Leipziger Geschichten - Ralph Grüneberger - E-Book

Leipziger Geschichten E-Book

Ralph Grüneberger

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Beschreibung

Wir lesen von drei Tötungsdelikten und einem Suizid, von zaghafter Liebe und roher Gewalt. Geschichten über Männer und Frauen, diese eint, dass ihr Leben plötzlich auf dem Kopf steht, ihr Horizont im Niemandslicht liegt. Menschen entzweien sich in den Zeiten der Wiedervereinigung, verlieren ihre Fassung. Mehr Schein als Sein wird zunehmend zum Lebensinhalt. Diese 17 Leipziger Geschichten sind geprägt von den Schicksalen derer, die sich ebenso wenig aufgaben wie ihre dem Verfall preisgegebene Stadt. Sie zeigen, man kann Gewinner und Verlierer in einem sein.

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Ralph Grüneberger

Leipziger Geschichten

Erzählungen

Zum Buch

Wiedervereinigungsgeschichten. Es geht um Liebe und Zorn, Mut und Feigheit, Unternehmertum und Amtswillkür. 17 Ich-Erzählungen, die ohne die Ich-Form auskommen. Der couragierte Helfer, der seinen Rückhalt verliert und den der Mut verlässt. Die Verkäuferin, der vom Konzern der Ladentisch unten den Händen weggezogen wird. Der einsame Mann, der sich in eine Friseurin verliebt hat und eine Geschichte erfindet, um sie wiederzusehen.

Für die Mitglieder der Nikolaikirchgemeinde näht eine junge Frau im Herbst 1989 Transparente. Eines trägt die Aufschrift „Wir bleiben hier!“. Jahre später, angesichts von um sich greifender Entmietung, bekommt die selbstbewusste Leipziger Losung erneut einen widerständigen Klang. Ein Witwer, vom Vermieter in die Obdachlosigkeit getrieben, wehrt sich und wird kriminell. Ein anderer kostümiert sich, nur um seinen Sohn zu sehen, da ihm der Umgang mit ihm verwehrt ist. Ein Mädchen wird gemobbt und geht aus dem Leben. Ihr Schatten bleibt an jener haften, die sie zuletzt gesehen hat.

Ralph Grüneberger ist gebürtiger Leipziger und in der Messestadt aufgewachsen. Lesereisen ins europäische Ausland sowie Literaturstipendien, die er erhielt, ließen ihn in Niedersachsen, Brandenburg, den Niederlanden, in Ungarn und im US-Staat Virginia immer wieder Abstand von seiner Region finden, dennoch sind und bleiben Leipziger Land und Leute sein Thema.

Er veröffentlichte Arbeiten für den Rundfunk, Literaturkritiken für das Feuilleton, zahlreiche Lyrik- und Prosabände sowie Monographien zu bildenden Künstlern, entwickelte Formate für die Literaturvermittlung und ist Herausgeber einer Literaturzeitschrift. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er Vorsitzender der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V. und Mitglied im Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Herbstjahr (2019)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © bobmachee / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6330-3

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Zitat

Niemandslicht

Schande

Anders

Das Interview

Der Juror

Die Frisur der Mutter

Wiederkehr

Über das Ziel hinaus

Fernschach

Oldtimer-Blues

Alles in einer Hand

Matroschka-Tag

Schluckauf

Frau M.

Das Date

Weiße Weihnacht

Am Rand oder Das Leben ist ein Roman

Zugabe: Fußläufiges Leipzig

Siebzehn plus eins. Eine Nachbemerkung

Danksagung

Lesen Sie weiter …

Zitat

Ich entwarf ein Ich, und dieses Ich entwarf ein neues Ich, das auch ein Ich entwarf, nur um ein Ich zu bilden, das sich anschloß an die unzählbare Reihe.

Wolfgang Hilbig

Niemandslicht

Hagenuck saß klein und schmächtig auf der Parkbank. Mit dem Kopf hatte er sich in die Jacke zurückgezogen. Er fror und heizte seinem Körper schluckweise aus einer Taschenflasche ein.

Die Männer, die nach der Arbeit ihre Hunde durch die Parkanlage führten, hielten in Höhe von Hagenuck die Leinen kurz, was die Hunde aufjaulen ließ. Hagenuck verspürte große Lust zurückzujaulen, als könne er sich durch Hundelaute mitteilen. Kein Wort hatte er an diesem Tag und bis zu dieser Stunde mit einem Menschen ge­wechselt. Warum also nicht ein wenig mit den Hunden hecheln oder bellen aus voller Brust. Aber kaum hatte er diesen Satz gedacht, verspürte er ein Stechen im Brustkorb, und ein Husten­anfall über­kam ihn.

