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'Herbstkobolde' erzählt die Geschichte von der 12-jährigen Jennifer, die sich als Opfer und Schuldige bei der Trennung ihrer Eltern fühlt, und ihrer Großmutter Claire, die in einem uralten Haus in den Bergen lebt. In diesem Haus leben auch die Herbstkobolde, die einerseits mit ihren Streichen anderseits aber auch mit ihren kleinen und großen Hilfen das Leben und den Tagesablauf mitbestimmen. Jennifer hat das Vertrauen zur Welt der Erwachsen verloren und sich beinahe ganz in sich zurückgezogen. Das spürt die Großmutter und sie sucht nach einem Weg, das Vertrauen ihrer Enkeltochter zurückzugewinnen. Dabei teilt sich die Welt in eine reale und eine Zauberwelt. Die Herbstkobolde machen Jennifer mit dieser Zauberwelt vertraut und sie erfährt, was Vertrauen bedeutet.
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Seitenzahl: 209
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Wilfried Kanzok (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Leben Bücher und Literatur jeglicher Art gelesen. Endlich fand er in seinem Ruhestand die Zeit, sich dieser Leidenschaft auch schaffend (bevorzugt in seiner 2. Heimat, der Normandie) zu widmen.
Herbstkobolde ist sein erster Roman.
Prolog
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Epilog
Weit war sie an diesem Abend nicht gekommen. Die Schmerzen in den Knien hatten ihr zu schaffen gemacht, und so war der abendliche Spaziergang kürzer als geplant ausgefallen. Dabei hatte sie schon gar nicht mehr viel geplant. Sie war schließlich realistisch und mit 71 eben kein Rennpferd mehr. Wollte eigentlich nur um den Teich herum, den Bachlauf hinauf bis zum Kiefernwald und von der Felskuppe im Wald auf das Tal schauen, wie es so da lag im Abendlicht, dieser Blick, den sie so liebte. Am Waldrand war sie heute stehen geblieben und hatte zurückgeblickt auf ihr kleines, knorriges Holzhaus, das sich an den Stamm einer riesigen Kastanie lehnte. Der Bach war zu einem kleinen Teich aufgestaut, sicher schon viele hundert Jahre; ob durch Menschen, die das Wasser nutzen wollten, oder durch einen Bergrutsch war heute nicht mehr zu erkennen.
Nachdenklich sah sie auf ihr Haus, das sie schon in ihrer Kindheit behütet hatte, und Erinnerungen an Kindertage und das einfache Leben mit ihren Eltern tauchten auf. Die unbekümmerte Fröhlichkeit, die in den Balken, diesen uralten Stämmen, haften geblieben war, war immer noch spürbar.
Ein leichter Dunst lag über dem Teich an diesem schönen Spätsommertag. Eigentlich noch zu früh für die Jahreszeit, aber ein unabwendbarer Hinweis darauf, dass der Sommer sich dem Ende neigte. Ihr Blick war an der Kastanie hängen geblieben, diesem uralten, riesigen Baum, der gar nicht so richtig in die Landschaft passen wollte. Denn Kastanien waren selten in der Gegend und so hoch am Berg erst recht. Ihre Augen ruhten auf der riesigen grünen Blätterkuppel, die in der Abendsonne erstrahlte, und die, wenn man genauer hinsah, doch kein reines Grün mehr war, denn die großen gezackten Blätter hatten schon einen leichten gelben Rand bekommen. Und eingestreut in dieses Farbenmeer hingen einige tausend grüne Igel, denn die prachtvolle Blüte im Frühjahr hatte Früchte getragen und der Bienenschwarm, der wie bestellt erschienen war, hatte seinen Beitrag dazu geleistet.
