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Hazel und Jack sind die besten Freunde. Bis Jack eines Tages nicht mehr mit Hazel spricht und mit einer mysteriösen Frau in weiß in den Wald verschwindet. Aber Hazel lässt ihren besten Freund nicht fallen, sondern folgt ihm in das geheimnisvolle Land. Inspiriert von Hans Christian Andersens "Die Schneekönigin" erzählt Anne Ursu von einer Freundschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und sie verschweigt nicht, dass man auf dem Weg einiges zurücklassen muss.
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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.www.aladin-verlag.de Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2013 Originalcopyright © 2011 by Anne Ursu Originalverlag: Walden Pond Press Walden Pond Press is an imprint of HarperCollins Publishers. First published in 2011, New York. Originaltitel: Breadcrumbs Umschlaggestaltung und -typografie: Felicitas Horstschäfer Aus dem Englischen von Maja von Vogel Lektorat: Nina Horn Für die kompetente Beratung zum Thema Baseball danken wir Jan Kirchner von den Hamburg Knights. Herstellung und Gestaltung: Steffen Meier Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg ISBN 978-3-8489-6006-4
Für Jordan Brown
1. KAPITEL Schnee
2. KAPITEL Märchen
3. KAPITEL Rückzugsorte
4. KAPITEL Scherben
5. KAPITEL Der Spiegel
6. KAPITEL Verstoßene
7. KAPITEL Die Hexe
8. KAPITEL Gründe
9. KAPITEL Schlittenfahrt
10. KAPITEL Schneematsch
11. KAPITEL Magische Gedanken
12. KAPITEL Übergänge
13. KAPITEL Splitter
14. KAPITEL Im Wald
15. KAPITEL Verwandlungen
16. KAPITEL Der Vogelhüter
17. KAPITEL Der Marktplatz
18. KAPITEL Versuchungen
19. KAPITEL Rose
20. KAPITEL Streichholzflammen
21. KAPITEL Jack, Prinz der Ewigkeit
22. KAPITEL Die Schneekönigin
23. KAPITEL Puzzleteile
24. KAPITEL Erinnerungen
25. KAPITEL Hazel und der Wald
Es schneite, kurz bevor Jack aufhörte mit Hazel zu reden. Weiche, weiße Flocken, groß genug, damit man ihre Kristallstruktur erkennen konnte, wie geometrisch vollkommene Gedichte. Es war die Art von Schnee, die die Welt in einen anderen Ort verwandelt. Du kennst das, wenn du die Augen aufschlägst und alles ist weiß und weich und still, wenn du hinausläufst und dein Atem plötzlich zu einer weißen Wolke wird, wenn du dich einen Moment lang fragst, ob die Welt, in der du aufgewacht bist, eine andere ist als die, in der du gestern Abend eingeschlafen bist. So etwas kommt vor, zumindest in den Büchern, die du gelesen hast. Es war die Art von Schnee, die, sollte es auf dieser Welt auch nur das kleinste bisschen Magie geben, eben jene zum Vorschein bringen würde.
Und die Magie kam zum Vorschein.
Nur nicht so, wie du es erwartet hattest.
An diesem Morgen lief Hazel Anderson in weißen Socken und einem grünen Schlafanzug aus dem Haus. Sie hüpfte über die Schwelle und blieb vor der Tür stehen, ohne sich um den Schnee zu kümmern, der sie in die Knöchel zwickte, um in aller Ruhe die weiße Straße zu betrachten. Der Schnee war völlig unberührt. Noch hatte kein Auto die Fahrbahn mit seinen Spuren befleckt. Die schmalen rechteckigen Rasenflächen, die wie perfekt aneinandergereihte Tischsets vor den Häusern lagen, schienen sich über die Begrenzung ihrer Maschendrahtzäune hinweg auszudehnen und zu einer großen weißen Fläche zu verschmelzen. Auf jedem Dach lag eine dicke Schneedecke, als wollte sie die Häuser darunter wärmen und beschützen.
Alles war still. Die Sonne schickte gerade ihre allerersten Strahlen über den Horizont. Die Luft roch frisch und voller Erwartung. Schneeflocken tanzten vom erwachenden Himmel herab und landeten sanft auf Hazels langem schwarzen Haar.
Hazel atmete ein und ein Schwall eiskalter Luft erfüllte ihre Lungen.
Sie spürte, wie sich etwas in ihr regte, ein Verlangen, sich in diese neue weiße Welt zu stürzen und herauszufinden, was sie zu bieten hatte. Es war, als wäre sie aus einem staubigen alten Kleiderschrank herausgetreten und in Narnia gelandet.
Hazel streckte den Zeigefinger aus. Eine Schneeflocke nahm die Einladung an und ließ Hazel ihre Kälte wie einen flüchtigen Nadelstich auf der Fingerkuppe spüren. Hazel betrachtete die zarte Struktur der Schneeflocke. In deren Inneren befand sich ein anderes Universum und wenn sie die richtige Frage stellte, würde ihr vielleicht Einlass gewährt werden.
Hazel zuckte zusammen, als hinter ihr die Stimme ihrer Mutter ertönte. »Komm ins Haus, du wirst noch erfrieren.«
»Schau dir den Schnee an!« Hazel drehte sich um und präsentierte ihre schimmernde Beute.
