Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book + Hörbuch

Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Kapitän Marlow steuert seinen Flussdampfer immer tiefer in die Wildnis des Kongo, ins Herz des Schwarzen Kontinents, wo er auf den zwielichtigen Elfenbeinhändler Kurtz stößt.

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Joseph Conrad

Herz der Finsternis

erzählung

Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Urs Widmer

Diogenes

1

Die Nellie, eine Hochseejacht, drehte sich ruhig um ihren Anker, ohne dass ihre Segel sich auch nur ein bisschen regten. Die Flut hatte eingesetzt, es war nahezu windstill, und da wir stromabwärts wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als auf Wind und den Wechsel der Gezeiten zu warten.

Die Mündung der Themse lag wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße vor uns. In der Ferne verschmolzen das Meer und der Himmel, und in dem leuchtenden Raum schienen die Segel der Barken, die mit der Flut hochtrieben, bewegungslos zu schweben, rote Tuchhaufen, über denen zuweilen lackierte Spriete glänzten. Dunst lag über den niedern Ufern und löste sich im flachen Wasser auf. Die Luft war dunkel über Gravesend und schien weiter landeinwärts zu einer noch weit trostloseren Düsternis verdichtet, die schwer über der größten, der herrlichsten Stadt auf Erden hing.

Ein Direktor mehrerer Unternehmen war unser Kapitän und Gastgeber. Wir vier betrachteten angerührt seinen Rücken, während er im Bug stand und aufs Meer hinaussah. Auf dem ganzen Fluss gab es nichts, was auch nur halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er glich einem Lotsen, der – für einen Seemann – fleischgewordenen Vertrauenswürdigkeit. Kaum vorstellbar, dass seine Arbeit nicht dort draußen in der lichtvollen Flussmündung, sondern hinter ihm im Dunkeln lag.

Uns verband, wie ich schon anderswo ausgeführt habe, die See. Zum einen hielt dies unsre Herzen in Zeiten langer Trennungen zusammen, und zum andern bewirkte es, dass wir alle Lügengeschichten nachsichtig hinnahmen – und sogar das, was einer felsenfest glaubte. Der Rechtsanwalt – ein alter Goldschatz – hatte, seiner vielen Jahre und vielen Verdienste wegen, das einzige Kissen an Deck und lag auf der einzigen Wolldecke. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel voller Dominosteine hervorgeholt und baute sie zu einem kunstvollen Gebäude auf. Marlow saß mit gekreuzten Beinen bolzgerade da und lehnte sich an den Besanmast. Seine Wangen waren eingefallen, sein Gesicht war gelb, sein Rücken steif, er sah asketisch aus und glich, weil er seine Arme hängen ließ und die Handflächen nach außen kehrte, einem Götzenbild. Der Direktor hatte sich überzeugt, dass der Anker hielt, kam nach achtern und setzte sich zu uns. Wir wechselten ein paar Worte, faul. Danach herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus irgendeinem Grund fingen wir nicht mit dem Dominospiel an. Wir fühlten uns nachdenklich und nur dazu fähig, friedlich vor uns hin zu glotzen. Der Tag ging in einem klaren, stillen und wunderbaren Glanz zu Ende. Das Wasser glitzerte friedvoll; der Himmel, ohne einen Makel, war eine wohltuende Unendlichkeit reinen Lichts; sogar der Dunst der Sümpfe von Essex glich einem Gewebe aus leuchtender Gaze, das von den waldigen Höhen des Binnenlands herabhing und seine durchsichtigen Falten über die flachen Ufer warf. Nur die Düsternis im Westen, die weiter oben über dem Fluss lag, wurde von Minute zu Minute tiefer, als reize sie das Nahen der Sonne.

Und endlich sank die Sonne in einem krummen und nicht wahrnehmbaren Sturz zum Horizont hinunter und war nun nicht mehr gleißend weiß, sondern dumpf und rot und ohne Strahlen und Wärme, als wolle sie gleich verlöschen, tödlich getroffen, weil sie jene Düsternis berührt hatte, die über einer Masse aus Menschen lastete.