Woher die Bienen kamen, wem sie gehörten und wohin sie ihren Honig trugen, war, solange sie sich erinnern konnte, immer ein Rätsel geblieben. Weder die Eltern noch ihr Großvater, als er noch lebte, hatten ihre Frage beantwortet. Auch die Forschungsreisen ihrer Kindertage hatten dieses Rätsel nicht enthüllt, und irgendwann begann sie es als selbstverständlich hinzunehmen, dass mit Beginn der Kastanienblüte ein großer Bienenschwarm erschien und, wenn die weißen Blütenteile wie Schnee den Boden bedeckten, wieder verschwand.
Langsam war sie am Bach entlang zurückgegangen und hatte sich mit einem leisen Ächzen auf der Bank neben dem Haus niedergelassen. Die Sonne hatte das raue Holz erwärmt, und mit Wohlbehagen merkte sie, wie die Wärme in die Beine und den Rücken kroch. Sie kniff die Augenlider zusammen und sah zu, wie der Baum das schräg einfallende Sonnenlicht in Streifen schnitt. Ein Schwarm Meisen turnte munter im Astwerk. Eine tiefe Ruhe machte sich in ihr breit und ein warmes Gefühl von Zufriedenheit. Von der Bank aus konnte sie den Baumstamm mit der Hand erreichen und sie streichelte sanft über die schuppige Rinde.
In den Blättern raschelte es, und einer der grünen Igel landete mit einem kleinen „Plopp“ auf den Boden. Zwei glänzende braune Kastanien fielen dabei aus ihrer grün-weißen Hülle. Aus den Augenwinkeln vermeinte sie ein kleines Huschen zu sehen. In der Luft hing ein Laut wie der Nachhall eines feinen Silberglöckchens. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht und ein wissendes Kichern stieg sanft ihre Kehle hinauf. Der zweite Igel fiel herab, und sie spürte einen kalten Schauer auf ihren Händen. Sie stand auf und ging nachdenklich ins Haus.
Unabwendbar war der Herbst gekommen.
Wie eine schwarze, zähe Giftwolke hatten sich die heftigen, beißenden Worte der streitenden Eltern durch die Türritzen in Jennifers Zimmer gezwängt und sich bleischwer auf ihrer Bettdecke niedergelassen. Jennifer konnte unter diesem Gewicht kaum noch atmen. Unruhig warf sie sich hin und her und zerrte an ihrem verschwitzten Schlafanzug. Immer wieder hörte sie ihren Namen. Obwohl sie nicht alles verstehen konnte, was sich die Eltern gegenseitig vorwarfen. Aber wenn ihr Name fiel, war es jedes Mal wie ein Hammerschlag auf ihren Kopf.
Sie konnte nicht einschlafen. Die Uhr im Wohnzimmer hatte längst elf Uhr geschlagen. Ängstlich sah sie sich im Zimmer um. Durch einen kleinen Spalt in der Jalousie fiel ein wenig Mondlicht herein. Es ließ den Tisch und ihren Schrank gegenüber vom Bett als schwarze Rechtecke erscheinen. Eine dünne Lichtlinie zeichnete die Zimmertür auf die schwarze Wand. Wegen der Streiterei hatte niemand daran gedacht, das Licht im Korridor zu löschen.
Plötzlich liefen Tränen der Verzweiflung über ihr erschöpftes Gesicht und sie presste den Kopf gegen den Teddybären, der erneut ihr tröstender nächtlicher Beschützer war. Eigentlich war er schon längst ausrangiert, denn mit fast zwölf Jahren hatte sie geglaubt, dass dieser Kinderkram weit hinter ihr lag. Kein Mensch konnte sie mehr trösten. War es ihre Schuld, dass die Eltern stritten? Immer wieder wurde ihr Name genannt.
Erschöpft stieß Florian Wiegandt, Jennifers Vater, den Atem aus. Er konnte nicht begreifen, wieso es seit Wochen zu solchen Auseinandersetzungen kam. Er liebte seine Frau und seine Tochter doch über alles. Tag für Tag schuftete er zwölf, vierzehn Stunden, und was war der Dank dafür, dass er sich so für die Familie opferte? Vorwürfe, Nörgeleien, das Ansinnen, er möge sich an der Hausarbeit beteiligen und jetzt auch noch die abstrusen Eifersuchtsanfälle von Veronika, die Unterstellung, er habe eine Geliebte. Das konnte er sich wirklich nicht mehr länger bieten lassen. Das hatte er nicht nötig. Wie konnte ein Mensch, der behauptete, er liebe ihn, nur so etwas tun?
