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Die dramatische Geschichte einer Berliner Unternehmerfamilie in den Wirren des 20. Jahrhunderts
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs: Der Berliner Fabrikant Hermann Kypscholl wähnt sich auf der Seite der Gewinner, seiner Familie fehlt es an nichts, und bei Feiern mit illustren Gästen in der Wannsee-Villa fließt Sekt in Strömen. Tochter Anna steht vor einer Karriere als Rassenforscherin; Sohn Otto, der eigentlich Maler werden will, wird von seinem Vater in die Wehrmacht gezwungen und »sichert« in Europa Kunstwerke für Nazigrößen. Doch nach 1945 ist nichts mehr, wie es war: Anna wird vermisst, Otto sitzt im Kriegsverbrechergefängnis, und die Teilung Deutschlands schlägt eine Schneise in die Familie. erst in den 1960er Jahren finden Annas Tochter und Ottos Sohn zusammen, aber beide leiden unter den Wunden, die der Krieg gerissen hat.
Herrliche Zeiten ist ein monumentaler Roman über Anpassung, Widerstand und Deformierungen an Leib und Seele. In epischer Sprache und mit psychologischer Tiefenschärfe zeichnet Norbert Leithold Aufstieg und Fall einer großbürgerlichen Familie über drei Generationen hinweg und entwirft ein lebendiges Panorama vom »Dritten Reich« bis in die 1968er in West und Ost.
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Seitenzahl: 691
NORBERT LEITHOLD
HERRLICHE ZEITEN
Roman einer Familie
Deutsche Verlags-Anstalt
BRÜDERLEIN UND SCHWESTERLEIN
Otto sitzt in der hintersten Ecke des Salons auf dem schwarzen Ledersofa und blickt aus dem Fenster zum Wannsee, um nicht weiter seiner Mutter zusehen zu müssen. Lachend hält sie mal einen liebevoll in Seidenpapier gehüllten Karton, mal einen verschleiften Umschlag in Händen, unentschlossen, welches ihrer Geschenke sie als Nächstes öffnen soll.
Segelboote kreuzen, und am Ufer hockt ein Angler in seinem Kahn.
Kinder, ruft Elisabeth Kypscholl und reckt ihren Kopf über vierzig Stück gefüllte Rosen und vierzig Stück Königslilien, dieser Duft.
Die anderen Frauen riechen nun an den Blumen, ebenso Anna.
Hätte Otto sein Fernglas dabei, könnte er beobachten, wer sich auf den Decks sonnt. Er schaut wieder zu seiner Mutter, als sie die Bänder von einer flachen Schachtel löst und dann ein kleines Gemälde in den Händen hält. Es zeigt die Villa, vom Garten aus gesehen.
Wunderschön, Otto, mein Junge, ruft sie und wird sofort umringt von ihren Freundinnen, die Otto nicht kennt, außer Tante Flora und seine Schwester Anna.
Sogar die Taxusbäume, Otto hat sogar die Taxusbäume auf der Terrasse gemalt.
Dann umarmt und küsst Elisabeth ihren Sohn, dass seine sorgfältig gelegte Stirntolle ihre Form verliert.
Wie hast du das nur gemacht?, fragt sie, wendet sich ab und geht zum Tisch in der Mitte des Salons: Wie die Farben leuchten, und genau von meinem Lieblingsplatz im Garten gemalt, mein Junge.
Hermann Kypscholl, der am Büfett neben Schwager Kasimir Bowle in sein Glas füllt, sagt: Ich habe Elisabeth dieses Haus geschenkt, und macht eine Geste, dass die Bowle aus seinem Glas schwappt, soll aber keiner glauben, dass sie mir um den Hals gefallen ist.
Anwalt König tippt auf seine Zigarettenspitze, dass Asche fällt: Warum ist auf dem Bild kein Pinselstrich vom Wannsee und vom Steg?
Unwichtig, nächstes Jahr kommt an den Steg ein Bootshaus für meine Segeljacht.
Woraufhin Anna ihrem Vater zuruft: Kannst du überhaupt segeln?
Ist sie nicht reizend, ist meine Tochter nicht reizend?
Elisabeth legt das Gemälde behutsam zu den anderen Geschenken auf den Flügel.
Junger Mann, malen Sie auch für mich?, wird Otto gefragt, während die Mutter einen Briefumschlag öffnet. Darin zwei Theaterkarten, handschriftlich eingetragen sind Reihe und Sitznummern.
Sie könnten mich malen, junger Mann.
Elisabeth umarmt ihre Schwägerin Flora: Dass ihr das geschafft habt, küsst ihren Bruder Kasimir und sagt zu ihrem Mann: Hermann, Bayreuth.
Wie?
Übermorgen, dritte Reihe Mitte.
Die Bowle ist gut, sagt er, als Anna mit einem Schmucketui in der Hand zu ihrer Mutter geht: Hier, das schenke ich dir, es wird wunderschön an dir aussehen.
Hermann tritt auf die Terrasse zu Anwalt König, der im Korbstuhl den Völkischen Beobachter liest.
Bayreuth, da kann sie alleine hinpilgern oder mit ihren Suffragetten.
Anwalt König tippt auf die Zeitung: Der Führer wird übermorgen in Bayreuth sein.
