Herz des Imperiums - Everina Maxwell - E-Book
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Herz des Imperiums E-Book

Everina Maxwell

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Beschreibung

Ihre erfolgreiche Ehe wird die gegensätzlichen Welten in Einklang bringen. Ihr Scheitern wird das Ende des Imperiums bedeuten. Der berüchtigte Prinz Kiem, der unbeliebteste Enkel des Imperators, soll sich ausnahmsweise einmal nützlich machen. Er soll den Vertreter des neuesten und rebellischsten Vasallenplaneten des Imperiums heiraten. Sein zukünftiger Ehemann, Graf Jainan, ist Witwer und … Mordverdächtiger. Keiner der beiden will heiraten. Aber da sich um sie herum eine Verschwörung abspielt und das Schicksal des Imperiums auf dem Spiel steht, müssen die beiden sich durch die Dornen und Stacheln der Hofintrigen, die Machenschaften des Krieges und die langen Schatten von Jainans Vergangenheit kämpfen. Und sie müssen es gemeinsam tun. So beginnt eine legendäre Liebesgeschichte inmitten der Sterne. Die Maschinen (Ann Leckie) trifft auf Royal Blue (Casey McQuiston)

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Em.

Ohne dich gäbe es dieses Buch nicht.

KAPITEL1

»Nun ja, irgendjemand muss den Mann ja heiraten«, sagte Ihro Majestät.

Sie saß in ihrem Audienzsaal im Herzen des weitläufigen, verzweigten herrschaftlichen Palasts und wirkte in ihrem hochgeschlossenen Gewand ernst und ehrerbietig. Die Bogenfenster des Turms waren aufwendig bearbeitet worden, um den schwachen Schein des herbstlichen Lichts von Iskan V zu verstärken. Die warmen Strahlen hätten das von tiefen Falten gezeichnete Antlitz des Reichsoberhaupts weicher erscheinen lassen sollen. Doch selbst die Sonne schien dieses Unterfangen aufgegeben zu haben.

Ihr gegenüber saß in einer nur leicht verknitterten Uniform Kiem, Ihro Prinzliche Hoheit von Iskat und das unbeliebteste Enkelkind des Reichsoberhaupts. Es hatte ihm schlichtweg die Sprache verschlagen. Man rief ihn nur selten zu einer Audienz, es sei denn, ihm kam mal wieder sein gesunder Menschenverstand abhanden. Seit der Bedienstete seiner Großmutter ihn herzitiert hatte, zermarterte er sich das Hirn, aber ihm fiel nichts ein, was er nun schon wieder verbrochen haben sollte. Er dachte kurz darüber nach, ob es an der Delegation der Galaxier lag, die am Vortag eingetroffen war und den gesamten Palast in Aufruhr versetzte. Kiem kannte sich mit Politik nicht besonders gut aus – vielleicht wollte ihn Ihro Majestät nur auffordern, kein Aufsehen zu erregen.

Das hier war allerdings das genaue Gegenteil. Kiem hatte sich auf eine Standpauke vorbereitet, jedoch niemals damit gerechnet, dass er den Audienzsaal als Verlobter eines Diplomaten aus einem Vasallenstaat verlassen würde, den er noch nie getroffen hatte.

Er öffnete den Mund, um zu sagen: Ich verstehe gar nicht, warum ihn überhaupt jemand heiraten muss. Er besann sich jedoch eines Besseren – es war nie eine gute Idee, Ihro Majestät zu widersprechen, genau so brachte er sich immer in Schwierigkeiten. Er formulierte seinen Gedanken um. »Ihro Majestät, Ihro Prinzliche Hoheit Taam ist erst vor einem Monat gestorben.«

In dem Moment, als er es sagte, bemerkte er, wie schrecklich das klang. Immerhin war Taam Kiems Cousin gewesen und die kaiserliche Familie befand sich genau genommen immer noch in tiefer Trauer. Selbstverständlich war Kiem geschockt gewesen, als er von dem Unfall mit dem Flybug gehört hatte. Doch als er das letzte Mal durchgezählt hatte, befanden sich noch mehr als vierzig Personen vor ihm in der Thronfolge, hauptsächlich Cousinen und Cousins, und er hatte Taam nicht besonders gut gekannt.

