trotzdem Kinder der Minerva gäbe …«

»Dann wären sie nicht so wie du«, sagte Reyna. »Sie wären vielleicht Handwerker, Künstler, vielleicht auch Ratgeber, aber keine Krieger. Keine Anführer gefährlicher Einsätze.«

Annabeth wollte schon einwenden, dass sie bei diesem Einsatz nicht die Anführerin war. Nicht offiziell. Aber sie wusste nicht, ob ihre Freunde auf der Argo II ihr da zustimmen würden. In den vergangenen Tagen hatten sie immer Befehle von ihr erwartet – sogar Jason, der doch als Sohn des Jupiter auf seinen Rang pochen könnte, und Trainer Hedge, der sich von niemandem etwas sagen ließ.

»Das ist noch nicht alles«, Reyna schnippte mit den Fingern und der goldene Hund Aurum kam angelaufen. Die Prätorin streichelte seine Ohren. »Die Harpyie Ella … das war doch eine Weissagung. Das wissen wir beide, oder?«

Annabeth schluckte. Etwas an Aurums Rubinaugen machte sie nervös. Sie hatte gehört, Hunde könnten Angst wittern, könnten Veränderungen im Atem und Herzschlag eines Menschen bemerken. Sie wusste nicht, ob das auch auf magische Metallhunde zutraf, aber sie beschloss, dass es besser war, die Wahrheit zu sagen.

»Es hat sich angehört wie eine Weissagung«, gab sie zu. »Aber ich bin Ella heute zum ersten Mal begegnet und diese Zeilen habe ich auch noch nie gehört.«

»Ich schon«, murmelte Reyna. »Teilweise jedenfalls.«

Einige Meter weiter bellte der Silberhund. Eine Gruppe von Kindern kam aus einer Nebenstraße gerannt und sammelte sich um Argentum, streichelte den Hund und lachte, unbeeindruckt von seinen rasierklingenscharfen Zähnen.

»Lass uns weitergehen«, sagte Reyna. Sie folgten dem Weg, der sich den Hang hochschlängelte. Die Windhunde kamen hinterher, die Kinder blieben zurück. Annabeth schaute immer wieder in Reynas Gesicht. Eine vage Erinnerung regte sich – wie Reyna sich die Haare hinter die Ohren strich, ihr Silberring, der eine Fackel und ein Schwert zeigte …

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte Annabeth vorsichtig. »Du warst jünger, glaube ich.«

Reyna lächelte trocken. »Sehr gut. Percy konnte sich nicht an mich erinnern. Natürlich habt ihr vor allem mit meiner älteren Schwester Hylla gesprochen, die jetzt die Königin der Amazonen ist. Sie hat uns heute Morgen verlassen, vor eurem Eintreffen. Bei unserer letzten Begegnung war ich eine bescheidene Dienerin im Haus der Circe.«

»Circe …« Annabeth dachte an ihren Besuch auf der Insel der Zauberin. Sie war damals dreizehn gewesen. Sie und Percy waren im Meer der Ungeheuer an Land getrieben worden und Hylla hatte sie willkommen geheißen. Sie hatte Annabeth geholfen, sich zu waschen, hatte ihr ein schönes neues Kleid und eine komplette kosmetische Behandlung spendiert. Dann hatte Circe ihr ein Angebot gemacht: Wenn Annabeth auf der Insel bliebe, würde sie eine Zauberlehre machen können und unvorstellbare Macht erlangen. Annabeth war in Versuchung gewesen, zumindest ein wenig, bis ihr aufging, dass sie in eine Falle gegangen und Percy in ein Nagetier verwandelt worden war. (Im Nachhinein kam ihr das witzig vor, aber damals war es entsetzlich gewesen.) Und was Reyna betraf … Sie war eine der Zofen gewesen, die Annabeths Haare gekämmt hatten.