Ihre Mom stand im Türrahmen und nickte. »Es kommt nicht oft vor, dass man die Struktur so gut erkennen kann. Siehst du die sechs Achsen? Das nennt man hexagonale Symmetrie. Eine Schneeflocke besteht aus …«
Es war immer dasselbe! Warum akzeptierte niemand, dass Hazel nichts von gasförmigen Himmelskörpern, den Schichten der Erdatmosphäre, der Brechung des Lichts und den winzigen Bausteinen des Lebens hören wollte? Die Wahrheit hinter den Dingen war immer viel banaler als das, was Hazel sich vorstellte, und sie verstand nicht, warum die Leute stets die wunderbaren Dinge in ihrem Kopf durch einen Haufen armseliger Du-bist-jetzt-in-der-fünften-Klasse-Fakten ersetzen wollten.
Schließlich sagte Hazels Mutter energisch, sie solle jetzt endlich reinkommen, gefolgt von einer komischen Bemerkung darüber, dass sonst noch jemand den Kinderschutzbund rufen würde und der Warnung, nur ja nicht zu spät in der Schule zu sein, um weiteren Ärger zu vermeiden. Plötzlich schnellte Mrs Andersons Kopf nach rechts, sie riss die Augen auf und stieß einen überraschten Laut aus. Bevor Hazel wusste, was los war, traf sie etwas mit einem satten Klatschen mitten auf dem Rücken.
Autsch!
Hazel schrie auf und fuhr herum. Vor dem Nachbarhaus stand ein Junge mit braunen Haaren und Sommersprossen, der gerade seinen zweiten Schneeball formte und schadenfroh grinste.
Ein Lächeln breitete sich auf Hazels Gesicht aus. »Jack!« Sie bückte sich, um eine Handvoll Schnee zusammenzuraffen.
»Nein, das wirst du nicht tun!« Ihre Mutter warf einen schnellen Blick zum Nachbarhaus und griff nach Hazels Schulter, um sie zurück in den Flur zu ziehen.
»Na warte, ich krieg dich noch!«, rief Hazel Jack zu, bevor sie im Haus verschwand.
»Träum weiter!« Jack lachte hämisch.
Hazels Mutter schloss mit einem Seufzer die Tür. »Jetzt schau dich nur mal an! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Hazel sah an sich herab. Schneeklumpen hingen am Saum ihrer Schlafanzughose und weiße Flocken rieselten aus ihren Haaren, als sie den Kopf schüttelte. Sie zitterte, dabei hatte sie die Kälte bisher gar nicht bemerkt.
»Du ziehst dich jetzt an, sonst kommst du noch zu spät.«
Hazel kam tatsächlich zu spät. Als sie aus dem Haus trat – jetzt mit grüner Winterjacke, Strickhandschuhen und roten Stiefeln vernünftig gegen die Kälte angezogen –, sah sie den gelben Schulbus gerade noch in der Ferne verschwinden. Seine breiten Reifenspuren verunstalteten die schneebedeckte Straße und die schwarze Abgaswolke besudelte das Weiß des Himmels. Hazel blinzelte und blickte zum Wohnzimmerfenster, hinter dem sie die Gestalt ihrer Mutter erkennen konnte. Sie saß bereits am Schreibtisch. Hazel spürte die eisige Kälte an ihren Knöcheln wie eine schlechte Erinnerung.
Hazel biss sich auf die Unterlippe, während sie die Haustür aufschloss und zurück ins Haus ging. Ihre Mutter sah auf und stieß einen kaum wahrnehmbaren Seufzer aus.
»Es tut mir leid«, murmelte Hazel.
Mrs Anderson erhob sich. »Ich hol die Autoschlüssel.«
Kurze Zeit später schoss ihr kleines weißes Auto aus der Garage auf die tief verschneite Auffahrt. Plötzlich knirschte es und sie blieben stecken.
Der Motor heulte auf. Hazels Mutter fluchte. Die Räder drehten durch – einmal, zweimal –, das Auto schlingerte vor und zurück, Hazels Mutter fluchte noch heftiger und auf einmal waren sie wieder frei.
Die Schule war zwanzig Blocks entfernt, vierzehn davon auf einer zweispurigen Einbahnstraße. Je näher sie der Schule kamen, desto größer und kühner wurden die Häuser. Zweite Stockwerke sprossen empor und schienen sich zwischen ihren morschen Holzbalken etwas unbehaglich zu fühlen. Früher hatte sich Hazel immer so ein Haus gewünscht – eines, das etwas heruntergekommen war und in dem es wahrscheinlich spukte, mit einem Speisenaufzug, um Nachrichten zu verschicken, und Geheimfächern, in denen rätselhafte alte Bücher versteckt waren –, aber dann hätte Jack nicht mehr nebenan gewohnt und das waren alle Geheimgänge der Welt nicht wert.
Es schneite jetzt heftiger und Hazels Mutter lehnte sich beim Fahren nach vorne, als wollte sie das Auto so durch das schlechte Wetter schieben. Glänzende Geländewagen überholten Hazel und die anderen Kleinwagen, die wie verängstigte Tiere durch den Schnee krochen.
Hazels Mutter begann bereits lange vor der großen Kreuzung, an der sie links abbiegen mussten, zu bremsen. Die Kreuzung mit der Tankstelle, zu der Hazel und Jack im Sommer radelten, um ihr Taschengeld für Eis und Süßigkeiten auszugeben. Hier war früher die Bäckerei mit den Geburtstagskuchen gewesen, bevor sie ebenfalls zu einer Tankstelle wurde. Und der Schnellimbiss, in den Hazel immer mit ihrem Dad gegangen war, nachdem sie im Park Baseball gespielt hatten. Jetzt befand sich dort ein mexikanisches Fast-Food-Restaurant, in dem laut ihrer Mutter alles nach Plastik und Traurigkeit schmeckte. Trotz allem gerieten sie wieder ins Schleudern, als sie direkt vor dem Restaurant über eine vereiste Stelle fuhren. Das Auto rutschte nach rechts, Hazels Mutter riss das Lenkrad herum und trat wütend auf die Bremse, hinter ihnen hupte jemand und überall quietschten Reifen.