In großem Bogen spuckte Hagenuck den vom Husten gelösten Schleim aus. Ein Mann, der einen Schoß­hund wie ein Spielzeug hinter sich herzog, wich zurück. Die Blicke der Männer begegneten sich, und Hagenuck sah, dass in den Augen des Mannes kein Schimmer Gnade war. Mit geübtem Griff zog er die Flasche hervor und goss sich den lauwarmen Fusel in den Hals. Für einen Moment war ihm heiß, und übermütig rieb er mit dem Flaschenboden den dünnen Stoff seiner Jacke, als wollte er das restliche Schnapsluftgemisch in der Flasche zum Leuchten bringen.

Doch die Flasche taugte nicht zur Illuminierung des späten Nachmittags, und Hagenuck war nahe daran, sie ins Gebüsch zu werfen. Doch er zögerte, als könne er sich nicht von der Flasche trennen.

Die Sonne hatte sich längst verabschiedet, ohne dass der Mond bereits an ihre Stelle getreten war. So herrschte an Helligkeit in diesem Moment kein Überfluss. Es war eher ein Niemandslicht, das den Menschen ihren Weg oder Unweg wies.

Hagenuck stand unvermittelt auf. Wie üblich schloss er mit der Rechten den mittleren Knopf seines Jacketts. Die Linke steckte die geleerte Flasche in die Brusttasche zurück. Er fasste sich ans Kinn, das unrasiert war. Für einen Augen­blick sah er sich vorm Spiegel der Rathaustoilette stehen und mit der Rasierklin­ge die aufgerichteten Haarspitzen von der Gesichtshaut kratzen.

Doch sofort meldete sich Hagenucks Magen mit einem leichten Ziehen, als käme ihm von allein nicht genug Aufmerksamkeit zu. Noch heute, vor Einbruch der Dunkelheit, beruhigte Hagenuck tätschelnd seinen Magen, werde er wieder am Essenausgabeschalter der Bahnhofsmission stehen.

In geübter Manier schob er den Ärmel der Linken zurück, obwohl die Stelle, an der früher seine gute Schweizer Uhr prangte, längst verwaist war.

Hagenuck blickte zum Himmel, ohne dort einen Anhaltspunkt für sich zu finden, und lief los. Er hatte kein Ziel. Er wusste nur, dass er die Straße zum Park von oben gekommen war. Also würde er seine Schritte nach unten setzen.

Das Haus, vor dem er mit einem Mal stand, war ihm fremd und vertraut zugleich. Das einstige Braunkohlengrau der Fassade war von einem hellen mattglänzenden Farbguss überzogen. Und aus den Gesimsen über den Fensterlaibun­gen traten kleine wohlgeformte Frauenköpfe hervor, als wären sie das Werk eines Konditors. Hagenuck waren die Verzierungen früher nie aufgefallen. Den einzi­gen Kopf, den er mit dieser Fassade verband, war der Kopf seiner Frau, die es liebte, ihren Körper am Nachmittag auf das mit zwei Kissen ausgefüllte Fenster­brett zu betten und ihm entgegenzuschauen.

Hagenuck drückte die Klinke herunter und stellte mit Erstaunen fest, dass die Haustür offen war. Es roch nach Farbe, und im Durchgang waren die Bohlen und Stangen eines Gerüstes gelagert.

Das Erste, was Hagenuck an diesem Haus fremd vorkam, war die große weiße Briefkastenanlage, die an die Stelle der ehemals bunt durcheinandergewürfelten, teils verbeulten Kästen aus Blech und Holz getreten war.

Hagenuck machte kehrt. Im Begriff, das Haus zu verlassen, stieß er mit der Schuhspitze gegen eine Mineralwasserflasche. Er bückte sich und hob die Flasche auf. Ihr fehlte der Verschluss, und Hagenuck wusste, dass sie damit kaum gegen das Pfandgeld einzutauschen war. Doch behielt er die Flasche in der Hand, als er auf die Straße trat und sich von dem Haus entfernte.

Er ging den Weg, den er damals gerannt war, nachdem vier oder fünf maskierte Männer die Tür seiner Wohnung eingetreten, ihm Tisch und Bett zertrümmert und sämtliche Stühle aus dem Fenster geworfen hatten. Er war der letzte Mieter im Haus und hatte starrsinnig alle Angebote des Vermieters ausgeschlagen. Auch dann noch, als regelmäßig der elektrische Strom ausfiel, er bei Kerzenlicht saß und allabendlich der Wasserhahn über dem Ausguss nur ein dumpfes Röhren hervorbrachte.

Rasch hatte Hagenuck in dieser Nacht das Foto seiner Frau von der Wand gerissen und war damit auf die Straße gelaufen.

