Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book

Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Marlow, ein Kapitän, berichtet von einer Fahrt ins Innere eines unbekannten Kontinents, zum Mittelpunkt des Bösen, ins Herz der Finsternis.

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Joseph Conrad

Herz der Finsternis

Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Reinhold Batberger Insel Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 5. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 1730.

© 1992, Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-458-75270-7

www.insel-verlag.de

Inhalt

I.

II.

III.

Nachwort

Zu dieser Ausgabe

I

Die Nellie, eine Hochseeyacht, schwojte um ihren Anker ohne ein Flattern der Segel und lag ruhig da. Es war Flut, nahezu windstill, und auf der Heimreise flußabwärts blieb ihr nichts weiter übrig, als beizudrehen und auf den Flutwechsel zu warten.

Das Mündungsgebiet der Themse streckte sich vor uns aus wie der Anfang einer endlosen Wasserstraße. Auf offener See waren Meer und Himmel nahtlos zusammengeschweißt, und in dem blendenden Raum schienen die sonnengegerbten Segel der mit der Flut herauftreibenden Lastkähne stillzustehen; ganze Büschel aus Segeltuch, rot, scharf, zugespitzt im Schimmer der firnisglänzenden Spriete. Ein Nebelschwaden lag auf den niedrigen Ufern, die zum Meer hin flacher und flacher wurden. Die Luft war finster über Gravesend, und noch weiter im Hintergrund schien sie zusammengeballt zu einer trostlosen Düsternis, reglos brütend über der größten und bedeutendsten Stadt auf der Erde.

Der Direktor der Handelsgesellschaften war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir vier betrachteten ihn voller Zuneigung, wie er mit dem Rücken zu uns am Bug stand, den Blick aufs Meer. Aufdem ganzen Flußsah er als einziger wie ein Seebär aus. Er glich einem Lotsen, der für den Seemann die Zuverlässigkeit in Person ist. Es war schwer zu begreifen, daß er seine Arbeit nicht dort draußen in der leuchtenden Flußmündung tat; sein Büro befand sich hinter ihm, inmitten der brütenden Düsternis.

Uns verknüpfte, wie ich schon irgendwo einmal gesagt habe, das Band des Meeres. Es hielt nicht nur unsere Herzen über lange Zeiten der Trennung zusammen, es bewirkte auch, daß jeder von uns das Seemannsgarn und sogar die Überzeugungen des anderen duldete. Der Anwalt – ein prächtiger alter Knabe ­hatte wegen seiner vielen Jahre und seiner vielen Tugenden das einzige Kissen an Deck und lag auf der einzigen Wolldecke. Der Buchhalter hatte schon eine Schachtel mit Dominosteinen hervorgekramt und setzte kunstvoll Stein auf Stein. Marlow saß mit gekreuzten Beinen achtern an den Besanmast gelehnt. Er hatte eingefallene Wangen, einen gelben Teint, ein straffes Rückgrat, asketische Züge und glich mit seinen hängenden Armen, den nach außen gekehrten Handflächen einem Götzenbild. Der Direktor, zufrieden mit dem guten Halt des Ankers, begab sich hinterschiffs und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Danach herrschte Schweigen an Bord der Yacht. Aus diesem oder jenem Grund begannen wir nicht mit dem Dominospiel. Wir waren nachdenklich gestimmt und hatten zu nichts anderem Lust, als ruhig vor uns hinzustarren. Der Tag endete in einem klaren, stillen, wunderbaren Glanz. Das Wasser funkelte friedlich; der Himmel war ohne einen Fleck, eine wohltuende Unermeßlichkeit makellosen Lichts; selbst der Nebel auf dem Marschland von Essex war wie ein hauchzartes strahlendes Gespinst, er hing von den bewaldeten Binnenlandhöhen herunter und drapierte die flachen Küsten in durchscheinende Falten. Nur die Düsternis gegen Westen, die über dem oberen Flußlauf brütete, wurde von Minute zu Minute finsterer, wie aus Zorn über das Näherrücken der Sonne.

