Herbstjahr - Ralph Grüneberger - E-Book

Herbstjahr E-Book

Ralph Grüneberger

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Beschreibung

Im Herbst 1989 gerät der Funktionärssohn Jesse in eine der ersten großen Leipziger Montagsdemonstrationen. Die Polizeigewalt, die ihm widerfährt, wirft den jungen Arbeiter aus seiner gewohnten Bahn. Als ein Streit mit seinem linientreuen Vater eskaliert, dient ihm die verlassene Wohnung eines Freundes als Unterschlupf. Auf der Suche nach Orientierung schließt sich Jesse dem Neuen Forum an und lernt dort die Studentin Katja kennen. Mit ihr erlebt er den 9. Oktober, den entscheidenden Tag der Friedlichen Revolution.

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Ralph Grüneberger

Herbstjahr

Roman

Zum Buch

Keine Gewalt! Blieb es dabei? Im Sog der Masse findet sich Jesse in einer der ersten Leipziger Montagsdemonstrationen wieder. Zu dieser Zeit ist sein Freund Rainer bereits über Ungarn in den Westen geflohen. Jesse sucht Orientierung und schließt sich dem Neuen Forum an. Am »Republikgeburtstag« wird er festgenommen und verhört. Zwei Tage später ist Jesse wieder unter den Demonstranten.

Als Rainer nach Wochen im Aufnahmelager nach Leipzig zurückkehrt, ist er zunächst wohnungs- und arbeitslos, doch die Umstände erlauben ihm eine völlig neue Perspektive. Für seine Schwester Monika, die Einser-Abiturientin, ist die Zukunft hingegen mit einem Mal ungewiss. Sie ist 1990 in die Messestadt gekommen, um an der Theaterhochschule Schauspiel zu studieren, doch die bevorstehende Wiedervereinigung Deutschlands führte zum Stillstand des Studienbetriebs.

Der Roman zeigt die radikalen Umbrüche innerhalb eines Jahres zwischen dem Herbst 1989 und 1990. Schnell hat die Zeit der großen Hoffnung, als es hieß »Keine Gewalt!«, ein jähes Ende gefunden.

Ralph Grüneberger ist gebürtiger Leipziger und in der Messestadt aufgewachsen. Lesereisen ins europäische Ausland sowie Literaturstipendien, die er erhielt, ließen ihn in Brandenburg, Niedersachsen, den Niederlanden, in Ungarn und im US-Staat Virginia immer mal wieder Abstand von seiner Region finden. Als Stipendiat der Kulturstiftung Sachsen begann er 2012 mit der Arbeit an seinem ersten Roman, nachdem er Arbeiten für den Rundfunk, Literaturkritiken für das Feuilleton, zahlreiche Lyrik- und Prosabände sowie Monographien zu bildenden Künstlern veröffentlicht hatte. Er ist Herausgeber einer Literaturzeitschrift, seit mehr als zwei Jahrzehnten Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Zitat v. A. Dohrn (S. 5): ©Leipziger Volkszeitung, 13.07.2019, Seite 16

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Leipzig, 09.10.1989

© ullstein bild – Christian Günther

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6110-1

Zitat

Wir Deutschen hatten immer mal wieder in

unserer Geschichte Revolutionäre ohne Revolution.

Jetzt hatten wir eine Revolution ohne Revolutionäre.

Wolf Biermann

*

Es ist wichtig, wie wir mit der Einzigartigkeit der Geschehnisse von 1989 umgehen und wie wir das an die nächsten Generationen transportieren. […] Wir brauchen Erzähler der Geschichte und Brückenbauer.

Andreas Dohrn, Pfarrer der Leipziger Peterskirche

Jesse, Oktober 1989 

1

Mit einem Mal blieben die Straßenbahnen stehen. Taxifahrer hupten. Hunderte Menschen waren den Rufen einer kleinen Gruppe gefolgt, die, gestikulierend vom Rande des Platzes aus, die unschlüssig auf der Freifläche zwischen Oper und Gewandhaus verharrende Menge zu dirigieren versuchte.

»Los­laufen, loslaufen!«, hieß es, und die Stimmen der Wortführer waren brüchig wie der Himmel über der Stadt.

Die Menschen, die sich mehr und mehr zu einem Strom formierten, strebten vom Karl-Marx-Platz über den Georgiring dem Hauptbahnhof zu. Die hell erleuchteten Wagen der am Weiterfahren gehinderten Straßenbahnen ragten aus dem Menschenstrom wie schmale Ausflugsdampfer. Viele der Fahrgäste schauten erstaunt in die Abenddämmerung oder hatten ihr Gesicht gegen die Scheibe gepresst. Missmut in ihren Mienen.

Ein anderer Ruf wurde laut: »Schließt euch an!« Ein Ruf, aus dem die Angst verschwunden war. Und er galt jenen in der Bahn und jenen, die voller Erstaunen passiv am Straßenrand standen.

Jesse, der nach der Rollenden Woche, die entweder aus sieben Tagen Frühschicht, Nachtschicht oder Spätschicht bestand, an diesem Montag freihatte und aus Neugier per Trambahn ins Stadtzentrum gefahren war, stand am Rande der Straße und sah vom Bordstein aus die Masse an Menschen auf sich zukommen. Die Marschierer am Anfang des Zuges schickten sich an, Reihen zu bilden. Es waren ganz unterschiedliche Personen. Alte und junge. Männer in Mänteln und Anoraks, Joppenträger. Jugendliche in Parkas. Frauen in Kurzmänteln, mit Armen, an denen Einkaufstaschen zogen, die ihnen jetzt im Weg waren und die sie zu schultern versuchten.

Nach Sonnenuntergang war es kalt auf dem Platz. Viele hatten den Kopf mit einem Hut, einem Kopftuch oder einer Mütze bedeckt. Das Haar eines Mädchens, das es offen trug, leuchtete im Licht der Straßenlaternen wie Flachs.

Die Menschen in den vorderen Reihen hatten einander untergehakt und Ketten gebildet, geschlossen aus Armen und Rümpfen. Die schwächeren Glieder wurden aufgehoben von den stärkeren. Der Mehrheit war anzusehen, dass sie diesen Marsch, für den es kein Ziel gab, nur die Bewegung, das Fortschreiten, nicht geplant hatte. Vielmehr wollte die Menge aufbegehren und überließ das ihrem Kör­per, der ihren Willen nach außen trug und wie eine einmal in Gang gesetzte Maschine vorwärtsstrebte. Es war, als verringerte sich mit jedem Schritt der Ballast an Furcht. Sie alle waren auf der Straße aus freiem Willen. Kein Befehl gab ihnen die Richtung vor. Keine Reglementierung lenkte sie. Keiner Erwartung mussten sie folgen. Es war eine Übereinstimmung vorhanden, die sich im Schrittmaß wiederfand. Sie alle vereinte das Verlangen, auszubrechen und gleichzeitig zusammenzu­stehen. Die Menschen in der Menge hatten die Nachrichten­bilder derer im Kopf, die ihre Nach­barn, Arbeitskollegen oder Verwandten waren, die per Räuber­leiter Botschaftszäune überwunden oder mit bloßen Händen die Gitter der ungarischen Grenze nach Österreich umgeworfen und das freie Feld gestürmt hatten wie 200 Jahre zuvor die Kommunarden die Bastille.