Hazel schrie auf, als sie auf die viel befahrene Kreuzung schlidderten und zum Stehen kamen. Ein Wagen wich aus und zog an ihnen vorbei, dann noch einer, bevor endlich jemand anhielt und sie vorbeiließ. Hazels Mutter atmete tief durch, kehrte auf die richtige Spur zurück und reihte sich wieder in die Schlange der langsam vorwärtskriechenden Autos ein. Hazel beschloss, dass dies nicht der richtige Moment sei, um sie auf die rote Ampel hinzuweisen, die sie gerade überfuhren.
»Dieses verdammte Auto!«, sagte ihre Mutter mehr zu sich selbst als zu Hazel.
Hazel legte die Hand auf das graue Armaturenbrett, als wollte sie das Auto trösten. Vor einem Jahr hatte ihr Vater einen neuen Kombi gekauft. Er hatte gesagt, der sei besser geeignet für die Winter in Minnesota. Sicherer für alle Beteiligten. Plötzlich waren sie auch durch den Schnee gesaust und hatten all die Kleinwagen von Minneapolis hinter sich gelassen. Aber das war letztes Jahr gewesen. Es machte Hazel nichts aus. Sie fuhr seit vielen Jahren in diesem alten Auto, sie kannte jede einzelne seiner Beulen und brauchte keinen glänzenden neuen Kombi, auch wenn er ein Antiblockiersystem hatte.
Als sie in der Seitenstraße hielten, in der die Schule lag, stieß Hazels Mutter einen tiefen Seufzer aus und umklammerte das Lenkrad – ob aus der Verbundenheit nach gemeinsam bestandenen Gefahren oder aus dem Wunsch heraus, das Auto zu zerquetschen, konnte Hazel nicht sagen. Sie kaute wieder auf ihrer Unterlippe herum, weil ihr nichts Besseres einfiel. Ihre Mutter sah sie an. »Tja«, sagte sie und ließ das Steuer los. »Das war ein echtes Abenteuer.«
Hazel nickte, obwohl ihre Mutter nicht die geringste Ahnung von Abenteuern hatte.
»Ich weiß, dass du den Bus nicht absichtlich verpasst hast, Hazel.« Die Stimme ihrer Mutter klang sanft. »Aber du musst versuchen, ein bisschen selbstständiger zu werden, okay? Du bist ein großes Mädchen und ich kann nicht immer …«
Hazel nickte noch einmal.
»Okay, gut. Ich bin übrigens nachher bei Elizabeth Briggs zum Kaffee eingeladen. Warum kommst du nicht mit? Ich hol dich direkt von der Schule ab.«
Hazel verzog das Gesicht. Sie wollte sich nicht mit ihrer Mutter streiten, nicht jetzt. Aber …
»Ich kann nicht. Ich gehe mit Jack rodeln.«
Eigentlich stimmte das nicht so ganz. Sie und Jack waren nicht verabredet. Aber das war auch nicht nötig, denn es lag jede Menge Schnee auf den Wegen und Rodelhügeln. Außerdem musste sie sich noch für den Schneeball heute früh revanchieren.
»Ich dachte, du hast vielleicht Lust, ein bisschen Zeit mit Adelaide zu verbringen«, fuhr ihre Mutter fort, als hätte Hazel nichts gesagt. »Sie ist so ein nettes Mädchen. Ich glaube, ihr zwei würdet euch wirklich gut verstehen, wenn du ihr nur eine Chance geben würdest.«
»Ich hab schon was vor.«
»Ich weiß, aber du kannst doch morgen immer noch mit Jack rodeln gehen. Ich finde, du solltest mehr Zeit mit … mit anderen Leuten verbringen.«
Hazel wurde rot. Mit Mädchen – das war es, was ihre Mutter eigentlich meinte. Hazel machte ein finsteres Gesicht und ihr schlechtes Gewissen versank tief im Schnee, an einer Stelle, wo es niemand finden würde. Sie murmelte etwas zum Abschied und stieg hastig aus dem Auto, bevor ihre Mutter weiter ihre angeblichen Pläne durchkreuzen konnte.
Die Luft roch nach Winter, Abgasen und dem vertrauten süßlichen Geruch nach Würstchen und Ahornsirup, der vom Burger King auf der anderen Straßenseite herüberwehte. Hazel sog die Gerüche mit einem tiefen Atemzug ein. Nicht dass sie besonders gut gewesen wären, aber auf diese Weise konnte sie das Betreten der Schule noch einen Moment hinauszögern.
Es war Hazels erstes Jahr an der Lovelace Elementary School. Nachdem ihr Vater im Sommer weggezogen war, hatte ihre Mutter ihr erklärt, dass sie nicht mehr genug Geld für die Schule hatten, die sie seit der 1. Klasse besuchte. Dort war alles anders gewesen. In den Klassenzimmern gab es keine Tische und die Schüler redeten ihre Lehrer mit Vornamen an. Hazel hatte das an ihrem ersten Tag in Lovelace bei Mrs Jacobs probiert. Es war überhaupt nicht gut angekommen.
Der einzige Vorteil war, dass sie jetzt dieselbe Schule besuchte wie Jack. Davon abgesehen gab es nur Nachteile. Hazel saß nicht gern an einem Tisch. Sie hasste es, ihre Lehrerin mit Mrs Irgendwas anzusprechen. Sie mochte keine Hausaufgaben, Arbeitsblätter, Lückentexte und Multiple-Choice-Fragen. Früher hatten Hazels Lehrer Dinge gesagt wie Hazel ist so kreativ und Hazel hat eine wundervolle Fantasie. Jetzt hörte sie nur noch Hazel weigert sich, die ihr gestellten Aufgaben zu bearbeiten oder Hazel muss lernen, sich an die Schulregeln zu halten.