Und endlich sank die Sonne in ihrem gekrümmten und unmerklichen Fall und aus dem glühenden Weiß wurde ein dumpfes Rot ohne Lichtstrahl und ohne Hitze, als wollte sie jäh erlöschen, zu Tode getroffen durch die Berührung mit jener über einer Menschenmasse brütenden Düsternis.

Sofort kam eine Veränderung über die Wasser, und die Klarheit verlor an Glanz, gewann aber an Tiefe. Der alte Fluß in seiner weiten Mündung ruhte spiegelglatt beim Niedersinken des Tages, nach Zeitaltern guter Dienste für die Gattung, die seine Ufer bevölkerte, und lag ausgebreitet mit der stillen Würde einer Wasserstraße, die zu den äußersten Enden der Erde führt. Wir schauten auf den ehrwürdigen Strom nicht im lebhaften Rot eines kurzen Tages, der kommt und für immer verschwindet, sondern im erhabenen Licht beständiger Erinnerungen. Und in der Tat ist nichts leichter für einen Mann, der sich, wie man sagt, mit Leib und Seele dem Meer verschrieben hatte, als auf dem Unterlauf der Themse den Geist einer großen Vergangenheit zu beschwören. Der Gezeitenstrom fließt auf und ab in seinem niemals endenden Dienst, voll von Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die er heimgetragen hat in die häusliche Stille oder hinaus zum Kampf mit dem Meer. Er hatte all die Männer gekannt und ihnen gedient, die der Stolz der Nation sind, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin, alles Ritter, ob mit oder ohne Titel – die großen fahrenden Ritter des Meeres. Er hatte all die Schiffe getragen, deren Namen wie Juwelen aufblitzen in der Nacht der Zeit, von der Golden Hind, die zurückkehrte, die runden Flanken voller Schätze, um von Ihrer Majestät besucht zu werden, und die so zu jener gigantischen Legende wurde, bis zur Erebus und Terror, die zu anderen Eroberungen aufbrachen – und nie zurückkehrten. Er hatte die Schiffe gekannt und die Männer. Sie waren von Deptford, von Greenwich, von Erith aus in See gestochen – die Abenteurer und Siedler; Schiffe von Königen und Schiffe von Spekulanten; Kapitäne, Admiräle, die finsteren Winkelmakler des Osthandels und die bevollmächtigten »Herren« der Ostindienflotten. Goldjäger oder Männer, die dem Ruhmnachhetzten, sie alle waren hinausgefahren auf diesem Strom, das Schwert in den Fäusten, oft die Brandfackel, Boten der Macht im Land, Träger eines Funkens vom heiligen Feuer. Welche Größe war nicht mit der Ebbe jenes Flusses dahingegangen ins Geheimnis einer unbekannten Erde!… Die Träume von Männern, die Saat zu Staatswesen, die Keime zu Weltreichen.

Die Sonne sank; die Dämmerung fiel über den Strom, und entlang der Küste begannen Lichter aufzuscheinen. Der Leuchtturm von Chapman, ein Ungetüm auf drei Beinen, das aus dem Watt aufragte, warf einen hellen Lichtstrahl. Schiffslichter regten sich im Fahrwasser – ein Hin und Her, ein Auf und Ab von Lichtern. Und weiter im Westen, am oberen Flußlauf, war der Umriß der monströsen Stadt immer noch Unheil verheißend an den Himmel geworfen, eine brütende Düsternis im Schein der Sonne, ein geisterhaftes Funkeln unter den Sternen.