»Du?«, sagte Annabeth überrascht. »Und Hylla ist Königin der Amazonen? Wie seid ihr zwei …«

»Lange Geschichte«, sagte Reyna. »Aber ich kann mich gut an dich erinnern. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand Circes Gastfreundschaft abgelehnt und sie dann sogar ausgetrickst hat. Kein Wunder, dass du Percy so wichtig bist.«

Ihre Stimme klang sehnsüchtig. Annabeth hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen.

Sie kamen oben auf dem Hügel an, wo eine Aussichtsterrasse einen Blick auf das ganze Tal bot.

»Das ist meine Lieblingsstelle«, sagte Reyna. »Der Garten des Bacchus.«

Traubenspaliere bildeten über ihnen einen Baldachin. Bienen summten durch Klee und Jasmin, die die Nachmittagsluft mit einem schwindelerregenden Gemisch aus Düften füllten. In der Mitte der Terrasse stand eine Statue des Bacchus in einer Art Ballettposition, er trug nur einen Lendenschurz. Seine Wangen waren aufgeblasen und durch die gespitzten Lippen spie er Wasser in einen Brunnen.

Trotz ihrer Sorgen musste Annabeth fast lachen. Sie kannte diesen Gott in seiner griechischen Gestalt als Dionysos – oder Mr D, wie sie ihn im Camp Half-Blood nannten. Ihren ewig übellaunigen alten Campdirektor hier in Stein zu sehen, in eine Windel gewickelt, während er Wasser spie, versetzte sie in eine etwas bessere Laune.

Reyna blieb am Rand der Terrasse stehen. Der Ausblick war die Kletterpartie wert. Die ganze Stadt breitete sich unter ihnen aus wie ein dreidimensionales Mosaik. Im Süden hinter dem See ragten auf einem Hügel etliche Tempel auf. Im Norden zog sich ein Aquädukt zu den Berkeley Hills hin. Arbeitsmannschaften reparierten einen zerbrochenen Teil, der sicher bei der Schlacht zu Schaden gekommen war.

»Ich wollte es von dir hören«, sagte Reyna.

Annabeth drehte sich um. »Was denn?«

»Die Wahrheit«, sagte Reyna. »Überzeuge mich davon, dass ich keinen Fehler begehe, wenn ich euch vertraue. Erzähle mir von dir. Erzähle mir von Camp Half-Blood. Deine Freundin Piper hat Zauberkraft in ihrer Stimme. Ich war lange genug bei Circe, um Charmesprech zu erkennen. Ihren Worten kann ich kein Vertrauen schenken. Und Jason … na, der hat sich verändert. Er scheint so weit weg, gar nicht mehr richtig römisch.«

Die Verletztheit in ihrer Stimme war scharf wie zerbrochenes Glas. Annabeth hätte gern gewusst, ob auch sie so geklungen hatte in den vielen Monaten der Suche nach Percy. Wenigstens hatte sie ihren Freund wiedergefunden. Reyna hatte niemanden. Sie musste das Camp ganz allein leiten. Annabeth spürte, dass Reyna von Jason geliebt werden wollte, aber Jason war verschwunden und dann mit einer neuen Freundin zurückgekehrt. Percy war derweil zum Prätor aufgestiegen, aber auch er hatte Reyna abgewiesen. Jetzt war Annabeth gekommen, um ihn mitzunehmen. Reyna würde wieder allein sein und die Aufgaben von zwei Personen auf sich nehmen müssen.

Als Annabeth im Camp Jupiter angekommen war, war sie darauf vorbereitet gewesen, mit Reyna zu verhandeln oder vielleicht sogar gegen sie zu kämpfen. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass Reyna ihr leidtun würde.

Sie behielt diese Empfindung für sich. Reyna wirkte durchaus nicht wie eine, die sich über Mitleid freuen würde.

Stattdessen erzählte sie Reyna von ihrem eigenen Leben. Sie beschrieb ihren Dad und ihre Stiefmutter und die beiden Halbbrüder in San Francisco, und dass sie sich in ihrer Familie vorgekommen war wie eine Fremde. Sie erzählte, dass sie mit nur sieben Jahren weggelaufen war und Luke und Thalia kennengelernt hatte und schließlich im Camp Half-Blood auf Long Island eingetroffen war.

