Hermann Lauscher - Hermann Hesse - E-Book

Hermann Lauscher E-Book

Hermann Hesse

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Beschreibung

Lauscher kann sich an ein schockierendes Ereignis aus der Zeit erinnern, als er noch nicht drei Jahre alt war. Er schlüpft in seine Kinderseele und erforscht deren unbegreifliche "Sehnsucht nach Harmonie". Erinnerungen an den Vater nehmen breiten Raum ein.

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Hermann Lauscher

Hermann Hesse 

Inhaltsverzeichnis
Meine Kindheit.
Die Novembernacht.
Lulu.
Schlaflose Nächte.
Die zweite Nacht.
Die dritte Nacht.
Die vierte Nacht.
Die fünfte Nacht.
Die sechste Nacht.
Die siebente Nacht.
Die achte Nacht.
Tagebuch 1900.
Letzte Gedichte.
Dennoch.
Philosophie.
Marienlied.
Das ist mein Leid.
Spielmann.
Italienische Nacht.
Der schwarze Ritter.
Marienlied.
Impressum

Meine Kindheit.

(Geschrieben 1896.)

Zu allen Zeiten meines späteren Lebens ist meine Kindheit oft in vielfachen Bildern zu mir getreten, lockig, fremd und unerlöst wie ein blasses Märchenkind. Am meisten suchte mich diese Erinnerung in schlaflosen Nächten heim, mit einem Blumenduft oder einer Liedweise beginnend, bis zu Trauer, Ungemach und Todesbitterkeit, oder zu einer zärtlichen Sehnsucht nach Streichelhänden und einer milden Neigung zu Gebet und Tränen.

Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild, an welchem vornehmlich eine Fülle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich köstliches Vormittagssonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird. Alle Stunden meines Lebens, in welchen ein kurzes, weltvergessenes Ruhen mir vergönnt war, alle einsamen Wanderungen, die ich über schöne Gebirge gemacht habe, alle Augenblicke, in welchen ein unvermutetes kleines Glück oder eine begierdelose Liebe mir das Gestern und Morgen entrückte, weiß ich nicht köstlicher zu benennen, als wenn ich sie mit diesem grünen Bilde meines frühesten Lebens vergleiche. So ist es mir auch mit allem, was ich als Erholung und höchsten Genuß mein Leben lang liebte und wünschte, alles Schreiten durch fremde Dörfer, alles Sternezählen, alles Liegen im grünen Schatten, alles Reden mit Bäumen, Wolken und Kindern.

Der früheste Tag meines Lebens, an den ich mich mit einiger Deutlichkeit erinnern kann, mag etwa in den letzten Teil meines dritten Jahres fallen. Meine Eltern hatten mich auf einen Berg mitgenommen, der durch eine weitläufige Ruine von beträchtlicher Höhe täglich viele Städter anlockte. Ein junger Onkel hob mich über die Brüstung einer hohen Mauer und ließ mich in die ansehnliche Tiefe hinuntersehen. Davon ergriff mich die Angst des Schwindels, ich war aufgeregt und zitterte am ganzen Leibe, bis ich zu Hause wieder in meinem Bette lag. Von da an trat in schweren Angstträumen, denen ich damals oft zur Beute fiel, häufig diese Tiefe herzbeklemmend vor meine Seele, daß ich im Traum stöhnte und weinend erwachte. Was für ein reiches und geheimnisvolles Leben muß vor jenem Tage liegen, von dem mir keine einzige Stunde bewußt ist! So sehr ich mich plagte, vermochte mein Gedächtnis niemals weiter als bis zu jenem Tage vorzudringen. Wenn ich mich aber streng auf meine früheste Zeit und ihre Stimmungen besinne, habe ich den Eindruck, es müsse nächst dem Sinn für Wohlwollen kein Gefühl so früh und stark in mir wach gewesen sein, wie das der Schamhaftigkeit. Ich fand bei Kindern von fünf und mehr Jahren manchmal Äußerungen der Schamfreiheit, von denen ich weiß, daß ich ihrer in meinem dritten oder vierten Jahre unfähig gewesen wäre.

