Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book

Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Ein Klassiker über Kolonialismus, Anmaßung und Unterdrückung von erschreckender Aktualität. In seinem berühmten Roman ›Herz der Finsternis‹ verarbeitet Joseph Conrad seine abenteuerliche letzte Reise nach Afrika, die er nur mit viel Glück überlebte und die ihm für den Rest seines Lebens eine zerrüttete Gesundheit und alptraumhafte Erinnerungen bescherte. Kapitän Marlow berichtet von seiner Fahrt ins Innere eines unbekannten Kontinents. Die Reise in den Dschungel öffnet ihm nicht nur die Augen über die dunklen Abwege europäischer Eroberungen; sie wird zur Entdeckungsreise: ins Ungewisse der eigenen Existenz, in die Untiefen des Halb- und Unterbewusstseins, ins finstere Labyrinth von Lüge und Schuld. ›Herz der Finsternis‹ hat von Anfang an Leser und Interpreten fasziniert und hat bis heute nichts von seiner Aktualität eingebüßt.  Die Neuübersetzung des berühmten Kongo-Thrillers: ein Meisterwerk. 

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Seitenzahl: 204

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Joseph Conrad

Herz der Finsternis

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz

Mit einem Nachwort von Tobias Döring

Deutscher Taschenbuch Verlag

Vollständige Ausgabe 2005Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© dieser Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40158-6 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13338-8Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher sowie Themen, die Sie interessieren, finden Sie auf unserer Website www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Ein Nachwort von Tobias Döring

I

Die Nellie, eine Hochseejacht, drehte sich ohne ein Flattern der Segel um den Anker und lag still. Die Flut hatte eingesetzt, es wehte kaum ein Wind und auf dem Weg flußabwärts blieb nichts anderes zu tun, als beizudrehen und den Wechsel der Gezeiten abzuwarten.

Der Unterlauf der Themse streckte sich vor uns aus wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße. Draußen auf der offenen See verschmolzen Himmel und Meer fugenlos miteinander, und in dem leuchtenden Raum schienen die gegerbten Segel der mit der Flut herauftreibenden Boote in Trauben roten Tuchs stillzustehen, scharfe Spitzen getupft vom Gefunkel der lackierten Spriete. Dunst hing über den niedrigen Ufern, die zum Meer hin flach ausliefen und verschwanden. Über Gravesend war die Luft finster, und noch weiter oben schien sie sich zu einem trostlosen Schatten zu verdichten, der reglos über der größten – und großartigsten – Stadt der Erde brütete.

Der Director of Companies war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir anderen vier betrachteten voll Zuneigung seinen Rücken, während er am Bug stand und seewärts blickte. Auf dem ganzen Fluß war nichts, das auch nur halb so seemännisch wirkte wie er. Er glich einem Lotsen, für jeden Seemann die Personifizierung der Zuverlässigkeit. Es war schwer zu glauben, daß seine Arbeit nicht dort draußen in der leuchtenden Mündung war, sondern hinter ihm, inmitten des brütenden Schattens.

Uns verband, wie ich schon einmal gesagt habe, die See. Ihr Band einte unsere Herzen selbst über längere Trennungszeiten und hatte außerdem den Effekt, uns nachsichtig zu machen gegen eines jeden Hirngespinsten – ja, sogar Überzeugungen. Der Anwalt, der beste aller Kameraden, hatte wegen seines hohen Alters und seiner vielen Tugenden das einzige Kissen an Bord und lag auf der einzigen Decke. Der Buchhalter hatte bereits einen Dominokasten hervorgeholt und spielte mit den Steinen Architekt. Marlow saß mit übereinandergeschlagenen Beinen rechts achtern gegen den Besanmast gelehnt. Seine Wangen waren eingefallen, das Gesicht war gelb, der Rücken gerade, seine ganze Erscheinung asketisch, und mit den herabhängenden Armen und nach vorn geöffneten Handflächen sah er aus wie ein Götzenbild. Nachdem sich der Director überzeugt hatte, daß der Anker griff, kam er nach achtern und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Dann senkte sich Schweigen über das Deck der Jacht. Aus irgendeinem Grund begannen wir nicht mit dem Dominospiel. Wir wollten unseren Gedanken nachhängen und fühlten uns zu nichts anderem in der Lage, als friedlich vor uns hinzustarren. Der Tag neigte sich in stiller, anmutiger Klarheit. Das Wasser glitzerte friedlich; der Himmel, ohne das kleinste Stäubchen, war eine gütige Unendlichkeit unbefleckten Lichts; selbst der Nebel über den Marschen von Essex war wie zartes, lichtes Gewebe, das von den bewaldeten Höhen im Inneren herabfiel und die niederen Ufer in durchscheinende Falten hüllte. Nur der Schatten im Westen, der stromaufwärts brütete, wurde von Minute zu Minute dunkler, als wäre er über den Vorstoß der Sonne erzürnt.