Während Hazel noch auf dem Bürgersteig stand und sich innerlich auf einen weiteren Tag voller nicht bearbeiteter Aufgaben und zu befolgender Schulregeln vorbereitete, ertönte eine Stimme hinter ihr. »Hey, Crazy Hazy! Heute keine Lust auf Schule?«
Hazel verzog das Gesicht. Tyler Freeman kam auf sie zu. Er trug ein Basecap der Minnesota Twins, als wäre das die perfekte Kopfbedeckung während eines Schneesturms, als würden alle coolen Kids in der Arktis an besonders schneereichen Tagen Basecaps tragen. Hinter ihm fuhr der Minivan seiner Mutter davon und zermalmte mit seinen Reifen den Schnee.
»Na, den Bus verpasst, Hazy?«, fragte Tyler spöttisch.
»Genau wie du«, gab Hazel zurück und rümpfte vornehm die Nase, als wäre sie nicht von fadem Fast-Food-Würstchen-Geruch erfüllt.
»Was soll’s«, sagte Tyler.
Hazel fluchte innerlich. Jetzt musste sie entweder so tun, als hätte sie etwas furchtbar Dringendes hier auf dem verschneiten Bürgersteig zu erledigen, oder gemeinsam mit Tyler hineingehen. Tyler hasste sie, weil Jack die Pausen jetzt lieber mit ihr statt mit ihm verbrachte. Was konnte sie dafür, wenn Jack sie interessanter fand? Tyler und sein Freund Bobby ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass sie Hazel für Jacks Pflichtverletzung verantwortlich machten. Ihrer Meinung nach hatte Hazel irgendetwas mit Jack angestellt, weil er nie einem Mädchen ihnen gegenüber den Vorzug gewähren würde, solange er seine fünf Sinne beisammen hatte.
Hazel wollte sich gerade bücken, um ein besonders schwieriges Problem an ihrem rechten Stiefel zu begutachten, als Tyler losstürmte und mit auf dem Rücken wippender Kuriertasche durch das Schultor lief.
Hazel sah ihm nach. Alle in der Fünften hatten Kuriertaschen, alle außer Hazel, die nicht im Verteiler dieser speziellen schulinternen E-Mail gewesen war. Und als sie von selbst dahintergekommen war, hatte sie ihre Mom nicht mehr darum bitten können.
Nach ihrer ersten Schulwoche hatte sie Jack gefragt, warum er ihr nicht Bescheid gesagt hatte. Er runzelte die Stirn, sah auf seine eigene Kuriertasche, die er seit einem Jahr besaß, und zuckte mit den Schultern. »Wen interessiert schon dieser Kram?«
Hazel warf sich ihren ewig uncoolen Rucksack über die Schulter, ging durch das hohe Tor zum Seiteneingang, den die zu spät kommenden Schüler benutzen sollten, und betätigte die Klingel. Sie hielt ein paar anderen Nachzüglern aus der Vierten die Tür auf, weil sie im Gegensatz zu gewissen anderen Personen ein netter Mensch war.
Hazel war eindeutig zu spät und sie kannte Mrs Jacobs inzwischen gut genug, um zu wissen, was sie erwartete. Trotzdem blieb sie vor dem Klassenzimmer auf der anderen Seite des Flurs gegenüber von ihrem eigenen stehen und warf einen schnellen Blick durchs Fenster.
Dort saß Jack wie immer in der dritten Reihe ganz am Rand, nah genug an der Tür, damit Hazel ihm zugrinsen und er eine Grimasse in ihre Richtung schneiden konnte. Sie stand einen Schritt hinter dem Fenster und dachte so fest an ihn, wie sie nur konnte. Das tat sie immer an den Tagen, an denen sie nicht gemeinsam vom Bus zur Schule gehen konnten. Eine Sekunde. Und noch eine. Er würde wissen, dass sie da war. Er wusste es immer. Dann wandte er den Kopf und entdeckte sie. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er wackelte mit den Augenbrauen wie ein totaler Spinner und obwohl Hazel die Bedeutung wackelnder Augenbrauen bisher nicht gekannt hatte, wusste sie sofort, was er sagen wollte: Ich hab’s dir heute Morgen ganz schön gezeigt, was? und Ich wette, du willst es mir heimzahlen und Versuch’s doch, Anderson! und Wir gehen nachher rodeln, okay? Und mit einem Mal fiel die ganze Last dieses schneeschweren Morgens von Hazel ab.
Sie grinste zurück, zog die Augenbrauen hoch – Mach dich auf was gefasst, Campbell! – und vergaß ganz, sich zu fürchten, als sie zu ihrem Klassenraum ging.
Doch als sie eintrat, warf Mrs Jacobs ihr einen missbilligenden Blick zu, schüttelte den Kopf, wie man es tut, wenn jemand eine furchtbare Enttäuschung ist, und notierte sich umständlich etwas in ihrem Buch. Plötzlich war der Schnee wieder da und lastete schwer auf Hazels Schultern.