»Und auch das«, sagte Marlow plötzlich, »ist einer der finsteren Orte der Erde gewesen. «

Er war der einzige von uns, der sich noch immer dem Meer verschrieben hatte. Man konnte ihm nur eines nachsagen: er war kein würdiger Vertreter seines Standes. Er war ein Seemann, aber auch ein Wanderer, während die meisten Seeleute, wenn man es so ausdrücken darf, seßhaft sind. Im Geiste sind sie rechte Stubenhocker, und ihre Stube ist das Schiff, und ihre Heimat haben sie immer und überall bei sich, genau wie das Meer. Ein Schiff ist so ziemlich wie das andere, und das Meer ist immer dasselbe. Sie leben im lmmergleichen, indes dort draußen die fremden Küsten, die fremden Gesichter, das ganze wechselvolle Leben vorübergleiten, verhüllt, nicht von einem Gefühl des Geheimnisvollen, sondern von einer Spur blöder Achtlosigkeit; denn für den Seemann ist nur eines geheimnisvoll – die See, die Herrin seiner Existenz, die ebenso unergründlich ist wie das Schicksal. Im übrigen genügt, nach dem Tagwerk, ein Landgang ab und zu oder hin und wieder ein Besäufnis an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu offenbaren, und im großen und ganzen findet er das Geheimnis nicht wissenswert. Die Geschichten der Seeleute haben eine schlichte Direktheit, ihr ganzer Sinn liegt in der Schale einer aufgeknackten Nuß. Aber Marlow war nicht typisch (abgesehen von seinem Hang, Seemannsgarn zu spinnen), und für ihn lag der Sinn einer Begebenheit nicht im Inneren wie ein Kern, sondern außerhalb und umhüllte die Erzählung, die ihn nur offenbar werden ließ, wie die Glut einen Dunst erzeugt, ähnlich jenen Nebelhöfen, die manchmal sichtbar werden durch das gebrochene Licht des Mondscheins.

Seine Bemerkung war durchaus nicht überraschend. Sie war ganz Marlow. Sie wurde schweigend aufgenommen. Niemand machte sich auch nur die Mühe, etwas vor sich hinzubrummen, und jetzt sagte er, sehr langsam:

»Ich dachte an Zeiten, die weit zurückliegen, als die Römer zum ersten Mal hierher kamen, vor neunzehnhundert Jahren – neulich… seitdem war dieser Fluß eine Quelle der Erleuchtung – Ritter sagt ihr? Ja; aber es ist wie ein Feuersturm auf einer Ebene, wie ein Blitz im Gewölk. Wir leben im Aufflackern – möge es dauern, solange die alte Erde sich dreht! Aber gestern war hier Finsternis. Stellt euch die Gefühle des Kommandanten einer herausgeputzten – wie heißen sie gleich? – Triere im Mittelmeer vor, plötzlich nach Norden beordert; über Land hetzt er durch Gallien; kriegt das Kommando über eines dieser Schiffe, trägt den Legionären auf, eines zu zimmern – muß schon ein wunderbarer Haufen geschickter Kerle gewesen sein – haben die Dinger gezimmert in ein oder zwei Monaten, wies scheint, falls wir glauben dürfen, was wir gelesen haben. Stellt ihn euch vor, hier am Ende der Welt, ein bleigraues Meer, rauchfarbener Himmel, ein Schiff, etwa so stramm wie eine Concertina – und los gehts flußaufwärts mit Proviant oder Befehlen oder was weiß ich. Sandbänke, Marschland, Wälder, Wilde – herzlich wenig, was ein zivilisierter Mann essen kann, nichts zu trinken außer Themsewasser. Kein Falerner, kein Landgang. Hie und da ein Heerlager, verloren in einer Wildnis wie eine Nadel im Heuhaufen – Kälte, Nebel, Stürme, Krankheit, Exil und Tod, – Tod, der in der Luft lauert, im Wasser, im Busch. Sie müssen hier krepiert sein wie die Fliegen. Jawoll – der Mann hats hingekriegt. Er hat es sicher ausgezeichnet hingekriegt, kein Zweifel, und ohne großes Nachdenken, nur später hat er vielleicht geprahlt, was er seinerzeit durchmachen mußte. Sie waren Manns genug, haben der Finsternis ins Auge geschaut. Und vielleicht war es ihm ein Trost, mit einem Auge auf eine günstige Gelegenheit zu schielen, auf eine Versetzung zur Flotte nach Ravenna, nach einer kleinen Durststrecke, falls er gute Freunde in Rom hatte und das furchtbare Klima überlebte. Oder denkt euch einen feinen jungen Bürger in seiner Toga – vielleicht zuviel Würfelspiel, wißt ihr–, der hier rauskommt im Troß eines Präfekten oder Steuereintreibers oder auch nur eines Händlers, um seinem Glück auf die Sprünge zu helfen. Landung im Sumpf, Marschieren durch Wälder, und an irgendeinem Posten im Landinnern spürt er das Wilde; das durch und durch Wilde, das ihn einschließt ­dieses ganze mysteriöse Leben der Wildnis, das im Wald lärmt, im Dschungel, in den Herzen der wilden Männer. In solche Mysterien weiht dich keiner ein. Mitten im Unbegreiflichen muß er leben, und das ist obendrein noch widerwärtig. Und es übt zugleich eine Faszination aus, die allmählich ihr Werk an ihm vollzieht. Die Faszination des Abscheulichen, – ihr wißt es; stellt euch die wachsende Reue vor, die Sehnsucht zu entkommen, den ohnmächtigen Ekel, die Kapitulation, – den Haß.«