Und schließlich, am Ende ihres gekrümmten, unmerklichen Niedergangs angelangt, sank die Sonne, ihr weißes Glühen wich einem fahlen Rot, ohne Strahlen und ohne Hitze, als wollte sie plötzlich ganz erlöschen, erschlagen von der Berührung mit jenem Schatten, der über einem Haufen Menschen brütete.

Nun aber zog eine Veränderung über das Wasser herauf, und die Klarheit wurde weniger strahlend, dafür tiefer. Der alte Fluß ruhte zur Tagesneige unerschüttert in seinem breiten Bett, nachdem er jahrhundertelang dem Geschlecht, das seine Ufer bevölkerte, gute Dienste getan hatte, ausgestreckt in der gelassenen Hoheit einer Wasserstraße, die bis an die äußersten Enden der Erde führte. Wir betrachteten diesen ehrwürdigen Strom nicht in der lebhaften Glut eines kurzen Tages, der kommt und für immer vergeht, sondern im erlauchten Licht bleibender Erinnerungen. Und wirklich, einem Mann, der, wie es heißt, dem »Ruf der See« voll Ehrfurcht und Hingabe gefolgt ist, fällt nichts leichter, als auf dem unteren Lauf der Themse den großen Geist der Vergangenheit zu beschwören. Der Gezeitenstrom kommt und geht in unablässigem Dienst, beladen mit den Erinnerungen an die Männer und Schiffe, die er in den Schoß der Heimat gebracht hat oder hinaus zu den Schlachten auf See. Er hatte all die Männer gekannt, die der Nation zum Stolz gereichen, und ihnen gedient, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin – all den Rittern, mit Titel oder ohne, den großen fahrenden Rittern der See. Er hatte all die Schiffe getragen, deren Namen in der Nacht der Zeiten wie Juwelen funkeln, von der Golden Hind, die, ihre runden Flanken voller Schätze, heimkehrte, um von Ihrer Hoheit der Königin besucht zu werden und somit die Heldensage zu beschließen, bis zur Erebus und zur Terror, die sich auf die Fahrt zu weiteren Eroberungen machten – und niemals wiederkehrten. Er hatte die Schiffe gekannt und die Männer. Von Deptford, von Greenwich, von Erith waren sie losgesegelt – Abenteurer und Siedler, die Schiffe des Königs und die Schiffe der Spekulanten; Kapitäne, Admirale, die finsteren »Schleichhändler« der östlichen Märkte und die beauftragten»Generale« der Ostindischen Handelskompanie. Die Goldjäger und die Glücksritter, alle waren sie auf diesem Strom gefahren, mit dem Schwert in der Hand und oft mit der Fackel, Gesandte der Landesmacht, Träger eines Funkens des heiligen Feuers. Welche große Persönlichkeit, die nicht mit der Ebbe dieses Flusses dem Geheimnis der unbekannten Welt entgegengefahren!... Die Träume der Menschen, die Saat von Ländern, die Samen von Weltreichen.

Die Sonne ging unter; Dämmerung fiel über dem Strom, und entlang der Küste begannen Lichter aufzuflammen. Der Chapman-Leuchtturm, ein dreibeiniges Ding auf einer Schlammzone errichtet, strahlte hell. Lichter von Schiffen bewegten sich in der Fahrrinne – ein reges Treiben von Lichtern, hinauf und hinunter. Und flußaufwärts, im Westen, war die Lage der riesigen Stadt immer noch unheilvoll am Himmel markiert, ein brütender Schatten in der Sonne, ein gespenstischer Schein unter dem Sternenlicht.