Je fünf Tische standen in sechs schnurgeraden Reihen hintereinander. Wenn die geradlinige Perfektion gestört wurde, weil jemand zu heftig nach hinten gerutscht war oder versucht hatte, den richtigen Winkel zu finden, um einen Zettel weiterzugeben, wurde Mrs Jacobs ausgesprochen ungehalten. Der durchschnittliche Lovelace-Fünftklässler konnte das zwar nicht von ihrer normalen Stimmung unterscheiden, aber Hazel hatte gute Antennen für solche Feinheiten. In Jacks Klasse wurden die Tische manchmal zu einem großen Kreis oder kleinen Gruppen zusammengestellt. Doch diesen Unsinn machte Mrs Jacobs nicht mit. Manchmal fragte sich Hazel, ob ihre Lehrerin von dem Planeten stammte, der am Ende des Buches Die Zeitfalte vorkam und wo alle genau gleich sein mussten. Aber dort wäre Mrs Jacobs viel zu glücklich gewesen, um jemals fortzugehen.
Hazel versuchte verzweifelt, so unauffällig wie möglich ihren Platz in der dritten Reihe von hinten zu erreichen, direkt neben dem Fenster, wo sie am liebsten saß. Ihr Tisch stand absolut gerade und fügte sich perfekt in die Reihe ein, genau wie es sein sollte. Doch Hazel wusste, wenn jemand in die Klasse kommen würde, irgendein Zauberer, eine Hexe oder ein Medium, würde sich derjenige in der Gewissheit umsehen, dass hier etwas fehl am Platz war, dass sich etwas einen Zentimeter zu weit rechts und einen halben Zentimeter zu weit hinten befand, und sein Blick würde unweigerlich auf sie fallen.
Hazel saß hinter Molly und Susan, die sie niemals auch nur im Geringsten beachteten. Anfangs, weil sie voll und ganz damit beschäftigt waren, beste Freundinnen zu sein, und später, weil sie nicht mehr beste Freundinnen waren, was sie ebenfalls voll und ganz in Beschlag nahm. Das ging also in Ordnung. Neben ihr saß Mikaela, die normalerweise versunken ihre verschiedenfarbigen Textmarker aufreihte und nicht mitbekam, was Hazel gerade wieder falsch machte. Das ging auch in Ordnung. Aber hinter ihr saßen Bobby und Tyler. Und das war ein echtes Problem.
Kaum hatte Hazel sich hingesetzt, ertönte eine zischelnde Stimme von hinten.
»Hazel, du bist zu spät!«, flüsterte Tyler mit gespielter Sorge. »Du solltest wirklich versuchen, in Zukunft pünktlich zur Schule zu kommen.«
Sie drehte sich um und sah ihn an. Er und Bobby kicherten. »Ihr zwei seid absolute Volltrottel«, zischte sie zurück.
»Volltrottel?«, wiederholte Susan. Molly neben ihr lachte. Die beiden sahen sich an und es schien, als würde Hazels schockierender Mangel an Coolness sie einander wieder näherbringen.
Hazel starrte auf ihren Tisch. Sie sind dumm, würde Jack sagen. Sie benehmen sich wie Kleinkinder. Beachte sie gar nicht. Wen kümmert es, was sie denken? Hazel stellte sich vor, wie sie durch das Fenster von Mr Williams’ Klassenraum sah, Jack mit den Augenbrauen wackelte und sie zurückgrinste.
Mrs Jacobs begann zu reden und bald achtete niemand mehr auf Hazel. Alle machten sich eifrig Notizen zu Präpositionen oder Prozentsätzen und Hazel richtete ihre Aufmerksamkeit dorthin, wo sie sich am wohlsten fühlte – aus dem Fenster, während Mrs Jacobs Stimme und alles andere in den Hintergrund traten.
Die Fenster ihres Klassenzimmers gingen zur Straße hinaus. Gegenüber befanden sich ein paar Wohnungen und ein großer Hundesalon. Von ihrem alten Klassenraum hatte man ein kleines Wäldchen gesehen, das Hazel immer irgendwie magisch erschienen war. Ein Ort wie geschaffen dafür, von ihr und Jack erkundet zu werden. Sie würden Brotkrumen mitnehmen und in den Wald wandern, um herauszufinden, was sie hinter den Bäumen erwartete.
Die Aussicht von Mrs Jacobs’ Klassenraum hatte überhaupt nichts Magisches, aber sie war immer noch spannender als das, was drinnen geschah.
Plötzlich verstummte das Gemurmel von Mrs Jacobs’ Stimme mitten im Satz – vielleicht hatte sie gerade Dann verschiebt ihr das Komma um zwei Stellen nach rechts gesagt oder auch Sprecht mir nach: an, auf, bis, durch, gegen, hinter – und Hazel hörte ein Geräusch, als würde irgendwo Luft entweichen. Dieses Geräusch war ihr durchaus vertraut. Widerstrebend sah sie nach vorne.
»Hazel Anderson« sagte Mrs Jacobs, die diejenige war, aus der die Luft entwich. »Würdest du bitte still sitzen?«
Irgendwer kicherte. Von hinten flüsterte eine Stimme: »Genau, Hazel!« Das war zwar nicht gerade das schlimmste Schimpfwort aller Zeiten, aber wenn Hazel etwas an ihrer neuen Schule gelernt hatte, dann, dass bei Beleidigungen allein die Absicht zählte.
Mrs Jacobs sah sie mit müden Augen an und Hazel gefror zu Eis. Sie erstarrte wie der verschneite Morgen. Sie hörte sogar auf zu atmen, zumindest fast. Sie würde zuhören, sie würde sich anstrengen, denn sie war kein kleines Kind mehr und es war ihre Pflicht, still zu sitzen und dem Lehrer zuzuhören, und jeder auf dieser Welt musste seine Pflicht erfüllen, auch wenn sie ihm nicht besonders gefiel.
»Gut so, Hazel«, sagte Mrs Jacobs.