Eine genauere Erinnerung an Erlebnisse und an fortdauernde Zustände kann ich nicht weiter als bis in mein fünftes Jahr zurück verfolgen. Hier finde ich zuerst ein Bild meiner Umgebung, meiner Eltern und unseres Hauses, sowie der Stadt und der Landschaft, in welcher ich aufwuchs. In dieser Zeit hat sich die freie, sonnige Straße mit nur einer Häuserreihe vor der Stadt mir eingeprägt, in der wir wohnten, ferner die auffallenderen Gebäude der Stadt, das Rathaus, das Münster und die Rheinbrücken, und am meisten ein weites Wiesenland, hinter unserem Hause beginnend und für meine Kinderschritte ohne Grenzen. Alle tiefen Gemütserlebnisse, alle Menschen, selbst die Porträts meiner Eltern, scheinen mir nicht so früh deutlich geworden, wie diese Wiese mit unzähligen Einzelheiten. Meine Erinnerung an sie scheint mir älter zu sein als diejenige an Menschengesichter und erlittene eigene Schicksale. Mit meiner Schamhaftigkeit, welche schon früh von einem Widerwillen gegen eigenmächtige Berührung meines Leibes durch fremde Hände des Arztes oder der Dienstboten begleitet war, hängt vielleicht meine frühzeitige Lust am Alleinsein im Freien zusammen. Die vielen stundenlangen Spaziergänge jener Zeit hatten immer die unbetretensten grünen Wildnisse jener großen Wiese zum Ziel. Diese Zeiten der Einsamkeit im Grase sind es auch, die beim Erinnern mich besonders stark mit dem wehen Glücksgefühl erfüllen, das unsere Gänge auf Kindheitswegen meist begleitet. Auch jetzt steigt mir der Grasduft jener Ebene in feinen Wolken zu Haupt, mit der sonderbaren Überzeugung, daß keine andere Zeit und keine andere Wiese solche wunderbaren Zittergräser und Schmetterlinge hervorbringen kann, so satte Wasserpflanzen, so goldene Butterblumen und so reichfarbene köstliche Lichtnelken, Schlüsselblumen, Glockenblumen und Skabiosen. Ich fand nie wieder so herrlich schlanken Wegerich, so gelbbrennenden Mauerpfeffer, so verlockend schillernde Eidechsen und Schmetterlinge, und mein Verstand beharrt nur müde und mit geringem Eifer auf der Erkenntnis, daß nicht die Blumen und Eidechsen sich seither so zum Üblen verwandelt haben, sondern nur mein Gemüt und mein Auge.

