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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Kolonialwarenhändler erschließen den Dschungel von Belgisch-Kongo im Dienste der Mächte Europas. Der berüchtigte Mr. Kurtz, erfolgreichster aller Elfenbein-Lieferanten, beutet gnadenlos die Ureinwohner aus und lässt sich als Gott verehren. Zunehmend wird er Opfer seiner eigenen Allmachtsphantasien ... Der Horror lauert überall, wo der vermeintlich zivilisierte Westen glaubt, Heil bringen zu müssen.
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Seitenzahl: 218
Joseph Conrad
Herz der Finsternis
Erzählung
Erzählung
Aus dem Englischen von Manfred Allié
FISCHER E-Books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Die Nellie, eine Hochseejacht, schaukelte an ihrem Anker ohne das leiseste Flattern der Segel. Die Flut lief ein und es war fast windstill, und da wir flussabwärts wollten, blieb uns nichts anderes als beizudrehen und auf den Wechsel der Gezeiten zu warten.
Vor uns breitete sich die Themsemündung wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße. In der Ferne verschmolzen Meer und Himmel, und in dem lichterfüllten Raum war es, als stünden die gegerbten Segel der Lastkähne, die mit der Flut hereinkamen, still, ein Wald aus straffgespannter roter Leinwand, durch den die lackierten Spriete schimmerten. Ein Dunst lag über den Ufern, wie sie sich flach in der Ferne im Meer verloren. Der Himmel stand schwarz über Gravesend, und auch weiter landeinwärts war er wie verdichtet zu einer traurigen Düsternis, die reglos über der größten, großartigsten Stadt auf Erden hing.
Der Unternehmer war unser Kapitän und Gastgeber. Wir vier betrachteten in alter Freundschaft seinen Rücken, wie er da im Bug stand und in Richtung Meer blickte. Auf dem ganzen Fluss gab es nichts, was auch nur halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er wirkte wie ein Lotse, und das ist für einen Seemann die Vertrauenswürdigkeit in Person. Schwer vorzustellen, dass seine Arbeit nicht dort vor ihm in der schimmernden Flussmündung lag, sondern hinter ihm, in der Düsternis der Stadt.
Was uns zusammenhielt, war, wie ich bei anderer Gelegenheit schon gesagt habe, das Band der See. Es hielt nicht nur über lange Zeiten der Trennung unsere Herzen beieinander, sondern es machte uns auch nachsichtig gegenüber dem Seemannsgarn und sogar den Ansichten der anderen. Der Jurist– ein prachtvoller alter Bursche– hatte, seines hohen Alters und seiner hohen Verdienste wegen, als Einziger an Bord ein Kissen unter dem Kopf und lag auf der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel Dominosteine hervorgeholt und baute spielerisch kleine Häuschen daraus. Marlow, im Schneidersitz, saß weit hinten, an den Besanmast gelehnt. Seine Wangen waren hohl, die Haut gelblich, er hielt sich gerade wie ein Asket, und wie er dasaß, die Arme gesenkt, die Handflächen nach oben, sah er aus wie ein Götzenbild. Der Unternehmer vergewisserte sich, dass der Anker hielt, dann kam er nach achtern und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Danach herrschte Stille an Bord. Ich könnte nicht sagen warum, aber das Dominospiel kam nicht in Gang. Uns allen war nachdenklich zumute, und wir waren zufrieden damit, dass wir einfach vor uns hinstarrten. Heiter, still und strahlend neigte sich der Tag dem Ende zu. Das Wasser schimmerte friedlich, der Himmel war wolkenlos, unermesslich in seinem wunderbar reinen Licht, und selbst der Nebel über dem Marschland von Essex war wie ein helles, luftiges Gewebe, das von den bewaldeten Hügeln im Inland herabwehte und die flachen Ufer in eine feine Gaze hüllte. Nur das Dunkel im Westen, flussaufwärts, wurde von Minute zu Minute drohender, als empöre die Stadt sich über das Nahen der untergehenden Sonne.