Sofort veränderte sich das Wasser, und es wurde weniger klar und leuchtend, dafür umso tiefgründiger. Die breite Mündung des alten Flusses lag, während der Tag verging, spiegelglatt da, nach Jahrhunderten treuer Dienste, die er den Geschlechtern an seinen Ufern geleistet hatte. Er breitete sich mit der stillen Würde einer Wasserstraße aus, die zu den entferntesten Enden der Erde führt. Wir betrachteten den Strom nicht mit dem heftigen Gefühlssturm eines kurzen Tags, der kommt und für immer geht, sondern im erhabenen Licht bleibender Erinnerungen. Und tatsächlich ist für jemanden, der, wie man wohl sagt, »mit Leib und Seele zur See fuhr«, nichts einfacher, als in der Mündung der Themse den großen Geist vergangener Tage zu beschwören. Ihre unaufhörlich wechselnden Gezeiten sind voller Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die sie einst in ihr friedliches Heim oder zu Seeschlachten trug. Sie hatte all die Männer gekannt und befördert, auf die die Nation stolz ist, von Sir Francis Drake bis zu Sir John Franklin, all die hochwohlgeborenen und all die nicht ganz so edlen Ritter – die großen fahrenden Haudegen der See. Sie hatte all die Schiffe getragen, deren Namen wie Juwelen in der Nacht der Zeit leuchten, von der Golden Hind, deren runde Wände voller Schätze waren und von Ihrer Majestät der Königin besucht wurden – was die gewaltige Geschichte zu einem guten Ende brachte –, bis hin zur Erebus und zur Terror, die zu andern Raubzügen aufbrachen und nie zurückkehrten. Sie hatte die Schiffe und die Menschen gekannt. Sie waren in Deptford, in Greenwich, in Erith aufgebrochen – die Abenteurer und die Auswanderer; Schiffe des Königs und die Schiffe der Londoner Spekulanten; Kapitäne, Admirale, die finsteren »Schmuggler« des Osthandels und die konzessionierten »Generäle« der East-India-Company-Flotte. Goldsucher und Ruhmsüchtige, alle waren sie auf diesem Strom in die Ferne gefahren, mit dem Schwert in der Hand und oft mit der Fackel der Aufklärung, Boten der Macht des zurückgelassenen Lands, Träger eines Funkens der heiligen Flamme. Wie viel Kraft und Größe war nicht mit der Ebbe dieses Flusses zu den Rätseln einer unbekannten Welt hinausgetrieben worden! Die Träume von Menschen, das Saatgut neuer Staaten, die Keime von Weltreichen.

Die Sonne ging unter; die Dämmerung brach über den Strom herein, und Lichter begannen längs der Küste aufzuleuchten. Der Leuchtturm von Chapman, ein dreibeiniges Ding, das in einer Untiefe voller Schlick stand, strahlte hell. Lichter von Schiffen bewegten sich in der Fahrrinne – ein Gewimmel aus Lichtern, die auf- und abwärts fuhren. Und weiter im Westen, stromaufwärts, war der Standort der monströsen Stadt immer noch wie ein böses Vorzeichen am Himmel festgehalten, ein unheilschwanger düsterer Fleck im Schein der Sonne, ein gespenstisches Leuchten unter den Sternen.