»Und auch das«, sagte Marlow plötzlich, »war einmal einer der finsteren Orte der Erde.«

Er war der einzige unter uns, der immer noch »dem Ruf der See« folgte. Das Schlimmste, was man über ihn sagen konnte, war, daß er kein typischer Vertreter seiner Kaste war. Er war ein Seemann, doch er war auch ein Reisender, während die meisten Seeleute, wenn man so sagen kann, ein seßhaftes Leben führen. Sie zählen eher zu den Stubenhockern, und ihre Stube haben sie immer dabei – das Schiff – und ebenso ihr Heimatland – das Meer. Ein Schiff gleicht ziemlich dem anderen, und das Meer ist immer dasselbe. In dieser unveränderten Umgebung gleiten die fremden Küsten, die fremden Gesichter, die wechselhafte Unendlichkeit des Lebens an ihnen vorbei, verhüllt nicht von Geheimnis, sondern von leicht abschätziger Ignoranz; denn für den Seemann ist nichts geheimnisvoll außer der See selbst, die über seine Existenz gebietet und unergründlich wie das Schicksal ist. Ansonsten genügt ihm, nach dem Tagewerk eine gelegentliche Promenade oder Sauferei an Land, um ihm das Rätsel eines ganzen Kontinents zu offenbaren, und im allgemeinen interessiert ihn die Rätsellösung nicht. Seemannsgarne sind von nackter Einfachheit, und ihre ganze Bedeutung paßt in die Schale einer geknackten Nuß. Doch Marlow war nicht typisch (seine Neigung zu fabulieren ausgenommen), und die Bedeutung einer Begebenheit lag für ihn nicht im Innern wie der Kern, sondern außerhalb, sie umfing die Geschichte, die sie sichtbar machte, wie Licht einen Dunst, ähnlich dem nebligen Hof, den die Streuung des Mondscheins von Zeit zu Zeit zum Vorschein bringt.

Die Bemerkung überraschte uns keineswegs. Sie paßte genau zu Marlow. Sie wurde schweigend akzeptiert. Keiner machte sich die Mühe, sich auch nur zu räuspern; und bald sagte er sehr langsam:

»Ich dachte an sehr alte Zeiten, als die ersten Römer hier ankamen, vor neunzehnhundert Jahren – gestern... Licht kam von diesem Fluß seit – den Rittern, sagt ihr? Ja, aber das Licht ist wie ein rasender Steppenbrand, wie ein Blitz, der aus den Wolken fährt. Wir leben in seinem Aufflackern – möge es dauern, so lange die alte Erde sich noch dreht! Doch nach gestern herrschte hier Finsternis. Stellt euch die Gefühle des Kapitäns einer schönen – wie heißen sie noch? – Trireme vor, im Mittelmeer, der plötzlich nach Norden beordert wird; in Eile prescht er durch Gallien; erhält das Kommando über einen dieser Kähne, den die Legionäre – ein prächtiger Haufen Handwerker muß das gewesen sein – zu Hunderten in ein oder zwei Monaten zusammenzimmerten, wenn wir glauben können, was wir lesen. Stellt ihn euch hier vor – am äußersten Ende der Welt, das Meer wie Blei, der Himmel wie Rauch, ein Boot so stabil wie eine Ziehharmonika – und dann den Fluß hinauf mit Vorräten oder mit Befehlen oder was immer. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde, herzlich wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts zu trinken als Themsewasser. Kein Falernerwein hier, kein Landgang. Hin und wieder ein Militärlager, in der Wildnis verloren wie die Nadel im Heuhaufen– Kälte, Nebel, Stürme, Krankheit, Exil und Tod– Tod lauert in der Luft, im Wasser, im Gebüsch. Sie müssen hier gestorben sein wie die Fliegen. O doch – er schafft es. Schafft es zweifellos sogar sehr gut, ohne viel darüber nachzudenken, außer im nachhinein, wenn er damit prahlt, was er in seiner Zeit alles durchgemacht hat. Sie waren Manns genug, der Finsternis die Stirn zu bieten. Und vielleicht tröstete ihn die Aussicht auf die Chance einer Beförderung in die Flotte von Ravenna, später, falls er in Rom gute Freunde hatte und das fürchterliche Klima überlebte. Oder denkt euch einen netten jungen Römer in seiner Toga – vielleicht zuviel Würfel, ihr wißt schon–, der im Gefolge eines Präfekten oder Steuereintreibers oder sogar eines Händlers hierherkam, um sein Glück zu machen. Landet im Sumpf, marschiert durch den Urwald, und irgendwo auf einem Handelsposten im Inneren spürt er die Wildnis. Die äußerste Wildnis hat ihn eingeschlossen – all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, das sich im Wald regt, im Dschungel, im Herzen wilder Männer. Geheimnisse, in die es keine Einweihung gibt. Er muß inmitten des Unbegreiflichen leben, das gleichzeitig abscheulich ist. Und doch geht eine Faszination davon aus, die in ihm zu wirken beginnt. Die Faszination des Abscheus – versteht ihr. Stellt euch seine wachsende Reue vor, den Wunsch zu fliehen, den ohnmächtigen Ekel, die Kapitulation – den Haß.«

Er hielt inne.