Ihro Majestät warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Meinst du etwa, das wüsste ich nicht?« Sie trommelte mit ihren Fingerspitzen auf die lackierte Oberfläche des niedrigen Tischs neben sich. Offenbar wollte sie ihm eine zweite Chance geben, sich an seine Manieren zu erinnern. Kiem war allerdings zu sehr durch den Wind, um diese Geste zu schätzen zu wissen. »Das Abkommen mit Thea muss hieb- und stichfest sein«, sagte sie. »Wir stehen unter immensem Zeitdruck.«

»Aber …«, begann Kiem. Sein Blick folgte der Bewegung ihrer Finger und er suchte nach einem Argument. Auf dem niedrigen Tisch stapelten sich Geschenke von offizieller Seite, die hauptsächlich von den Vasallenplaneten stammten: Teller aus Kristallglas, eine Schale mit bedeutsamen Moosen, eine fürchterliche goldene Uhr vom Parlament Iskats. Dazwischen glühte unter einer Glasglocke ein kleines Relikt der Galaxier. Es war von einer Farbe, die Kiem irgendwie nicht richtig wahrnehmen konnte – wie eine Glasscherbe, die aus einer anderen Dimension stammte. Allein dass es sich mit Kiem in einem Raum befand, bereitete ihm Unbehagen. Er zwang sich, den Blick abzuwenden. Unglücklicherweise bedeutete das, dass dieser nun auf Ihro Majestät fiel.

Er versuchte es noch einmal. »Aber Eure Majestät … Taams Partnermenschen zu heiraten …« Er hatte eine vage Vorstellung, um wen es sich handelte. Ihro Hoheit Taam und Graf Jainan, der Abgesandte von Thea, waren eines der Vorzeigepaare der kaiserlichen Familie gewesen. Sie wirkten beinahe so perfekt, als hätte das Reichsoberhaupt sie synthetisch herstellen lassen. Iskat besiegelte politische Abkommen stets mit Hochzeiten – das war immer schon so gewesen, seit die ersten Kolonisten den Planeten besiedelt hatten. Dies war auch einer der unausgesprochenen Gründe dafür, dass es auf Iskat derart viele niedere Adlige gab. So hatte man stets einen Repräsentanten zur Hand, wenn man einen brauchte. Prinzipiell sprach nichts gegen Kiem: Er hatte keine Kinder, war nicht besonders religiös, offen für Monogamie, nicht auf ein bestimmtes Gender festgelegt oder gerade an jemand anderem interessiert. Das bedeutete jedoch nicht, dass er Taam so einfach ersetzen konnte, schließlich hatten Jainan und er fünf Jahre lang in einer Partnerschaft gelebt. »Ma’am, Ihr braucht sicher jemanden, der etwas« – würdevoller – »passender ist. Ihro Prinzliche Hoheit Vaile vielleicht. Oder niemanden. Vergebt mir, aber mir ist nicht klar, warum wir überhaupt jemand Neues für ihn finden müssen.«

Seine Großmutter sah ihn an, als würde sie sich gerade in diesem Moment der Unterschiede zwischen ihm und Prinz Taam schmerzlich bewusst. »Augenscheinlich hast du dich in keiner Weise mit der aktuellen politischen Situation auseinandergesetzt.«

Kiem fuhr sich abwesend mit der Hand über die Stirn. Die Luft in den Räumen des Reichsoberhaupts fühlte sich immer trocken und etwas zu warm an. »Tut mir leid.«

»Selbstverständlich nicht. Wie ich hörte, warst du gestern wieder trinken. Auf dem Karneval?«

»Nein, ich …« Kiem bemerkte, dass er so klang, als wollte er sich verteidigen, und hielt inne. Er war nun schon lange nicht mehr blau gewesen. Doch die Entgleisungen seiner Studentenzeit, als sich jeder Ruf an den Hof als kaiserliche Maßregelung für seinen letzten Skandal entpuppte, schienen für sie in Stein gemeißelt zu sein. »Ich war nur nachmittags da.«