Seine Frau war nach dem letzten Wutanfall ins Schlafzimmer gestürzt und hatte die Tür zugeschlagen. Die Konfrontation hatte für heute ihr Ende gefunden. Sein Pulsschlag beruhigte sich langsam. Was mochte seine Tochter nur denken? Jennifer war in letzter Zeit immer so blass und hatte dunkle Ränder unter den Augen.
Morgens beim Frühstück sprach sie kaum noch ein Wort. Ihm selbst ging es ja auch nicht anders. Dabei hatte das gemeinsame Frühstücken immer so viel Spaß gemacht. Jenny konnte zwei Radiosender ersetzen, so viel gab es zu erzählen, und wie gerne hatte er zugehört! Wie schön war das immer, ihr in ihre aufregende Welt zu folgen, in der es ununterbrochen Neues zu entdecken gab, in der die Gefühle brodelten und eine ungeheure Energie regierte, die alles verstehen wollte und unzählige Fragen stellte.
Er hatte keinen Zutritt mehr zu ihrer Welt. Sie hatte die Tore geschlossen und das „Eintritt verboten“-Schild aufgehängt. Das tat ihm weh und steigerte noch die Sorgen, die er sich sowieso schon um seine Tochter machte.
Als vor einigen Monaten die Reibereien begannen, vereinbarte er mit Veronika, dass sie in Gegenwart ihrer Tochter nicht stritten. Keine Auseinandersetzungen vor dem Kind! Sobald Jennifer im Bett lag, brauchte es nur ein unbedachtes Wort, und der Streit entflammte wie ein Buschfeuer in der ausgedorrten Steppe. Hinzu kam das Gefühl, dass es von Tag zu Tag heftiger wurde.
Es musste unbedingt etwas geschehen. So konnte es auf keinen Fall mehr weitergehen!
Dass es einmal so weit kommen konnte, lag außerhalb von Veronika Wiegandts Vorstellungsvermögen. Florian war doch ihre große Liebe gewesen. In der Uni-Mensa war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Er hatte ihren Arm ergriffen, als einige Ungeduldige durch ungestümes Drängeln sie und ihre Freundin ins Wanken brachten. Sein braunes, welliges Haar, seine energischen Augen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Und hätte er sie nicht spontan für den Abend ins Café „El Gringo” eingeladen, wäre es das erste Mal gewesen, dass sie einen Mann eingeladen hätte.
Und nun, nach so vielen glücklichen Jahren, dieser Albtraum? Er war nur noch selten zu Hause und wenn er da war, zeigte er kaum noch für irgendetwas Interesse, schon gar nicht für ihre Probleme. Er war immer nur müde. Sich in den Sessel fallen lassen und zur Fernbedienung fürs Fernsehen greifen, das war in den letzten Monaten sein abendlicher Routine-Ablauf. Meistens schlief er dort auch noch ein und kam mit einem gebrummten „bin eingeschlafen” erst weit nach Mittenacht ins Bett.
Das konnte doch nur eins bedeuten: Er hat eine andere! Er betrügt mich, er macht mich lächerlich, er will mich verlassen! Das wird er noch bereuen! Zu anderen Gedanken war sie nur noch fähig, wenn sie an Jennifer dachte. Dann brach sie meist in Tränen aus, denn sie spürte, wie unglücklich Jennifer war. Dieses fröhliche Kind, was war nur aus ihr geworden, seit diese unerträglichen Streitereien mit Florian begannen? Wie ein Häufchen Elend schleppte sich ihre Tochter durch den Tag.
Über eins war sie sich absolut im Klaren: So konnte es auf gar keinen Fall weitergehen.