Noch ein Kichern. Hazels Wangen brannten. Sie schien einfach nichts richtig machen zu können. Es wäre so viel leichter, wenn Jack in ihre Klasse ginge. Dann würde es wenigstens einen Menschen im Raum geben, der auf ihrer Seite stand.
Ihre Mutter war der Meinung, es sei eine gute Gelegenheit, neue Freunde zu finden. Hazel hatte es versucht. Am ersten Schultag war sie direkt auf ihre Mitschüler zugegangen und hatte ein Gespräch angefangen. Doch alle hatten sie nur angestarrt, als habe sie vorgeschlagen, ob sie vielleicht bei den sieben Zwergen einziehen wollen. Bis dahin hatte Hazel nicht gewusst, dass sie anders war. In der Theater-AG war sie das einzige Mädchen, das sich freiwillig meldete, um in den Sketchen mitzuspielen. Im Kunstunterricht war sie die Einzige, die Hogwarts malte. Beim Kreativen Schreiben war sie die Einzige, die sich Geschichten über Mädchen mit magischen Schwertern und großartigen Schicksalen ausdachte.
Sie fühlte sich, als käme sie von einem anderen Planeten und vielleicht stimmte das ja auch. Hazel war als Baby adoptiert worden. Ihre Eltern hatten ihr erzählt, sie seien lange geflogen, um sie nach Hause zu bringen, weil sie sie so lieb hatten, dass sie einmal die ganze Galaxie durchquert hätten, um sie zu holen. Vielleicht hatten sie das wörtlich gemeint.
Beim Elternabend vier Wochen nach Beginn des Schuljahrs – Hazel hatte längst festgestellt, dass sie anders war – hatten die Leute sie angestarrt, als sie mit ihrer Mutter das Klassenzimmer betrat. Sie blickten von ihr zu ihrer Mutter und wieder zurück. Und Hazel sah zum ersten Mal, was die anderen sahen. Ihre Mutter war weiß, hatte blaue Augen und hellbraunes Haar. Hazel hatte tiefschwarzes Haar, seltsame große braune Augen und dunkelbraune Haut. Die Leute musterten Hazel und Hazel musterte die Leute – und ihr fiel auf, dass alle auf die eine oder andere Art zusammenpassten.
Hazel passte zu niemandem. Aha, so ist das also!, dachte sie. Verstehe.
Doch dann kam Susan mit ihren Eltern herein. Während des Kulturprojekts hatte Susan vor der Klasse gestanden, ihren chinesischen Namen an die Tafel geschrieben und erzählt, wie sie aus Papier Vögel und Drachen faltete und sie über die Straße tanzen ließ. Hazel wunderte sich über dieses Mädchen, das nicht nur jede Menge Schuhe besaß, sondern auch eine eigene Kultur. Und Hazel hätte ebenso eine haben sollen. Einen Tag vorher hatte Mrs Jacobs sie sogar gefragt, ob es etwas gäbe, was sie der Klasse vorstellen wolle. Aber Hazel hatte nur abgenutzte Turnschuhe.
Susan stammte aus China, wie Hazel an diesem Abend erfuhr, ihre Eltern jedoch nicht. Susan passte ebenso wenig zu ihnen. Hazel starrte sie und ihre blassen, stolzen Eltern so lange an, bis Susan es bemerkte. Sie wandte den Kopf und starrte zurück, spöttisch, ein bisschen vorwurfsvoll und ein bisschen ängstlich, als wollte sie sagen: Hab ich irgendwas im Gesicht oder bist du einfach nur bescheuert?
Hazel musste es erklären, sie musste etwas sagen, denn vielleicht hatte Susan es noch gar nicht gemerkt, vielleicht dachte Susan auch, sie sei allein. Hazel wusste, dass sie das eigentlich nicht tun sollte, weil es sich nicht gehörte, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie ging zu Susan hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Du bist wie ich«, flüsterte Hazel.
Susan warf ihr einen Blick zu, der deutlich sagte: Ich hab zwar keine Ahnung, was das heißen soll, aber ich bin garantiert nicht wie du.
Hazel ließ den Arm sinken und schlich davon.
Das war es also auch nicht.
Sie wusste immer noch nicht, warum sie nicht zu den anderen passte. Und sie hatte aufgegeben, es herausfinden zu wollen.
Als es endlich zur Pause klingelte, sprang Hazel auf und rannte zur Garderobe, wobei sie Mikaela aus Versehen so heftig anrempelte, dass ein pinkfarbener Textmarker auf den Gang purzelte. Hazel schoss durch die Tür, neben der Mrs Jacobs stand, und stürmte hinaus auf den schneeweißen Pausenhof, wo die Schüler von Mr Williams bereits gut gepolstert in ihren dicken Winterjacken herumliefen.
Es hatte aufgehört zu schneien. Doch auf dem Boden lag jede Menge Schnee und die eine Hälfte der Fünftklässler warf sich johlend hinein, während die andere ihre Füße so vorsichtig aufsetzte, als würde sie einen feindlichen außerirdischen Planeten betreten.
Jack wartete an der großen Rutsche auf Hazel, so wie er es meistens tat. Alle paar Tage musste er Capture the Flag oder Fußball mit Bobby, Tyler und den anderen Jungs spielen, um sie bei Laune zu halten. Aber damit hatte Hazel kein Problem. Sie setzte sich dann einfach irgendwo hin und las. Am Ende kam er immer zu ihr zurück.