Hagenuck hörte sein Herz schlagen. Er zwang sich, langsamer zu gehen. Unter dem hell erleuchteten Vordach einer Tankstelle blieb er stehen. Aus seinem Strumpf zog er einen Zehner.

Die Tankstelle war leer, nur vor einer der Zapfsäulen stand ein abge­stellter Wagen. Ohne zu zögern, griff sich Hagenuck einen der Zapf­hähne und füllte zuerst die Wasserflasche und dann die Taschen­flasche mit Benzin auf. Vorsichtig, um nichts zu verschütten, stellte er schließlich mit ruhiger Hand die Flaschen auf den Sockel der Säule und betrat den Tankladen.

Sein Blick fiel sofort auf das zum Greifen nah aufgetürmte Dosen­bier und die in Cellophan eingewickelten Brote. Hagenuck wusste, dass ihn der Tankwart aus den Augenwinkeln ansah, obgleich er gerade genüsslich das Wort »Coupe« aussprach und damit den Mann, der rechts vom Tresen an der Kaffeetheke lehnte, zum Ent­zücken brachte. »Ich sage nur K wie Kappa«, sagte der Mann nun seinerseits, und der Tankwart nickte. »Der hat Memoryfunktion, da erinnert sich der Sitz an deinen Arsch, auch wenn du irgendwann mal deine Frau ans Steuer lässt und alles verstellt ist.«

Hagenuck räusperte sich und sagte: »Fünf.« Der Tankwart sah ihn groß an und suchte seinen Monitor nach dem betankten Fahrzeug ab. Schließlich betätigte er einen Knopf und sprach verwundert die Summe von 2,80 Euro aus. »Haben Sie Ihr Feuerzeug nachgefüllt, guter Mann?«, fragte der Tankwart.

Hagenuck blieb unbeeindruckt, schob mit einer Hand den Geldschein in die Kassenschale und tippte mit den Fingerkuppen der anderen gegen die Glas­vitrine, in der sich die buntbelegten Brote befanden, und sagte: »Zwei.«

»Sehr wohl«, erwiderte der Tankwart, »ist recht. Entschuldigen Sie, ich hätte es merken müssen. Sie haben bei mir Ihren Rasenmäher aufgetankt, nicht wahr. Bloß Super plus hätte der nicht gebraucht, wenn Sie mich fragen, normales Benzin hätte auch gereicht.«

Hagenuck ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er presste fest beide Daumen gegen die Öffnungen der Flaschen.

Im Durchgang des Hauses zog er die Senkel aus seinen Schuhen und stopfte sie in die Flaschenhälse. Danach klopfte er seine Hosen- und Jackentaschen nach dem Päckchen Streichhölzer ab, das er stets bei sich trug.

Der Abend war mit einem Mal hell und warm. Das Niemandslicht hatte einen Namen. Blau zuckten die Rundumleuchten der Feuer­wehren.

Hagenuck stand im Licht der Telefonzelle und roch an seinen Händen. Benzin roch er gern, das hatte er schon als Kind getan.

Schande

1

Die Auslagen des Obst- und Gemüsegeschäftes sahen wie immer bunt und appetitanregend aus. Die Äpfel glänzten, und die prallen Orangen waren einzeln in feine Servietten gebettet. Doch zogen die terrassenförmig angeordneten Früchtestiegen nicht wie sonst die Augen der Passanten auf sich, obwohl gerade jetzt zur Weihnachtszeit frisches Tannengrün, Nussbraun und rote Glitzerkugeln das Arrangement umrahmten.

Vor dem Laden herrschte Stille. Die Menschen, die sich hier in kleinen Gruppen aufhielten, standen schweigend zusammen. Einige gestikulierten und wiesen wieder und wieder auf eine Stelle, die sich hinter dem Schaufenster befinden musste. Löste sich ein Arm aus der Menge, um über die Köpfe hinwegzuweisen, drehten die ande­ren ihre Gesichter in Richtung des Fingerzeiges.

In einer Gruppe südländischer Menschen stand Özal Tanyol, der Inhaber des Geschäftes. Stumm und ohne Unterlass schüttelte er den Kopf. Die Männer um ihn waren verhüllt von Rauch, die Frauen von Tuch.

Der bunte Landrover einer Rundfunkstation, dessen Warnblinkanlage in Betrieb war, schob sich langsam und beinahe lautlos auf den Gehsteig. Zwei Männer stiegen aus und warfen entgegen der augenblick­lichen Stille am Ort die Fahrzeugtüren viel zu heftig ins Schloss.