Beim Darandenken ist mir zu Mut, als wäre alles Kostbare, was ich später mit Augen sah und mit Händen besaß, und selber meine Kunst, gering gegen die Herrlichkeiten jener Wiese. Da waren helle Morgen, an denen ich ins Gras gestreckt, den Kopf auf den Händen, über das von Sonne flimmernde, gekräuselte Meer der Gräser hinwegschaute, in welchem rote Inseln von Mohn, blaue von Glockenblumen und lilafarbene von Schaumkraut lagen. Darüber flatterten und reizten mich die blitzgelben Zitronenfalter, die zarten Bläulinge, die in einem kostbaren, gleichsam antiquarisch seltenen Schimmer aufleuchtenden Schiller- und Distelfalter, die schweren Flügel der Trauermäntel, das Edelwild der Segler und Schwalbenschwänze, der schwarzrote Admiral, der seltene, mit Ehrfurcht genannte Apollo. Dieser, den ich aus Beschreibungen meiner Kameraden schon kannte, flog mich eines Tages an, setzte sich in meiner Nähe an die Erde und regte langsam die wunderbaren, alabasternen Flügel, daß ich ihre feine Zeichnung und Rundung sehen konnte, und die blanken Diamantlinien, und auf den Flügelpaaren beide hellblutrote Augen. Weniges aus dieser fernen Zeit hat sich so stark und frisch in meinem Gedächtnis erhalten, wie die atemlose, herzklopfende Wonne, welche mich bei diesem Anblick durchdrang. Aber nach der unberechenbaren und grausamen Art der Kinder beschlich ich bald das edle Tier und warf meinen Hut nach ihm. Er schaute um sich, stieg mit elegantem Schwunge auf und war allsogleich in der flirrend goldigen Sonnenluft verschwunden. Irgend eine Art von wissenschaftlichem Interesse war in meinen Jagden und Sammlungen niemals. Die Raupen und die Namen der Schmetterlinge, dortlands Sommervöglein, „Summervögli“ genannt, waren mir nicht wichtig, und für viele erfand ich eigene Namen. Eine Art von rötlichen Fliegen nannte ich „Zitterlinge“, eine Gattung brauner „Schnabler“, und für den gesamten Pöbel der Weißlinge, Waldteufel und anderer wenig schöner und rarer Schmetterlinge hatte ich den verächtlichen Sammelnamen Tolpatsch. Für die gesammelte tote Beute hatte ich wenig Sorgfalt und habe es nie zu einer sauberen Sammlung gebracht.

Von musikalischen Eindrücken vermag ich in diesen Wiesensommern nichts zu finden, es sei denn meine außerordentliche Empfindlichkeit und Furcht vor den Pfiffen der fern vorüberfahrenden Eisenbahn.

Dennoch muß schon damals die Musik mir nahe getreten sein, denn auch die frühesten, undeutlichsten Dämmerbilder des Münsters, welche in mir sich unscharf spiegelten, scheinen mir unzertrennlich vom Schall der Orgel.

Dieses Münster und die Stadt überhaupt lernte ich später und langsamer kennen als die grüne Natur. Denn während ich mich in dieser halbe Tage lang nach Lust allein umtreiben konnte, war mir von den Eltern nicht erlaubt, allein in die Stadt zu gehen, wovon mich auch die Furcht vor dem ungewohnten Gedräng der Menschen und Wagen abschreckte.

Obwohl die grünen Monate meiner Wiesenzeit mir wie ein schöner, gleichmäßig heller, ununterbrochener Traum im Bewußtsein liegen, steigen doch einzelne Tage von besonderem Glanz mit weichen Umrissen daraus auf. Ich gäbe Schätze dafür, von solchen Tagen mich mehrerer erinnern zu können. So oft ich in Gedanken den Weg meines Lebens zurückgehe, so oft überfällt mich eine milde Trauer um die tausend vergessenen Tage. Es lebt niemand mehr, mir von mir selber zu erzählen, und der größere Teil meiner Kinderjahre liegt unerschlossen in unbegreiflicher, goldener Glückseligkeit wie ein Wunder vor meiner Sehnsucht. Es gehört zu den Unvollkommenheiten und Entbehrungen des menschlichen Lebens, daß unsere Kindheit uns fremd werden muß und in Vergessenheit fällt wie ein Schatz, der spielenden Händen entgleitet und über den Rand eines tiefen Brunnens fällt. Bis in die Knabenzeit kann ich den Faden meines Lebens zurückfinden, weiter zurück aber ragen zerstreut in Duft und Dämmerung nur wenige klare Tage, ihn daran zu knüpfen. Von dem Gedächtnis dieser Tage aus blicke ich oft wie von einem Turm rückwärts in meine ersten Jahre und kann nichts als ein bewegtes Meer von Rätseln und Anfängen sehen, ohne Formen, aber mit einem heiligen Ferneduft, einem Schleier, der über Wunder und Kostbarkeiten gelegt ist.