Vorwärts, und nicht vergessen, die Solidarität! Aus irgendeiner Kehle wurde die Internationale angestimmt. Völker hört die Signale. Auf zum letzten Gefecht! Mit jedem Schritt wurde der Gesang lauter, mit jedem Schritt fester, gewaltiger. Ein Chor Tausender Stimmen. Niemand hätte sagen können, wie das letzte Gefecht aussehen, geschweige denn ausgehen wür­de und gegen wen es tatsächlich geführt werden müsste. Sie alle lebten im Moment. Nur wenige trugen einen Vorsatz in sich. Nur ein Bruchteil von ihnen hatte die in der Nikolaikirche gesprochenen Worte des Jugendpfarrers verinnerlicht, der in seinem Friedensgebet an Jako­bus gemahnte, der die Gläubigen aufforderte, Täter des Wortes und nicht allein Hörer desselben zu sein.

Äußerlich aber waren sie eins. Sie waren Hörer ihrer selbst und Akteure ihres Willens. Und sie schlugen alle dieselbe Richtung ein. Ihr Schritt hallte wider in ihren Gliedern. Ihr Gesang, als der Kanon ihres Antriebs, gab ihnen die Kraft, geschlossen nach vorn dem Hindernis zuzustreben. Keiner vermochte diesen Gang als Promenade zu empfinden. Sie alle wussten, dass der Moment, in dem sich ihnen niemand in den Weg stellte, endlich war. Und die ersten Reihen wussten dies früher als die letzten. Etwa 200, 300 Meter vor ihnen, in Sichtweite, hatten sich Hundertschaften der Bereitschaftspolizei postiert. In erster Linie standen Sondereinheiten, die Schilde trugen, weißbehelmte Männer, das Visier heruntergeklappt. Es waren Schilde aus Plexiglas, in denen sich die Beleuchtung des Georgirings spiegelte. Sie glichen menschengroßen Käfern, gepanzert und ohne Angesicht.

In diesem Augenblick konnte Jesse nicht länger an sich halten. Ohne noch einen Moment länger zu zögern, reihte er sich in den Marschblock ein. Einige, die bisher neben ihm gestanden hatten, taten es ihm nach. Nach wenigen Metern, in Höhe des grell erleuchteten Exquisitgeschäfts, in dem es hochwertige Mode zu überteuerten Preisen zu kaufen gab, sah Jesse, wie sich ein Mann in seiner Reihe bückte, um einen kastaniengroßen Kieselstein vom Straßenrand aufzuheben. Der Mann hätte vom Alter her Jesses Vater sein können. Doch kümmerte das Jesse in dem Moment nicht. Schnell trat er auf den Mann zu, fasste nach dessen Faust und zwang den Mann, den Stein zu Boden fallen zu lassen.

»Was weißt du denn schon?« Des Mannes Blick verfinsterte sich vor dem strahlend dekorierten Ladengeschäft. »Meine Mutter kriegt so viel Rente wie hier ein Pullover kostet oder ein einziges Hemd. Alles für die Bonzen und ihre Weiber!«, zischte er und wandte sich ab.

»Richtig, Junge«, klang es aus der Reihe hinter Jesse. »Darauf warten die doch nur, dass hier randaliert wird!«

Jesse ärgerte sich über den Zuspruch der Frau, die ihn, den 21-Jährigen, »Junge« genannt hatte. Ohne ein Wort zu erwidern, blickte er stur nach vorn und erschrak im selben Moment. Der Raum zwischen den behelmten Polizisten, die eine Sperrfront gebildet hatten, und dem Block der Demonstranten verringerte sich Sekunde um Sekunde, Schritt um Schritt. Es tat gut, das spürte Jesse plötzlich, einen Menschen neben, vor und hinter sich zu wissen. Auf Arbeit hatte er davon gehört, dass bei der Demonstration eine Woche zuvor den Polizisten die Schirmmützen vom Kopf gerissen worden seien, als diese ihrerseits eine Kette gebildet hatten. Die Mützen wären durch die Luft geflogen, wie man es aus russischen Soldatenfilmen kennt, wenn ganze Bataillone in ihrer Heimat willkommen geheißen werden. Die Polizeikette allerdings, die jetzt immer gegenwärtiger wurde, ließ keinen Gedanken an Jubel aufkommen.

Rasch verlor der Zug an Breite und nahm immer mehr die Form eines Keiles an. Von drei Seiten sah sich der schmaler werdende Marschblock den behelmten Polizisten gegenüber. Wie Kinder, die Schläge erwarteten, hatten die in den vorderen Reihen schützend ihre Arme vor das Gesicht gehoben und gingen beinahe blind voran.

»Bleibt zusammen!« Der Ruf einzelner Mahner ging in der Menschenmenge unter.

»Gorbi, Gorbi – eins-zwei-drei! Gorbi, Gorbi – eins-zwei-drei!«, skandierten, verstärkt durch rhythmisches Klatschen, plötzlich Hunderte den Namen des Generalsekretärs der Kommunisti­schen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, dessen Name für Veränderung stand. Glasnost und Perestroika. Begriffe in der ungeliebten russischen Sprache, die auf einmal leicht über die Lippen kamen. »Gorbi, Gorbi – eins-zwei-drei!« Und auf einmal hieß es, »Gorbi, hilf!« – und es klang, als riefen sie einen Heilsbringer herbei.

Längst war die Formation ins Stocken geraten, nur schleppend ging es voran. An den Seiten war kein Ausbrechen, kein Weiterkommen möglich. Zur Linken und zur Rechten standen in Doppel­reihen die Bereitschaftspolizisten. Die Polizeilinie erwies sich als festes Spalier, das ihnen den Weg abschnitt. Dem Zug gegenüber standen die Behelmten der Sondereinheit und kesselten die Menge ein. Ein fester Riegel. Der Menschenstrom wurde immer langsamer. Schließlich stockte er vollends.

»Weitergehen!«, wurde von hinten gerufen. Pfiffe wurden laut. Die Kraft des Zuges wurde nach hinten geworfen. Wie eine Welle, die zurückschwappt, breitete sich Unruhe aus.

»Lasst uns durch!«, schrie eine Frau, der Hysterie nahe, und ihr Schrei vervielfachte sich.

Die Arme, die viele aus Furcht vor den Knüppeln der Polizei hochgerissen hatten, blieben erhoben und sahen für die andere Seite bedrohlich aus.

Der Zug bahnte sich seinen Weg, als presste man ihn durch einen Trichter. Die Masse, die bis eben noch die Straßenbreite eingenommen hatte, wurde durch eine vier bis fünf Meter große Lücke in der Absperrung geführt. Es war unverkennbar, dass die Polizei den Zug zwar aufreiben, zerstreuen, aber nicht gänzlich aufhalten wollte. Aus dem Kessel sollte der Druck entweichen.