»Und das hier«, sagte Marlow plötzlich, »ist auch einer der finstern Orte der Erde gewesen.«

Er war der Einzige von uns, der immer noch »dem Lockruf der See gehorchte«. Das Schlimmste, was man ihm nachsagen konnte, war, dass er seinen Berufsstand nicht besonders gut vertrat. Er war ein Seemann, aber er war auch ein Herumgetriebener, während die meisten Seeleute ein, falls man das so ausdrücken darf, sesshaftes Leben führen. Ihr Gemüt ist häuslich, und ihr Haus begleitet sie überallhin – das Schiff; und das tut auch ihre Heimat – das Meer. Ein Schiff sieht wie das andere aus, und das Meer ist immer das Gleiche. Ihre Umgebung ist so unveränderlich, dass die fremden Küsten, die fremden Gesichter, die wechselnde Unendlichkeit des Lebens einfach an ihnen vorbeigleiten, und sie sind dabei nicht etwa so ahnungslos, weil sie all die Rätsel respektieren, sondern wegen ihrer leicht verachtungsvollen Ignoranz. Denn einem Seemann ist nichts geheimnisvoll, außer dem Meer selbst, das der Herr seines Lebens und so unergründlich wie das Schicksal ist. Im Übrigen genügt ihm, nach einem Arbeitstag, ein kleiner Bummel oder ein gelegentliches Besäufnis an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu offenbaren, und in der Regel findet er nichts Besonderes daran. Die Erlebnisberichte der Seeleute sind von einer gradlinigen Schlichtheit, und ihr ganzer Sinn findet in einer Nussschale Platz. Aber Marlow war nicht typisch (von seiner Neigung, Geschichten zu erzählen, einmal abgesehen), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht in ihrem Innern, wie ein Kern, sondern außen; er umhüllte die Erzählung, die ihn nur so, wie Glut Rauch hervorbringt, erkennbar ließ, ähnlich einem jener Dunsthöfe, die man zuweilen im geisterhaften Licht des Monds sehen kann.

Seine Bemerkung überraschte keinen von uns. Sie passte zu Marlow. Sie wurde schweigend aufgenommen. Keiner machte sich auch nur die Mühe zu grunzen; dann sagte er sehr langsam –

»Ich dachte eben an sehr alte Zeiten, als die Römer zum ersten Mal hierher kamen, vor neunzehnhundert Jahren – kürzlich also … Licht strahlte seitdem aus diesem Fluss auf – wer hat eben von Rittern gesprochen? Ja; aber das ist wie ein rasendes Feuer in einer Ebene, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben in diesem jähen Licht – möge es leuchten, solange sich die gute alte Erde dreht! Aber Finsternis herrschte hier noch gestern. Stellt euch die Gefühle eines Kommandanten einer prächtigen – wie hießen die Dinger nur? – Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich in den Norden versetzt wird; in aller Eile hetzt man ihn auf dem Festland durch Gallien; übergibt ihm das Kommando über eins dieser Schiffe, von denen die Legionäre – sie müssen ein prächtiger Haufen handfertiger Männer gewesen sein – damals offenbar ein paar hundert Stück in ein, zwei Monaten zu bauen imstande waren, wenn wir glauben wollen, was wir darüber lesen. Stellt ihn euch hier vor – am Arsch der Welt, das Meer wie aus Blei, der Himmel rauchfarben, auf einem Schiff, das so widerstandsfähig wie eine Ziehharmonika ist –, wie er mit Nachschub oder Befehlen oder was auch immer diesen Fluss hochfährt. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde – verdammt wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, und nur Themsewasser zu trinken. Kein Falerner Wein hier, kein Landurlaub. Dann und wann ein Militärlager, das wie eine Nadel in einem Heuhaufen in der Wildnis verloren liegt – Kälte, Nebel, Stürme, Seuchen, Exil und Tod – ein Tod, der in der Luft, im Wasser, im Busch lauert. Sie müssen hier wie die Fliegen gestorben sein. Oh, ja – er tat, was er tun musste. Tat es sogar sehr gut, zweifellos, und auch ohne allzu viel darüber nachzudenken, außer, vielleicht, viel später, wenn er mit dem angab, was er zu seinen Zeiten getrieben hatte. Sie waren Manns genug, sich der Finsternis zu stellen. Und vielleicht munterte er sich auf, indem er die Möglichkeit einer gelegentlichen Versetzung zur Flotte nach Ravenna nicht aus den Augen verlor, falls er gute Freunde in Rom hatte und das grässliche Klima überlebte. Oder denkt an einen anständigen jungen Mann in einer Toga – vielleicht hat er zu viel gewürfelt oder so was –, der im Gefolge irgendeines Präfekten oder Steuereintreibers oder Kaufmanns gar hier landet, um seine Finanzen aufzubessern. Geht mal in einem Sumpf an Land, marschiert durch die Wälder, und spürt dann in einem Stützpunkt im Innern des Lands, wie die Wildnis, die reine Wildnis sich rings um euch geschlossen hat – dieses ganze geheimnisvolle Leben der Wildheit, die sich in den Wäldern, in den Sumpfdickichten, in den Herzen der Eingeborenen regt. In solche Geheimnisse wird man ja auch nicht eingeweiht. Er muss mitten im Unverständlichen leben, das zudem widerwärtig ist. Faszinierend ist es allerdings auch, und er beginnt das zu spüren. Die Faszination des Grauens – ihr versteht schon, was ich meine. Stellt euch die immer größer werdende Reue vor, die Sehnsucht abzuhauen, den ohnmächtigen Abscheu, die Unterwerfung, den Hass.«