Der eine, ein Fotograf und wie ein solcher ausgerüstet, überschaute sofort das Terrain und zog ohne Umschweife das für die Bildsituation passende Objektiv aus der Umhängetasche. Nicht minder zielstrebig steuerte der andere auf einen Mann zu, der im selben Moment dem Wortführer einer Gruppe zustimmte, der mit gesenk­tem Kopf und ohne die Stimme zu heben das Wort »Schande« aus­sprach.

Es war ein Leichtes für den Mann, der sich seinerseits durch das Mik­­rofon in seiner Hand als Reporter auswies, die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken. Kaum hatte er sich vor dem Mann aufgebaut und seine Profession durch das in Gang gesetzte Aufnahmegerät verdeutlicht, kam Eifer in die Gesichtszüge des Mannes, und er sagte: »Sie, darüber müssen Sie berichten! Es ist eine Schande für die ganze Stadt.«

Der Reporter, der es gewohnt war, mit einem Halbsatz irgendwo hingeschickt zu werden, um den Ort mit einer ganzen Geschichte zu verlassen, fragte den Mann: »Können Sie detailliert etwas zum Geschehen sagen?«

»Ich bin nicht dabei gewesen«, antwortete dieser, »aber ich wohne ganz in der Nähe oder besser gesagt, gleich um die Ecke. So­viel ich weiß, soll der Täter betrunken gewesen sein.«

»Sie meinen den Mörder«, fragte der Journalist nach. »Es war doch Mord?«

»Mord oder Totschlag«, antwortete der Mann, »das ist eine Frage für den Staatsanwalt. Fest steht, es ist eine Schande für die Straße, das Viertel, die ganze Stadt. Und das auch noch zur Weihnachts­zeit.«

»Wenn ich Sie richtig verstehe«, forschte der Reporter weiter, »fühlen Sie sich als Anwohner im engeren Sinne verantwortlich.«

»Genau das ist der Punkt«, stimmte der Mann zu, »ich kann vom Küchenfenster auf diesen Laden sehen und kann es nicht verhin­dern, dass in ihm am helllichten Tage ein Mensch abgestochen wird, nur weil er angeblich eine undeutsche Antwort gegeben haben soll.«

»Wissen Sie denn, was der Araber vor seinem Tod gesagt hat?«

»Ich weiß nicht, wie Sie auf Araber kommen. Es war ein Portugiese.«

»Sicherlich ein Übermittlungsfehler, aber ich denke, das ist nicht das Problem«, versuchte der Journalist einzulenken.

»Doch, das ist das Problem«, beharrte der Mann. »Solange uns die Menschen gleich sind, sie nur Ausländer unter Ausländern bleiben, haben sie für uns weder ein Gesicht noch eine Geschichte.«

»Zugegeben«, pflichtete der Reporter bei, während seine Augen nach einem weiteren Gesprächspartner Ausschau hielten, »ein interessanter Gedanke, den Sie da aussprechen, Herr …«

»Kretschmar, Otmar Kretschmar«, ergänzte der Mann.

»Ja, Herr Kretschmar, wirklich ein interessanter Aspekt. Wir sollten das irgendwann vertiefen. Jetzt aber möchte ich die Hörer von City Radio und die Leser der Stadt-Zeitung mit aktuellen Informationen versorgen. Mein Name ist übrigens Carsten Reisig. Vielleicht ken­nen Sie ja die Sendung ›Carsten Reisig von neun bis zehn Uhr dreißig‹ oder haben schon Artikel von mir gelesen. Mein Kürzel ist ›car‹.«

»Sagt mir jetzt nichts«, bemerkte Otmar Kretschmar kurz, was der Stimmung zwischen den beiden nicht aufhalf. Aber Carsten Reisig, gewillt das Interview in aller Form und ohne weiteren Aufwand zu Ende zu führen, fuhr seinerseits fort: »Sagen Sie mir lieber, was Sie gesehen haben, Herr Kretschmar.«

»Wie gesagt, ich bin nicht dabei gewesen«, wiederholte sich dieser.

»Soviel ich weiß, sind kurz vor Ladenschluss hier zwei junge Männer aufgetaucht und haben sich eine Kiste mit Bierdosen gegriffen und wollten den Laden verlassen ohne zu bezahlen …«

»… und da hat der Portugiese eingegriffen und die beiden gestoppt. Ist das richtig?«

Der Reporter hatte längst bemerkt, dass der Kollege von der Bildredaktion die Kamera bereits verstaut hatte und mit auffällig ver­schränkten Armen wartend am Wagen lehnte. Car­sten Reisig wollte zum Ende kommen und schaltete das Bandgerät aus. Der Portugiese hatte also junge Männer am Mundraub hindern wollen, soviel stand fest. Und sie haben ihm dafür die Klin­ge eines Messers zwischen die Rippen gejagt. Er soll auf der Stelle verblutet sein. Carsten Reisig sah vor sich das Bild eines Schuhabdrucks in einer Blutlache. Rasch winkte er seinen Partner zu sich heran. »Schau mal in den Laden«, wies er diesen an, »vielleicht findest du Spuren des Kampfes auf dem Fußboden. Sieh’ genau hin!«