Er hielt inne.

»Ihr müßt bedenken«, begann er wieder, winkehe einen Arm an, die Handfläche nach außen, so daß er mit seinen gekreuzten Beinen in der Pose eines Buddhas verharrte, der in europäischen Kleidern und ohne Lotusblüte predigt – »Ihr müßt bedenken, keiner von uns würde genau das gleiche empfinden. Was uns rettet, ist die Effizienz – die Anbetung der Effizienz. Aber dieses Gesindel taugte im Grunde nicht viel. Das waren keine Kolonisten; ihre Herrschaft war bloß ein Auspressen und sonst gar nichts. Sie waren Eroberer, und dazu genügt brutale Gewalt – nichts, dessen man sich brüsten kann, wenn man diese Gewalt hat, da die eigene Stärke bloß ein Zufall ist, der aus der Schwäche der anderen entsteht. Sie rissen sich unter den Nagel, was sie kriegen konnten, um nur ja zu raffen, was zu raffen war. Es war brutaler Raub, gemeiner Mord in großem Maßstab, und blind stürzten sie sich hinein – sehr passend für Männer, die eindringen wollen in eine Finsternis. Die Eroberung der Erde, und das bedeutet meistens, sie denen wegzunehmen, die eine andere Hautfarbe haben oder etwas plattere Nasen als wir, ist bei genauerem Hinsehen nicht gerade ein Kinderspiel. Was es aufwiegt, ist einzig die Idee. Eine Idee dahinter; kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee – etwas, das man aufstellen, vor dem man sich verneigen, dem man ein Opfer darbringen kann… «

Er brach ab. Flammen glitten durch den Fluß, schmale grüne Flammen, rote Flammen, weiße Flammen jagten, überholten einander, verschmolzen, kreuzten sich – dann trennten sie sich langsam oder hastig. Oberhalb des schlaflosen Flusses dauerte das Getriebe der großen Stadt in der tiefer werdenden Nacht weiter fort. Wir schauten zu, warteten geduldig – es gab nichts anderes zu tun bis zum Ende der Flut; aber erst nach einem langen Schweigen, als er zögernd sagte: »Ihr erinnert euch vielleicht, daß ich mal eine Weile lang den Süßwassermatrosen gespielt habe«, da wußten wir, daß es uns, bevor die Ebbe einsetzte, beschieden war, einer von Marlows Geschichten zu lauschen, die eh nichts beweisen konnten.