Er schwieg.

»Allerdings«, fuhr er fort und hob, die Handfläche nach außen gewandt, einen Arm bis auf die Höhe des Ellbogens, sodass er, mit seinen gekreuzten Beinen, wie ein Buddha aussah, der in europäischen Kleidern und ohne Lotosblume predigte –, »allerdings würde keiner von uns genau so empfinden. Was uns rettet, ist unsre Tüchtigkeit – unsre Vergötterung der Tüchtigkeit. Diese Kerle aber taugten wirklich nicht viel. Sie waren keine Kolonialisten; ihre Administration saugte das Land aus, und nur das, vermute ich. Sie waren Eroberer, und dafür reicht rohe Gewalt – wie sollte man darauf stolz sein, da die eigne Stärke doch nur die Folge der Schwäche anderer ist? Sie schnappten sich, was sie kriegen konnten, möglichst viel. Es war ganz einfach Raub unter Anwendung von Gewalt, Mord in großem Stil und ohne mildernde Umstände, von Männern verübt, die blindlings handelten – was für all jene bezeichnend ist, die mit einer Finsternis fertig werden wollen. Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinausläuft, dass man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bisschen genauer hinsehen. Was das Ganze erträglich macht, ist nur die Idee. Eine Idee dahinter: kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee – etwas, woran man sich halten und vor dem man sich verneigen und dem man auch Opfer bringen kann …«

Er hielt inne. Flammen glitten durch den Fluss, kleine grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen, die sich verfolgten, überholten, kreuzten – und sich langsam oder hastig trennten. Der Verkehr der großen Stadt ging in der dunkler werdenden Nacht auf dem schlaf‌losen Fluss weiter. Wir schauten zu, warteten geduldig – bis zum Ende der Flut gab es sonst nichts zu tun; aber erst als er nach einem langen Schweigen mit zögernder Stimme »Ich vermute, ihr erinnert euch, dass ich auch mal ein Süßwassermatrose war« sagte, wussten wir, dass wir, bis die Ebbe kam, dazu verdonnert waren, eins von Marlows unwahrscheinlichen Abenteuern anzuhören.

»Ich will euch nicht mit dem langweilen, was mir persönlich zustieß«, fing er an und zeigte gleich mit dieser Bemerkung eine Schwäche vieler Geschichtenerzähler, die so oft keine Ahnung zu haben scheinen, was ihre Zuhörer am meisten interessiert. »Aber um die Wirkung zu verstehen, die das alles auf mich hatte, solltet ihr doch wissen, wie ich dorthin kam, was ich sah, wie ich jenen Fluss bis zu dem Ort hochfuhr, wo ich den armen Kerl zum ersten Mal traf. Es war der entfernteste noch schiffbare Ort und der Höhepunkt meiner Erfahrungen. Diese schienen eine Art Licht auf alles um mich herum zu werfen – und auch auf meine Gedanken. Sie waren im Übrigen finster genug – trostlos geradezu – keineswegs außerordentlich jedenfalls – und auch nicht sehr klar. Nein, nicht sehr klar. Und doch schienen sie eine Art Licht zu werfen.