»Allerdings«, fuhr er fort, indem er eine Hand hob, mit der Handfläche nach vorn, so daß er, im Schneidersitz, wie ein predigender Buddha dasaß, in europäischer Tracht und ohne die Lotosblüte – »allerdings würde es keiner von uns genauso empfinden. Was uns rettet, ist Effizienz – die Hingabe an die Effizienz. Aber mit jenen Burschen war nicht viel los. Sie waren keine Kolonisten; unter ihrer Verwaltung ging es nur ums Ausquetschen, mehr nicht, vermute ich. Sie waren Eroberer, und dafür braucht es nur rohe Gewalt – nichts, womit einer prahlen kann, denn die eigene Stärke ist nur Zufall, begründet auf der Schwäche anderer. Sie rafften zusammen, was sie kriegen konnten, nur um des Kriegens willen. Es war ein brutaler Raubüberfall, ein Morden in großem Ausmaß, und die Männer machten sich blindwütig ans Werk – die passende Methode, wenn es darum geht, über eine Finsternis herzufallen. Die Eroberung der Erde – die meist nichts anderes bedeutet, als sie denen wegzunehmen, deren Haut eine andere Farbe hat oder deren Nase flacher ist als unsere eigene – ist keine schöne Sache, wenn man genau hinsieht. Die einzige Wiedergutmachung ist die Idee. Eine Idee, die dahintersteckt; kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und der selbstlose Glaube an diese Idee – etwas, das man aufstellen kann, vor dem man sich verbeugen, dem man Opfer bringen kann...«

Er brach ab. Flammen glitten über den Fluß, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen, die einander verfolgten, überholten, zusammenflossen, sich kreuzten – um sich dann schnell oder langsam wieder zu trennen. Auf dem schlaflosen Fluß strömte in der einbrechenden Nacht der Verkehr der großen Stadt weiter. Wir schauten zu und warteten geduldig – es gab nichts anderes zu tun bis zum Ende der Flut; doch erst nach einem längeren Schweigen, als Marlow mit zögerlicher Stimme sagte: »Ich schätze, ihr erinnert euch, daß ich einmal für eine Weile Süßwassermatrose war«, wußten wir, daß es uns beschieden war, bevor die Ebbe einsetzte, einer von Marlows ergebnislosen Erfahrungen zu lauschen.

»Ich will euch nicht lange damit aufhalten, was mir persönlich widerfuhr«, begann er, womit er die Schwäche vieler Geschichtenerzähler offenbarte, die oft nicht zu wissen scheinen, was das Publikum am liebsten hört; »doch um die Wirkung zu begreifen, die das Ganze auf mich hatte, müßt ihr wissen, wie ich dort hinkam, was ich sah, wie ich den Fluß hinauffuhr zu dem Ort, wo ich dem armen Burschen das erste Mal begegnete. Es war der äußerste Punkt der Schiffahrt und der Höhepunkt meiner Erfahrung. Es schien eine Art Licht auf alles um mich herum zu werfen – und auf meine Gedanken. Dabei war es düster – und elend – in keiner Weise außergewöhnlich – auch nicht sehr klar. Nein, nicht sehr klar. Und doch schien es eine Art Licht zu werfen.

Ich war damals, wie ihr wißt, gerade nach London zurückgekehrt, nach einer langen Zeit auf dem Indischen Ozean, dem Pazifik und dem Chinesischen Meer – einer gehörigen Portion Osten, sechs Jahren etwa–, und lungerte herum, behinderte euch bei der Arbeit und suchte eure Häuser heim, ganz so, als käme ich im himmlischen Auftrag, euch zu zivilisieren. Eine Zeitlang gefiel es mir, aber nach einer Weile wurde ich der Muße müde. Da begann ich mich nach einem Schiff umzusehen – die schwerste Arbeit der Welt, meiner Meinung nach. Doch die Schiffe würdigten mich keines Blickes. Und so wurde ich bald auch dieses Spielchens müde.