»Es war kein Kampf«, sah sich Otmar Kretschmar veranlasst zu er­widern. »Der Portugiese ist nicht tätlich geworden. Er hat lediglich ›Money‹ gerufen und sich den beiden in den Weg gestellt. Schreiben Sie das.«

»Wenn Sie einen Moment so bleiben wollen, Herr Kretschmar«, sagte Carsten Reisig und rief auf der Stelle den Fotografen zurück.

»Mach’ von dem Mann ein Porträt.«

Das Licht blitzte in Folge auf, und für Momente ruhten die Augen der Umstehenden auf Otmar Kretschmar.

Für Carsten Reisig war die Sache im Kasten. Was er im Rundfunk an O-Tönen nicht unterzubringen vermochte, konnte er immer noch für die Zeitung als Zitat verwenden.

Herr Kretschmar, sichtlich irritiert von dem Blitzlichtgewitter, das auf ihn niedergegangen war, fragte vorsichtig: »Herr Reisig, ich müsste jetzt gehen.«

»Kein Problem, Herr Kretschmar«, sagte Carsten Reisig. »Wir sind fertig. Wenn Sie nur so freundlich wären und mir Ihre Telefonnum­mer geben, falls ich noch eine Frage habe.«

»Hier haben Sie meine Karte«, unterstrich Otmar Kretschmar seine Geste. »Allerdings bin ich in aller Regel nicht vor 21 Uhr zu Hause. Außendienst, wenn Ihnen das etwas sagt.«

»Versicherung, wie ich sehe«, erwiderte Carsten Reisig mit einem Anflug von Dankbarkeit. »Vielleicht kann ich ja bei der Gelegen­heit etwas Reklame für Sie machen.«

2

Noch einige Male hatte Otmar Kretschmar von seinem Küchenfen­ster aus an diesem Abend zu dem Laden hinübergeschaut. In den Abend- und Spätnachrichten der überregionalen Fernsehstationen wartete er vergebens auf eine Meldung über das Verbrechen vor seiner Haustür. Für einen Augenblick überkam ihn der Wunsch, seine Frau zu wecken, die wie immer um diese Zeit bereits im Bett war, um, wie sie sagte, die Stunden vor Mitternacht als Schönheitsschlaf zu genießen.

Seit Otmar Kretschmar nicht mehr wie seine Frau um halb sieben ins Büro musste und auch nicht mehr gegen 17 Uhr mit ihr gemeinsam zu Hause eintraf, hatten sich andere Gewohnheiten eingestellt. Für ihn fing der Arbeitstag in aller Regel am frühen Vormittag an, um spätabends zu enden. Seine Frau konnte er immer nur kurzfristig benachrichtigen, wann er nach Hause käme. Das Versicherungsgeschäft ist nicht planbar, oftmals riefen ihn Kunden an, die auf der Stelle irgendeinen Schaden an ihrem PKW melden oder eine Versicherung für eine plötzlich für den nächsten Tag geplante Reise abschließen wollten.

Den Kuss, den ihm seine Frau am Morgen auf die Stirn drückte, hatte Otmar Kretschmar noch gar nicht recht wahrgenommen. Was er wahrnahm, war der Hauch von Moschus, den seine Frau mit großer Geste in die Morgenluft des Schlafzimmers trug.

»Wach’ auf, Oti!«, trällerte sie, »du bist in der Zeitung.«

Und tatsächlich hielt sie die neueste Ausgabe der Stadt-Zeitung in den Händen, die aufgemacht war mit der Kopfzeile »AUSLÄNDER IM NORDEN DER STADT VON ZWEI DEUTSCHEN ERSTO­CHEN – BÜRGER EMPÖRT!«

Im Zustand der Dämmerung hatte sich Otmar Kretschmar indessen aufgerichtet, seine Frau hatte ihm, ohne dass er es bemerkt hatte, ihr Kopfkissen in den Rücken geschoben.