Und schließlich war sie angekommen auf ihrer gewölbten Bahn, auf der sie unmerklich dem Horizont zustrebte, das strahlende Weiß hatte sich zu Tiefrot gewandelt, ohne Glanz, ohne Wärme, als wolle sie auf einen Schlag erlöschen, tödlich getroffen von der Berührung jener Düsternis, die über der Ansiedlung der Menschen lag.
Sogleich ging mit dem Wasser eine Veränderung vor, doch was die heitere Stimmung an Strahlen verlor, gewann sie an Tiefe. Spiegelglatt lag die breite Mündung des alten Flusses im letzten Abendlicht, ungerührt vom Verlöschen des Tages, nach all den Jahrhunderten, die er den Menschen an seinen Ufern nun schon gedient hatte; er floss dahin mit der stillen Würde eines Wasserwegs, der zu den entferntesten Enden der Erde führt. Und auch wir betrachteten den ehrwürdigen Strom nicht Im Aufblitzen eines kurzen Tages, der kommt und dann für immer vergeht, sondern im noblen Licht der Erinnerung. Und natürlich ist für einen Mann, dessen, wie man so sagt, Heimat die See war und der ihr in Liebe und Treue gedient hat, der Unterlauf der Themse genau der Ort, um den Geist vergangener Zeiten zu beschwören. Unablässig wechseln Ebbe und Flut, stets zu Diensten, beladen mit der Fracht der Erinnerung an Menschen und Schiffe, die sie zur Ruhe in die Heimat zurückbrachten oder hinaus zu Schlachten auf See. All die Männer, die der Stolz der Nation sind, hatte dieser Strom gekannt, hatte sie getragen, von Sir Francis Drake bis zu Sir John Franklin, Ritter allesamt, ob mit Adelspatent oder ohne– die großen fahrenden Ritter der See. Er hatte all die Schiffe gesehen, deren Namen wie Edelsteine funkeln in der Nacht der Zeit– die Golden Hind, die zurückkehrte, den bauchigen Leib mit Schätzen gefüllt, zum Abschluss ihrer großartigen Reise von Ihrer Majestät der Königin besucht, bis hin zu Erebus und Terror, die zu Eroberungen ganz anderer Art ausfuhren– und nie zurückkehrten. Dieser Strom hat die Schiffe und die Männer gekannt. Sie waren von Deptford aufgebrochen, von Greenwich, von Erith– die Abenteurer und die Auswanderer, die Schiffe der Krone und die Schiffe der Kaufleute, die Kapitäne, Admirale, die finsteren Schwarzhändler, die Generäle der Ostindienflotte. Goldsucher, Glücksritter, alle waren sie auf diesem Strom hinausgefahren, mit dem Schwert und oft der Fackel in der Hand, Botschafter der Macht ihres Landes, Überbringer eines Funkens vom heiligen Feuer. Welche Größe hatten die Gezeiten dieses Flusses hinaus zu den Geheimnissen einer unbekannten Welt geführt!… Die Träume der Menschen, die Saat neuer Staaten, den Keim großer Reiche.
Die Sonne ging unter; die Abenddämmerung legte sich über den Fluss, und überall am Ufer flammten die Lichter auf. Der Leuchtturm von Chapman auf seinen drei Beinen im Küstenschlamm warf einen hellen Lichtstrahl. Die Laternen der Schiffe zogen die Fahrrinne entlang– eine endlose Prozession von Lichtern flussauf- und flussabwärts. Im Westen lag nach wie vor, nunmehr als Lichtschimmer, die Aura der gewaltigen Stadt, ein düsterer Schleier im Sonnenschein, ein gespenstischer Glanz unter den Sternen.