Die letzten zwei Kilometer zur Praxis in Eppendorf war sie zu Fuß gegangen. Erst in der Absicht, sich durch körperliche Bewegung zu beruhigen, doch jeder Schritt in Richtung Florian machte Veronika nur noch wütender.
Nach einem langen Klingeln an der Praxistür hörte sie eilige Schritte, doch bevor Florians Assistentin das überraschte „Guten Morgen, Frau Wie…” auch nur aussprechen konnte, war Veronika an ihr vorbeigestürmt und riss die Tür zu einem der Behandlungsräume auf.
Florian, der gerade dabei war, einer verletzten Katze die Vorderpfote zu verbinden, blickte auf, sah ein wenig irritiert zu der neben ihm stehenden, besorgten Besitzerin der Katze und sagte ruhig: „Einen Moment noch, Liebling, ich habe gleich für dich Zeit!“ Obwohl er am liebsten vor Ärger über diese Unterbrechung in der Praxis, dazu noch in Gegenwart von Kunden, etwas ganz anderes gesagt hätte.
Veronika zögerte einen Moment. Dann quetschte sie: „Das ist aber nett von dir“ zwischen den Zähnen hervor. Auch sie wollte schließlich nicht in Gegenwart anderer mit Florian streiten. Ihr war nur nach dem Frühstück heute Morgen in diesem entsetzlichen Schweigen klar geworden, dass sie die Situation nicht einen Tag länger würde ertragen können. Und die Praxis war der einzige Ort, wo sie Florian auch erreichen konnte. Zudem in einem Zustand, wo er nicht nur müde war.
Kurze Zeit später verließ die Kundin mit ihrer Katze den Behandlungsraum und Florian Wiegandt holte tief Luft. „Es ist gut, dass du gekommen bist. Wir müssen unbedingt miteinander reden!“
Veronika war überrascht. „Es wundert mich, dass du überhaupt auf diese Idee gekommen bist. Ich wollte dir nur mitteilen, dass Jennifer am Samstag zu ihrer Großmutter fahren wird. Am Montag beginnen die Herbstferien. Wie es weitergeht, hörst du in der nächsten Woche von meinem Anwalt. Mir wäre es recht, wenn du dir kurzfristig eine andere Bleibe suchst. Ich kann das alles nicht mehr ertragen!”
Bevor Florian auch nur ein Wort herausbringen konnte, war Veronika wieder aus dem Raum gestürmt und hatte mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zugeschlagen.
Langsam kommt der Zug im kleinen Bahnhof von Bourgville zum Stehen. Die Druckluftbremsen zischen, einige Reisende schauen aus den Fenstern der Waggons in den dünnen Nebel, der heute über dem Ort liegt. Hier in den Bergen senkt sich in dieser Jahreszeit häufig Nebel ins Tal, während die Höhen bei klarer Luft und Sonnenschein in bunten Herbstfarben strahlen.
So war es auch heute Morgen, als sie sich auf den Weg zum Bahnhof nach Bourgville aufgemacht hatte. Mit einem Rumpeln war der alte Landrover Defender angesprungen und nach zwei Hustern dann doch wieder beruhigend rund gelaufen. Viele Jahre tat er nun schon zuverlässig seine Dienste, denn ohne den Geländewagen war ihr Haus nicht zu erreichen. Der Weg zur Bourgviller Landstraße war eine einspurige Schotterpiste, die sich in steilen Serpentinen zu ihrem Haus hinauf windete. Die Zeit hatte am Weg genagt, so dass ihr Wagen über ausgewaschene Rinnen und Felsplatten holpern musste. Und ab und an lag auch mal ein großer Steinbrocken im Weg, den ein heftiger Regenschauer am oberen Hang losgespült hatte. Meist gelang es ihr selbst, den Brocken aus dem Weg zu rollen, aber zweimal hatte sie die Hilfe ihres Nachbarn in Anspruch nehmen müssen.