»Warte, ich les’ es dir vor«, sagte sie. »›Der portugiesische Bauarbei­ter Rodrigo Pessoa, der sich seit Jahresbeginn ohne festen Wohn­­sitz in Deutschland aufhielt‹ … warte ich hab’s gleich … du bist richtig erwähnt, namentlich … hier, hier ist es … also, pass auf: ›Der Versiche­rungskaufmann Otmar Kretschmar hat gestern gegenüber der Presse den Vorfall eine Schande für die Straße, in der er wohnt, den Stadtteil sowie die Stadt selbst genannt. Ich schäme mich, sag­te er, dass junge Menschen, die unsere Erziehung genossen haben, zu solcherart grausamen Taten imstande sind.‹ Und jetzt kommt das Beste, daneben ist sogar ein Bild von dir abgedruckt. Ich werde gleich noch eine Zeitung kaufen und sie Frank schicken, er wird stolz sein auf seinen Vater.«

»Meinst du, dass sich Frank wirklich dafür interessiert?«

»Aber warum denn nicht? Nicht jeder hat einen Vater, der in der Zeitung steht.«

»Musst du nicht los?«, fragte Otmar Kretschmar sichtlich beeindruckt von dieser ungewöhnlichen Geltung, die er an diesem Morgen von Seiten seiner Frau erfuhr.

Als sie gegangen war, bemerkte er, dass sie ihm sogar das Früh­stück ans Bett gestellt hatte. Er biss in eines der belegten Brötchen, nahm einen Schluck Kaffee und schlug die Zeitung noch einmal auf. Tatsächlich, oberhalb des Knicks stand der Artikel, der auch sein Foto enthielt. Eine teure Adresse, dachte er für sich, seit er aus einem Marketing-Seminar wusste, wie teuer eine Anzeige in der oberen Hälfte einer Druckseite war.

Der Artikel enthielt neben der vorgelesenen Stellungnahme einige Informationen, die Otmar Kretschmar bislang unbekannt waren. Er wunderte sich, dass ihn der Journalist, der, was Kretschmar das erste Mal bewusst zur Kenntnis nahm, diesen seinen Beitrag tatsächlich mit »car« unterzeichnet hatte, ihn über etliche Einzelheiten im Unklaren gelassen hatte.

Wenn der Mann Familie hat, dann sollte man für seine Überführung und Beerdigung sammeln, gerade jetzt vor Weihnachten, empfand Otmar Kretschmar spontan. Das Wirksamste ist wohl, einen Aufruf in den La­den zu hängen und ein Spendenkonto zu eröffnen.

Otmar Kretschmar zog sich rasch an. Ohne zu überlegen, war er in die Kleidungsstücke geschlüpft, die er Stunden zuvor abgelegt hatte. Das war nicht seine Art, vielmehr war er es gewohnt, den neuen Tag mit einem frischen Hemd zu beginnen.

Im Keller suchte er nach einem plakatgroßen Tapetenrest, um die Idee, zu einer Sammelaktion aufzurufen, ohne Aufschub in die Tat umzusetzen. Die Tapetenrollen, die er fand, waren jedoch allesamt feucht und modrig. Seit der Hauseigentümer allen Mietern die Nutzung der Bodenkammern wegen Eigenbedarf gekündigt hatte, schälte sich das Furnier von den Schränken, in denen die Kret­schmars die Wintergarderobe aufbewahrten, und die Pappen und Tapeten nahmen die Feuchtigkeit der Kellerräume an.

Wieder in der Wohnung angelangt, setzte er sich an den Schreib­tisch und dachte, als Erstes sollte ich den Aufruf entwerfen.

Als das Telefon klingelte, bemerkte Kretschmar, dass er den Tag ohne jede Planung begonnen hatte. Während er mit der einen Hand den Hörer abhob, fingerte er mit der anderen seinen Terminkalender aus der Aktentasche.

»Kretschmar hier«, rief er in die Sprechmuschel, um weiter nichts als ein Knacken hervorzurufen. Auch gut, dachte Otmar Kretschmar und hängte auf.

Den nächsten Termin hatte er in etwa einer Stunde im Büro der Bezirksdirektion seiner Versicherungsgesellschaft. Vielleicht, dachte Kretschmar, kann ich einige meiner Kolleginnen und Kol­legen für eine Spende gewinnen. Und wenn ich die Sekretärin bitte, schreibt sie mir den Aufruf bestimmt mit Computer, und ich ver­größere das Blatt mit Hilfe des Kopierers.

3

Der Inhaber des Ladens, der Türke Özal Tanyol, hatte an diesem Tag keine seiner Obst- und Gemüse­stiegen zu bewegen oder zu leeren gehabt. Die Menschen kamen, um Blumen auf den Stiegengerüsten abzulegen oder um auf einem großen Blech, das die Mitte des Bürgersteiges einnahm, Kerzen aufzustellen. Manche betraten vorsichtig den Laden, um einen Blick hineinzuwerfen, andere blie­ben an der Tür stehen oder sahen durch die Scheibe.