»Und auch das«, sagte Marlow unvermittelt, »ist einmal einer der finsteren Orte der Erde gewesen.«
Er war der Einzige von uns, der nach wie vor zur See fuhr. Das Schlimmste, was man von ihm sagen konnte, war, dass er kein echter Vertreter seines Standes war. Er war Seemann, aber er war auch ein Getriebener, anders als die meisten Seeleute, die, wenn man so sagen darf, ein sesshaftes Leben führen. Sie sind Menschen, die gern zu Hause bleiben, und ihr Zuhause– das Schiff– haben sie immer bei sich und ebenso ihre Heimat– die See. Alles in allem sind Schiffe eins wie das andere, und auch die See ist immer gleich. In der Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Ufer, die fremden Gesichter, die Unermesslichkeit des Lebens in all seinen Erscheinungsformen an ihnen vorüber, verschleiert nicht von einem Gefühl des Geheimnisvollen, sondern von einer Unwissenheit mit einer Spur Verachtung, denn für einen Seemann gibt es nichts Geheimnisvolles, es sei denn die See selbst, die als Herrin über seinem ganzen Leben steht, so unergründlich wie das Schicksal. Ansonsten vermittelt ihm nach getaner Arbeit ein kleiner Spaziergang oder eine kleine Sauftour im Hafen das Geheimnis eines ganzen Kontinents, und meistens interessiert ihn dieses Geheimnis nicht einmal. Die Geschichten, die Seeleute erzählen, haben etwas Einfaches, Geradliniges, es sind Berichte wie die Nuss, die man aus ihrer Schale löst. Doch Marlow war nicht typisch (von seiner Neigung zum Seemannsgarn einmal abgesehen), und für ihn war die Bedeutung nichts Eingeschlossenes, keine Nuss in ihrer Schale, sondern sie lag außerhalb und umhüllte die Erzählung, wie ein Lichtschein ein Feuer umhüllt– wie die geheimnisvollen Höfe, die bisweilen das gespenstische Licht des Mondes umspielen.
So überraschte seine Bemerkung uns auch nicht. Sie passte zu Marlow. Sie wurde schweigend aufgenommen. Es machte sich nicht einmal jemand die Mühe, etwas zur Bestätigung zu brummen, und nach einer Weile fuhr er bedächtig fort:
»Ich musste an alte Zeiten denken, als die Römer hierher kamen, vor neunzehnhundert Jahren– gestern also… Seit damals ist von diesem Fluss Erleuchtung ausgegangen– Ritter, sagt ihr? Gewiss, aber es ist wie ein Feuer, das mit einer einzigen Flamme ganze Ebenen verzehrt, wie ein Blitz, der über die Wolken läuft. Wir leben im Licht dieses Blitzes– möge es leuchten, solange die alte Erde sich dreht! Noch gestern herrschte hier Finsternis. Stellt euch vor, wie dem Befehlshaber solch einer stattlichen– wie hießen sie?– Triere im Mittelmeer zumute gewesen sein muss, der plötzlich nach Norden abkommandiert wird; eilig bringt man ihn über Land durch Gallien, und dann erhält er den Befehl über eins jener Schiffe, die von den Legionären– die ungeheuer tüchtige Gesellen gewesen sein müssen– anscheinend zu Hunderten binnen ein, zwei Monaten zusammengezimmert wurden, wenn wir glauben wollen, was in den Büchern steht. Stellt ihn euch vor, wie er hier ankommt– am Ende der Welt, das Meer grau wie Blei, der Himmel finster wie Rauch, ein Schiff, das ungefähr so stabil ist wie eine Ziehharmonika–, wie er mit Vorräten, Befehlen, was weiß ich, diesen Fluss heraufkommt. Sandbänke, Marschen, Wälder, Wilde, kaum etwas zu essen für einen kultivierten Menschen, nichts zu trinken außer Themsewasser. Kein Landgang, kein Falernerwein. Hie und da ein Militärlager, verloren in der Einöde wie die Stecknadel im Heuhaufen– Kälte, Nebel, Stürme, Seuchen, Verbannung und Tod– Tod, der in der Luft lauert, im Wasser, im Gebüsch. Wie die Fliegen müssen sie hier gestorben sein. O ja– er tat seine