»Ich möchte euch nicht groß damit langweilen, was mir persönlich widerfuhr«, begann er und zeigte damit die Schwäche vieler Erzähler, die sich, wie es scheint, nur allzuoft den Teufel darum scheren, was ihr Publikum am liebsten hören möchte; »doch um die Wirkung des Geschehens auf mich zu verstehen, müßt ihr wissen, wie ich dort hinauskam, was ich sah, wie ich den Fluß hochfuhr zu dem Ort, wo ich diesen armen Hund zum ersten Mal traf. Es war der äußerste Punkt der Fahrt und der Gipfelpunkt meiner Lebenserfahrung. Es schien auf eine merkwürdige Weise ein Licht auf alles um mich her zu werfen – und in meine Gedanken. Es war düster genug – und erbärmlich – ganz und gar nicht außergewöhnlich – und auch nicht sehr klar. Nein. Nicht sehr klar. Und doch wirft es irgendwie ein Licht auf alles.

Ich war damals, wie ihr euch erinnert, gerade nach London zurückgekehrt von einer Menge Indischem Ozean, Pazifik, Chinesischem Meer – eine ordentliche Portion Osten – etwa sechs Jahre, und ich lungerte herum, hielt euresgleichen von der Arbeit ab und fiel in eure Buden ein, als hätte ich den himmlischen Auftrag, euch zu zivilisieren. Eine Zeitlang war das schön und gut, aber nach einer Weile hatte ich den Müßiggang allmählich satt. Da fing ich an, ein Schiff zu suchen – die härteste Arbeit auf Erden, will ich meinen. Aber die Schiffe haben mir nicht einmal zugezwinkert. Und ich bekam auch dieses Spiel satt.

Schon als kleiner Junge hatte ich eine Leidenschaft für Karten. Stundenlang guckte ich mir Südamerika oder Afrika oder Australien an und verlor mich in all den Herrlichkeiten der Entdeckungen. Damals gab es viele weiße Flecke auf der Erde, und wenn ich einen besonders verlockenden sah (aber verlockend sind sie alle), legte ich den Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, gehe ich dorthin. Der Nordpol war so ein Fleck, erinnere ich mich. Na gut, ich bin noch nicht dort gewesen, und jetzt werde ichs nicht mehr probieren. Der Zauber ist dahin. Andere Stellen lagen rings um den Äquator und auf allen Breiten beider Hemisphären. In einigen davon bin ich gewesen, und… gut, reden wir nicht davon. Aber da war noch ein Fleck – der größte, der leerste, sozusagen ­da zog es mich hin.

Sicher, zu dieser Zeit war das kein weißer Fleck mehr. Er hatte sich seit meiner Knabenzeit gefüllt mit Flüssen, Seen und Namen. Er war schon längst kein leerer Raum mit einem süßen Geheimnis mehr – ein weißer Fleck, der einen Jungen prächtig träumen ließ. Er war ein Ort der Finsternis geworden. Aber dort gab es vor allem einen Fluß, einen mächtig großen Fluß, der auf der Karte zu sehen war, einer ungeheuren aufgerollten Schlange gleich, mit ihrem Kopf im Meer, indes ihr ruhender gewundener Leib weit durch ein riesiges Land reichte und ihr Schwanz sich in der Tiefe des Landesinnern verlor. Und als ich die Karte in einem Schaufenster sah, schlug mich dieser Fluß in seinen Bann wie eine Schlange einen Vogel – einen dummen kleinen Vogel. Dann fiel mir ein, daß es ein großes Unternehmen gab, eine Company, die auf jenem Fluß Handel trieb. Zum Henker! dachte ich, sie können ja keinen Handel auf soviel Süßwasser treiben ohne irgendwelche Schiffe – Dampfschiffe! Sollte ich nicht versuchen, eines davon unter mein Kommando zu bringen? Ich ging weiter die Fleet Street entlang, konnte aber den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich eingewickelt.