»Schämt euch was!« Der Ruf klang verzweifelt, doch prallte er wirkungslos an den Schilden der Uniformierten ab.

Auf Augenhöhe war für Jesse zu sehen, dass hinter den behelmten Polizisten weitere Uniformierte standen, die keine Schilde trugen, stattdessen mit beiden Armen in die Menschenmenge griffen und einzelne Demonstranten herauszogen. Es lag in der Macht der Polizisten, ob die Herausgezogenen auf einen bereitstehenden Mannschaftswagen, zu dessen Plattform eine heruntergelassene Leiter führte, gehievt oder lediglich zur Feststellung ihrer Personalien einer Gruppe von Einsatzkräften zugeführt wurden.

Ehe Jesse erkannt hatte, dass sich die Mehrheit des Demonstrationszuges hinter der Polizeischleuse als lockere Formation wieder zusammenfand, wurde ihm mit einem Mal übel vor Angst. Sekunden vor dem Zugriff verspürte er diesen. Lähmung befiel ihn. So schnell wie möglich wollte er die Sperre pas­sieren. Nicht auffallen, hieß die Devise. Hände in die Taschen. Blick nach unten.

Im Strudel trieb Jesse ein paar Meter weiter. Für einen Moment stand er einem Uniformierten gegenüber, der kaum älter war als er selbst. In dessen Augen, die das Plexiglas nicht vollständig verdeckte, lag dieselbe Angst, die auch in Jesses Augen lag. Fast hätte Jesse das Wort an den Gleichaltrigen gerichtet. Vielleicht waren sie in dieselbe Schule gegangen oder in denselben Kindergarten, vielleicht hatten sie am selben Ort ihr Jugendweihe-Gelöbnis gesprochen oder waren sich womöglich vor Jahren in einem Kinderferienlager begegnet. Das Land war klein und befestigt genug, um die Wege seiner Bewohner sich kreuzen zu lassen.

Doch kaum hatte Jesse diesen Gedanken zu Ende gedacht, entdeckte er mit einem Mal den Schopf des flachsblonden Mädchens nur wenige Meter vor sich. Das Mädchen wurde zur Seite gezogen, ehe es auf dem Bahnhofsvorplatz im Gemenge der anderen hätte untertauchen können. Der Zugriff erfolgte ge­zielt, das war nicht zu übersehen.

Völlig unbesonnen preschte Jesse dem blonden Mädchen nach. Der behelmte Polizist, mit dem er eben noch Blickkontakt hatte, wich erschrocken zurück und ließ ihn passieren.

»Lasst sie los! Lasst das Mädchen los!«, schrie er über das Dienstmützenspalier hinweg und sah, wie zwei Polizisten das Mädchen zu einem der offenstehenden LKWs zogen. Seine Arme wirbelten wie wild in der Luft. Hätte er sich sehen können auf dem Film, den eine der auf den Dächern der Ringbebauung installierten Kameras aufzeichnete, wäre ihm der Vergleich mit Don Quichote nicht schwergefallen. Jesse aber war in dem Augenblick Wind­mühle und Don Quichote zugleich, und damit ebenso ein deutliches Zielobjekt der staatlichen Sicherheitskräfte, die unter dem Befehl standen, den Demonstrationszug mit aller Macht unter ihre Kontrolle zu bringen.

Es dauerte keine zwei Sekunden und Jesse war umringt von drei oder vier Uniformierten. Er wehrte sich nach Kräften, doch konnte er dem Wirbel der Schlagstöcke nicht ausweichen. Kaum bedeckte er mit den Armen den Kopf, trafen die Schläge Brust und Lenden. Er rang nach Luft. Es wurde dunkel um ihn. Jesse sah nur noch Uniformknöpfe blitzen und rot schwitzende Gesichter, die wie Lampions aus dem Dunkel hervortraten. Dann traf ihn ein Schlag am Kopf. Er schmeckte Blut und bäumte sich auf.

Jesse hätte nicht zu sagen vermocht, wie es ihm gelungen war, die Polizeisperre zu durchbrechen, und den Pulk an zivilen und uniformierten Sicherheitskräften zu überwinden. Nach dem Schlag auf den Kopf gab es für ihn nur das eine: laufen, laufen.

Als er wieder zu sich kam, war das eben Erlebte in seinem Kopf auseinandergefallen wie die Einzelteile eines Puzzles. Er holte Atem und setzte die Teile zusammen: Den Stock. Das Blut. Die glänzenden Schildkappen. Die schwitzenden Stirnen. Uniformleiber, die auseinanderschnellen. Die plötzliche Lücke zwischen den eng parkenden Autos. Die Schuhspitzen. Den Mond, der in einem Pfützenspiegel schwimmt. Der dunkelglänzende Bordstein. Die Toreinfahrt. Die Reihe grauer Aschentonnen. Das geduckte Hinterhaus. Den schmalen Hauseingang. Die Kellertür.

Die Kellertür war unverschlossen und ließ sich leicht öffnen. Doch knarrte sie hörbar, so als wollte sie jede Störung ihrer Ruhe abwehren. An der Hand, die Jesse beim Laufen schützend über die Platzwunde gelegt hatte, klebte Blut. Eine Spur, die sich wie eine blasse Kopie auf dem Türblatt wiederfand.

Oberhalb der Kellertreppe entdeckte er den Lichtschalter inmitten eines schwach leuchtenden Kreises aus Phosphorfarbe, doch vermied er es, Licht zu machen, und tastete sich vorsichtig nach unten. Im Dunkeln kamen die Gerüche wieder. Es roch aus den Kellerverschlägen nach gehorteten Kartoffeln und nach erdwarmen Braunkohlenbriketts. Ein Geruch, den man schmecken konnte.

Plötzlich ging das Hauslicht an und erhellte durch die offen stehende Kellertür einen Spalt breit die Treppe. Jesse ärgerte sich über seine Unachtsamkeit, die Tür nicht gänzlich hinter sich zugezogen zu haben, und verharrte in angespannter Haltung. Er hörte sein Herz schlagen und gleichzeitig knarrende Schritte auf den Holzstufen über sich, die in das erste Geschoss führten. So wie er den Atem anhielt, schärfte sich sein Blick. An den Stufen der Kellertreppe, die aus hochkant verbundenen Ziegeln bestanden, hatte sich die Patina eines ganzen Jahrhunderts abgelagert. Die einst zementierten Fugen waren schwarz. Die Ecken etlicher Ziegel waren abgeplatzt. Als Kind hatte es Jesse immer Überwindung gekostet, in Kellergeschosse hinabzusteigen. Sowohl zu Hause als auch in dem verwinkelten Eckhaus, in dem die Großeltern wohnten. Als er als Heranwachsender das erste Mal versucht hatte, mit einem Mal zwei Blecheimer nach oben zu tragen, nur um kein zweites Mal in den Keller der Großeltern geschickt zu werden, musste er nach wenigen Metern schnaufend aufgeben und war mit den vollgepackten Kohleneimern gegen die Stufen geschlagen. Die Mutteroma, der der Ehrgeiz des Enkels nicht verborgen geblieben war, hatte ihm eines Tages Pappeimer hingestellt, die sie von irgendeinem Kaufmann erworben hatte, für den sie Leergut waren. Die Pappeimer waren nicht nur leichter als die Blecheimer, sie waren auch schmaler und damit schneller zu füllen, sodass Jesse beinahe unbeschwert zwei von dieser Sorte mit einem Mal tragen konnte. Als Halbwüchsiger trug er gar an jeder Hand zwei Eimer, die er sorgsam mit gehacktem Holz präpariert hatte, um unterwegs kein Brikett zu verlieren.