Pflicht. Tat sie gewiss sogar gut und ohne dass er groß darüber nachdachte, höchstens später einmal, wenn er damit prahlte, was er zu seinen Zeiten alles durchgemacht hatte. Sie waren tapfere Männer und blickten der Finsternis ins Auge. Vielleicht machte ihm die Hoffnung Mut, dass er eines Tages auf einen Posten bei der Flotte in Ravenna befördert würde, wenn er gute Freunde in Rom hatte und das grässliche Klima lange genug aushielt. Oder stellt euch einen Bürger in seiner Toga vor– einen jungen Mann, der Pech beim Würfelspiel gehabt hat–, der im Gefolge eines Präfekten oder Steuereinnehmers oder gar eines Händlers hierher kommt, um seine Finanzen aufzubessern. Es beginnt mit einer Landung im Sumpf, dann stapft er durch die Wälder, und schließlich kommt er an einen Posten im Inneren, wo die Barbarei mit Händen zu greifen ist. Rundum nichts als Wildnis– das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das sich im Urwald regt, im Dschungel, in den Herzen der Wilden. Es sind Geheimnisse, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Er muss mitten in diesem Unfassbaren leben, in einer entsetzlichen Gegend. Sicher, es hat seine faszinierende Seite, und die Wirkung bleibt nicht aus. Die Faszination des Abscheulichen– ihr wisst, was ich meine. Stellt es euch vor, wie er mehr und mehr bedauert, was er getan hat, wie er sich nach Entkommen sehnt, stellt euch die Ohnmacht seines Abscheus vor, die Kapitulation– den Hass.«
Er schwieg.
»Versteht mich nicht falsch«, setzte er wieder an, streckte den Arm aus, die Handfläche nach außen, sodass er nun, wie er mit gekreuzten Beinen dort saß, aussah wie ein Buddha, der in westlichen Kleidern und ohne Lotosblume predigte– »versteht mich nicht falsch, keinem von uns wäre es so vorgekommen. Was wir ihnen voraushaben, das ist, dass wir etwas bezwecken wollen– wir wollen, dass unsere Arbeit Früchte trägt. Letzten Endes waren diese Burschen nicht viel wert. Sie kamen nicht als Kolonisten, sie plünderten einfach nur das Land aus und nicht mehr als das, scheint mir. Sie waren Eroberer, und dafür braucht man nichts als schiere Gewalt– nichts, worauf man stolz sein kann, denn die Stärke des einen ist nur die Schwäche des anderen. Sie rafften zusammen, was sie konnten, und waren nicht wählerisch. Sie waren brutale Räuber, grausame Mörder, und sie raubten und mordeten blind– wie es nicht anders sein kann bei denen, die sich in die Finsternis wagen. Die Eroberung der Welt, was ja im Grunde nichts anderes ist, als dass wir sie denen fortnehmen, die eine andere Hautfarbe oder eine etwas breitere Nase haben als wir, ist keine schöne Sache, wenn man zu genau hinsieht. Was sie erträglich macht, ist allein die Idee. Die Idee, die dahintersteckt– kein sentimentales Gerede, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an diese Idee, etwas wie ein Götterbild, vor dem man sich verneigen kann, dem man Opfer darbringen kann…«
Er schwieg. Flammen glitten über den Fluss, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen, die einander nachjagten, sich überholten, sich vereinten, sich kreuzten– und sich wieder voneinander lösten, gemächlich oder auch eilig. Der Verkehr der Großstadt ging weiter, die ganze Nacht, der Fluss schlief nie. Wir sahen zu, wir warteten geduldig– es gab sonst nichts zu tun, bis die Ebbe kam; doch erst als er nach langem Schweigen zögernd wieder ansetzte: »Ich nehme an, ihr erinnert euch, dass auch ich eine Zeit lang Süßwassermatrose war«, wussten wir, dass wir dazu verdammt waren, uns bis zum Ablaufen der Flut eine von Marlows endlosen Abenteuergeschichten anzuhören.
