Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book

Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

"Herz der Finsternis" ist eine der kürzesten Geschichten, die Joseph Conrad geschrieben hat, und enthält gleichzeitig eines der größten und suggestivsten seiner Themen. Die Erzählung ist nichts weniger als eine Darstellung des Aufeinandertreffens zweier Kontinente, ein symbolisches Bild des angeborenen Antagonismus zweier Rassen, der Weißen und der Schwarzen. Es zeigt die subtile Auflösung der moralischen Werte eines weißen Mannes unter dem Eindruck der Finsternis, der Abgeschiedenheit und der Dichte des afrikanischen Dschungels; den Verlust von Würde, Mut und Selbstachtung durch den täglichen Kontakt mit dem eingeborenen Mann und der eingeborenen Frau. Das Ganze erstreckt sich auf unter 100 Buchseiten, und doch gewinnt der Leser den Eindruck von unermesslicher Zeit und Entfernung. Wir haben das Gefühl, dass wir Jahre in der Gesellschaft des Erzählers verbracht haben und mit ihm durch die triste Atmosphäre physischer und moralischer Finsternis streifen - und dennoch jenseits davon immer noch unerforschte, unergründliche, verbotene und unsägliche Abgründe lauern.

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Seitenzahl: 181

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HERZ DER FINSTERNIS

Deutsche Neuübersetzung

 

JOSEPH CONRAD

 

 

 

 

Herz der Finsternis, J. Conrad

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849653170

 

Cover Design: Helmet Mask , mid-late 1800s. Central Africa, Democratic Republic of the Congo, Kuba, mid-late 19th century. Wood and pigment; overall: 43.3 x 31.2 x 28.3 cm (17 1/16 x 12 5/16 x 11 1/8 in.). The Cleveland Museum of Art, James Albert Ford Memorial Fund 1935.304

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

Inhalt:

I1

II.34

III.61

I

 

Die Nellie, eine Segelyacht, schwoite um ihren Anker, die Segel waren gerafft, und das Schiff ruhte. Die Flut hatte eingesetzt, der Wind war fast still, und da wir flussabwärts fahren wollten, war das Einzige, was wir tun konnten, auf die Flut zu warten.

Die Mündung der Themse erstreckte sich vor uns wie der Beginn einer endlosen Wasserstraße. Draußen, auf offener See, wirkten das Meer und der Himmel, als ob sie nahtlos miteinander verschweißt wären, und in dem hellen Raum schienen die gebräunten Segel der mit der Flut stromaufwärts fahrenden Lastkähne stillzustehen, als seien sie Bündel aus spitz zulaufenden, roten Leinwänden und schimmernden, lackierten Sprietbäumen. Ein Dunst lag auf den niedrigen Ufern, die  flach ins Meer hinausliefen und dort verschwanden. Die Luft war dunkel über Gravesend, und weiter hinten schien sie sich zu einer traurigen Finsternis zu verdichten, die bewegungslos über der größten und großartigsten Stadt der Welt hing.

Der Direktor der Handelsgesellschaft war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir vier beobachteten entzückt seinen Rücken, als er im Bug stand und seewärts blickte. Auf dem gesamten Fluss gab es nichts, das nur annähernd so seemännisch aussah. Er glich einem Piloten, der für einen Seemann die Vertrauenswürdigkeit schlechthin verkörpert. Es war schwer zu verstehen, dass seine Aufgabe nicht da draußen in der leuchtenden Mündung lag, sondern hinter ihm, in der brütenden Dunkelheit.