Ich war damals, ihr erinnert euch, eben nach London zurückgekehrt, nach einer Ewigkeit im Indischen Ozean, im Pazif‌ik, im Chinesischen Meer – einer happigen Dosis Osten –, sechs Jahren etwa. Ich hing herum, hinderte euch am Arbeiten und tauchte ständig in euren Wohnungen auf, als hätte ich den göttlichen Auf‌trag erhalten, euch zu zivilisieren. Das war eine Zeit lang sehr schön, aber dann bekam ich vom Herumhocken genug. Also fing ich an, mich nach einem Schiff umzusehen – wenn ihr mich fragt, die härteste Arbeit auf Erden. Aber die Schiffe sahen mich noch nicht mal an. Und ich wurde dieses Spiels auch müde.

Als kleiner Junge hatte ich eine Leidenschaft für Landkarten. Ich konnte stundenlang auf Südamerika oder Afrika oder Australien schauen und mich in all den Herrlichkeiten meiner Forschungsreisen verlieren. Damals gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde, und wenn ich auf der Karte einen sah, der besonders einladend aussah (aber das tun sie eigentlich alle), legte ich meinen Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, geh ich dorthin. Der Nordpol war einer dieser Orte, ich erinnere mich. Nun, ich bin noch nicht dort gewesen, und ich werde es auch nicht mehr versuchen. Der Glanz ist weg. Andere Orte waren am Äquator verstreut, und auf jedem beliebigen Breitengrad auf den beiden Erdhälften. Ein paar von ihnen habe ich aufgesucht, und … na, darüber wollen wir nicht sprechen. Aber da gab es immer noch einen – den größten, den weißesten sozusagen –, der es mir besonders angetan hatte.

In Tat und Wahrheit war er längst kein weißer Fleck mehr. Er war seit meinen Kindertagen mit Flüssen und Seen und Namen angefüllt worden. Er war nun kein leerer Raum für köstliche Geheimnisse mehr – ein lichtes Stück Land, über dem ein Junge von Ruhm und Ehre träumen konnte. Er war ein Ort der Finsternis geworden. Aber in ihm gab es vor allem einen Fluss, einen mächtigen, gewaltigen Fluss, den man nun auf der Karte sehen konnte und der einer riesigen, eingerollt liegenden Schlange glich, deren Kopf im Meer lag, während ihr ruhender Körper sich über ein weites Land ringelte; und der Schwanz lag irgendwo im Landesinnern verloren. Und als ich durch das Glas eines Schaufensters auf die Karte schaute, faszinierte sie mich so, wie eine Schlange einen Vogel verhext – einen dummen kleinen Vogel. Dann fiel mir ein, dass es einen großen Konzern gab, eine Gesellschaft, die auf jenem Fluss Handel trieb. Mein lieber Mann!, dachte ich, sie können doch keinen Handel treiben, ohne so etwas Ähnliches wie Schiffe auf dem Süßwasser dort zu verwenden – Dampfschiffe! Warum sollte ich nicht versuchen, das Kommando von so einem zu kriegen? Ich ging weiter, durch die Fleet Street, aber ich konnte den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich verhext.