Da lacht Hermann: Ausgerechnet, und schnappt nach Luft, ausgerechnet mein Schwager, der Kommunistenfreund, schickt mich zum Führer.
Junger Mann, Sie sollten Kunst studieren, Sie haben Talent, sagt wieder eine Freundin seiner Mutter, und Otto grinst sie an, weil sie ihren Schönheitsfleck zu dicht an den Mund geklebt hat.
Es wäre klug, sagt Anwalt König beim Zusammenfalten der Zeitung, nach Bayreuth zu fahren.
Oper?, stöhnt Hermann, während das Hausmädchen weitere Gäste meldet. Die Frau, die nun eintritt, wird von Elisabeth so umherzt, dass Otto kaum etwas von ihr sehen kann.
Lilo, Kinder, Lilo ist gekommen.
Elisabeth zupft ihr am blau-weißen Halstuch, streicht über den Matrosenanzug und zieht ihr lachend die Kadettenmütze vom Kopf.
Otto rückt seine Haartolle zurecht und riecht an seinen Fingern, gibt sich dem Duft von Farben und Firnis hin.
Liselott Wilke, lass dich anschauen, wie lange haben wir uns nicht gesehen?
Noch so eine Suffragette, sagt Hermann und zieht Anwalt König am Ärmel: Willst du den Platz für mein Bootshaus sehen?
Wir beide haben eine Ewigkeit nicht mehr auf der Bühne gestanden, sagt Liselott mit tiefer, kratziger Stimme, dass Anwalt König, neugierig geworden, in den Salon hineingeht.
Ich bin nicht allein gekommen, ich habe meinen Komponisten dabei, da ist er. Darf ich vorstellen: Norbert Schultze. Komm her, Norbert, nicht so schüchtern. Er hat ein wunderbares Lied komponiert, das ich dir, liebe Elisabeth, zu deinem Geburtstag schenken möchte.
Anwalt König ist wie Otto bis zum Flügel vorgedrungen.
Mit diesem Lied werden wir bald auf Tournee sein, wir machen nächste Woche sogar eine Plattenaufnahme.
Die Gäste klatschen, auch Otto, der Liselott schon deshalb mag, weil sie einen Hosenanzug trägt.
Dann möchte ich noch etwas sagen, obwohl ich viel lieber singe. Wenn die Tournee beginnt, wird man auf den Plakaten nicht mehr Liselott Wilke, sondern Lale Andersen lesen. Ab jetzt bin ich Lale Andersen, und winkt ihren Komponisten zum Flügel. Schultze schlägt ein paar Töne an, Lale Andersen summt sich in die richtige Stimmlage und singt dann, von Schultze begleitet und Elisabeth zugewandt: Vor der Kaserne, Vor dem großen Tor, Stand eine Laterne Und steht sie noch davor. So wolln wir uns da wiedersehn, Bei der Laterne wolln wir stehn, Elisabeth hört mit auf der Brust gefalteten Händen, weil Lale die Töne so schön schrammt: Wie einst, Lili Marleen.
Kasimir spitzt die Lippen, Otto sieht es deutlich.
Unsere beiden Schatten, Sahn wie einer aus, Dass wir so lieb uns hatten, Das sah man gleich daraus.
Anna umarmt ihren Bruder von hinten.
Und alle Leute solln es sehn, Wenn wir bei der Laterne stehn, Wie einst, Lili Marleen.
Elisabeth singt Lili Marleen mit und hält den Ton, als Lale mit der nächsten Strophe beginnen will.
Aus dem stillen Raume, Aus der Erde Grund, Hebt mich wie im Träume, Dein verliebter Mund.
Hat diese Lale eben zu ihm, Otto, geschaut?
Wenn sich die späten Nebel drehn, Werd ich bei der Laterne stehn, Wie einst, Lili Marleen.
Wieder setzt die Beschenkte, nun mit Tränen in den Augen, ein und ruft ins Klatschen der Gäste: Wunderbar, Lili Marleen ist ein wunderbares Lied.
Nur Anwalt König schüttelt den Kopf.
Lale Andersen wirft ihre Mütze auf den Flügel, schwenkt die Hüften: Und jetzt Charleston!
Elisabeth fasst nach Anna, die sich geschmeidig wie Lale Andersen bewegt. Die Mutter gerät rasch außer Atem, und Anna ruft ihrem Bruder zu: Tanz oder spiel mit auf dem Klavier.
Komponist Schultze rückt die Hälfte des Klavierhockers frei, und als Otto sitzt, improvisieren beide, bis Elisabeth mit erhobenen Armen unterbricht: Ich möchte auch etwas singen.
Opernsängerin Elisabeth Kypscholl, deren Durchbruch ein Asthmaleiden vereitelte, weshalb sie jahrelang im Varieté aufgetreten ist, bittet Otto um Klavierbegleitung.
Da winkt Hermann ab, um eine Herrenrunde mit Anwalt König und Schwager Kasimir auszurufen. Nebenan im Raucherzimmer mit den schweren Ledersesseln bietet er überseeische Kostbarkeiten im Holzkasten an, doch Anwalt König bleibt bei seiner Seraphin: Ihre Stimme mag originell sein, aber die Frau ist flach wie Friesland.
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