Heute war der Weg frei gewesen. Es hatte seit Tagen nicht geregnet. Als sie die Landstraße erreichte, tauchten die Räder ihres Wagens in die Nebelschicht. Zäh wie Zuckerwatte lag sie auf der Straße. Im Rückspiegel bemerkte sie überrascht, dass der Nebel sich zu einem Kielwasser verwirbelte, als gleite ein Schiff in langsamer Fahrt auf einen See hinaus.
Mit jedem Meter, den sie talwärts fuhr, tauchte der Wagen tiefer in den Nebel ein. Als die Kühlerhaube im Dunst verschwand, dauerte es nur noch einen kurzen Moment, bis sie ganz im Nebel eingetaucht war. Die Sicht war plötzlich auf zwanzig Meter geschrumpft. Doch die Sonne, die in die obere Nebelschicht eindringen konnte, verwandelte alles in einen wallenden rosafarbenen Schleier. Wie verzaubert war der Weg. Sie hielt einen Moment an, um diesen wunderbaren Eindruck in sich aufzunehmen. Welch atemberaubende Schönheit bot ihr doch die Welt!
Als sie weiterfuhr, verwandelte sich alles sehr schnell in das gewohnte Nebelgrau. Sie musste an das Telegramm denken, dass der Postbote ihr gestern gebracht hatte. Fluchend war er vor dem Haus aus seinem R4-Postwagen gestiegen. Auf dem Weg herauf waren ein paar Mal das Bodenblech seines Wagens und der Auspuff mit dem felsigen Boden in Berührung gekommen.
Sobald der erste Schnee fiel, kam niemand mehr ohne Geländewagen zu ihr hinauf. Dann musste sie sich am Postamt in Bourgville ihre Briefe selbst abholen.
Doch Louis-Phillip, der Postbote, ließ sich durch ein Gläschen Himbeergeist schnell versöhnen und hatte sich neben sie auf die Bank vors Haus gesetzt, während er gespannt darauf wartete, dass sie den Umschlag öffnete. Louis-Phillip war nicht neugierig, er wollte nur alles wissen. Schmunzelnd beobachtete sie, wie er unruhig auf der Bank hin- und herrutschte. Sie riss den Umschlag auf und faltete das Telegramm auseinander.
„Meine Enkelin Jennifer kommt zu Besuch“, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich soll sie morgen um kurz nach zehn am Bahnhof in Bourgville abholen.”
„Unverhofft kommt oft”, brummte Louis-Phillip. „In den letzten Jahren hat sich hier doch niemand blicken lassen. Jetzt kommt die Kleine per Express?”
Auch sie war völlig überrascht von der Nachricht. Einerseits freute sie sich sehr, dass ihre Enkelin sie besuchen kam. Mit sieben war sie das letzte Mal hier gewesen, aber natürlich mit Florian, ihrem Schwiegersohn, und ihrer Tochter Veronika. Doch die Plötzlichkeit und die Tatsache, dass das Kind allein auf die Reise geschickt werden sollte, ließ sie, nach anfänglicher Freude, besorgt auf das Telegramm blicken.
„Da läuft in Hamburg bestimmt etwas außerordentlich schief!”, dachte sie. „Eine andere Erklärung gibt es nicht!”
Sie selbst hatte in dieser Zeit die Reise nach Hamburg gescheut und immer wieder Gründe gefunden, warum sie den Bitten ihrer Tochter nicht nachkommen konnte. Nachdenklich ließ sie das Telegramm auf ihre Knie sinken.
„Ich muss jetzt einiges vorbereiten”, wandte sie sich an Louis-Phillip. „Und fahr vorsichtig auf dem Rückweg!”
„Bis demnächst!”, hatte er geantwortet und war wie ein gelber Blitz mit seinem Postauto hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.
Nun war sie auf der nebligen Straße nach Bourgville und ihre Bedenken hatten sich zu einem Sorgenpaket verdichtet.