Unter jenen vereinzelten Silberblicken ist mir ein Spaziergang besonders teuer, da er das früheste Bild meines Vaters enthält. Der saß mit mir auf der von der Sonne durchwärmten Mauerbrüstung des Bergkirchleins Sankt Margarethen, zum erstenmal mir von der Höhe aus die dortige Rheinebene zeigend. Der erste Eindruck dieser anmutig hellgrünen Landschaft vermischt sich in meiner Erinnerung mit dem klaren Bilde, das ich später durch den häufig wiederholten Anblick gewann. Aber dies älteste Bild von meinem Vater unterscheidet sich von allen späteren. Sein schwarzer Bart berührte meine blonde Stirn und sein großes, helles Auge ruhte freundlich auf mir. Ich glaube wieder sein Gesicht so von der Seite her zu sehen, wenn ich an jene Rast auf der Mauer denke, mit dem schwarzen Bart und Haar, mit der starken, edlen Nase und dem festen, roten Mund, mit den dunklen Locken im Nacken, dabei das große Auge nach mir gesenkt, der ganze Kopf fest und würdig auf dem blauen Hintergrunde des Sommerhimmels ruhend.

Demselben Sommer mag ein anderes Bild angehören, das ohne Zusammenhang, aber erstaunlich klar und treu mir eingeprägt ist. Ich sehe die ganze hohe, magere Gestalt meines Vaters aufrecht mit zurückgelegtem Haupt einer untergehenden Sonne entgegengehen, den Filzhut in der Linken tragend. An ihn ist meine Mutter sanft im langsamen Gehen gelehnt, kleiner und kräftiger, mit einem weißen Tuch auf den Schultern. Zwischen den kaum noch getrennten, dunklen Häuptern glüht die blutrote Sonne. Die Umrisse der Gestalten sind fest und goldleuchtend gezogen; zu beiden Seiten steht ein reiches, reifes Kornfeld. An welchem Tag ich so hinter meinen Eltern herwandelte, weiß ich nicht, der Anblick aber ist mir frisch und unverlöschlich geblieben. Ich weiß kein lebendiges oder gemaltes Bild, das mir in Linien und Farben prächtiger erscheint und das mir teurer ist, als diese edlen Gestalten auf dem Fußpfad zwischen den Ähren, der roten Glut entgegen wandelnd, schweigsam, vom jenseitigen Glanz übergossen. In ungezählten Träumen und wachen Nächten hing mein Auge an diesem liebsten Kleinod meiner Erinnerung, dem Vermächtnis einer meiner goldensten Stunden. So ist mir nie wieder eine Sonne untergegangen hinter Ährenmeeren, so rot, prächtig, friedsam, so voll Glut und Genüge. Und käme sie mir wieder, es wäre doch nur ein Abend wie viele sind, und ich würde die vermissen, in deren Schatten ich damals ging, müßte mich abwenden und trauern.

Die Erinnerung an Vater und Mutter beginnt von hier an klar zu werden. Neben meiner Wieseneinsamkeit ging unabhängig ein freundliches, häusliches Leben her. Von diesem ist mein Bewußtsein, der vielerlei Menschen und Anregungen wegen, nicht so einheitlich und deutlich, wie von dem Leben im Grase. Wie früh die Neigung meines Vaters zum Genuß der bildenden und der Dichtkunst, und die meiner Mutter zur Musik auf mich einwirkten, ist mir unmöglich zu erkennen, denn einzelne Eindrücke dieser Art sind mir erst aus etwas späterer Zeit erinnerlich und müssen notwendig schon viel früher dagewesen sein.

Ich wage nicht, von meinen Kinderspielen viel zu reden. Es gibt nichts Wunderbareres und Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gründlicher verloren geht, als die Seele des spielenden Kindes. Bei dem leidlichen Wohlstand und der überaus freigebigen Güte meiner Eltern fehlte es mir an reichlichem Spielzeuge nicht. Ich besaß Soldaten, Bilderbücher, Legsteine, Schaukelpferd, Pfeife, Peitsche und Wagen, später auch Kaufladen, Wage, Spielgeld und Vorräte, und zum Theaterspielen standen die Kasten der Mutter zur Verfügung. Dennoch hängte sich meine Phantasie gerne an weniger kommode Gegenstände und schuf Pferde aus Schemeln, Häuser aus Tischen, Vögel aus Tuchlappen und ungeheuerliche Höhlen aus Wand, Ofenschirm und Bettdecke.