Zwischen uns lag, wie ich bereits sagte, das Band des Meeres. Es hielt nicht nur unsere Herzen hoch während der langen Zeiträume der Trennung, sondern ließ uns auch tolerant werden für den Seemannsgarn des jeweils anderen – und sogar gegenüber anderen Überzeugungen. Der Anwalt – der beste der alten Gefährten – hatte wegen seines Alters und seiner Tugenden das einzige Kissen an Deck und lag auf dem einzigen Teppich. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel mit Dominosteinen hervorgekramt und erprobte seine Baukunst mit den Steinen. Marlow saß im Schneidersitz rechts hinten und lehnte sich an den Besanmast. Er hatte eingefallene Wangen, einen gelblichen Teint, einen geraden Rücken, ein asketisches Aussehen, und mit seinen nach unten zeigenden Armen und den nach außen zeigenden Handflächen glich er einem Götzenbild. Der Direktor hatte sich überzeugt, dass der Anker guten Halt hatte, machte sich auf den Weg nach achtern und setzte sich zu uns. Wir tauschten ein paar nichtssagende Worte aus. Danach herrschte an Bord der Yacht Stille. Aus dem einen oder anderen Grund haben wir das Dominospiel nicht begonnen. Wir waren alle grüblerisch und wollten nur entspannt in die Luft starren. Der Tag endete in stiller Gelassenheit und exquisitem Glanz. Das Wasser schien friedlich; der makellose Himmel war eine gütige Unermesslichkeit aus unbeflecktem Licht; der Nebel auf den Essex-Marschen sah aus wie ein hauchdünner und glänzender Stoff, der an den bewaldeten Hügeln im Landesinneren hing und die niedrigen Ufer in durchsichtige Falten hüllte. Nur die Dunkelheit im Westen, die über dem Oberlauf brütete, wurde jede Minute düsterer, als ob sie die Annäherung der Sonne ärgern würde.

Und schließlich sank die Sonne tiefer und tiefer, ein geschwungener, fast unmerklicher Bogen, und verwandelte sich von glühendem Weiß in ein stumpfes Rot ohne Strahlen und ohne Hitze, als ob sie plötzlich erlöschen würde, Dem Tode geweiht durch die Berührung mit dieser Finsternis, die sich über einer Ansammlung von Männern ausbreitete.

Mit der Zeit kam eine Veränderung über das Wasser, und die Idylle verlor an Glanz, wurde aber ausdrucksstärker. Der alte Fluss in seinem weitläufigen Bett, ausgebreitet in der friedvollen Würde eines Wasserwegs, der zu den äußersten Enden der Erde führt, sah nach Jahren des guten Dienstes an der Rasse, die seine Ufer bevölkerte, dem Ende des Tages unerschüttert entgegen. Wir betrachteten den ehrwürdigen Strom nicht aus der lebhaften Flut eines kurzen Tages, der kommt und für immer geht, sondern im erhabenen Licht bleibender Erinnerungen. Und in der Tat ist nichts einfacher für einen Menschen, der, wie das Sprichwort sagt, "mit Ehrfurcht und Zuneigung dem Meer gefolgt ist", als den großen Geist der Vergangenheit am Unterlauf der Themse zu wecken. Der Gezeitenstrom fließt in seinem unaufhörlichen Dienst hin und her, vollgepackt mit Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die er bis zum Frieden des eigenen Hauses oder zu den Schlachten des Meeres getragen hatte. Er hatte alle Männer, auf die die Nation stolz ist, gekannt und ihnen gedient, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin, Ritter allesamt, mit oder ohne Titel – fahrende Ritter des Meeres. Er hatte alle Schiffe getragen, deren Namen wie Juwelen in der Dunkelheit der Zeit blinken, von der Golden Hind, die voller Schätze in ihren runden Flanken zurückkehrte, um von Ihrer Königlichen Hoheit besucht zu werden und so aus der gigantischen Geschichte zu verschwinden, bis hin zu Erebus und Terror, die an anderen Eroberungen beteiligt waren – und nie zurückgekehrt sind. Er hatte die Schiffe und die Männer gekannt. Sie waren von Deptford, von Greenwich und von Erith losgesegelt – die Abenteurer und Siedler; Schiffe des Königs und Handelsschiffe; Kapitäne, Admirale, die dunklen "Eindringlingen" des Handels mit den Ländern im Osten und die "Auftragsgeneräle" der Ostindien-Flotte. Jäger nach Gold oder Ruhm, sie alle waren an diesem Strom aufgebrochen, mit dem Schwert und oft auch der Fackel in der Hand, Boten des mächtigen Landes, Hüter eines Funkens des heiligen Feuers. Welche Pracht war nicht auf den Fluten dieses Flusses hinein in die Geheimnisse einer noch unbekannten Erde gesegelt!...... Die Träume der Menschen, der Samen des Commonwealths, die Keime der Imperien.