Claire Ahrenberg, Jennifers Großmutter, blickt den Bahnsteig entlang. Die ersten Türen öffnen sich und einzelne Fahrgäste steigen aus. Sie kann Jennifer nicht entdecken. Besorgt geht sie langsam am Zug entlang.
„Wo mag sie nur stecken?”, denkt sie beunruhigt. „Beim letzten Besuch ist sie wie ein junges Zicklein aus dem Wagen gesprungen, kaum dass der Zug angehalten hatte. Ob sie den Zug verpasst hat?”
Der Schaffner blickt bereits am Zug entlang, um zu sehen, ob schon alle aus- oder eingestiegen sind. Da öffnet sich am vorletzten Wagon die Tür und ein junges Mädchen steigt zögernd aus. Jennifer stellt ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und schaut sich unsicher um. Ihren Rucksack hat sie lässig über die Schulter gehängt. Über ihr blasses Gesicht huscht ein kleines Lächeln, als sie die Großmutter entdeckt.
„Mein Gott”, denkt Claire Ahrenberg, „wird das die kleine Jenny sein? Sie ist ja schon fast eine junge Dame geworden!” Mit schnellen Schritten geht sie auf das Mädchen zu.
„Jenny, Jenny, meine Kleine! Hier bin ich!”, ruft sie erleichtert. Jennifer ist ihrer Tochter sehr ähnlich geworden. Wie aus dem Gesicht geschnitten!
Mit großer Herzlichkeit schließt sie ihre Enkeltochter in die Arme, bis sie merkt, dass diese Umarmung nicht erwidert wird. Sie spürt die Steifheit und den Widerstand, mit der Jennifer auf diese herzliche Geste reagiert. Claire ist furchtbar erschrocken. Was ist nur mit Jenny los? Mit einer hastigen Bewegung zieht sie sich von ihrer Enkeltochter zurück und ist im ersten Moment ein wenig hilflos. Sollten sich ihre Vorahnungen erfüllen? Was war mit der Kleinen geschehen?
„Dann gib mir mal deinen Koffer!”, sagt sie in einem Tonfall, als wäre alles völlig normal. „Ich habe den Wagen vor dem Bahnhof geparkt.“
Während sie den Bahnsteig entlang gehen, die Gleise überqueren und auf das Bahnhofsgebäude zulaufen, wirft Claire einige kurze Blicke auf Jennys Gesicht. Was sie dabei sieht, lässt ihre Sorgen nicht weniger werden. Dunkle Ränder unter den Augen, ein blasses Gesicht und ein trauriger Mund sprechen ihre eigene Sprache.
„Was mag nur passiert sein?”, geht es Claire immer wieder durch den Kopf.
Ohne dass Jenny auch nur ein Wort gesagt hat, erreichen sie den vor dem Bahnhof geparkten Landrover.
„Du fährst ja immer noch diese alte Kiste”, brummt Jenny vor sich hin. „Schafft die das überhaupt noch zu deinem Haus hinauf?”
Da muss Claire doch ein wenig schmunzeln. „Weißt du”, erwidert sie, „das Auto ist genau wie ich, wird immer völlig unterschätzt, was in so einem Gehäuse noch alles drinsteckt.”
Sie öffnet die Heckklappe und verstaut den Koffer, während Jenny auf der Beifahrerseite einsteigt und ihren Rucksack auf die Rückbank legt. Claire öffnet die Fahrertür und zieht sich auf den abgenutzten Sitz. Jennifer sieht zum ersten Mal interessiert zu ihrer Großmutter hinüber, die versucht, den Wagen anzulassen. Eine gewisse Häme huscht über Jennys Gesicht, als der Wagen nicht bei der ersten Umdrehung des Zündschlüssels anspringt.
„Hab ich mir bei dieser alten Kiste doch gleich gedacht. Der Schrotthaufen bringt uns nie auf den Berg. Am Ende müssen wir noch laufen!”, murmelt Jenny vor sich hin.
Mit dem zweiten Versuch erwacht der Motor und gibt seine vertrauten Geräusche von sich. Claire legt den Rückwärtsgang ein und setzt den Wagen aus der Parklücke.