»Ich will euch nicht langweilen mit dem, was mir persönlich widerfahren ist«, begann er und bewies damit sogleich die Schwäche so vieler Geschichtenerzähler, die offenbar nie wissen, was ihre Zuhörer am liebsten hören, »aber damit ihr versteht, warum das alles mich so sehr berührte, solltet ihr wissen, wie ich dorthin kam, was ich dort sah, wie ich den Fluss hinauffuhr bis zu dem Ort, an dem ich den armen Burschen schließlich fand. Es war der äußerste schiffbare Punkt und zugleich der äußerste Punkt meiner Erfahrung. Irgendwie warf es eine Art Licht auf alles in meiner Umgebung– und auch auf meine Gedanken. Es war ein düsteres Erlebnis, gewiss– traurig dazu– nichts Großartiges– nicht allzu klar. Nein. Nicht allzu klar. Und doch ging offenbar eine Art Licht davon aus.
Ich war damals, ihr werdet euch erinnern, gerade nach London zurückgekehrt, nach einer langen Zeit im Indischen Ozean, im Pazifik, im Chinesischen Meer– eine gehörige Dosis Ostindien–, sechs Jahre alles in allem, und nun hatte ich nichts zu tun, störte euch bei der Arbeit, lud mich bei euch zu Hause ein, als hätte ich den göttlichen Auftrag, euch Kultur beizubringen. Eine Zeit lang ging das gut, aber es dauerte nicht lange, bis ich vom Ausruhen genug hatte. Also sah ich mich nach einem Schiff um– was, glaube ich, die härteste Arbeit auf Erden ist. Aber die Schiffe beachteten mich gar nicht. Und bald war ich auch dieses Spiel leid.
Als ich ein kleiner Junge war, da waren Landkarten meine große Leidenschaft. Stundenlang konnte ich Südamerika betrachten oder Afrika oder Australien und mir die wunderbarsten Entdeckerreisen ausmalen. Zu jener Zeit gab es auf der Erde noch viele weiße Flecken, und wenn ich auf der Karte einen erblickte, der besonders einladend aussah (was sie ja eigentlich alle tun), zeigte ich mit dem Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, gehe ich dorthin. Einer dieser Flecken war der Nordpol, das weiß ich noch. Nun, dort bin ich nicht gewesen, und jetzt werde ich es auch nicht mehr versuchen. Der Reiz ist verflogen. Andere lagen um den Äquator und über alle Breiten beider Hemisphären verstreut. An einigen dieser Orte bin ich tatsächlich gewesen und… na, reden wir nicht davon. Aber einen gab es noch immer– den größten und weißesten sozusagen–, der mich besonders reizte.
Zugegeben, inzwischen war er kein weißer Fleck mehr. Seit meinen Kindertagen hatte man ihn mit Flüssen und Seen und Namen versehen. Er war nicht mehr der Ort, für den sich die schönsten Geheimnisse ausmalen ließen– kein heller Fleck mehr, von dem ein Junge träumen konnte. Er war ein Ort der Finsternis geworden. Doch vor allem gab es dort jetzt einen Fluss, einen großen, mächtigen Fluss, den man auf der Landkarte verfolgen konnte, einen Fluss wie eine ausgestreckte Schlange, die den Kopf ins Meer tauchte und deren Körper sich träge durch eine weite Landschaft wand, und das Hinterende verlor sich in der Tiefe des Landes. Und als ich die Karte in einem Schaufenster betrachtete, faszinierte mich der Fluss, wie eine Schlange einen Vogel fasziniert– einen dummen kleinen Vogel. Dann fiel mir ein, dass es eine große Firma gab, eine Gesellschaft, die Handel auf diesem Fluss trieb. Teufel nochmal, dachte ich bei mir, die können doch auf einem so großen Fluss keinen Handel treiben, ohne dass sie Schiffe dort draußen haben– Dampfschiffe! Warum sollte ich mich nicht um das Kommando auf so einem Flussdampfer bewerben? Ich ging weiter die Fleet Street hinunter, aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Die Schlange hatte mich verführt.