Nachdem das Licht im Treppenhaus erloschen war, verließ Jesse den Keller und das Hinterhaus. Aus einem Küchenfenster schimmerte Licht auf den Hof. Lautlos schlich er zur Einfahrt, die zum Vorderhaus gehörte, drückte sich an die Wand der Durchfahrt und schob sich langsam nach vorn. Die an den Seiten arretierten Flügel der Eingangstür gaben ihm Deckung. Er blickte auf die Straße. Dort sah er niemanden und hörte niemanden. Es war gespenstisch still.

Hinter den am Straßenrand parkenden Autos war nur wenig Schutz zu suchen. Sie vermochten Jesse, der 1,90 Meter maß, kaum Deckung zu geben. Zudem waren die Fahrzeuge serienmäßig weiß oder beige oder hellblau lackiert und ließen die Umrisse einer jeden dunkel gekleideten Gestalt, die sich an ihnen vorbeischob, deutlich hervortreten.

Das Nachtgrau der von der Ofenheizungsluft zersetzten Fassaden bot da viel eher Schutz. Erst im Schein einer Straßenlampe bemerkte Jesse, dass der Ärmel seiner Jacke zerrissen und er voller salpeterweißem Staub und totem Gespinst war. Er reinigte mit bloßen Händen seine Kleidung, so gut es ging. Dann sah er auf die Uhr. Es war halb neun. Mit der Straßenbahn könnte er vom Bahnhof aus in einer halben Stunde zu Hause sein. Aber die Gefahr, in der Straßenbahn aufzufallen und auf seine Verletzung angesprochen zu werden, war zu groß. Zu Fuß aber hätte Jesse die halbe Stadt durchqueren müssen. Dabei war ihm klar, dass er das Zentrum weiträumig umgehen musste. Sicherlich würden auf den Straßen im Stadtinneren Polizei oder Staatssicherheitsdienst patrouillieren.

Die Wunde an seinem Kopf schmerzte. Auch war Jesse leicht schwindelig. Das konnte vom Hunger kommen, den er plötz­lich verspürte. Aber in eine Kneipe hätte er in seinem jetzigen Zustand kaum einkehren können, obwohl er sofort Durst verspürte. Noch immer schmeckte er Blut im Mund. Er dachte an Rainer, der in dieser Gegend wohnte. Bei Rainer würde er ohne Frage ein Bier bekommen, auch zwei, bestimmt auch ein belegtes Brot, ebenso Handtuch und Seife. Aber vor allem könnte er bei ihm die Wunde versorgen.

Mit Rainer verstand sich Jesse gut, sie gehörten derselben Schichtbrigade an. Beide trugen sie das Haar lang und litten unter dem obligatorischen Haarnetz, das sie während der Arbeit an der Maschine tragen mussten und das sie wie Küchenkräfte aussehen ließ. Die Fräsmaschinen, an denen sie eingesetzt wa­ren, standen in der Halle gut 20 Meter voneinander entfernt, sodass sie meist nur im Umkleideraum, in der Kantine, vor der Koje des Güte­kontrolleurs oder nach Feierabend unter der Dusche Gelegenheit hatten, miteinander zu sprechen. In der Nachtschicht, wenn kein Mensch in der Garderobe war, verabredeten sie sich manchmal dort, auf ein bloßes Handzeichen hin. Mitunter lieh Rainer Jesse Schallplatten aus. Es waren keine gängigen Schallplatten, keine aus dem offiziellen Handel, sondern Alben von amerikanischen oder englischen Rockgruppen, meist auf Decca oder Polydor, die nicht selten von Diplomaten aus Westberlin eingeschleust worden waren. Rainer hatte da seine Kontakte, über die er kein Wort verlor. Die Platten kursierten und mussten oft schon am nächsten Tag weitergegeben werden. Also hieß es, sie rasch auf Magnetband zu überspielen. Mitunter überspielte einer für den anderen auch Titel, die aktuell bei NDR 2 oder bei Radio Luxemburg liefen. Von den schmalen Magnetbandkassetten, die die Spulenbänder vielerorts abgelöst hatten, hielten beide nichts. Sie schworen auf die klassische Variante. Je breiter ein Band war, desto mehr Höhen und Tiefen konnte es transportieren. Darin waren sie sich einig. Doch Tonbänder waren nicht billig. Allerdings hatte Rainer eine Quelle für günstige Spulenton­bänder aufgetan. Die Zentralbücherei für Blinde rangierte Bänder, die von ihren Hörern nicht entliehen oder angefordert wurden, in kürzester Zeit aus und bot die vollen Spulen, ohne Anfang und Ende, auf denen von Schauspielern gelesene Literatur gespeichert war, als Meterware zum Verkauf an. Es empfahl sich, die Bänder immer erst eins zu eins mit einem leichten Rauschen zu bespielen, um die Sprachaufzeichnung, die daran festzukleben schien, zurückzudrängen. Dann erst, wenn die Bänder so präpariert waren, konnte man sie für frische Aufnahmen verwenden. Eine mühselige und vor allem zeitraubende Prozedur.

»Billig hat seinen Preis«, war einer von Rainers Sprüchen, und er schwor darauf, dass die Bänder aus der Blindenbücherei für Hardrock und Heavy Metal besonders geeignet waren.

Als Jesse wenig später vor Rainers Haus stand, war ihm auf dem Weg dorthin kaum ein Mensch begegnet. Er hatte im Schutze der Dämmerung die Hauptstraßen gemieden.

Jesses Freund und Arbeitskollege bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock eines viergeschossigen Hauses, zu dem eine Wohnküche gehörte. Die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer. Zur Wohnküche gehörte ein kleiner Balkon, den Rainer als Heimwerker selbst nach und nach verglast und den Gästen an seinem 25. Geburtstag als Wintergarten präsentiert hatte.