Die Sonne ging unter; die Abenddämmerung legte sich auf den Strom und am Ufer begannen Lichter zu erscheinen. Der Chapman-Leuchtturm, ein dreibeiniges Etwas, das im Watt stand, strahlte hell. Lichter von Schiffen, die in der Fahrrinne unterwegs waren – ein stetiger Strom von Lichtern, die auf und ab fuhren. Und weiter westlich am Oberlauf zeichnete sich die monströse Stadt immer noch unheilvoll gegen den Himmel ab, bei Sonnenschein eine brütende Finsternis, unter den Sternen ein greller Schein.

"Und auch das", sagte Marlow plötzlich, "war einmal einer der dunkelsten Orte der Erde."

Er war der einzige unter uns, der immer noch "dem Meer folgte". Das Schlimmste, was man von ihm sagen konnte, war, dass er seinen Stand nicht repräsentierte. Er war ein Seemann, aber er war auch ein Wanderer, während die meisten Seeleute, wenn man es so ausdrücken möchte, ein sesshaftes Leben führen. Sie bleiben gerne zuhause, und ihr Zuhause ist immer bei ihnen – das Schiff; und deswegen ist ihr Land – das Meer. Ein Schiff ist wie das andere, und das Meer ist immer das gleiche. In der Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Ufer, die fremden Gesichter, die sich verändernde Unermesslichkeit des Lebens einfach vorbei, verschleiert eher durch eine leicht verächtliche Ignoranz als einem Hang für Geheimnisse; denn es gibt nichts Geheimnisvolles für einen Seemann, außer dem Meer selbst, das die Gebieterin seiner Existenz und so unergründlich wie das Schicksal selbst ist. Als Erholung genügt ihm nach seinen Arbeitsstunden ein gemütlicher Spaziergang oder eine Tour an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu enthüllen – und im Allgemeinen findet er das Geheimnis nicht mal interessant. Seemannsgarn besitzt eine unmittelbare Schlichtheit, und seine ganze Bedeutung kann man in einer Nussschale fassen. Aber Marlow war nicht typisch dafür (wenn man seine Neigung zum Spinnen von Seemannsgarn ausschließt), und für ihn lag die Bedeutung einer Episode nicht innen wie ein Kern, sondern außen, die Geschichte, die sie hervorgebracht hatte, umschließend – so wie ein Schein einen Schleier hervorbringt, ähnlich einem dieser nebligen Schleier, die manchmal durch die geisterhafte Beleuchtung des Mondlichts sichtbar gemacht werden.