Diese Handelsgesellschaft hatte ihren Sitz auf dem Kontinent, aber ich habe eine Menge Verwandte da drüben; sie leben auf dem Kontinent, weil es billiger ist, und es ist nicht so schlimm, wie es aussieht– sagen sie.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich drängte diese Verwandten, sich umzuhören. Schon das allein war etwas vollkommen Neues für mich. Ich war es nicht gewohnt, Beziehungen spielen zu lassen. Ich bin immer meinen eigenen Weg gegangen und immer aus eigener Kraft dorthin gelangt, wohin ich wollte. Ich hätte nicht gedacht, dass es einmal so weit mit mir kommen würde, aber versteht ihr, ich wollte diesen Posten um jeden Preis. Also drängte ich sie. Die Männer sagten ›mein lieber Junge‹ und taten nichts. Dann– könnt ihr euch das vorstellen?– versuchte ich es bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow, schickte die Frauen vor– um mir eine Anstellung zu verschaffen! Liebe Güte! Aber ich war von dieser Idee wie besessen. Ich hatte eine Tante, eine treue Seele, die immer für alles zu begeistern war. Sie schrieb: ›Es wird mir ein Vergnügen sein. Ich werde alles, alles für Dich tun. Was für eine wunderschöne Idee. Ich kenne die Frau einer sehr hochgestellten Persönlichkeit in der Verwaltung und außerdem einen Mann, der großen Einfluss bei‹ und so weiter und so fort. Keine Mühe sollte ihr zu viel sein, mich zum Kapitän eines Flussdampfers zu machen, wenn mein Herz daran hing.
Ich bekam meine Stelle– natürlich; und ich bekam sie sehr schnell. Offenbar hatte die Gesellschaft gerade erst Nachricht bekommen, dass einer ihrer Kapitäne bei einer Auseinandersetzung mit den Eingeborenen umgekommen war. Das war meine Chance, und umso ungeduldiger war ich nun. Erst viele Monate später, als ich mich bemühte zu bergen, was von seiner Leiche noch übrig war, erfuhr ich, dass der Streit aus einem Missverständnis um Hühner entstanden war. Ja, zwei schwarze Hühner. Fresleven– so hatte der Bursche geheißen, ein Däne– fühlte sich bei einem Handel übers Ohr gehauen. Er war an Land gegangen und hatte den Dorfältesten mit einem Stock verprügelt. Oh, und es überraschte mich nicht im mindesten, dass man mir im gleichen Atemzug erzählte, Fresleven sei der sanfteste, friedfertigste Mensch auf Erden gewesen. Ich zweifle nicht, dass er das war; aber er stand auch schon etliche Jahre im Dienste der guten Sache dort draußen, und wahrscheinlich hatte er einfach das dringende Bedürfnis, sich einmal zu vergewissern, dass er noch Achtung vor sich selbst hatte. Deshalb schlug er erbarmungslos auf den alten Nigger ein, dessen Stamm, der zu dem Ereignis zusammengelaufen war, wie vom Donner gerührt zusah, bis jemand– der Sohn des Ältesten, hieß es– es einfach nicht mehr aushielt, wie der alte Knabe schrie, und eher widerwillig seinen Speer nach dem Weißen warf– und ihn natürlich mitten zwischen die Schulterblätter traf. Daraufhin brachte die ganze Dorfbevölkerung sich in den Wäldern in Sicherheit, denn sie konnten sich ausmalen, dass allerlei Unangenehmes auf sie zukommen würde, und auch der Dampfer, den Fresleven geführt hatte, ergriff in wilder Panik die Flucht, unter dem Kommando des Maschinisten, glaube ich. Danach hatte sich anscheinend niemand mehr groß um Freslevens sterbliche Überreste gekümmert, bis ich dort unten ankam und seine Nachfolge antrat. Ich konnte die Sache natürlich nicht einfach auf sich beruhen lassen; aber als sich endlich eine Gelegenheit ergab, meinem Vorgänger einen Besuch abzustatten, war das