Versteht ihr, es war eine kontinentale Firma, diese Handelsgesellschaft; aber ich habe jede Menge Verwandte, die auf dem Kontinent leben, weil es da billig ist und nicht so übel, wie es aussieht – sagen sie.

Ich muß leider zugeben, daß ich anfing sie zu zwacken. Das war für mich schon etwas Neues. Normalerweise pflegte ich meine Dinge nicht auf diese Art zu regeln. Ich war noch immer meinen eigenen Weg gegangen, und wenn mir der Sinn nach irgendeinem Ort stand, hatte ich stets meine eigenen zwei Beine gebraucht. Ich hätte es mir selbst nicht zugetraut; andererseits – versteht ihr – hatte ich das Gefühl, ich muß dort hin auf Teufel komm raus. Also zwackte ich sie. Die Männer sagten: ›Mein lieber Freund‹, und taten nichts. Dann – ob ihrs glaubt oder nicht – versuchte ich mein Glück bei den Frauen. Ich, Charlie Marlow, ließ die Frauen machen – um eine Stelle zu kriegen! Lieber Gott! Na ja, ich war wie besessen. Ich hatte eine Tante, eine liebe, leicht entflammbare Seele. Sie schrieb: ›Das wird eine Freude. Ich will gern alles, alles für Dich tun. Eine wunderbare Idee. Ich kenne die Gattin einer sehr hohen Persönlichkeit in der Verwaltung und außerdem einen Mann, der eine Menge Einfluß hat bei…‹ etc., etc. Sie war entschlossen, alle Register zu ziehen, damit ich mein Kommando über ein Dampfschiff bekam, wenn ich mir das nun mal in den Kopf gesetzt hatte.

Ich kriegte mein Kommando – na klar; und ich kriegte es sehr schnell. Offenbar hatte die Company Nachricht erhalten, daß einer ihrer Kapitäne bei einem Gerangel mit Eingeborenen getötet worden war. Das war meine Chance, und sie machte mich nur noch begieriger darauf, aufzubrechen. Erst viele Monate später, als ich den Versuch unternahm zu bergen, was von der Leiche übrig war, hörte ich, der damalige Zwist sei aus einem Mißverständnis wegen ein paar Hennen entstanden. Ja, zwei schwarze Hennen. Fresleven – so hieß der Kerl, ein Däne – dachte, er sei bei dem Handel betrogen worden; also ging er ans Ufer und begann, auf den Häuptling des Dorfes mit einem Stock einzuprügeln. Oh, diese Kunde verblüffte mich nicht im mindesten; auch nicht, daß mir gleichzeitig versichert wurde, Fresleven sei das sanfteste, friedlichste Geschöpf gewesen, das je auf zwei Beinen ging. Zweifellos war er das gewesen; aber er hatte schon ein paar Jahre dort draußen der edlen Sache gedient, und wahrscheinlich hatte er am Ende das Bedürfnis gehabt, auf irgendeine Weise seine Selbstachtung zu behaupten. Deshalb prügelte er den alten Nigger gnadenlos, während beinahe das ganze Dorf wie vom Donner gerührt zusah, bis einer – man sagte mir, der Sohn des Häuptlings – es in seiner Verzweiflung über die gellenden Schreie des Alten mit einem Speerstich nach dem weißen Mann versuchte – und der ging natürlich hübsch glatt zwischen die Schulterblätter. Da rannte der ganze Stamm aus Angst vor allem möglichen Unheil in den Wald; der Dampfer indes, auf dem Fresleven Kapitän gewesen war, legte ebenfalls in heller Panik ab, unter dem Kommando des Maschinisten, glaube ich. Später schien sich keiner mehr groß den Kopf über Freslevens Überreste zu zerbrechen, bis ich da draußen auftauchte und in seine Fußstapfen trat. Ich konnte die Sache doch nicht gut auf sich beruhen lassen; aber als sich endlich eine Gelegenheit bot, meinen Vorgänger kennenzulernen, war das Gras, das ihm durch die Rippen wuchs, hoch genug, um seine Knochen zu verstecken. Sie waren alle noch da. Niemand hatte das übernatürliche Wesen mehr angerührt, nachdem es gefallen war. Und das Dorf war verlassen, die Hütten gähnten schwarz und verfielen, ganz windschief zwischen den eingestürzten Einfriedungen. Es war tatsächlich ein Unheil hereingebrochen. Die Leute waren fort. Wahnsinniges Entsetzen hatte sie, Männer, Frauen und Kinder, durch den Busch gescheucht, und sie waren nie zurückgekehrt. Keine Ahnung, was aus den Hennen geworden ist. Ich schätze, sie sind irgendwie dem Fortschritt zum Opfer gefallen. Ich aber kam durch diese ruhmreiche Affäre zu meinem Kommando, ehe ich noch ernsthaft angefangen hatte, mir Hoffnungen zu machen.