Seine Bemerkung kam überhaupt nicht überraschend. Sie passte zu Marlow und wurde schweigend angenommen; noch nicht einmal ein Grunzen folgte darauf. Dann sagte er, sehr bedacht: "Ich dachte gerade an lang vergangene Zeiten, als die Römer zum ersten Mal hierherkamen, vor neunzehnhundert Jahren – neulich......". Seither ist diesem Fluss Licht entsprungen – ihr sagtet Ritter? Ja, aber es ist eher wie ein Feuer, das sich auf einer Ebene ausbreitet, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben im Flackern – vielleicht dauert es so lange, weil sich die alte Erde weiterdreht! Aber gestern war hier noch Dunkelheit. Stellt euch die Gefühle eines Kommandanten einer schönen – wie nannte man sie? –, Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich nach Norden abkommandiert wurde; er hetzt durch das Land der Gallier; übernimmt das Kommando über eines dieser Kriegsgeräte, welches hunderte Legionäre in nur ein oder zwei Monaten gebaut haben – wunderbare, praktisch veranlagte Männer müssen das gewesen sein –, wenn wir glauben dürfen, was wir lesen. Stellt ihn euch hier vor – am Ende der Welt, mit einem bleiernen Meer, einem rauchfarbenen Himmel und einer Art Schiff, das etwa so starr wie eine Ziehharmonika ist – und diesen Fluss hinauffahren auf eigene Veranlassung oder aufgrund von Befehlen, oder was immer sonst. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde, - wenig Kostbares zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts als Themse-Wasser zum Trinken. Kein Wein aus Falerna an Bord, kein Landgang möglich. Hier und da ein Militärlager, verloren in der Wildnis verloren wie die Nadel im berühmten Heuhaufen – Nebel, Sturm, Krankheit, Exil und Tod –, der Tod, der in der Luft, im Wasser und im Busch lauert. Sie müssen hier wie die Fliegen gestorben sein. Oh, ja – er hat es getan. Hat es auch sehr gut getan, ganz ohne Zweifel, und ohne viel darüber nachzudenken, außer danach, um vielleicht darüber zu prahlen, was er in seiner Zeit durchgemacht hatte. Sie waren Manns genug, um sich der Finsternis zu stellen. Und vielleicht hat er sich daran erfreut, dass er mit der Zeit auf eine Aufstiegschance in die Flotte von Ravenna hoffte, wenn er in Rom gute Freunde hatte und das schreckliche Klima überlebte. Oder denkt an einen anständigen jungen Bürger in einer Toga – vielleicht zu viel des Würfelspiels, wisst ihr –der im Tross eines Präfekten oder Steuereintreibers oder sogar Händlers hierherkommt, um sein Glück zu suchen. In einem Sumpf gelandet, durch die Wälder marschiert, und in einem inländischen Posten gespürt, wie die Wildheit, die vollkommene Wildheit, sich um ihn herum schließt – all das rätselhafte Leben der Wildnis, das im Wald, im Dschungel und in den Herzen der wilden Menschen tobt. Man kann auch nicht in solche Geheimnisse eingeweiht werden. Man muss inmitten des Unverständlichen leben, was genauso widerwärtig ist. Aber es hat auch eine Faszination, die sich nach und nach auf einen auswirkt. Die Faszination des Abscheus – stellt euch das wachsende Bedauern, die Sehnsucht zu entkommen, den ohnmächtigen Ekel, die Kapitulation, den Hass vor."

Er hielt inne.

"Wohlgemerkt", begann er wieder und spreizte einen Arm vom Ellenbogen, die Handfläche nach außen gewandt, so dass er mit vor ihm gefalteten Beinen die Pose eines Buddha einnahm, der in europäischer Kleidung und ohne Lotusblume predigte. "Wohlgemerkt, keiner von uns würde genauso fühlen. Was uns rettet, ist Effizienz – das Streben nach Effizienz. Aber diese Kerle waren nicht viel wert, wirklich nicht. Sie waren keine Kolonisten; ihre Verwaltung war nur ein Druckinstrument, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren Eroberer, und dafür braucht man nur rohe Kraft – wenn man sie besitzt ist das nichts, dessen man sich rühmen könnte, denn deine Stärke ist nur ein Zufall, der aus der Schwäche anderer entsteht. Sie schnappten sich, was sie bekommen konnten, einfach nur, weil es da war. Es war nur ein Raubüberfall mit Brachialgewalt, Mord in großem Stil, ausgeführt von Männern, die mit blinder Wut vorgingen – sehr passend für Menschen, die gegen die Finsternis ankämpfen. Die Eroberung der Erde, was meist bedeutet, sie denen wegzunehmen, die einen anderen Teint oder etwas flachere Nasen haben als wir, ist keine schöne Angelegenheit, wenn man sich zu sehr damit beschäftigt. Nur die eigentliche Idee spendet etwas Erlösung. Die Idee dahinter; kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an diese Idee – etwas, das man aufbauen und vor dem man sich verbeugen kann, und das ein Opfer bringt für .....".

Hier brach er ab. Im Fluss glitten Flammen dahin, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen, die sich gegenseitig verfolgten, überholten, verbanden, kreuzten – um sich sodann langsam oder hastig voneinander zu trennen. Der Verkehr der großen Stadt setzte sich in der Tiefe der Nacht auf dem schlaflosen Fluss fort. Wir sahen zu und warteten geduldig – es gab bis zum Ende der Flut nichts anderes zu tun; als Marlow nach einer langen Stille mit zögerlicher Stimme sagte, "ich nehme an, ihr erinnert euch, dass ich mich eine Zeit lang als Fußkapitän verdingt habe", wussten wir, dass wir dazu verdammt waren, vor dem Einsetzen der Ebbe einem von Marlows merkwürdigen Erlebnissen zu lauschen.