Daneben war in den Erzählungen meiner Mutter ein Überfluß von Welten und Brücken für meine Träumerei. Ich habe Leser und Erzähler und Plauderer von Weltruhm gehört und fand sie steif und geschmacklos, sobald ich sie mit den Erzählungen meiner Mutter verglich. O ihr wunderbar lichten, goldgründigen Jesusgeschichten, du Betlehem, du Knabe im Tempel, du Gang nach Emmaus! Die ganze überschwänglich reiche Welt des Kindeslebens hat kein süßeres und heiligeres Bild als das der erzählenden Mutter, an deren Knie sich ein Blondkopf mit tiefen Staunaugen schmiegt. Woher haben die Mütter diese gewaltige und heitere Kunst, diese Bildnerseele, diesen unermüdlichen Zauberborn der Lippen? Ich sehe dich noch, meine Mutter, mit dem schönen Haupt zu mir geneigt, schlank, schmiegsam und geduldig, mit den unvergleichlichen Braunaugen!

Nächst dem unerreichbaren Klang und Sinn der Bibelgeschichten sog ich tief aus dem Quell der Märchen. Rotkäppchen, der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen über den sieben Bergen nahmen mich in ihren geschwätzigen Kreis. Mein begieriger Sinn erschuf bald aus freier Kraft Gebirge mit mondglänzenden Elfentanzwiesen, Paläste mit seidenen Königinnen, fabelhaft tiefe und greuliche Berghöhlen, von Geistern, Eremiten, Köhlern und Räubern abwechselnd unheimlich bevölkert. Ein schmaler Raum im Schlafzimmer, zwischen zwei Bettstellen, war vorzüglich der ständige Wohnort schlitzäugiger Kobolde, rußiger Bergmänner, geköpfter Umgänger, traumwandelnder Totschläger und grünschielender Raubtiere, so daß ich eine Zeitlang nur in Begleitung Erwachsener und noch lange später nur mit äußerster Aufbietung alles Knabenstolzes daran vorübergehen konnte. Einmal befahl mir mein Vater, von dort seine Pantoffeln zu holen. Ich ging in das Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut zurück, vorgebend, ich hätte die Schuhe nicht gefunden. Mein Vater, der etwas Phantastisches ahnte und ein strenger Feind auch der Notlüge war, schickte mich nochmals hin. Ich betrat wieder das Schlafzimmer, aber meine Angst war nur größer geworden, so daß ich unverrichteter Dinge wiederkehrte, mit derselben Entschuldigung. Der Vater, der mich durch den Türspalt beobachtet hatte, sagte sehr ernst: „Du lügst. Sie müssen dort stehen.“ Gleichzeitig ging er selber sie zu holen. Meine Beklemmung aber war so gesteigert, daß ich selbst den allmächtigen Vater vor meinen Unholden nicht sicher glaubte und mich heulend an ihn hängte, wobei ich ihn unter heißen Tränen beschwor, sich dem Winkel nicht zu nähern. Er ging aber doch, zwang mich mit, bückte sich und kehrte wohlbehalten aus der greulichen Höhle zurück, was ich lange Zeit, unter Dankgebeten, allein seinem unerhörten Mut und einem ganz besonderen Schutz des lieben Gottes zuschrieb.

Ein anderes Mal wuchs mein Angstgefühl vollends ins Krankhafte. Die Begebenheit hat sich mir scharf und genau mit allen peinlichen Zügen eingegraben und hängt wie ein Medusenhaupt schauerlich schön, aber vorwiegend schauerlich, über jener ganzen Zeit der Kinderromantik.