Jesse erinnerte sich gern an Rainers Feier. Er hatte fast den ganzen Abend auf Rainers verglastem Balkon verbracht, obwohl er schon vor Ende des dritten Lehrjahres mit dem Rauchen aufgehört hatte. Zu Rainers Gästen zählte Bernhard, der sich selbst Großer Raucher nannte und davon sprach, dass er bei den Ostberliner Konzerten von Bruce Springsteen und Depeche Mode in der ersten Reihe gestanden hätte. An Karten zu kommen, wäre für einen wie ihn überhaupt kein Problem gewesen, man müsse nur die richtigen Leute kennen. Rainer meinte, das Großspurige habe er von Bertolt Brecht. Auch die Frisur, die eigentlich keine war, sondern nur ein spär­licher Pony. Bernhard, der sich von allen gern B.B. nennen ließ, denn mit Nachnamen hieß er Berger, gehörte zum Plattenring und verfügte über die besten Kontakte zur Bundesdeutschen Ver­tretung in Berlin, wie Jesse an dem Abend erfuhr. Er erzählte davon, dass er mit ein paar Kumpels am Abend der Kommunal­wahl von Wahllokal zu Wahl­lokal gezogen sei und sie alle Stimmenauszählungen akribisch dokumentiert hätten. Gleich ihrer Gruppe hätten das noch etliche andere Leute in Berlin getan. Die Ergebnisse hätten sie dann untereinander ausgetauscht und mit den offiziellen Zahlen der Wahlkommission verglichen. Eigentlich hatte jeder damit gerechnet: In den staatlichen Verlautbarungen wurden die üblichen 98 Prozent Ja-Stimmen angegeben und nur ein Minimum an ungültigen Stimmen. Die von B.B. und anderen zusammengetragenen Auszählungsergebnisse fanden sich in den bestätigten Papieren nicht wieder. Gemeinsam hatten sie die Wahlkommission schriftlich auf den Irrtum hingewiesen. Das Wort Wahlbetrug, und dabei hatte B.B. schelmisch gelächelt, wurde dabei tunlichst vermieden. Sie alle hatten nur von offenbar versehentlichenRechenfehlern gesprochen, aber auf ihre Eingaben nie eine Antwort bekommen.

Rainer war bei dem Thema erstaunlich still geblieben und hatte nur in die Runde geworfen: »Macht, was ihr wollt. Ich gehe sowieso nicht wählen. Ich gehe nie wählen. Da kann meine Stimme auch von niemandem verfälscht werden.«

»Da irrst du, mein Lieber«, hatte ihm B.B. widersprochen. »Das ist es ja gerade. Da sie wissen, dass du nie wählen gehst, kommst du auf den Wahllisten der Nationalen Front auch gar nicht mehr vor. Das heißt, du giltst auch nicht als Nichtwähler. Du giltst überhaupt nicht als Wähler. Du beschönigst vielmehr deren Statistik. Verlange bei der nächsten Wahl mal nach deiner Wahlbenachrichtigung und, glaub mir, die werden Kopf stehen.«

Die ganze Zeit hatte Jesse geschwiegen. Er wusste nicht, ob er Rainer und den anderen gegenüber zugeben sollte, dass er bei der Kommunalwahl pflichtgemäß seine Stimme abgegeben hatte. Gleich früh mit seinen Eltern. Sie waren zu dritt einmarschiert. Unmittelbar nach Öffnung des Wahllokales. Zuerst die Mutter, dann Jesse, schließlich sein Vater. Auch früher, lange vor Jesses Wahlberechtigung, hatten ihn seine Eltern stets mit zur Wahl genommen. Er kannte das Prozedere. Und er kannte auch das Stadtbezirksrathaus, in dem in einem fahnengeschmückten Raum die Wahl stattfand.

Zuvor hatte sein Vater wie jedes Mal gescherzt: »Mal sehen, ob wir diesmal die Ersten sind. Nur die Ersten bekommen einen Blumenstrauß – falls das wirklich wahr ist.«

Jesses Vater hielt von allen dreien die Personalausweise und Benachrichtigungskarten parat und streckte sie wohlsortiert dem Wahlhelfer entgegen, der daraufhin die Namen der einzelnen Familienmitglieder sorgsam in den doppelt geführten Listen abhakte.

Für einen Moment hatte Jesse überlegt, die eine Wahl­kabine, die etwas abseits stand, aufzusuchen. Sein Vater, dem die Regung seines Sohnes nicht entgangen war und die er durchaus einzuordnen wusste, schob ihn so unauffällig wie möglich zur Wahlurne und bestimmte barsch: »Du wirst uns doch nicht blamieren!«

Jesse hatte daraufhin den Wahlschein, den man lediglich einmal zu falten und dann unbesehen einzu­werfen hatte, wie einen Kassiber zehn- oder zwölfmal geknickt und musste ihn unter den Augen der Wahlhelfer förmlich durch den Schlitz zwängen. Das hatte vor der Wahlurne kurzzeitig einen Stau verursacht. Etwas anderes konnte Jesse in dem Moment nicht tun. Den strafenden Blick des Vaters hatte er hingenommen wie kalten Regen, der unausweichlich war und vor dem man nur den Kopf einziehen konnte.

Mein Gott, dachte Jesse in dem Augenblick, meine Eltern, wenn die mich jetzt so sehen könnten. Blutverschmiert und von der Polizei niedergeknüppelt und wie ein Dieb an Häuserwänden entlangschleichend. Rasch ging er auf Rainers Haus zu. Im Licht der Straßenlampe glänzte der Belag aus Quadersteinen wie die Schuppenhaut eines Reptils.

Die Haustür war verschlossen. Jesse klinkte mehrmals und rüttelte an der Eichentür. Es tat sich nichts. Bequem zu betäti­gende Wohnungsklingeln gab es nur in Filmen. Also hielt Jesse Ausschau nach ein paar winzigen Steinen und musste im selben Moment an den Mann denken, den er vor mehr als einer halben Stunde daran gehindert hatte, einen Stein Richtung Fensterscheibe zu werfen. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er zu dem Mann kein einziges Wort gesagt hatte. Bis auf den einen Satz, der förmlich aus seinem Innersten gekommen war, als das flachsblonde Mädchen hinter der Polizeilinie zu verschwinden drohte, hatte er an dem Abend überhaupt kein Wort gesprochen.

Während Jesse mit dem Kiesel, den er vom Rinnstein aufgehoben hatte, auf Rainers Fenster zielte, fragte er sich: Was sage ich ei­gentlich Rainer, wo ich war und warum ich verletzt bin? Was wird Rainer sagen? Wird er es gut finden? Wird er dahinterkommen, dass der Auslöser ein Mädchen war? Eines, mit dem ich noch kein einziges Wort gewechselt habe. Eines, das vor meinen Augen festgenommen und wie Vieh auf einen Mannschaftswagen getrieben wurde. Nicht einmal Blickkontakt gab es zwischen uns. Kaum hatte sich Jesse wieder aufgerichtet, spürte er erneut die Wunde an seinem Kopf. Ein Schmerz, der sich noch verstärkte, als er den Kopf nach hinten legte. Gezielt warf er den Stein gegen die Scheibe von Rainers straßenseitigem Zimmer. Doch nichts geschah. Auch nach dem zweiten Stein, mit dem er sogar den Rahmen traf, was das Aufprallgeräusch verstärkte, rührte sich nichts.

Bestimmt sitzt er in seiner Wohnküche, die zum Hof gelegen ist, hat sich was gekocht oder hört Musik. Die Vermutung brachte Jesse auf den Gedanken, zum Nachbarhaus zu laufen und dort die Türklinke herunterzudrücken. Und tatsachlich, die Tür sprang auf und führte zu einem Durchgang, den der Nachthimmel diffus beleuchtete.