"Ich will euch nicht mit dem belästigen, was mir persönlich passiert ist", begann er und präsentierte mit dieser Bemerkung die Schwäche vieler Geschichtenerzähler, die oftmals nicht wissen, was ihr Publikum am liebsten hören würde; "aber um die Auswirkungen auf mich zu verstehen, solltet ihr wissen, wie ich da rausgekommen bin, was ich gesehen habe und wie ich den Fluss hinaufgefahren bin an den Ort, an dem ich den armen Kerl zum ersten Mal getroffen habe. Es war der weiteste Punkt meiner Schiffsführung und der Höhepunkt meiner Erfahrung. Er schien irgendwie eine Art Licht auf alles um mich herum zu werfen – und auch in meine Gedanken. Es war dennoch auch düster – und mitleidig – trotzdem gar nicht außergewöhnlich – auch nicht sehr klar. Nein, überhaupt nicht klar. Und doch schien es eine Art Licht zu werfen.

"Wie ihr euch erinnert, war ich damals viel im Indischem Ozean, im Pazifik und in den Chinesischen Meeren unterwegs – eine ordentliche Prise des Ostens, sozusagen – sechs Jahre oder so; zurück in London schlenderte ich herum, hielt euch von eurer Arbeit ab und drang in eure Häuser ein, als ob ich auf einer himmlischen Mission wäre, euch zu zivilisieren. Eine Zeit lang war das sehr gut, aber nach einiger Zeit war ich des Ausruhens müde. Dann begann ich, nach einem Schiff zu suchen – die härteste Arbeit auf Erden, das kann ich euch sagen. Aber die Schiffe suchten nicht nach mir. Und bald hatte ich genug von diesem Spiel.

"Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich eine Leidenschaft für Karten. Stundenlang suchte ich nach Südamerika, Afrika oder Australien und verlor mich in all den Ehren der Erforschung. Damals gab es viele weiße Flecken auf der Erde, und als ich einen fand, der auf einer Karte besonders einladend aussah (wobei alle so aussehen), legte ich meinen Finger darauf und sagte: "Wenn ich groß bin, werde ich dorthin gehen". Der Nordpol war einer dieser Orte, daran erinnere ich mich. Nun, ich war noch nicht dort und werde es heute nicht mehr versuchen. Der Zauber ist vergangen. Andere Orte waren über alle Hemisphären verstreut. Ich war an einigen davon, und ... naja, darüber sollten wir nicht reden. Aber es gab noch einen – den größten, den unerforschtesten, sozusagen – , nach dem ich mich sehnte.

"Es stimmt, zu diesem Zeitpunkt war es schon kein wirklich unerforschter Ort mehr. Seit meiner Kindheit wurde er mehr und mehr mit den Namen von Flüssen, Seen und anderen Örtlichkeiten gefüllt. Es hatte aufgehört, ein weißer Fleck voller wunderbarer Geheimnisse zu sein – ein weißer Fleck für einen Jungen, um herrlich davon zu träumen. Er war zu einem Ort der Finsternis geworden. Aber es gab darin einen Fluss, einen mächtigen, großen Fluss, den man auf der Karte sehen konnte, der einer riesigen, entrollten Schlange ähnelte, die den Kopf im Meer hatte, den ruhenden Körper weit über ein riesiges Land krümmte, und deren Schwanz sich in den Tiefen des Landes verlor. Als ich mir die Karte in einem Schaufenster ansah, faszinierte sie mich wie eine Schlange einen Vogel – einen dummen, kleinen Vogel. Dann erinnerte ich mich, dass es ein großes Problem gab, nämlich eine Gesellschaft, die den Handel an diesem Fluss kontrollierte. Verdammt nochmal! Ich dachte mir, es könnte keinen Handel dort geben, ohne irgendeine Art von Schiff auf so viel Süßwasser – Dampfer! Warum sollte es mir nicht gelingen, das Kommando über eines davon zu übernehmen? Ich fuhr die Fleet Street entlang, die Idee ließ mich aber nicht los. Die Schlange hatte mich verzaubert.