Özal Tanyol war stumm geworden. Hatte er sich gestern noch in sei­nem flüssigen, leicht akzentuierten Deutsch den Hergang des Verbrechens mehrmals von der Seele reden müssen, genügte heute, dass er mit einer Kopfbewegung auf den Zeitungsartikel deutete, den irgendjemand an der Ladenscheibe befestigt hatte.

Otmar Kretschmar war voller Tatendrang. Den Spendenaufruf hielt er zusammengerollt in der einen Hand, in der anderen verwahrte er sorg­fältig einen gefütterten Umschlag, der die von ihm im Laufe des Tages in der Direktionsetage und im Büro gesammelten 145 Euro enthielt. Otmar Kretschmar war an diesem Tag des Öfteren auf sein Bild in der Zeitung angesprochen worden. Die meisten hat­ten allerdings den dazugehörigen Artikel nur überflogen und wollten von Kretschmar wissen, was sich da in seinem Viertel eigentlich ab­gespielt hatte.

Jetzt, da Otmar Kretschmar auf Özal Tanyol zuging, um ihm das Geld für die Familie des Opfers auszuhändigen, bedauerte er für einen Moment, dass er Carsten Reisig weder beim City Radio noch bei der Stadt-Zeitung erreichen konnte. Aber bis zum späten Nachmittag wollte Otmar Kretschmar nicht mit der Übergabe des Geldes und vor allem mit dem Aushang seines Aufrufes warten. Zudem hatte sich Kretschmars Versicherungsgesell­schaft bereit erklärt, ein Konto eigens für die Angehörigen von Rod­rigo Pessao zu eröffnen, und der Bezirksdirektor hatte Kretsch­mar dafür eine Spende des Aufsichtsrates in Aussicht gestellt, wenn er, Kretschmar, für eine nachhaltige Presseresonanz Sorge trage.

Özal Tanyol dankte Otmar Kretschmar in Form einer festen, warmen Umarmung, die überraschenderweise durch ein plötzlich auf­gel­len­des Blitzlicht dekoriert wurde. Ungeschickt rollte der Türke das sich immer wieder einrollende Plakat aus, strich das Papier des Aufrufs glatt, schaute lange darauf und murmelte dann mehrmals

»Gut, gut«. Gemeinsam befestigten er und Kretschmar das Papier schließ­lich in Augenhöhe an der Scheibe, was sogleich die Aufmerksamkeit der Passanten auf die beiden und das Schriftstück zog.

4

Mit den Worten: »Es wird Zeit, dass du kommst« empfing Helga Kretschmar Minuten später ihren Mann. »Ich bin am Verzweifeln.«

»Ich habe den ganzen Tag gesammelt und den Aufruf zur Unterstützung der Familie des Opfers beim Gemüsetürken aufgehängt.«

»Was für einen Aufruf, um Gotteswillen?«, fragte Helga Kretschmar irritiert ihren Mann.

»Die Familie des Opfers hat keinen Ernährer mehr, das hast du doch selbst heute Morgen gelesen«, erklärte sich Otmar Kretschmar.

»Hast du den Aufruf etwa mit unserem Namen unterschrieben?«, forschte Frau Kretschmar streng.

»Mit welchem Namen sonst?«, erwiderte Otmar Kretschmar ungehalten.

»Dann geh’ du bitteschön auch ans Telefon«, warf Helga Kretschmar ein, »ich lasse mich jedenfalls nicht länger ›Ausländerflittchen‹ und ›Kommunistensau‹ schimpfen.«

Noch bevor Otmar Kretschmar die Äußerung seiner Frau bewusst wer­den konnte, unterstrich das Klingeln des Telefons das eben Gehörte. Pflichtgemäß hob Kretschmar den Hörer ab und meldete sich mit Namen.

»Wenn es Ihnen hier nicht passt, Kretschmer, dann machen Sie, dass Sie wegkommen!«, schrie es Otmar Kretschmar entgegen.

»Hallo, wer ist dort?«, fragte dieser zurück.

»Ein Deutscher, du Kanake«, klang es aus dem Hörer, und nach einem Knacken setzte das Freizeichen ein.

Kaum hatte Otmar Kretschmar den Hörer auf die Gabel gelegt, klin­­gelte es erneut. Kretschmar sagte nur »Ja, hallo.«

Und ein vorsichtiges »Hallo« kam zurück. »Ist dort der Anschluss Kretschmar?«, fragte nach einer Pause schließlich eine weibliche Stimme.

»Richtig, Sie sind mit dem Anschluss Kretschmar verbunden. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Otmar Kretschmar in der Diktion des Vertreters.

»Ich heiße auch Kretschmar, verstehen Sie, und wohne in derselben Straße wie Sie«, war die vorsichtige Stimme der Anruferin weiter zu vernehmen.