»Hey!« Jack grinste, als sie auf ihn zurannte. »Hast du dich von meiner fiesen Schneeball-Attacke erholt?«
»Hab sie kaum bemerkt«, behauptete Hazel. »Du solltest an deinen Armmuskeln arbeiten.«
»Muss ich nicht.« Jack formte einen Schneeball. »Heute bist du der Werfer.«
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Hazel nahm den Schneeball und trat ein paar Schritte zurück.
Jack war ins Nachbarhaus eingezogen, als Hazel sechs Jahre alt gewesen war. Sie hatte ihn sofort gemocht, weil er ganz anders war als das Mädchen, das vorher dort gewohnt hatte – eine Vierjährige, die Hazel immer zum Nachmittagstee einladen wollte, bei dem jede Unterhaltung strengstens verboten war. Außerdem trug Jack eine Augenklappe. Hazels sechsjähriges Ich war bitter enttäuscht gewesen, als sie erfahren hatte, dass er sie nicht wirklich brauchte. Aber Hazel lernte schnell, dass es viel wichtiger war, eine zu tragen, als einen Grund dafür zu haben. Dies war eine geheime Wahrheit über die Welt, die sie beide verstanden.
Jack war der einzige Mensch, den Hazel kannte, der echte Fantasie besaß. Wenn er zu einem Nachmittagstee ging, dann nur im Wunderland, in der Arktis oder in den Tiefen des Weltalls. Jack war der Einzige, der die Dinge sah, wie sie sein könnten. Er sah das, was man mit bloßem Auge nicht wahrnehmen konnte. Und obwohl sie den Wunderland-Arktis-Weltall-Teepartys irgendwann entwachsen waren, änderte das nichts am Wesentlichen. Hazel und Jack passten zusammen.
Heute spielten sie Superhelden-Baseball, eine Variante, die Jack auf Grund der Theorie entwickelt hatte, dass es auch für Superhelden Mannschaftssportarten geben musste. Allerdings durften sie ihre Superkräfte nicht zeigen, was im Eifer des Gefechts nicht immer einfach war.
Hazel warf einen Schneeball nach dem anderen und versuchte, mit ihrem Fastball kein Loch ins Raumzeitkontinuum zu reißen, während Jack die Bälle schlug und mit steifen Bewegungen um die Bases lief wie ein Superheld, der so tut, als wäre er nicht von einer radioaktiven Mücke gestochen worden.
»Ich hab eine neue Figur für dich.« Jack ließ seinen Schläger durch die Luft sausen.
»Tatsächlich?« Hazel senkte den Arm mit dem Schneeball und machte einen Schritt nach vorn. »Zeigst du sie mir?«
Jack war der beste Künstler im gesamten fünften Jahrgang. Er malte, seit Hazel ihn kannte, und zu seinem letzten Geburtstag hatte sie ihm ein großes, schickes, schwarzes Skizzenbuch geschenkt. In letzter Zeit hatte er eine Menge selbst erfundener Superhelden auf den Seiten verewigt. Irgendwann würde er seinen eigenen Comic herausbringen. Und Hazel war die Einzige, die davon wusste.
»Nicht hier draußen. Ich zeig dir die Skizze nachher im Bus. Das wollte ich eigentlich schon heute Morgen, aber du warst ja zu beschäftigt damit, dich von meiner Schneeball-Attacke zu erholen, um pünktlich an der Haltestelle zu sein.«
»Cool«, sagte Hazel. »Kannst du mir schon was verraten?«
»Diesmal ist es ein Bösewicht«, sagte Jack. »Die machen einfach mehr Spaß.«
»Was kann er?«
»Erzähl ich dir später. Los, wirf endlich!«
»Tut mir leid.« Hazel trat einen Schritt zurück. »Jetzt werfe ich einen Superhelden-Curveball!«
»Gut! Ich muss lernen, Curvebälle zu schlagen, wenn ich später Baseballspieler werden will.«
Das war neu. »Was ist mit deinem Comic?«
»Das auch, ich mache einfach beides. Schließlich kann man nicht ewig Baseballprofi sein. Ich will neunhundert Homeruns schlagen und dann in die Hall of Fame aufgenommen werden.«
»Neunhundert Homeruns? Ist das viel?«
Jack riss die Augen auf. »Ob das viel ist? Das hat bisher noch keiner hinbekommen. Nicht mal die Typen, die schummeln! Ich könnte auch mehrmals hintereinander einen vierhunderter Durchschnitt schaffen, das wäre genauso gut. Ich will ein super schlagkräftiger Catcher werden, so wie Joe Mauer.«
Hazel nickte nur und formte Schneebälle. Sie mochte Baseball, aber Jack hatte die Statistiken aller Spieler im Kopf, was ihrer Meinung nach einfach kein Stoff für eine gute Unterhaltung war. Jack hatte sich sogar imaginäre Statistiken für das Superheldenspiel ausgedacht. Batman hatte seltsamerweise eine Menge Strikeouts.
Hazel knetete den Schneeball und warf. Jack traf und der Ball explodierte in eine Million Teile.
»Ups! Superkräfte!« Jack wischte sich den Schnee aus dem Gesicht.
Hazel schleuderte einen Schneeball in seine Richtung. »Jetzt spielen die Superhelden verrückt!«, rief sie.
»Geht ihr zwei miteinander?«
Hazel fuhr herum. Direkt hinter ihr standen Mikaela und Molly.
»Geht ihr zwei miteinander?«, wiederholte Molly mit verschwörerisch gesenkter Stimme. Sie sah von Hazel zu Jack, von den Schneebällen zum Schläger und zog die Augenbrauen hoch.