"Ihr müsst wissen, es war eine kontinentale Firma, diese Handelsgesellschaft; aber ich habe viele Verwandte, die auf dem Kontinent leben, weil es dort billig ist und gar nicht so scheußlich, wie es aussieht – sagen sie.

"Heute ist es mir peinlich, dass ich ihnen auf die Nerven fiel. Das Ganze war eh schon etwas komplett Neues für mich. Ich war es nicht gewohnt, die Dinge so zu regeln, wisst ihr. Ich ging immer meinen eigenen Weg, auf meinen eigenen Beinen, und ich ging immer dahin, wo ich Lust hatte. Ich hätte es selbst nicht geglaubt; aber, dann – wisst ihr – ich fühlte, dass ich auf Biegen und Brechen dorthin kommen musste. Also ging ich ihnen auf die Nerven. Die Männer sagten: "Mein lieber Freund" und taten nichts. Schließlich – würdet ihr es glauben? Ich habe mein Glück bei den Frauen versucht. Ich, Charlie Marlow, habe die Frauen arbeiten lassen, um einen Job zu bekommen. Um Himmels willen! Nun, wisst ihr, meine fixe Idee hat mich angetrieben. Ich hatte eine Tante, eine liebe, schwärmerische Seele. Sie schrieb: "Es wird entzückend sein. Ich bin bereit, alles für dich zu tun, einfach alles. Es ist eine wunderbare Idee. Ich kenne die Frau einer sehr hohen Persönlichkeit bei den Behörden, und noch einen Mann, der viel Einfluss dort hat," etc. Sie war fest entschlossen, so lange Aufruhr zu machen, bis man mich zum Skipper eines Flussdampfers ernannt hatte, wenn das meine Wunschvorstellung war.

"Ich habe meinen Termin bekommen – natürlich; und ich habe ihn sehr schnell bekommen. Anscheinend hatte die Gesellschaft die Nachricht erhalten, dass einer ihrer Kapitäne bei einem Kampf mit den Einheimischen getötet wurde. Das war meine Chance, und ich war umso bestrebter, dorthin zu gehen. Erst viele Monate später, als ich den Versuch unternahm, das, was von der Leiche übrig war, wiederzufinden, hörte ich, dass der ursprüngliche Streit aus einem Missverständnis über einige Hühner entstand. Ja, zwei schwarze Hühner. Fresleven – das war der Name des Kerls, ein Däne – glaubte, dass man ihn bei dem Geschäft über den Tisch gezogen hatte; also ging er an Land und begann, den Häuptling des Dorfes mit einem Stock zu schlagen. Oh, es hat mich nicht im Geringsten überrascht, das zu hören und gleichzeitig zu erfahren, dass Fresleven das sanfteste, leiseste Geschöpf war, das je auf zwei Beinen ging. Kein Zweifel, das war er; aber er war schon seit ein paar Jahren da draußen und engagierte sich für die edle Sache, wisst ihr, und er hatte wahrscheinlich das Bedürfnis, endlich seine Selbstachtung in irgendeiner Weise zu behaupten. Deshalb schlug er gnadenlos auf den alten Nigger ein, während eine große Menge seines Volkes ihn wie vom Donner gerührt beobachtete, bis ein Mann – man sagte mir, der Sohn des Häuptlings – aus Verzweiflung über die Schreie des alten Mannes mit einem Speer nach dem weißen Mann stieß – und diesen recht einfach zwischen den Schulterblättern versenkte. Dann floh der ganze Stamm in Erwartung aller Arten von Katastrophen in den Wald, während andererseits der Dampfer, den Fresleven kommandiert hatte, in wilder Panik und unter der Leitung des Ingenieurs, wie ich glaube, ablegte. Danach schien sich niemand mehr um Fresleven's Überreste zu kümmern, bis ich schließlich ankam und in seine Schuhe trat. Ich konnte es einfach nicht auf sich beruhen lassen; als sich endlich die Gelegenheit bot, meinen Vorgänger zu treffen, war das Gras, das durch seine Rippen wuchs, hoch genug, um seine Knochen zu bedecken. Sie waren alle da. Das übernatürliche Wesen war nach seinem Sturz nicht berührt worden. Das Dorf war verlassen, die Hütten verrotteten, zeigten schwarz klaffende Löcher und standen schief in der zertrampelten Einfriedung. Es war also tatsächlich eine Katastrophe passiert. Der Stamm war verschwunden. Wahnsinniger Schrecken hatte sie, Männer, Frauen und Kinder, im Busch verstreut, und sie waren nie zurückgekehrt. Was aus den Hühnern wurde, habe ich auch nie erfahren. Ich denke, sie sind dem Lauf der Zeit zum Opfer gefallen. Wie auch immer, durch dieses glorreiche Ereignis bekam ich meinen Termin, noch bevor ich wirklich begonnen hatte, darauf zu hoffen.