Die Mauer zum Nachbargrundstück, vor der eine Reihe Aschenkübel stand, stellte für Jesse kein Hindernis dar; rasch hatte er sie überwunden. Er probierte die Hoftür aus. Zum Glück war auch sie nur eingeklinkt und nicht abgeschlossen. Ohne Licht zu machen, nahm Jesse die vier halben Treppen zu Rainers Wohnung.

Vor Rainers Wohnungstür lauschte Jesse in die Nacht. In der Nachbarwohnung ging eine Zimmertür auf und zu, und er hörte den Fernseher laufen und ein paar Fetzen des Schlagers »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, ob du ’n Mädel hast oder auch keins …«. Es war Fernsehzeit, und montags liefen nach 20 Uhr die alten Filme mit Ufa-Stars wie Greta Garbo, Heinz Rühmann oder Theo Lingen. Jesse dachte an seine Mutter, die keinen der Montagsfilme verpasste, auch wenn sie sie schon mehrmals gesehen hatte, und jetzt sicherlich ebenfalls vorm Fernsehgerät saß. Sie konnte, wenn sie bei Filmbeginn noch in der Küche war, fast alle der inzwischen abgedankten oder verstorbenen Ufa-Schauspielerinnen und -Schau­spieler beim Namen nennen. Ihr genügte es, kurz deren Stimme zu hören, in denen immer etwas Diskant mitschwang, als liefen die Filme heutzutage schneller als früher.

Vorsichtig drückte Jesse die Klinke nach unten. Wie nicht anders zu erwarten, war Rainers Wohnungstür verschlossen. Er zögerte und wusste nicht, ob er klingeln sollte. Vielleicht war Rainer eingeschlafen. Die Klingel war in die Tür eingelassen und funktionierte mechanisch, indem man einen Flügel mit Daumen und Zeigefinger hin- und her­drehte. Es war ein krächzender Ton, der im Klingelwerk steckte und vor allem im Treppenhaus zu hören war.

Leise klopfte Jesse an die Tür. Er hätte nicht sagen können, warum, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Es war nach neun Uhr abends und Rainer kein Kneipengänger. Am nächsten Morgen würde die Rollende Woche mit Frühschicht beginnen. In der Frühschicht war um halb fünf die Nacht zu Ende, wenn man viertel sechs die Straßenbahn kriegen musste. Rainer hatte oft genug davon gesprochen, dass er es satt habe, dass sein Leben nach der Schichtuhr verlief und er irgendwann einmal den ganzen Kram hinschmeißen und aus dem ewigen Trott ausbrechen wolle. Überhaupt war er der Ansicht, dass die Schichtarbeit in der Jugend den Magen ruiniere und im Alter das Familienleben.

»Wenn ich Frau und Kind habe, spätestens dann kehr ich dem Laden den Rücken!«, war seine Rede.

Nachdem sein Klopfen nicht erhört wurde, kam Jesse auf die Idee, Rainers Außenklosett zu öffnen. Es war Usus, dass hier der Schlüssel im Schloss steckte. Irgendwann hatte Rainer mal davon erzählt, dass es dort ein Versteck gab, in dem er immer einen Ersatzschlüssel parat hielt. Für alle Fälle. Jesse schaute sich um. Die Zahl der möglichen Verstecke war begrenzt. Im Spülkasten würde der Schlüssel rosten. An der Kette würde er jedem gleich auffallen. Die Wandlampe, eine Kugel, war auch nicht als Versteck geeignet. Also tastete er den Abschluss des Türrahmens ab und fand den Schlüssel, der flach war und zu einem Sicherheitsschloss gehörte.

Vorsichtig schob Jesse den Schlüssel in den Schließmechanismus und öffnete Rainers Wohnungstür.

»Rainer, bist du da?«, rief er halblaut in den vom Treppenhauslicht mäßig beleuchteten Korridor hinein. »Hallo – Jesse hier.«

Keine Reaktion. In der Wohnung blieb es still.

Rasch schloss Jesse die Tür hinter sich, warf kurz einen Blick in Rainers Wohn­küche, die dunkel war, was ihm schon vom Hof aus aufgefallen war. Dass die Küche zudem unbeheizt war, war etwas, das nicht zu Rainer passen wollte, der sich selbst eine erzgebirgische Frostbeule nannte und immer und von überall her Holz zusammenklaubte, um es stets ausreichend warm zu haben. Außerdem hatte Jesse dem Freund erst vor gut einer Woche bei der Einkellerung seiner Deputatbriketts geholfen, die in der Nachtschichtwoche vor dem Haus abgekippt worden waren. Ohne Licht zu machen, betrat er die schmale Wohnküche. An der Wandseite, zum Treppenhaus hin, stand ein riesiger Küchenherd, den Jesse schon bei seinem ersten Besuch in Rainers Wohnung bewundert hatte. Der Herd musste mit Holz oder Kohle befeuert werden. Die in schwarze Metallrahmen gefassten hellen Kachelwände und verzierten Eisentüren waren für den nicht viel mehr als zwei Meter breiten Raum überdimensioniert, zumal dem Ofen gegenüber eine Schlafcouch stand. Jesse hatte es an Rainers Geburtstag als angenehm empfunden, auf diese Weise Rainers Schwester Monika nahezukommen. Meist hatten sie oder er ein Glas in der einen und einen Teller mit Nudelsalat oder Häppchen in der anderen Hand, wenn sie auf dem Weg zu Rainers verglastem Balkon oder in der Gegenrichtung aufeinanderstießen. Da hieß es, geschickt Teller und Glas hochzuhalten, nichts zu verschütten und den Bauch einzuziehen. Körperfülle wäre in dem Fall einer An­näherung eher zuträglich gewesen. Den Mund bekam Jesse an dem Abend so richtig nur beim Nudelsalatessen auf. Gelächelt hatte er. Und gelächelt hatte auch sie. Aber sonst fehlte Jesse einfach der Mut und ein erster Satz, den er hätte sicher über die Lippen bringen können. Fragen wie: »Wie lange oder woher kennst du Rainer?« schlossen sich aus. Aber was sonst ließ sich ein Mädchen fragen, das, wie Rainer mit stolzgeschwellter Brust zu verkünden verstand, gerade einen Eignungstest an der Theaterhochschule bestanden hatte und sich nun auf die Aufnahmeprüfung vorbereitete?

Und als Rainer seine peinlich berührte Schwester zur Meisterin des Nudelsalats kürte, applaudierte Jesse ziemlich auffällig. Aber das war alles, was ihm an dem Abend gelang. Noch bevor dann B.B. mit den beiden Mädels, die er aus Berlin mitgebrachte hatte, barfuß zu einer Hymne von Bruce Springsteen tanzte, war Monika, ohne ein Wort zu sagen, verschwunden.