Gras, das durch seine Rippen wuchs, schon so hoch, dass es die Knochen fast ganz verdeckte. Sie waren vollzählig. Man hatte das Wesen aus einer anderen Welt nicht angerührt; es lag noch da, wo es niedergestürzt war. Und das Dorf war verlassen; schwarz starrten mich die Hütten an, schon halb zergangen, schief hinter den umgestürzten Zäunen. Ein Unheil war über dieses Dorf gekommen, so viel stand fest. Die Bewohner waren fort. Ein irrsinniger Schrecken hatte sie vertrieben, Männer, Frauen und Kinder, hatte sie in den Busch gejagt, und sie waren nie zurückgekehrt. Ich weiß nicht, was aus den Hühnern geworden ist. Ich nehme an, dass sie trotzdem für die Sache des Fortschritts ihr Leben ließen. Aber ich bekam durch diese glorreiche Geschichte meinen Posten, noch bevor ich überhaupt angefangen hatte, mir Hoffnungen zu machen.
Die Reisevorbereitungen machte ich im Fluge, und keine achtundvierzig Stunden später überquerte ich den Ärmelkanal, um mich bei meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterzeichnen. Wenige Stunden später langte ich in der Stadt an, die mich immer an eine weiße Gruft denken lässt. Ein Vorurteil zweifellos. Ich fand das Büro der Gesellschaft ohne Mühe. Sie war in aller Munde– jeder, dem ich in der Stadt begegnete, erzählte davon. Sie bauten ihr eigenes Imperium in Übersee auf, und sie würden alle steinreich dabei werden.
Eine schmale, menschenleere Straße in tiefem Schatten, hohe Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, Totenstille, Gras, das zwischen den Pflastersteinen spross, rechts und links mächtige Toreinfahrten, riesige Flügeltüren, die behäbig einen Spaltweit offen standen. Ich schlüpfte durch einen dieser Türspalte, ging eine saubere und schmucklose Treppe hinauf, so karg wie die Wüste, und öffnete die erste Tür, auf die ich stieß. Zwei Frauen, die eine dick, die andere hager, saßen auf geflochtenen Stühlen und strickten mit schwarzer Wolle. Die Hagere stand auf, kam auf mich zu– noch immer strickend, die Augen niedergeschlagen– und erst als ich schon überlegte, ob ich ihr ausweichen sollte, wie man einem Schlafwandler ausweicht, blieb sie stehen und sah mich an. Ihr Kleid war so gerade wie die Hülle eines Regenschirms; wortlos machte sie kehrt und ging mir voraus zu einem Warteraum. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein grobgezimmerter Tisch in der Mitte, einfache Stühle entlang den Wänden, an einer davon eine große glänzende Afrikakarte, schillernd in allen Farben des Regenbogens. Große Teile waren rot– immer ein guter Anblick, weil man dann weiß, dass dort gute Arbeit geleistet wird–, verflucht viel Blau, ein wenig Grün, ein paar Flecken Orange und an der Ostküste etwas Violett, das anzeigte, wo die wackeren Pioniere des Fortschritts ihr wackeres Lagerbier trinken. Aber ich wollte zu keinem dieser Flecken. Mein Ziel war gelb. Genau in der Mitte. Und auch der Fluss war da– faszinierend– tödlich– wie eine Schlange. Tja. Die Tür öffnete sich, ein weißhaariger Sekretär steckte mit mitleidsvoller Miene den Kopf heraus, und ein dünner Zeigefinger winkte mich ins Allerheiligste. Es war düster dort drinnen, und ein schwerer Schreibtisch nahm die ganze Mitte des Raumes ein. Was ich dahinter erkannte, war zunächst nur etwas Bleiches, Dickes im Bratenrock. Der große Mann persönlich. Er reichte mir bis an die Schulter, doch er gebot über Millionen. Wir gaben uns die Hand, glaube ich, er murmelte etwas, war mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage.