"In Windeseile traf ich meine Vorbereitungen zur Abreise, und noch bevor achtundvierzig Stunden vergangen waren, überquerte ich den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterschreiben. Nach wenigen Stunden kam ich in einer Stadt an, die mich immer an eine weiß angemalte Grabstätte erinnert. Ein Vorurteil, ohne Zweifel. Ich hatte keine Schwierigkeiten, die Büros der Gesellschaft zu finden. Es war das größte Gebäude in der Stadt, und jeder, den ich traf, kannte es. Sie wollten ein Überseeimperium führen und mit Handel so viel Geld scheffeln wie möglich.

"Eine schmale und verlassene Straße in tiefem Schatten, hohe Häuser, unzählige Fenster mit Jalousien, eine Totenstille, rechts und links sprießendes Gras, riesige Doppeltüren, die halboffen standen. Ich schlüpfte durch eine dieser Öffnungen, ging ein gefegtes und schmuckloses Treppenhaus hinauf, so trocken wie die Wüste, und öffnete die erste Tür, zu der ich kam. Zwei Frauen, eine fett und die andere schlank, saßen auf strohbedeckten Stühlen und strickten schwarze Wolle. Der Schlanke stand auf und ging direkt auf mich zu – immer noch strickend und mit niedergeschlagenen Augen – und in dem Moment, als ich überlegte, ihr aus dem Weg zu gehen, wie man es bei einem Schlafwandler tun würde, hielt sie inne und blickte auf. Ihr Kleid war so schlicht wie eine Regenschirmhülle, und sie drehte sich ohne ein Wort um und ging mir voraus in ein Wartezimmer. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein Tisch zum Kartenspielen in der Mitte, schlichte Stühle entlang der Wände, an einem Ende eine große, glänzende Karte, markiert mit allen Farben des Regenbogens. Da war enorm viel Rot – immer gut zu sehen, denn man erkennt daran, dass dort echte Arbeit geleistet wird; eine Menge Blau, ein wenig Grün, Schlieren von Orange und an der Ostküste ein lila Fleck, der aufzeigte, wo die lustigen Pioniere des Fortschritts ausgelassen ihr Lagerbier trinken. Aber nichts davon interessierte mich wirklich. Ich wollte ins Gelbe. Mittendrin. Dort, wo der Fluss war – faszinierend – tödlich wie eine Schlange. Aha! Eine Tür öffnete sich, es erschien ein weißhaariger Bürokopf, der aber einen mitfühlenden Ausdruck trug, und ein dünner Zeigefinger winkte mich in das Heiligtum. Das Licht dort war schwach, und in der Mitte stand ein schwerer Schreibtisch. Hinter dieser Konstruktion tauchten die Umrisse einer blassen, plumpen Person in einem Gehrock auf. Der große Mann persönlich. Er war knapp einen Meter achtzig groß, würde ich schätzen, und hielt so viele Millionen in seiner Hand. Er schüttelte mir die Hand, murmelte etwas Unverständliches, und war, wie ich schätze, zufrieden mit meinem Französisch. Bon Voyage.

"Etwa fünfundvierzig Sekunden später befand ich mich wieder im Wartezimmer bei der mitfühlenden Sekretärin, die mich voller Trostlosigkeit und Mitleid dazu brachte, ein Dokument zu unterschreiben. Ich glaube, ich habe mich unter anderem dazu verpflichtet, keine Geschäftsgeheimnisse preiszugeben. Nun, das werde ich nicht.