Sie beschrieb das Camp und ihre Jahre dort. Sie erzählte, wie sie Percy kennengelernt hatte und welche Abenteuer sie gemeinsam bestanden hatten.

Reyna war eine gute Zuhörerin.

Annabeth fühlte sich versucht, ihr mehr über ihre aktuellen Probleme zu erzählen: ihren Streit mit ihrer Mom, die silberne Münze, die sie geschenkt bekommen hatte, und die Albträume – und über eine alte Angst, die sie dermaßen lähmte, dass sie sich fast gegen diesen Einsatz entschieden hätte. Aber so viel Offenheit brachte sie dann doch nicht über sich.

Als Annabeth fertig war, schaute Reyna hinab auf Neu-Rom. Ihre metallischen Windhunde schnupperten auf der Terrasse herum und schnappten nach den Bienen im Klee. Endlich zeigte Reyna auf die Gruppe von Tempeln auf dem Hügel in der Ferne.

»Das kleine rote Gebäude«, sagte sie, »da auf der Nordseite, das ist der Tempel meiner Mutter Bellona.« Reyna drehte sich zu Annabeth um. »Anders als deine Mutter hat Bellona kein griechisches Äquivalent. Sie ist durch und durch römisch. Sie ist die Göttin, die die Heimat schützt.«

Annabeth sagte nichts. Sie wusste nur sehr wenig über diese römische Göttin. Sie wünschte, sie hätte sich vorher informiert, aber Latein fiel ihr einfach nicht so leicht wie Griechisch. Dort unten leuchtete der Rumpf der Argo II, der wie ein riesiger Partyballon aus Bronze über dem Forum schwebte.

»Wenn die Römer in den Krieg ziehen«, sagte Reyna, »dann gehen sie zuerst in den Tempel der Bellona. Drinnen gibt es ein symbolisches Stück Boden, das die feindliche Erde symbolisiert. Wir bohren einen Speer in diesen Boden, um klarzustellen, dass wir uns jetzt im Krieg befinden. Verstehst du, die Römer haben den Angriff immer für die beste Verteidigung gehalten. Wenn unsere Vorfahren sich in den alten Zeiten von ihren Nachbarn bedroht fühlten, marschierten sie dort ein, um sich selbst zu schützen.«

»Sie haben alles um sich herum erobert«, sagte Annabeth. »Karthago, Gallien …«

»Und Griechenland.« Reyna schwieg nach diesem Kommentar für einen Moment. »Was ich sagen will, Annabeth, ist, dass es nicht gerade Art der Römer ist, mit anderen Mächten zusammenzuarbeiten. Immer wenn griechische und römische Halbgötter aufeinandergestoßen sind, kam es zum Kampf. Konflikte zwischen uns haben einige der grausamsten Kriege in der Geschichte der Menschheit ausgelöst – vor allem Bürgerkriege.«

»Es muss aber nicht so sein«, sagte Annabeth. »Wir müssen zusammenarbeiten, sonst wird Gaia uns vernichten.«

»So sehe ich das auch«, sagte Reyna. »Aber ist eine Zusammenarbeit überhaupt möglich? Was, wenn Junos Plan nicht gut genug ist? Sogar Göttinnen können sich irren.«

Annabeth wartete darauf, dass Reyna vom Blitz getroffen oder in einen Pfau verwandelt würde. Nichts geschah.

Leider teilte Annabeth Reynas Zweifel. Hera irrte sich durchaus ab und zu. Annabeth hatte nichts als Ärger mit dieser arroganten Göttin gehabt, und sie würde ihr nie verzeihen, dass sie Percy entführt hatte, auch wenn das zu einem guten Zweck geschehen war.

»Ich hab auch kein Vertrauen zu dieser Göttin«, gab Annabeth zu. »Aber ich vertraue meinen Freunden. Das hier ist kein Trick, Reyna. Wir können wirklich zusammenarbeiten.«

Reyna trank den letzten Schluck von ihrer Schokolade. Sie stellte den Becher auf das Geländer der Terrasse und schaute über das Tal hinaus, als ob sie über Schlachtaufstellungen nachdachte.