Versteht ihr, sie war ein kontinentaler Konzern, jene Handelsgesellschaft, aber ich habe viele Verwandte drüben auf dem Kontinent, weils dort billig und gar nicht so grauslich ist, wies aussieht, sagen sie wenigstens.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich begann, ihnen lästig zu fallen. Allein das schon war etwas Neues für mich. Ich war es nicht gewohnt, auf diese Weise etwas zu erreichen, nicht wahr. Ich ging immer meine eigenen Wege und auf meinen eigenen Beinen, wenn ich wo hinwollte. Ich war auf so was nicht gefasst gewesen; aber – seht ihr – ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich unter allen Umständen dorthin musste. Also rückte ich ihnen auf die Pelle. Die Männer sagten ›Mein guter Junge‹ und taten nichts. Also – glaubt es, oder glaubt es nicht – versuchte ich es mit den Frauen. Ich, Charlie Marlow, brachte die Frauen auf Trab – um einen Job zu kriegen. Mein Gott! Aber, was wollt ihr, ich war von dem Gedanken besessen. Ich hatte eine Tante, eine liebe, enthusiastische Dame. Sie schrieb: ›Es wird herrlich sein. Ich bin bereit, alles für dich zu tun, alles. Es ist eine großartige Idee. Ich kenne die Frau einer sehr hochgestellten Persönlichkeit in der Verwaltung, und zudem einen Mann, der den größten Einfluss auf …‹, usw. usw. Sie war wild entschlossen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, dass ich ein festangestellter Süßwasserkapitän auf einem Flussdampfer wurde, wenn mir nun mal so viel daran lag.

Ich kriegte die Stelle – natürlich; und ich kriegte sie sehr schnell. Es stellte sich heraus, dass die Gesellschaft die Nachricht erhalten hatte, einer ihrer Kapitäne sei in einer Auseinandersetzung mit den Eingeborenen umgebracht worden. Das war meine Chance, und ich war nun noch viel schärfer darauf, gleich loszufahren. Erst viele Monate später, als ich versuchte, das zu bergen, was von der Leiche übrig geblieben war, hörte ich, dass der Streit mit einem Missverständnis wegen ein paar Hühnern begonnen hatte. Ja, wegen zwei schwarzen Hühnern. Fresleven – der Mann, ein Däne, hieß so – hatte sich bei dem Geschäft irgendwie betrogen gefühlt und war an Land gegangen und hatte das Dorfoberhaupt mit einem Stock verprügelt. Oh, darüber wunderte ich mich nicht im Geringsten, und auch nicht darüber, dass man mir im gleichen Atemzug versicherte, Fresleven sei der netteste, ruhigste Mensch gewesen, den unsre Erde je beherbergt habe. Gewiss war er das gewesen; aber er hatte eben auch schon ein paar Jahre lang der guten Sache dort unten gedient und fühlte vermutlich das dringende Bedürfnis, endlich irgendetwas für seine Selbstachtung zu tun. Deshalb prügelte er gnadenlos auf den alten Schwarzen ein, während ihm eine große Menge wie vom Donner angerührt zusah, bis ein Mann – man sagte mir, der Sohn des Häuptlings –, der wegen des Geschreis des alten Kerls völlig außer sich war, probeweise ein bisschen mit seinem Speer auf den weißen Mann einstach – und natürlich verschwand der widerstandslos zwischen seinen Schulterblättern. Danach setzte sich die ganze Bevölkerung in die Wälder ab, weil sie Unheil aller Art auf sich zukommen sah, während sich umgekehrt das Dampfschiff, das Fresleven befehligt hatte, in ebenso wilder Panik davonmachte, unter dem Kommando des Maschinisten, glaube ich. Danach schien sich niemand groß um Freslevens sterbliche Überreste zu kümmern, bis ich dort unten auf‌tauchte und in seine Fußstapfen trat. Ich konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen; aber als ich endlich die Gelegenheit hatte, meinen Vorgänger kennenzulernen, wuchs das Gras so hoch aus seinen Rippen, dass es seine Knochen verbarg. Sie waren alle noch am alten Ort. Das überirdische Wesen war nach seinem Sturz nicht angerührt worden. Und das Dorf war verlassen, die Hütten gähnten mich schwarz an, verrottet, alle schief zwischen umgestürzten Zäunen. Das Unheil hatte es heimgesucht, kein Zweifel. Die Bewohner waren verschwunden. Irrer Schrecken hatte sie, Männer, Frauen und Kinder, im Busch zerstreut, und sie waren nie zurückgekehrt. Was aus den Hühnern geworden ist, weiß ich auch nicht. Ich nehme an, der Fortschritt hat sie dennoch erwischt. Jedenfalls kriegte ich durch diese ruhmreiche Geschichte meine Stelle, bevor ich richtig damit angefangen hatte, mir Hoffnungen auf sie zu machen.