Bei Dunkelwerden kehrten wir, schon ein wenig gruselig gestimmt, einst aus der Stadt zurück, zwei etwa vierzehnjährige Töchter eines Nachbars, ihr Brüderlein und ich. Die hohen Häuser und Türme legten zackige Schatten auf die Straße, Laternen wurden schon angezündet. Dazu kam im Vorübergehen ein Blick in eine Schmiede, wo rußige, halbnackte Männer an der aus dem Dunkeln aufsprühenden Esse mit großen Zangen wie Folterknechte standen, und das mir vorher unbekannte trunkene Gejohle einiger Wirtshausbrüder, das mir raubtierartig und verbrecherisch vorkam. Nun, schon fast im Finstern, erzählte eines der Mädchen, selber gruselnd, mir die Geschichte von der Glocke Barbara. Diese hing in der Kirche Barbara und war aus Zauberei und Verbrechen hervorgegangen. Sie rief immerfort den Namen einer ruchlos erschlagenen Barbara mit blutiger Stimme aus und wurde deshalb von den Mördern gestohlen und vergraben. Da, als es Zeit zum Nachtläuten wird, beginnt die Glocke aus der Erde laut und jämmerlich zu tönen:

Barbara bin ich genannt,

In der Barbara bin ich gehangt,

Barbara ist mein Vaterland.

Diese halbgeflüsterte Geschichte regte mich schrecklich auf. Mein Grausen wurde dadurch gesteigert, daß ich es in mir zu verbergen bemüht war, denn der kleine Mitgänger hatte nichts verstanden und steuerte sorglos in den Abend hinein, und vor den ältern Begleiterinnen, obwohl sie selber Angst hatten und nur flüsternd noch redeten, schämte ich mich. So stieg mein Schaudergefühl mit jedem Wort der Erzählung, bis mir die Zähne klapperten. Als aber nach eben beendeter Geschichte auf Sankt Peter die Abendglocke zitternd anschlug, ließ ich in rasender Angst die Hand des kleinen Jungen fahren und rannte, von der ganzen Hölle gehetzt, in die Nacht hinein, stolperte, stürzte, und wurde keuchend und zitternd heimgebracht. Die ganze Nacht zitterte ich in schmerzhaften Angstschauern und eine Zeitlang ging mir, so oft ich das Wort Barbara hörte, etwas Eiskaltes durch das innerste Mark. Von da an glaubte ich noch lebhafter an Kobolde, Vampyre und böse Geister, denn sie waren mir mit allen unerhörten Schrecken selber im Nacken gesessen.

Etwa um diese Zeit machte mein eben erwachender Verstand seine ersten Ansprüche und quälte mich so sehr, daß ich häufig tobende Anfälle von machtloser Wut und Ungeduld gezeigt habe. Hier ist auch ein Stück Kindheit, das, wie mir scheint, den meisten Menschen allzu gründlich verloren geht, der Drang nach Wahrheit, das Verlangen nach Übersicht der Dinge und ihrer Ursachen, die Sehnsucht nach Harmonie und sicherem geistigem Besitz. Ich litt unter zahllosen Fragen ohne Antwort, und fand allmählich heraus, daß den befragten Erwachsenen meine Fragen oft unwichtig und meine Nöte unverständlich waren. Eine Antwort, die ich als Ausflucht oder gar als Spott erkannte, schüchterte gar oft meine Seele wieder in ihr allmählich wankendes Gebäu von Mythen zurück.

Wie viel ernster, reiner und ehrfürchtiger würde das Leben vieler Menschen werden, wenn sie etwas von diesem Suchen und Nach-Namen-Fragen auch über die Jugend hinaus in sich bewahrten! Was ist der Regenbogen? Warum winselt der Wind? Woher kommt das Verwelken der Wiesen, woher das Wiederblühen, woher Regen und Schnee? Warum sind wir reich und der Nachbar Spengler arm? Wohin geht am Abend die Sonne?