»Ja«, bestätigte Kretschmar kurz.

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, in meinem Alter hat man keine Angst mehr, aber es kränkt mich, wenn pausenlos Menschen bei mir anrufen und auf unflätige Weise Schimpfworte über mich ergehen lassen. Selbst vor Drohungen schrecken einige nicht zurück.«

»Sie haben also meinetwegen Schwierigkeiten, Frau …, Frau Kretschmar, wenn ich Sie richtig verstehe. Das tut mir leid«, bemerk­te Otmar Kretschmar mit deutlichem Bedauern.

»Guter Mann, das muss Ihnen nicht leidtun«, meldete sich die Frau mit vorsichtiger Stimme zu Wort. »Ich bewundere Sie. Was Sie in der Zeitung gesagt haben, musste einfach einmal ausgesprochen werden. Ich wollte Sie eigentlich nur warnen, seien Sie vorsichtig.«

»Die Zeitung hat wie immer etwas übertrieben. So habe ich das gar nicht gesagt, aber haben Sie vielen Dank«, verabschiedete Otmar Kretschmar die Namensvetterin und legte rasch auf.

Mit einer Hand umschloss er die andere, um dem Zittern, das ihn befiel, zu begegnen. Doch sofort schlug das Telefon erneut an. Wieder meldete sich Kretschmar nur mit »Hallo«.

»Eh, siehst du die Laterne vorm Fenster?«, fragte die Stimme eines jungen Mannes.

Otmar Kretschmar unterdrückte seinen Atem, und der Mann am anderen Ende fuhr fort: »Die Laterne ist für Ausländerfreunde wie dich. Wenn du nicht aufpasst, hängst du morgen da dran.«

»Ich ziehe jetzt den Stecker raus«, entschied Otmar Kretschmar, »das höre ich mir nicht länger an. Vielleicht sollten wir vorher Frank anrufen, mir wäre lieber, er käme für ein paar Tage her.«

»Das kannst du dir sparen, ich habe schon mit dem Jungen gesprochen«, bemerkte Helga Kretschmar. »Er hat mir gleich gesagt, so was macht man doch nicht.«

»Hat er den Artikel gelesen?«

»Ja, er ist gleich los und hat sich auf dem Berliner Hauptbahnhof unsere Zeitung gekauft. Er meinte, du musst lebensmüde sein, dich so weit aus dem Fenster zu lehnen, und das mit Name und Hausnummer.«

»Du meinst, er kommt also nicht?«

»Denkst du, er kann Hals über Kopf seine Arbeitsstelle verlassen, nur weil du den Helden spielen musst?«

Otmar Kretschmar hielt immer noch den Hörer in der Hand und legte ihn schließlich neben den Apparat. Das langandauernde Frei­zeichen beruhigte ihn für Sekunden, doch schon kurze Zeit spä­ter schien der Ton in seinen Ohren immer lauter und schriller zu wer­den.

»Was suchst du denn um die Zeit im Keller?«, fragte Helga Kretsch­mar, als ihr Mann dabei war, den passenden Schlüssel vom Brett zu nehmen.

»Ich muss was erledigen«, antwortete Otmar Kretschmar ungehalten, er kam sich beobachtet und gleichermaßen ertappt vor.

Im Keller fand er das Gesuchte rasch, verstaute es in einer Plastiktüte und verließ hastig das Haus. Wenige Meter vor dem Gemüse­laden des Özal Tanyol blieb er in einer Toreinfahrt stehen. Eine hell ­­erleuchtete Straßenbahn fuhr vorbei. Die Gesichter der Fahr­gäste waren auf das Ladengeschäft gerichtet.

Vor dem Laden stand ein Pärchen und versuchte den Aufruf zu lesen. In der Hand hielt der Mann ein Feuerzeug, dessen Flamme etwas Licht auf die Schriftzüge warf. In dem Moment, als die Flamme erlosch und das Pärchen sich anschickte, seines Weges zu ge­hen, trat Otmar Kretschmar aus der Toreinfahrt, griff die Farb­dose aus der Plastiktüte, die er die ganze Zeit an sich gedrückt hatte. Der Dosendeckel klemmte, und Kretschmar nahm kurzerhand sei­nen Schlüsselbund und drückte mit Hilfe eines flachen Bartes den Deckel auf. Noch einmal sah er sich um und schnellte im selben Augenblick auf den Laden zu.

Mit einer schwungvollen Handbewegung ließ er den gesamten In­halt der Farbdose gegen die Scheibe schwappen. Der Aufruf verlor sich unter der latexweißen Welle.

Wie er gekommen war, verschwand Kretschmar. Die Dunkelheit der Straße nahm er wie einen schützenden Mantel an.

Anders

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