»Ich glaube, dass dir das ernst ist«, sagte sie. »Aber wenn du in die Alte Welt fährst, vor allem nach Rom, dann musst du etwas über deine Mutter wissen.«

Annabeths Schultern spannten sich an. »Meine … meine Mutter?«

»Als ich auf Circes Insel gelebt habe«, sagte Reyna, »hatten wir viel Besuch. Einmal, vielleicht ein Jahr vor dir und Percy, wurde ein junger Mann angespült. Er war vor Durst und Hitze halb wahnsinnig. Er war seit Tagen auf dem Meer herumgetrieben. Was er sagte, ergab nicht viel Sinn, aber er behauptete, ein Sohn der Athene zu sein.«

Reyna legte eine Pause ein, als wartete sie auf eine Reaktion. Annabeth hatte keine Ahnung, wer dieser Junge gewesen sein mochte. Ihr war kein anderes Kind der Athene bekannt, das im Meer der Ungeheuer auf einem Einsatz gewesen war, aber sie verspürte trotzdem ein gewisses Grauen. Das Licht, das durch die Traubenranken gefiltert wurde, warf Schatten auf den Boden, die zitterten wie ein Insektenschwarm.

»Was ist aus diesem Halbgott geworden?«, fragte sie.

Reyna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich hat Circe ihn in ein Meerschweinchen verwandelt. Er war ein ganz schön verrückter kleiner Nager. Aber davor hat er die ganze Zeit über seinen missglückten Einsatz gejammert. Er behauptete, in Rom gewesen zu sein, um dem Zeichen der Athene zu folgen.«

Annabeth packte das Geländer, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

»Ja«, sagte Reyna, die ihr Unbehagen bemerkt hatte. »Er murmelte die ganze Zeit etwas über das Kind der Weisheit, über das Zeichen der Athene und über den Fluch der Giganten, der golden und bleich dasteht. Genau die Zeilen, die Ella aufgesagt hat. Aber du meinst, dass du sie vor dem heutigen Tag noch nie gehört hast?«

»Nicht so, wie Ella sie aufgesagt hat.« Annabeths Stimme war schwach. Sie log nicht. Sie hatte diese Weissagung noch nie gehört, aber ihre Mutter hatte ihr aufgetragen, dem Zeichen der Athene zu folgen, und als sie an die Münze in ihrer Tasche dachte, kam ihr ein entsetzlicher Verdacht. Sie dachte an die schneidenden Worte ihrer Mutter. Sie dachte an die seltsamen Albträume, die sie neuerdings hatte. »Hat dieser Halbgott … Hat er erklärt, worum es bei seinem Einsatz ging?«

Reyna schüttelte den Kopf. »Damals hatte ich keine Ahnung, wovon er redete. Viel später, als ich Prätorin von Camp Jupiter wurde, kam mir ein Verdacht …«

»Was denn für ein Verdacht?«

»Es gibt eine alte Sage, die die Prätoren von Camp Jupiter im Laufe der Jahrhunderte immer weitergereicht haben. Wenn sie zutrifft, könnte sie erklären, warum unsere beiden Gruppen von Halbgöttern niemals zusammengearbeitet haben. Es könnte sich um den Grund unserer Feindschaft handeln. Bis diese alte Rechnung endgültig beglichen ist, heißt es in der Sage, wird es zwischen Römern und Griechen niemals Frieden geben. Und bei der Sage geht es um Athen …«

Ein schrilles Geräusch zerfetzte die Luft. Grelles Licht loderte in Annabeths Augenwinkeln auf.

Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie eine Explosion einen neuen Krater in das Forum riss. Eine brennende Ruheliege wirbelte durch die Luft. Halbgötter rannten voller Panik auseinander.

»Giganten?« Annabeth griff nach ihrem Dolch, der natürlich nicht da war. »Ich dachte, ihre Armee sei besiegt!«