Nach etwa fünfundvierzig Sekunden fand ich mich wieder bei dem mitleidigen Sekretär, der mich voller Trauer und Anteilnahme einige Papiere unterzeichnen ließ. Ich glaube, unter anderem verpflichtete ich mich, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Nun, das habe ich auch nicht vor.
Allmählich fühlte ich mich ein wenig unbehaglich. Ihr wisst ja, dass ich solche Zeremonien nicht gewohnt bin, und irgendwie war mir die Stimmung nicht geheuer. Es war, als sei ich in eine Verschwörung eingeweiht worden– ich weiß nicht– etwas stimmte da nicht, und ich war froh, als ich wieder draußen war. Im Vorzimmer strickten die beiden Frauen fieberhaft ihre schwarze Wolle. Leute kamen, und die Jüngere holte sie ab, um sie anzumelden. Die Ältere saß auf ihrem Stuhl. Die Stoffpantoffeln mit den flachen Sohlen ruhten auf einem Bänkchen, und eine Katze lag in ihrem Schoß. Auf dem Kopf trug sie ein gestärktes weißes Häubchen, hatte eine Warze auf der Wange, und auf der Nasenspitze saß eine silbern gefasste Brille. Sie sah mich über die Gläser hinweg an. Die rasche, gleichmütige Gelassenheit dieses Blicks beunruhigte mich. Zwei junge Männer mit einfältigen rotbackigen Gesichtern wurden eben nach vorn geführt, und sie bedachte sie mit dem gleichen kurzen Blick, ruhig und weise. Sie wusste alles über sie und alles über mich. Es war gespenstisch. Sie war mir unheimlich, ein böses Omen. Später in der Ferne dachte ich oft an diese beiden zurück, die das Tor zur Finsternis bewachten und schwarze Wolle strickten wie für ein warmes Leichentuch– die eine, die hinübergeleitete ins Unbekannte, unablässig hinüber, die andere, die mit den gleichmütigen Augen des Alters die einfältigen, forschen Gesichter musterte. ›Ave! Ehrwürdige mit deinem schwarzen Faden. Morituri te salutant.‹ Nicht viele von denen, die sie anblickte, sahen sie jemals wieder– nicht die Hälfte– bei weitem nicht.
Es stand noch ein Besuch beim Arzt an. ›Reine Formsache‹, versicherte mir der Sekretär und machte ein Gesicht dazu, als nehme er aus tiefem Herzen Anteil an meinem Schicksal. Also kam ein junger Bursche mit weit bis über die linke Augenbraue gezogener Kappe, ein Büroangestellter, nehme ich an– es muss Büroangestellte in diesem Geschäft gegeben haben, auch wenn das Haus still war wie ein Haus in einer Totenstadt–, kam aus einem oberen Stockwerk und führte mich dorthin. Er war ärmlich und achtlos gekleidet, mit Tintenflecken an den Jackenärmeln, und die große Krawatte bauschte sich unter einem Kinn wie die Spitze eines alten Stiefels. Für den Arzt war es noch ein wenig zu früh, und so schlug ich vor, ein Glas zu trinken, woraufhin er ein gutes Stück munterer wurde. Während wir bei unserem Wermut saßen, pries er seine Firma in den höchsten Tönen, und nach einer Weile fragte ich, warum er denn dann nicht selbst hinausfahre. Sogleich war er wieder nüchtern und kühl. ›Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe, sagte Platon zu seinen Schülern‹, antwortete er, als sei es ein Sprichwort, leerte mit großer Entschiedenheit sein Glas, und wir standen auf.