„Hast wohl gedacht, er gibt den Geist auf”, lacht Claire. „Den kannst du noch fahren, wenn du mal den Führerschein hast. Dann freust du dich, dass du mit so einem Oldtimer hier durch die Berge gondeln kannst.”
Das kleine Lächeln, das sich auf Jennys Gesicht geschlichen hatte, verschwindet wieder. Sie will nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart ist für sie schon schlimm genug. Wie soll das nur weitergehen? Jetzt haben ihre Eltern sie auch noch zur Strafe in dieses Kaff zur Großmutter abgeschoben. Jenny meint, sie sei schuld an allem Unglück.
„Welch kleines Häufchen Elend”, denkt Claire. „Und so eingeschüchtert! Ich erkenne sie ja beinahe gar nicht wieder.”
„Wenn wir oben sind, koche ich dir erst einmal einen heißen Kakao. Ich habe immer noch die gleiche Sorte im Schrank, die du früher so gerne getrunken hast”, sagt Claire zu ihrer Enkelin gewandt.
„Als ob mir heißer Kakao helfen könnte”, denkt Jenny mit einem Seufzer. „Omi hat ja nun wirklich keine Ahnung, wie es mir geht.”
„Heißer Kakao hilft immer, Jenny. Das wussten schon die Inkas. Die haben Kakao als Medizin getrunken. Lass uns erst einmal zu Hause sein. Aus der Höhe sieht die Welt ganz anders aus.”
Jenny reagiert mit einem kleinen Lächeln und richtet den Blick auf die Straße.
Schnell haben sie Bourgville hinter sich gelassen. Der Landrover beginnt bereits wieder mit dem Aufstieg zur Berghöhe. Der Nebel hat sich ein wenig gelichtet, und als sie sich der Abzweigung zu Claires Haus nähern, verfärbt er sich in ein wunderbares Flamingo-Rosa. Kurz vor der Weggabelung ist der Nebel verschwunden. Der Berg vor ihnen strahlt in seinen Herbstfarben. Die Sonnenstrahlen glitzern auf Millionen von Tautropfen. Claire stoppt den Wagen an der Abzweigung zum Haus und sagt zu Jenny: „Komm, steig aus und lass die gute Luft in deine Lungen. So eine Luft habt ihr in Hamburg bestimmt nicht!”
Widerwillig klettert Jenny aus dem Auto und stellt sich neben ihre Großmutter, die zum Berg hinaufschaut und mit dem Blick den Serpentinen folgt, die zu ihrem Haus hinaufführen. Sie legt einen Arm um Jennys Schulter und sagt mit leiser Stimme: „Siehst du, so unterschiedlich ist die Welt. Gerade standen wir unten im Tal noch in Nebel und Dunst und konnten nicht sehen, wohin der Weg wohl führt. Jetzt sind wir an diesem wunderbaren Platz, alles ist hell und sonnig und der Weg bis hoch hinauf zum Haus liegt deutlich vor uns.”
Plötzlich hört Jenny das Vogelgezwitscher, welches das Tal erfüllt, schmeckt förmlich die frische Luft mit dem Geruch der Bäume. „Das sieht ja aus wie ein kitschiges Kalenderbild“, denkt Jenny. Sie wendet sich nach Osten und hält ihr Gesicht in die nunmehr warme Sonne. Ein ganz vergessenes Gefühl von Wohlbehagen durchströmt sie. Sie ist davon erfüllt. Als ob sie Halt sucht, lehnt sie sich an ihre Großmutter, die sie mit einem Seufzer der Erleichterung sanft an sich drückt.
Holpernd und ächzend rollt der Landrover auf den Platz vor dem Haus unter die große Kastanie.
„Das haben wir mal wieder geschafft”, lacht die Großmutter und stößt ihre Enkelin mit dem Ellbogen sanft an den Arm.