Ich surrte wie blöd herum, um mich reisefertig zu machen, und weniger als achtundvierzig Stunden später überquerte ich den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterschreiben. In sehr wenigen Stunden kam ich in eine Stadt, die mich immer an eine frisch geweißelte Totengruft denken lässt. Ein Vorurteil, zweifellos. Ich fand die Büros der Gesellschaft ohne Mühe. Sie hatte das größte Haus der Stadt, und jeder, den ich traf, schwärmte von ihr. Sie war gerade dabei, ein Weltreich in Übersee aufzubauen und mit ihrem Handel Geld wie Heu zu verdienen.

Eine enge und einsame Stadt voller Schatten, hohe Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, Totenstille, zwischen Pflastersteinen sprießendes Gras, gewaltige Wageneinfahrten links und rechts, riesige, schwere Flügeltüren, die einen Spaltbreit offen standen. Ich schlüpf‌te durch eine von ihnen hindurch, ging eine sauber geputzte und schmucklose Treppe hinauf, die so karg wie eine Wüste war, und öffnete die erste Tür, zu der ich kam. Zwei Frauen, die eine fett und die andre mager, saßen auf Stühlen, deren Sitzfläche aus geflochtenem Stroh war, und strickten mit schwarzer Wolle. Die Magere stand auf und kam auf mich zu – weiterhin mit niedergeschlagenen Augen strickend – und blieb erst stehen und sah zu mir hoch, als ich mir zu überlegen begann, ob ich ihr wohl wie einer Schlafwandlerin ausweichen müsse. Ihr Kleid war so unansehnlich wie ein Schirmfutteral, und sie machte wortlos rechtsum kehrt und führte mich in ein Wartezimmer. Ich sagte meinen Namen und sah mich um. Ein Tisch aus Tannenholz in der Mitte, gewöhnliche Stühle den Wänden entlang, und an einer Wand eine große, glänzende Karte, die in allen Farben des Regenbogens bemalt war. Es gab jede Menge Rot – ein stets angenehmer Anblick, weil man weiß, dass dort richtig gute Arbeit geleistet wird; verflucht viel Blau, ein bisschen Grün, und ein paar orange Flecken und, an der Ostküste, einen violetten Klecks, der mir zeigte, wo die fröhlichen Pioniere ihr fröhliches Flaschenbier tranken. Aber ich ging zu nichts von alledem. Ich ging ins Gelbe. Genau in die Mitte. Und der Fluss war dort – faszinierend – tödlich – wie eine Schlange. Uf‌f! Eine Tür ging auf, ein weißhaariger Sekretärsschädel, der aber mitfühlend dreinschaute, wurde sichtbar, und ein knochiger Zeigefinger winkte mich ins Allerheiligste. Dieses war düster, und ein schwerer Schreibtisch machte sich in seiner Mitte breit. Hinter diesem Ungetüm kam ein bleiches plumpes Etwas in einem Gehrock hervor. Der große Meister persönlich. Er war etwa hundertsiebzig Zentimeter groß und hielt seine Pratzen über ebenso viele Millionen. Er gab mir die Hand, wenn ich mich recht erinnere, murmelte irgendwas, war mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage.

Nach etwa fünfundvierzig Sekunden war ich wieder im Wartezimmer, mit dem mitfühlenden Sekretär, der mich voller Trauer und Sympathie einige Dokumente zu unterschreiben hieß. Ich glaube, ich verpflichtete mich unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse auszuplaudern. Nun, das werde ich auch nicht tun.