Ich hetzte mich ab wie ein Irrer mit den Reisevorbereitungen, und es waren noch keine achtundvierzig Stunden vergangen, da überquerte ich schon den Kanal, um mich bei meinen Dienstherren zu zeigen und den Vertrag zu unterzeichnen. Innerhalb weniger Stunden traf ich in einer Stadt ein, die mich stets an ein weißgetünchtes Grab erinnert. Zweifellos ein Vorurteil. Es fiel mir nicht schwer, das Bürohaus der Company zu finden. Sie war die größte in der Stadt, und alle, die ich traf, redeten von ihr. Man wollte ein Übersee-Imperium errichten und mit dem Handel eine Menge Geld verdienen.

Eine enge verlassene Straße im tiefen Schatten, hohe Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, Totenstille, sprießendes Gras zwischen den Steinen, imposante Einfahrten rechts und links, riesige Torflügel, die gewichtig einen Spalt offenstanden. Ich schlüpfte durch eine dieser Ritzen, stieg eine gefegte schmucklose Treppe hoch, öd wie eine Wüste, und öffnete die erste Tür, die ich fand. Zwei Weiber, eine fett, die andere dürr, saßen auf Stühlen mit strohgeflochtenen Sitzen und verstrickten schwarze Wolle. Die Dürre stand auf und ging direkt auf mich zu – noch immer strickend, mit gesenktem Blick –, und erst als ich anfing zu überlegen, wie ich ihr ausweichen könnte, wie man einer Traumwandlerin ausweicht, blieb sie stehen und schaute auf. Ihr Kleid hing schlaff wie die Hülle eines Regenschirms, sie drehte sich wortlos um und ging mir voran in ein Wartezimmer. Ich nannte meinen Namen und schaute mich um. Tisch aus Fichtenbrettern in der Mitte, einfache Stühle an den Wänden, am einen Ende prangte eine große Landkarte, markiert mit allen Farben des Regenbogens. Es gab eine Unmenge Rot – immer ein erquickender Anblick, weil man weiß, daß dort wirklich etwas geleistet wird – einen Haufen Blau, ein bißeben Grün, Flecken von Orange, und, an der Ostküste, einen Tupfen Lila, um zu zeigen, wo die lustigen Pioniere des Fortschritts das lustige Lagerbier trinken. Kurz und gut, dahin wollte ich nicht. Ich wollte ins Gelbe. Direkt in die Mitte. Und dort war der Flußfaszinierend – tödlich – wie eine Schlange. Oje. Eine Tür öffnete sich, ein weißhaariger Sekretärskopf, und zwar einer, dessen Miene von Mitgefühl gezeichnet war, erschien, und ein fleischloser Zeigefinger winkte mich ins Allerheiligste. Das Licht war schummrig, und in der Mitte des Raums thronte ein massiver Schreibtisch. Hinter diesem Gebilde kam etwas Bleiches, Behäbiges im Gehrock hervor. Der große Mann persönlich. Er maß gut fünfeinhalb Fuß, schätze ich, und hatte den Schlüssel zu den ganzen Millionen in der Klaue. Er schüttelte mir die Hand, bilde ich mir ein, murmelte etwas vor sich hin, war zufrieden mit meinem Französisch. Bon voyage.