„Lass uns ausladen und sehen, was wir zum Frühstück bekommen. Nach der langen Reise bist du sicher hungrig.”
„Ich habe unterwegs etwas gegessen und bin satt”, antwortet Jenny.
„Bestimmt wieder nur Tütenkram, schau doch gleich mal, was so alles da ist”, erwidert Claire.
Jenny schaut genervt zum Himmel. „Wo soll ich denn meine Sachen hinbringen, Omi?”
„Ich habe dir das Kinderzimmer hergerichtet. Kinderzimmer ist eigentlich falsch. Es war das Zimmer deiner Mutter, bis sie mit dem Studium angefangen hat. Und es war mein Zimmer, als deine Urgroßeltern noch lebten. Das Zimmer war immer etwas Besonderes. Hat deine Mutter dir nie davon erzählt?”
„Was soll es da schon zu erzählen geben?”, erwidert Jenny und verzieht ihr Gesicht. „Hoffentlich ist das Bett nicht hundert Jahre alt!”
Sie läuft am Landrover nach hinten und will die Heckklappe öffnen. Doch offensichtlich ist sie zu schnell. Auf dem herabgefallenen Laub und den Kastanienschalen rutscht sie aus und findet sich unsanft auf dem Hosenboden wieder.
„So ein Mist!”, ruft Jenny zornig. „Jetzt habe ich bestimmt die Hose versaut!”
Sie meint, hinter sich, in der Nähe des Stammes der Kastanie, ein leises Kichern zu hören.
„Omi, dass du auch noch lachst!” Sie springt empört auf, doch ihre Großmutter öffnet gerade die Haustür. Sie kann es nicht gewesen sein.
„Hast du dir weh getan?”, fragt Claire.
„Nein, nein, es geht schon. Nur meine Hose ist schmutzig!”
„Das kann man waschen. Hauptsache, du hast dich nicht verletzt.”
Jenny greift ihren Koffer und den Rucksack und geht zum Haus.
„Das hab ich mir doch nicht eingebildet!”, brummt sie vor sich hin. Vorsichtig betritt sie mit ihrem Gepäck den Hausflur. Eine wohlige Wärme empfängt sie und der Geruch nach Wald und Bergen.
Auf dem Speicher trocknet und lagert Claire Ahrenberg allerlei Kräuter, Blumen und Pilze, die, um diese Jahreszeit zum Teil noch frisch, ihren Duft im ganzen Haus verbreiten. Das Haus ist aus Holz gebaut, und auch der Geruch des Holzes gibt seinen Anteil dazu.
In der Mitte der Diele steht eine alte Bauerntruhe, darüber hängt ein Bild. Vor der Truhe liegt ein kleiner Teppich. Ihre Großmutter ist hinter einer der Türen verschwunden.
„Wo ist denn nun dieses … Kinderzimmer?” Am liebsten hätte sie „blödes Kinderzimmer“ gerufen.
„Einfach gerade aus, die grüne Tür!”, hört sie Großmutters Stimme aus der Küche, rechts von ihr. „Ich stehe gerade am Herd!”
Noch immer wütend stapft Jenny auf die grüne Tür zu, nur um über eine plötzlich entstandene Falte im Teppich zu stolpern und um Haaresbreite mit dem Kopf gegen den Türrahmen zu stoßen. Im letzten Moment öffnet sich jedoch die Zimmertür und sie landet sanft im rot-weiß karierten Bettzeug eines großen Holzbettes. Und erneut glaubt sie, ein Kichern zu hören. Wieder hat sie ihre Großmutter in Verdacht, doch das Klappern von Tellern und Tassen scheinen zu beweisen, dass sie sich nach wie vor in der Küche aufhält.
Schnaubend rappelt sich Jenny auf, um die Zimmertür zuzuschlagen. Doch einen Moment, bevor sie die Tür erreicht, bewegt sich diese sanft nach vorn und fällt beinahe lautlos ins Schloss.
Perplex bleibt Jenny stehen. „Das gibt’s doch gar nicht!” denkt sie.