An dieser Schule waren ein Junge und ein Mädchen, die befreundet waren, automatisch ein Paar. An Hazels alter Schule wurde zwar auch viel über Leute geredet, die miteinander gingen, aber es war nichts, was tatsächlich passierte. Dort war es in Ordnung gewesen, wenn Jungs und Mädchen Zeit miteinander verbrachten, aber hier machte das niemand – außer ein Junge und ein Mädchen waren wirklich zusammen, dann standen sie hin und wieder ganz nah nebeneinander.
Hazel wurde diese Frage in regelmäßigen Abständen immer wieder gestellt und manchmal überlegte sie, ob sie einfach Ja sagen sollte. Dann würden alle sie für eines dieser Mädchen halten, das mit jemandem ging, und das wäre immerhin etwas. Aber eigentlich wollte sie gar nicht, dass die anderen das dachten. Jack war ihr bester Freund. Früher hatte das jeder verstanden, aber heute nicht mehr, denn offenbar sollte man eines Morgens aufwachen, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte, und nicht mehr mit seinem besten Freund befreundet sein wollen, nur weil er ein Junge war und man selbst keine Kuriertasche besaß.
Hazel warf einen Blick zu Jack hinüber, der sie fragend ansah, während sein Superhelden-Schläger seitlich hinunterhing. Sie richtete sich auf und warf ihr schwarzes Haar zurück.
»Molly«, sagte sie. »Du bist ein Volltrottel.«
In der Superhelden-Batter’s Box ertönte Gelächter, als Jack losprustete. Hazel lächelte. Die Mädchen machten beleidigte Gesichter. Es war schlimm genug, beschimpft zu werden, wenn man einfach nur ein bisschen fies sein wollte. Aber viel schlimmer war es, mit einem Schimpfwort bedacht zu werden, das man selbst weniger als eine Stunde zuvor ausdrücklich als uncool abgestempelt hatte. Die beiden schüttelten die Köpfe, drehten sich um und gingen.
Klatsch!
»Jack!«, rief Hazel und griff sich an die Schulter, wo der Schneeball sie getroffen hatte.
Es klingelte. Jack und Hazel liefen nebeneinander zurück ins Schulgebäude, ein wenig abseits von den anderen.
»Sollen wir nach der Schule rodeln gehen?«, fragte Jack.
»Ja!« Hazel nickte. »Aber erst musst du mir deine Zeichnung zeigen.«
»Versprochen. Im Bus, okay?«
Hazel war erleichtert. Normalerweise saß Jack hinten bei den Jungs.
Erst als Hazel nach dem Unterricht aus dem Schulgebäude kam und das Auto ihrer Mutter auf der anderen Straßenseite stehen sah, fiel ihr wieder ein, dass sie heute keineswegs mit dem Bus nach Hause fahren würde. Sie hatte gar nicht mehr an die Pläne ihrer Mutter gedacht, hatte sie in die hinterste Ecke ihres Gehirns gedrängt, wo Sätze wie Bring den Müll raus und Wasch bitte ab landeten, als es noch in Ordnung gewesen war, solche Aufforderungen einfach zu verdrängen.
»Jack, ich hab total vergessen, dass ich heute mit Mom jemanden besuchen muss. Ich kann nicht mit dir rodeln gehen.«
Jack runzelte die Stirn. »Schade.«
»Ja.« Hazel sah ihn an. Er würde niemals zugeben, dass er nicht nach Hause wollte, aber sie wusste es trotzdem. »Wie wär’s mit morgen?«
»Cool«, sagte Jack.
Sie verabschiedeten sich und Hazel fluchte auf dem Weg zum Auto leise vor sich hin.
»Hallo, mein Schatz!«, begrüßte ihre Mutter sie fröhlich. »Wie war dein Tag?«
Tyler hatte sie wieder Crazy Hazy genannt, sie war zu spät gekommen, Mrs Jacobs hatte etwas in ihr Buch geschrieben, alle hatten gekichert, man durfte nicht »Volltrottel« sagen, Molly würde sie jetzt bestimmt hassen und sie durfte nicht mit Jack im Bus nach Hause fahren, um alles wiedergutzumachen. Außerdem wollte Jack mit ihr rodeln gehen, damit er nicht nach Hause musste, und sie hatte ihn im Stich gelassen, obwohl sie seine beste Freundin war und das nie, nie, niemals hätte tun dürfen.
»Ganz okay«, sagte Hazel.
Hazel spürte den vertrauten Blick ihrer Mutter und starrte teilnahmslos geradeaus.
»Du wirst heute bestimmt Spaß mit Adelaide haben«, sagte ihre Mutter.
Hazel seufzte. Adelaide und sie hatten oft zusammen gespielt, als sie klein waren. Es gab Fotos von ihnen, wie sie mit den gleichen Schwimmflügeln im Babybecken des örtlichen Freibads herumplanschten. Doch dann waren die Briggs für vier Jahre ins Ausland gegangen und als sie zurückkamen, trug keins der Mädchen mehr Schwimmflügel. Adelaide zog gerne Perlenketten auf und lackierte ihren Puppen die Nägel. Hazel stand auf Piraten. Dazwischen gab es keine Kompromisse.
»Ich hab sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen«, sagte Hazel.
»Gib ihr eine Chance, Hazel.«
Hazel sah auf das Armaturenbrett. Ihre Mutter kapierte es einfach nicht. Hazel war absolut bereit, jedem und allem eine Chance zu geben. Doch niemand gab ihr eine.
Sie fuhren im Schneckentempo zum Haus der Briggs. Es hatte zwar aufgehört zu schneien, aber die Autos bewegten sich immer noch sehr langsam und vorsichtig über die ungeräumten Straßen. Hazels Mutter lenkte den Wagen, als wäre er ein gereizter Bär.