Ungefähr fünfundvierzig Sekunden später fand ich mich wieder im Vorzimmer bei dem mitfühlenden Sekretär, der mir voller Verzweiflung und Wohlwollen ein Dokument zu unterzeichnen gab. Ich glaube, ich ließ mich unter anderem darauf ein, keine Geschäftsgeheimnisse preiszugeben. Also gut, ich werde nichts preisgeben.

Mir wurde ein klein wenig unbehaglich. Ihr wißt, ich bin solche Zeremonien nicht gewohnt, und es lag irgend etwas Unheilvolles in der Luft. Es war geradezu, als wäre ich in eine Verschwörung hineingezogen worden – ich weiß nicht – in etwas, das nicht ganz astrein war; und ich war froh, wieder rauszukommen. Im Vorraum verstrickten die zwei Weiber fieberhaft ihre schwarze Wolle. Leute kamen, und die Jüngere lief hin und her, um sie hereinzulassen. Die Alte saß auf ihrem Stuhl. Ihre flachen Filzpantoffeln lagen auf einem Fußwärmer, und eine Katze ruhte auf ihrem Schoß. Sie trug eine gestärkte weiße Angelegenheit auf dem Kopf, hatte eine Warze auf der Wange, und eine silbergefaßte Brille hing auf der Nasenspitze. Sie warf mir einen flüchtigen Blick über den Brillenrand zu. Dieser rasche, gleichgültige, träge Blick verstörte mich. Zwei Jünglinge mit albernem Grinsen wurden gerade vorbeigelotst, und sie warf ihnen denselben schnellen Blick teilnahmsloser Weisheit zu. Sie schien alles zu wissen über sie und über mich. Mir war unheimlich. Sie war mir nicht geheuer, etwas Verhängnisvolles ging von ihr aus. Dort draußen in der Ferne dachte ich oft an diese zwei, die das Tor zur Finsternis bewachten und schwarze Wolle verstrickten wie für ein warmes Sargtuch; die eine ließ ein, ließ immerzu ins Unbekannte ein, die andere prüfte unerbittlich die albern grinsenden Gesichter mit teilnahmslosen alten Augen. ›Ave! Alte Strickerin der schwarzen Wolle. Morituri te salutant.‹ Nicht viele, die sie angeschaut hat, haben sie je wiedergesehen – nicht die Hälfte, bei weitem nicht.

Blieb noch ein Besuch beim Doktor. ›Nur eine Formalität‹, versicherte mir der Sekretär mit einer Miene, als nähme er enormen Anteil an all meinem Unglück. Prompt kam ein junger Spund, den Hut schräg über der linken Augenbraue, ein Bürodiener, vermute ich – es muß Bürodiener in der Firma gegeben haben, obwohl das Haus still war wie ein Haus in einer Totenstadt –, kam aus einem der oberen Stockwerke und entführte mich. Er sah schäbig und liederlich aus, mit Tintenflecken auf den Rockärmeln, und seine breite Halsbinde waberte unter einem Kinn, dessen Form der Spitze eines alten Stiefels glich. Es war noch ein bißeben früh für den Doktor, deshalb schlug ich ihm vor, ein Glas zu trinken, und da ließ er eine heitere Ader erkennen. Als wir bei unserem Wermut saßen, stimmte er ein Loblied auf das Wirken der Company an, und nach und nach gab ich beiläufig meiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß er nicht dort hinaus ging. Auf einmal wurde er sehr kühl und abweisend. ›Ich bin nicht so töricht, wie ich aussehe, sprach Plato zu seinen Schülern‹, sagte er kurz und bündig, leerte sein Glas mit großer Entschlossenheit, und wir standen auf.