Rainer hatte nur mit den Schultern gezuckt, als Jesse so beiläufig wie möglich nach Monika fragte. »Das ist bei ihr normal. Sie mag kein Abschiedszeremoniell. Das hat bereits unsere Eltern mächtig gestört. Sie ließ sich schon früher an keine Haltestelle und schon gar nicht im Konvoi zum Bahnhof bringen, wenn es auf Klassenfahrt ging.«

In Rainers Wohnküche war es dämmrig. Wenn auch schemenhaft, so ließ sich doch im Abendlicht erkennen, dass die Wohnküche sorgsam aufgeräumt war. Eigentlich zu sorgsam. Sie sah aus, als müsse sie den Blicken Fremder bestehen. Keine angerissene Vorratspackung klaffte auf. Kein benutztes Geschirr stand herum. Keine Milch im Glas säuerte. An keinem Marmeladenlöffel labten sich Fliegen.

Jedoch die Luft, die im Raum stand, war einige Zeit nicht gewechselt worden und ließ die saubere Einrichtung unwirtlich erscheinen.

2

Die Nacht war für Jesse traumlos vergangen. Hart weckte ihn die Morgensonne. In der Kleidung, die er trug, hatte er auf der Küchencouch Schlaf gefunden. Rainers Schlafzimmer, das straßenseitig lag, hatte er nicht betreten. Die Tür war abgeschlossen und der Schlüssel steckte nicht. Jesse suchte nicht danach. Rainer wollte ganz offensichtlich nicht, dass das Zimmer ein Fremder betritt, also war es für Jesse tabu. Die Couch in der Wohnküche stand nahe dem Fenster. Eine Gardine gab es nicht, nur ein Schnapprollo, das sich nicht arretieren ließ, sondern sich wie ein Schwungrad immer wieder einrollte.

Nach ein paar Versuchen gab Jesse das Hochhangeln auf und sah sich in der Wohnküche um. Die Farbe der Wände war von einem graustichigen, stumpfen Beige. Jesse wusste, dass Rainer, in Ermangelung der in Mode gekommenen und allerorts nachge­fragten Raufasertapete, die Bahnen handelsüblicher Tapete einfach mit dem Dekor nach hinten an die Wände geklebt und dann weiß überstrichen hatte. Dabei hatte sich Rainer, was nicht zu übersehen war, als Laie des Malerhandwerks erwiesen. Die Stöße der Tapetenbahnen sperrten an manchen Stellen auf, und die Ansätze des Pinsels waren nur ungelenk überstrichen worden. Hinzu kam, dass das verschmähte Tapetenmuster, trotz Anstrich, ans Licht wollte und bei der geringsten Beleuchtung hervorschimmerte. Jetzt, bei Sonnenschein, war das Rauten­muster deutlich zu sehen.

Jesse dachte an seine Miniwohnung im Haus der Eltern und an sein Bett, das in dieser Nacht unberührt geblieben war. Seit dem Tod der Vateroma wohnten sie in dem Siedlungshaus an der Märchenwiese, in der die Straßen des Gebiets die Namen von Figuren aus den Märchen der Gebrüder Grimm trugen. Die Eltern hatten das schmale Reihenendhaus mit ihm, dem geschwisterlos gebliebenen Kind, nur wenige Wochen nach dem Ableben der Vateroma bezogen. Sein Zimmer lag zur Gartenseite. Anfangs war es sehr eng und das Leben der Familie spielte sich auf anderthalb Etagen ab. Doch seit dem Umbau, bei dem aus dem ausgebauten Dachboden das elterliche Wohn­zimmer wurde und aus der ehemaligen Waschküche ein Wohnbereich für ihn, verfügte Jesse sogar über Duschbad und Kochnische und über einen separaten Eingang, zu dem eine vierstufige Steintreppe führte.

Wenngleich Jesses Mutter auch nach dem Lehrabschluss ihres Sohnes weiter für ihn wusch und kochte und er auf dem Treppenabsatz stets ein für ihn zubereitetes Schnittenpaket für den Arbeitstag fand, hatte Jesse mehr und mehr damit begon­nen, sein eigenes Leben zu führen und sich oftmals nur durch einen Gruß im Treppenhaus oder ein Wort zwischen Schlaf und Schicht bemerkbar gemacht. Aber solange er mit den Eltern in einem Haus wohnte, blieb er immer Mutters Sohn und Vaters Helfer, der, sobald er nur auftauchte, gefragt wurde, ob er Hunger habe oder frische Wäsche brauche, oder dem am Wochenende ein in aller Frühe vor Tatkraft strotzender Vater im aufgebügelten Overall gegenüberstand, der irgendeine Pergola aufstellen oder einen Zaun richten wollte.

Die Mutter wird die Erste sein, die mich vermisst, dachte Jesse in dem Moment und sah sein Pausenbrot unberührt auf dem gewohnten Platz liegen. Zum Anfang der Schicht lag dort immer auch seine frisch gewaschene Arbeitsmontur, die nach parfümiertem Weichspüler und damit immer nach Kindheit roch: Hemd, Hose, Jacke und Unterwäsche speziell für den Arbeits­tag. Sachen, die getragen meist schon nach wenigen Stunden ihre Fasson verloren hatten und in deren Stoffporen sich Schwaden von Bohremulsion und Maschinenöl einnisteten, um sich in den blechernen Spinden der Garderobe mit den scharfen Ausdünstungen von Schweiß und Waschpaste zu vermischen.

Über dem Ausguss in der Wohnküche wusch er sich kurz, drückte etwas von Rainers Zahnpaste auf den Zeigefinger und putzte sich behelfsmäßig die Zähne. Über dem gusseisernen Waschbecken hing an einem Nagel ein untertassengroßer Rasierspiegel und umrahmte einen Teil von Jesses Gesicht mit der Falte an der Nasenwurzel, die einer Kerbe glich, den ungleichmäßigen, aber dichten Augenbrauen, die wie Vor­dächer über den Augenhöhlen hervortraten, und den kasta­nienbraunen Augen, die an dem Morgen von mattem Glanz waren.

Wäre der Widerschein nicht gewesen, hätte Jesse die Wunde an seinem Kopf vergessen können. Einen direkten Schmerz spürte er nicht mehr. Doch sein Stirnhaar war blutverklebt. Er tastete die Wunde ab und nahm plötzlich Haltung an. Er salutierte vor seinem Spiegelbild: Spätheimkehrer Jesse meldet sich vom Straßenkampf zurück!

Während noch der Rest eines spöttischen Lächelns über seine Lippen glitt, verdunkelte bereits der Gedanke an den zu erwartenden Einberufungsbefehl Jesses Augenpartie. Wer weiß, dachte er im selben Moment, vielleicht liegt der Stellungsbefehl längst zu Hause auf der Treppe?