Nun hatte ich schon als kleiner Junge eine Leidenschaft für Landkarten gehabt. Stundenlang betrachtete ich Südamerika oder Afrika oder Australien und verlor mich in den Herrlichkeiten des Entdeckertums. Zu jener Zeit gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde, und wenn ich einen sah, der auf der Karte besonders einladend wirkte (aber das tun sie alle), legte ich den Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, fahre ich dorthin. Ich erinnere mich, daß der Nordpol einer dieser Orte war. Nun, ich war noch nicht dort und werde es im Moment auch nicht versuchen. Der Zauber ist dahin. Andere Orte waren um den Äquator verstreut, auf jedem Breitengrad und überall in beiden Hemisphären. An einigen bin ich gewesen, und... Nun, davon soll jetzt nicht die Rede sein. Doch noch gab es diesen einen – den größten – den weißesten, sozusagen – nach dem ich mich besonders sehnte.

Wohl wahr, inzwischen war er kein weißer Fleck mehr. Seit meiner Kindheit hatte man ihn mit Flüssen und Seen und Namen gefüllt. Es war nicht länger der leere Fleck lockender Geheimnisse – der weiße Raum, von dem ein Knabe herrlich träumen konnte. Es war ein Ort der Finsternis geworden. Doch es gab dort vor allem noch einen Fluß, einen mächtigen großen Fluß, den man auf der Karte sah – wie eine riesige entringelte Schlange, den Kopf im Meer, deren Körper sich reglos weit durch ein riesiges Land windet und deren Schwanz in den Tiefen des Kontinents verschwindet. Und als ich ihn in einem Schaufenster auf der Landkarte sah, zog er mich an wie die Schlange einen Vogel – einen törichten kleinen Vogel. Ich erinnerte mich daran, daß es eine große Firma gab, eine Gesellschaft, die auf dem Fluß Handel trieb. Verflixt noch mal, dachte ich, auf dieser Süßwassermasse können sie doch keinen Handel treiben ohne irgendeine Art von Kahn. Dampfschiffe! Warum sollte ich nicht versuchen, bei einem davon das Kommando zu übernehmen. Während ich die Fleet Street hinunterlief, ließ mich der Gedanken nicht mehr los. Die Schlange hatte mich in ihren Bann geschlagen.

Ihr müßt wissen, es war eine europäische Firma, diese Handelsgesellschaft; doch ich habe mehrere Verwandte auf dem Kontinent, die dort leben, weil es billig ist und nicht so schlimm, wie es aussieht – behaupten sie.

Ich bedaure zugeben zu müssen, daß ich sie zu behelligen begann. Schon das war für mich neu. Es ist nicht meine Gewohnheit, auf diese Weise an etwas heranzukommen, wie ihr wißt. Ich bin immer meinen eigenen Weg gegangen, habe mein Ziel auf meinen eigenen Füßen erreicht. Wahrscheinlich hätte ich es mir selbst nicht zugetraut, doch andererseits – seht ihr – ich hatte einfach das Gefühl, ich müßte dorthin, unbedingt. Und daher behelligte ich sie. Die Männer sagten: ›Mein lieber Junge‹ und taten nichts. Daraufhin – glaubt ihr es?– versuchte ich es bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow, schickte Frauen vor – damit ich eine Stelle bekam! Grundgütiger! Aber, seht ihr, das Verlangen trieb mich. Ich hatte eine Tante, eine liebe schwärmerische Seele. Sie schrieb: ›Es macht mir große Freude. Ich werde gerne alles, alles für dich tun. Eine wunderbare Idee. Ich kenne die Frau einer sehr hohen Persönlichkeit in der Verwaltung und außerdem einen Mann, der viel Einfluß hat auf...‹ etc. etc. Sie war fest entschlossen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, bis ich als Skipper auf einem Flußdampfer angestellt wäre, wenn das mein Wunsch war.