Ich begann mich unwohl zu fühlen. Ihr wisst ja, ich bin solche Zeremonien nicht gewöhnt, und etwas Unheilschwangeres lag in der Luft. Es war, als sei ich nun an einer Verschwörung beteiligt – ich weiß nicht genau –, an etwas nicht ganz Rechtem; und ich war froh wegzukommen. Im Vorzimmer strickten die beiden Frauen fieberhaft mit ihrer schwarzen Wolle. Andere Leute kamen, und die junge Frau ging hin und her, um sie anzumelden. Die alte saß auf ihrem Stuhl. Ihre flachen Stoffpantoffeln standen auf einem Schemel, und eine Katze lag auf ihrem Schoß. Sie trug ein gestärktes weißes Häubchen auf dem Kopf, hatte eine Warze auf der Wange, und eine Brille mit einem silbrigen Gestell hing auf ihrer Nasenspitze. Sie sah mich über die Brillengläser hinweg an. Die flüchtige und gleichgültige Sanftmut dieses Blicks beunruhigte mich. Zwei junge Männer mit kindischen und heiteren Gesichtern wurden eben nach hinten gelotst, und sie sah ihnen mit demselben schnellen Blick unbeteiligter Weisheit nach. Sie schien alles über sie zu wissen und über mich auch. Mir wurde schwindlig. Sie kam mir unheimlich und unheilbringend vor. Dort unten dachte ich oft an die beiden, wie sie das Tor der Finsternis bewachten, mit ihrer schwarzen Wolle so etwas wie warme Leichentücher strickten, und die eine meldete einen nach dem andern dem Unbekannten an, meldete und meldete, während die andere die heiteren und kindischen Gesichter mit teilnahmslosen alten Augen prüf‌te. Ave! Du greise Strickerin, mit deiner schwarzen Wolle! Morituri te salutant. Nicht viele von denen, die sie anblickte, sahen sie nochmals – nicht die Hälfte, bei Weitem nicht.

Dann musste ich noch zum Arzt. ›Eine bloße Formalität‹, versicherte mir der Sekretär und sah so aus, als nehme er an meinen Sorgen den größten Anteil. Also kam ein junger Mann, der seinen Hut bis über die linke Augenbraue heruntergezogen hatte, aus irgendeinem obern Stockwerk, ein Laufbursche vermutlich – es muss Laufburschen in dem Unternehmen gegeben haben, obwohl das Haus so still wie ein Haus in einer Totenstadt war –, und führte mich hinaus. Er war schäbig und lieblos gekleidet, hatte Tintenkleckse an seinen Jackenärmeln, und seine Krawatte blähte sich riesengroß unter einem Kinn, das wie die Spitze eines alten Schuhs aussah. Wir waren zu früh für den Arzt, und so schlug ich ihm vor, etwas trinken zu gehen, worauf er geradezu jovial wurde. Als wir hinter unsern Vermouths saßen, lobte er die Geschäfte der Gesellschaft in den höchsten Tönen, und irgendwann einmal verlieh ich beiläufig meiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass er nicht auch dort hinausgehe. ›Ich bin nicht so blöd, wie ich aussehe, sagte Plato zu seinen Schülern‹, sagte er, als zitiere er ein Sprichwort, leerte sein Glas mit großer Entschlossenheit, und wir erhoben uns.

Der alte Arzt fühlte meinen Puls und dachte dabei offenkundig an etwas anderes. ›Gut, gut für dort unten‹, murmelte er, und dann fragte er mich fast gierig, ob er meinen Schädel vermessen dürfe. Ziemlich erstaunt sagte ich Ja, und er holte so was wie einen Kaliberzirkel hervor und maß mich vorne und hinten und überall und notierte alles sorgfältig. Er war ein unrasierter, kleiner Mann in einem schäbigen Rock, einer Art Bauernkutte, mit Pantoffeln an den Füßen, und ich hielt ihn für einen harmlosen Irren. ›Im Interesse der Wissenschaft bitte ich stets die, die weggehen, ihre crania