Eine Befürchtung, die Jesse beinahe täglich überkam. Gemustert als Mot.-Schütze war es seit dem Ende der Lehre nur eine Frage der Zeit, bis ihn das Wehrkreiskommando zum Wehrdienst einberief. In den Pausengesprächen mit seinen Arbeitskollegen hörte er zwar immer wieder die Zusicherung, dass er ja in einem Exportbetrieb arbeitete und damit rechnen könne, bis auf Weiteres zurückgestellt zu werden. Das wäre ein ungeschriebenes Gesetz, eine Notwendigkeit quasi. Das Land wäre wirtschaftlich derart in die Klemme geraten, dass Facharbeiter aus devisenbringenden Betrieben derzeit weder zum Grundwehrdienst noch zu Reserveübungen eingezogen würden. Und bisher hatte dies ja auch zugetroffen, und das galt auch für den um vier Jahre älteren Freund Rainer. Aber dennoch schwebte in einem Land, in welchem Wehrdienstverweigerung unter Strafe stand, der graue Militärmantel über jedem wehrtüchtigen jungen Mann wie über den Bergmännern die Kleidungsstücke in der Waschkaue. Die Uniformen konnten jederzeit vom Haken gelassen werden und jeden einigermaßen gesunden Zivilisten in einen Wehrdienstleistenden verwandeln.

Bis zum Anschlag drehte Jesse den Schlüssel im Schloss um und überprüfte vorsichtshalber noch einmal, ob die Tür zu Rainers Wohnung fest verschlossen war. Den Schlüssel steckte er in die Jackentasche, in der sich bereits der Hausschlüssel befand, den er sich von Rainers Schlüsselbrett genommen hatte. Nach dem Arzttermin wollte er in Rainers Woh­nung noch etwas Ordnung schaffen.

Auf dem Weg zur Poliklinik fiel ihm ein, dass er seinen Sozial­versicherungsausweis nicht dabeihatte. Und auch sonst fühlte er sich unwohl und übernächtigt. Doch dann zerstreute er seine Bedenken. Ich bin verletzt – und fertig, sagte er sich. Sie sollen sich nur meinen Kopf anschauen und nichts weiter.

In der Aufnahme empfing ihn eine burschikose Frau im Alter seiner Mutter mit einer schwarzglänzenden Pagenfrisur. Sie fragte ihn, ob es sich bei seiner Verletzung um einen Arbeitsunfall handele, weil er keine Papiere dabeihätte. Als Jesse verneinte und nach einer Erklärung suchte, übergab sie ihm ein Formular, das er ausfüllen sollte, und verwies ihn ins Wartezimmer. Dort nahm er, nachdem er einen Gruß in die Runde gemurmelt hatte, Platz. Die kurze Lehne und der harte Sitz erinnerten ihn an das Mobiliar in einem Kindergarten. Das Wartezimmer war vollbesetzt. Bis auf zwei quengelnde Kinder und eine laut ihre Krankheiten schildernde Frau schauten die Wartenden stumm vor sich hin. Als Jesse mitbekam, dass auf dem Gestühl ringsum Patienten aller auf der Etage praktizierenden Mediziner saßen, war er sichtlich erleichtert. Doch bis nach der Frühstückspause des Personals tat sich nicht viel. Schließlich galt der Aufruf ihm.

»Jesse, Gregori, bitte Zimmer vier!«

Als sich Jesse erhob, spürte er, dass die Blicke der anderen auf ihn gerichtet waren. Gregori. Er ärgerte sich über seine Handschrift, und nahm sich vor, dergleichen Formulare künftig in Blockbuchstaben auszufüllen.

Der Arzt, ein beinahe alterslos wirkender Mann mit hellem welligem Haar und heller Gesichtsfarbe, die sich kaum abhob von seinem weißen Kittel, stand, als Jesse das Sprechstundenzimmer betrat, neben seinem Schreibtisch und streckte ihm freundlich die Hand entgegen.

»Was ist passiert, junger Freund? Zeigen Sie mal. Sprechen Sie eigentlich deutsch?«

Ich bin Deutscher, wollte Jesse auf der Stelle erwidern. Aber dann war er sich unsicher, ob das die richtige Antwort war. Er hatte das nie auseinanderhalten können: Ob er deutscher Nationalität war oder das nur auf die Staatsbürgerlichkeit zutraf oder auf beides?

In Jesses Kopf kreiselte es. Schließlich reduzierte er seine Antwort auf das Adjektiv. »Deutsch, ich bin deutsch«, sagte er.

»Gut, dann nehmen Sie mal dort auf der Liege Platz. Die Schwester wird erst einmal die Wunde reinigen und dann schauen wir uns Ihre Verletzung genauer an.«

Der Arzt schwieg, als er Jesses Kopf unter dem grellen Licht einer Lampe, die die Schwester herbeigerollt hatte, inspizierte.

»Wie ist das passiert?«, fragte er schließlich. »Sind Sie gestürzt oder ist Ihnen etwas auf den Kopf gefallen?«

Jesse nickte, was ihm im selben Moment peinlich war.

Aber der Arzt winkte nur ab.

»Gestern war Montag, nicht wahr«, sagte er, »und Sie sind demnach gestürzt. Vom Fahrrad, nehme ich an. Der Montag ist der typische Tag für Verletzungen. So wie in der Konsumgüterproduktion montags der meiste Ausschuss produziert wird. So wie sich jeder davor hütet, sofern er die Wahl hat, einen Montagsfernseher, eine Montagswaschmaschine oder ein Montagsbügeleisen zu bekommen, so ist auch der Mensch am Montag vor Unfällen nicht gefeit. Das gilt insbesondere für den privaten Bereich. Bei uns Menschen hat schon nach zwei freien Tagen die Routine ausgesetzt und wir verlieren die Übung. Sofort steigt die Fehlerquote. Das können Sie glauben oder auch nicht, junger Freund. Das ändert nichts. Die Schwester wird Sie verbinden, und ich schreibe Sie für den Rest der Woche krank. Legen Sie sich zu Hause hin. Sie müssen sich Ruhe gönnen. Am kommenden Montagnachmittag sehen wir uns in aller Frische wieder. Da sehe ich mir die Wunde noch einmal an. Bringen Sie zu diesem Termin unbedingt Ihren SV-Ausweis mit. Wir müssen die Behandlung und die Krankschreibung nachtragen.«

Nach dieser Wortkaskade schwenkte der Arzt den Drehhocker um 180 Grad und wandte sich auf der Stelle einem Hängeordner mit neuen Patientenpapieren zu.

Jesse sah sich der Obhut der Sprechstundenhilfe überlassen. Die Schwester, die an ihm hantierte, roch gut, das bemerkte er sofort. Umso mehr überkam ihn der Wunsch, zu duschen und sich frisch einzukleiden.

3

Auf der Treppe, die zum Obergeschoss von Jesses Elternhaus führte, lag tatsächlich das Schnittenpäckchen, das seine Mutter mit einem Apfel dekoriert hatte. Jesse dachte an die zwei kargen Knäckebrotscheiben, die er in Rainers Küchenschrank gefunden hatte, und griff nach Mutters Broten.

Unter der Dusche achtete er darauf, dass der Verband, den die Schwester fest, aber nicht zu straff um seinen Kopf gelegt hatte, nicht nass wurde. Im Schrank fand er, wohl sortiert, frische Unterwäsche, gebügelte Hemden und gewaschene Hosen vor. Wie beim süßen Brei musste er nur etwas davon wegnehmen, um am nächsten oder übernächsten Tag zu bemerken, dass der Hosen-, Hemden- oder Unterwäschestapel wie von selbst nachwuchs.