Ich bekam meine Anstellung – natürlich; und ich bekam sie sehr schnell. Offenbar hatte die Firma Nachricht erhalten, einer ihrer Kapitäne sei bei einer Auseinandersetzung mit den Eingeborenen getötet worden. Das war meine Chance, und es machte mich noch ungeduldiger aufzubrechen. Erst viele Monate später, beim Versuch, seine sterblichen Überreste zu bergen, fand ich heraus, daß der Streit ursprünglich wegen eines Mißverständnisses um ein paar Hennen entbrannt war. Ja, wegen zwei schwarzer Hennen. Fresleven – so hieß der Kerl, ein Däne – fühlte sich bei dem Handel irgendwie über den Tisch gezogen, also ging er an Land und schlug mit einem Stock auf den Häuptling des Dorfes ein. Oh, es überraschte mich nicht im geringsten, das zu hören und zur gleichen Zeit, daß Fresleven das sanfteste, ruhigste Geschöpf gewesen sei, das sich je auf zwei Beinen bewegte. Zweifellos verhielt es sich so, doch er war bereits ein paar Jahre dort draußen, im Dienst der edlen Sache, ihr wißt schon, und wahrscheinlich hatte er am Ende doch das Bedürfnis, seine Selbstachtung irgendwie wiederherzustellen. Also prügelte er gnadenlos auf den alten Nigger ein, während ein Großteil von dessen Stamm wie vom Donner gerührt zusah, bis einer – der Sohn des Häuptlings, sagte man mir – in seiner Verzweiflung darüber, den Alten schreien zu hören, zaghaft mit dem Speer in Richtung des weißen Mannes stach – und natürlich glitt der Speer ganz leicht hinein zwischen den Schulterblättern. Daraufhin, in Erwartung irgendeines großen Unheils, verschwand das gesamte Volk im Urwald, während das Dampfschiff, dessen Kommando Fresleven hatte, ebenfalls in Panik abfuhr, unter dem Befehl des Ingenieurs, glaube ich. Später schien sich keiner weitere Gedanken um Freslevens Überreste zu machen, bis ich kam und in seine Fußstapfen trat. Ich konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen, aber als sich endlich die Gelegenheit bot, meinen Vorgänger kennenzulernen, war das Gras, das ihm durch die Rippen wuchs, so hoch, daß es die Knochen verbarg. Sie waren noch vollzählig. Man hatte das übernatürliche Wesen nach seinem Fall nicht angerührt. Und das Dorf war ausgestorben, die Hütten innerhalb der verfallenen Einfriedung gähnten schwarz, völlig windschief, und verrotteten. Ein Unheil war geschehen, soviel war klar. Die Bewohner waren verschwunden. Rasender Schrecken hatte sie in den Busch verscheucht, Männer, Frauen und Kinder, und sie waren nie zurückgekehrt. Auch was aus den Hennen wurde, weiß ich nicht. Ich schätze aber, der Fortschritt hat sie erwischt, so oder so. Jedenfalls verdankte ich dieser glorreichen Begebenheit, daß ich meine Anstellung bekam, bevor ich recht darauf zu hoffen begonnen hatte.

Ich hetzte herum wie ein Verrückter, um alles zu erledigen, und überquerte binnen achtundvierzig Stunden den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterzeichnen. Nach wenigen Stunden erreichte ich die Stadt, die mich stets an ein getünchtes Grab erinnert. Zweifellos ein Vorurteil. Ich fand die Büros der Handelsgesellschaft ohne Schwierigkeiten. Sie war das größte Unternehmen in der Stadt und jeder, der mir begegnete, war stolz darauf. Man war im Begriff, ein Imperium in Übersee aufzubauen und durch Handel Geld wie Heu zu machen.

Eine schmale, ausgestorbene Straße tief im Schatten, hohe Häuser, unzählige Fenster mit Fensterläden, Totenstille, Gras, das zwischen den Pflastersteinen wucherte, eindrucksvolle Kutschentore rechts und links, mächtige Flügeltüren, die gewichtig halb offenstanden. Durch einen solchen Spalt schlüpfte ich hinein, stieg eine geschwungene, schmucklose Treppe hinauf, öde wie die Wüste, und öffnete die erste Tür, an die ich kam. Zwei Frauen, eine dick, die andere schlank, saßen auf Stühlen mit Sitzen aus Strohgeflecht und strickten schwarze Wolle. Die Schlanke stand auf und kam auf mich zu – mit gesenktem Blick, ohne die Strickarbeit zu unterbrechen–, und erst in dem Moment, als ich ihr schon aus dem Weg treten wollte, wie man es für einen Schlafwandler täte, blieb sie stehen und sah mich an. Ihr Kleid war schlicht wie ein Regenschirmfutteral; wortlos drehte sie sich um und führte mich in ein Wartezimmer. Ich gab meinen Namen an und sah mich um. In der Mitte ein Holztisch, einfache Stühle entlang den Wänden, an einem Ende eine große glänzende Karte, mit allen Farben des Regenbogens markiert. Da war eine Menge Rot – immer schön zu sehen, weil man weiß, daß dort echte Arbeit geleistet wird–, verteufelt viel Blau, ein bißchen Grün, ein paar Tupfer Orange, und an der Ostküste ein violetter Fleck, der zeigte, wo die lustigen Pioniere des Fortschritts ihr lustiges Lagerbier trinken. Doch ich sollte in keins dieser Gebiete ziehen. Ich ging ins Gelbe. Mitten ins Zentrum. Und dort war der Fluß – faszinierend – tödlich – wie eine Schlange. Uff. Eine Tür öffnete sich, ein Sekretärshaupt mit weißem Haar, doch mitfühlender Miene, tauchte auf, ein dürrer Zeigefinger winkte mich ins Allerheiligste. Drinnen war das Licht trüb, ein schwerer Schreibtisch besetzte die Mitte des Raums. Hinter dem Ding kam ein bleicher, plumper Schemen im Gehrock hervor. Der Große Mann höchstpersönlich. Er war schätzungsweise knapp einen Meter siebzig groß und saß am Schalthebel von etlichen Millionen. Er schüttelte mir die Hand, so meine ich jedenfalls, murmelte irgend etwas, war mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage.

Nach fünfundvierzig Sekunden stand ich wieder in dem Wartezimmer mit dem mitfühlenden Sekretär, der mir, voll Kummer und Anteilnahme, ein Dokument zu unterzeichnen gab. Ich glaube, neben anderen Dingen verbürgte ich mich dafür, keine Handelsgeheimnisse zu verraten. Nun, das werde ich auch nicht tun.

Langsam begann ich mich ein wenig unwohl zu fühlen. Wißt ihr, solche Förmlichkeiten bin ich nicht gewohnt, und irgend etwas Verhängnisvolles lag dort in der Luft. Als wäre ich in eine Art Verschwörung hineingeraten – ich weiß nicht–, irgend etwas stimmte nicht ganz, und ich war froh, als ich wieder draußen war. Im Vorzimmer strickten die zwei Frauen fieberhaft ihre schwarze Wolle. Leute kamen, und die Jüngere lief hin und her, um sie vorzustellen. Die Ältere blieb auf ihrem Stuhl sitzen. Ihre flachen Tuchpantoffeln ruhten auf einem Fußwärmer und eine Katze schlief in ihrem Schoß. Auf dem Kopf trug sie ein gestärktes weißes Etwas, hatte eine Warze auf der Wange und ein silbergefaßter Kneifer klemmte auf ihrer Nasenspitze. Über den Rand des Kneifers musterte sie mich. Die flüchtige, gleichgültige Gelassenheit ihres Blicks machte mir Angst. Zwei alberne, heitere junge Männer wurden vorbeigelotst, und ihnen warf sie den gleichen schnellen Blick teilnahmslosen Wissens zu. Sie schien alles über sie zu wissen und auch über mich. Mich beschlich ein beklemmendes Gefühl. Sie wirkte so unheimlich und schicksalhaft. Noch oft, als ich längst weit fort war, dachte ich an diese Zwei, die das Tor zur Finsternis bewachten und dabei schwarze Wolle strickten wie für ein wärmendes Bahrtuch: die eine geleitete hinein, geleitete unablässig ins Unbekannte hinein, die andere musterte die heiteren, albernen Gesichter mit teilnahmslosen alten Augen. ›Ave! Alte Strickerin der schwarzen Wolle. Morituri te salutant.‹ Nicht viele von denen, auf die ihr Blick fiel, sahen sie je wieder, nicht die Hälfte – bei weitem nicht.

Nun lag noch der Arztbesuch vor mir. ›Eine reine Formsache‹, versicherte mir der Sekretär mit einem Gesicht, als nehme er ungeheuren Anteil an all meinen Sorgen. Folglich kam von oben ein junger Bursche, der den Hut tief über der linken Braue trug, eine Art Schreiber, nehme ich an – es mußte Schreiber in der Firma geben, auch wenn das Haus so still war wie ein Haus in einer Totenstadt