Ihro Majestät warf einen Blick auf die sich verändernden Fotos in der Pressemappe auf dem Tisch. »Die Pressestelle hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass du ein Trollkostüm angezogen und dich einer Karnevalsgruppe angeschlossen hast und schließlich mitten in der Parade in den Kanal gefallen bist.«

»Das war eine Kindergruppe«, verteidigte sich Kiem. Normalerweise wäre er bei dem Versuch, die Fotos im Newslog zu erklären, in Panik ausgebrochen. Allerdings war nach der überraschenden Verlobung mit einem Fremden keine Panik mehr übrig. »Ihr Troll ist im letzten Moment abgesprungen. Und das mit dem Kanal war ein Unfall. Ihro Majestät, ich … ich bin«, er rang verzweifelt um die richtigen Worte, »noch viel zu jung, um zu heiraten.«

»Du bist Mitte zwanzig«, erwiderte sie. »Mach dich nicht lächerlich!« Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, die regelmäßige Behandlungen mit lebensverlängernden Maßnahmen erahnen ließ, und trat ans Fenster des Turms. Kiem stand zeitgleich mit ihr auf, aber da er nichts zu tun hatte, verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. »Was weißt du über Thea?«

Kiem versuchte, seine rasenden Gedanken auf irgendwelche relevanten Fakten zu fokussieren. Iskat herrschte über sieben Planeten. Es handelte sich um ein loses Bündnis föderalistischer Reiche: Iskat mischte sich nicht in die internen Angelegenheiten seiner Vasallenstaaten ein. Im Gegenzug hielten die Vasallen die Handelsrouten aufrecht und zahlten Steuern. Thea war das neueste und kleinste Mitglied. Es war vor etwa einer Generation friedlich eingemeindet worden – was man nicht von allen Planeten des Imperiums sagen konnte. Es tauchte nicht oft in den Schlagzeilen auf und Kiem schenkte politischen Themen ohnehin kaum Beachtung.

»Es hat … eine schöne Küste?«, versuchte Kiem. Ihm fielen nur ein paar Schnappschüsse aus einer längst vergessenen Dokumentation ein – grüne, sonnenbeschienene Hügel trafen auf einen kobaltblauen Ozean. Und eine eingängige Melodie einer theanischen Band. »Ich kenne mich ein wenig mit ihrer, äh …« – Ihro Majestät hörte mit Sicherheit keine Musik – »Popkultur aus?« Er zuckte unwillkürlich zusammen, als ihm bewusst wurde, wie das klang. Das war keine Basis für eine Beziehung.

Ihro Majestät betrachtete ihn, als ob sie versuchte herauszufinden, wie aus den Genen seiner Eltern jemand entstanden sein konnte, der so viel weniger darstellte als die Summe ihrer Eigenschaften. Sie wandte den Blick ab und schaute wieder hinaus. »Komm her.«

Kiem folgte der Aufforderung und trat ans Fenster. Vor seinen Augen erstreckte sich unter einer winterlichen Wolkendecke die Stadt Arlusk. Selbst durch das lichtoptimierende Glas hindurch wirkte die Stadt blass. Die ausladenden Regierungsgebäude ragten wie marmorne Venen aus dunklem Gestein empor. Sie waren rund zweihundert Jahre älter als alles andere in diesem Sektor. Rings um sie befand sich ein Wirrwarr aus neueren Häuserblöcken. Gestern war in diesem langen Winter der erste Schnee gefallen und wurde auf den Straßen bereits zu Matsch.

Doch Ihro Majestät schenkte alledem keine Beachtung. Ihr Blick richtete sich auf die andere Seite der Stadt, wo sich der Raumhafen einem Ameisenhügel gleich über die Seite eines Berges ausbreitete. Silberglänzende Shuttles landeten und flogen darüber hinweg, während andere Schiffe in großen Docks lagen, die man tief in den Berg hineingetrieben hatte. Kiem kannte das geschäftige Treiben des hiesigen Raumhafens bereits sein ganzes Leben lang. Wie die meisten Iskaner hatte er die etwa ein Jahr währende Reise zum weit entfernten galaktischen Link – dem Tor zu den entlegeneren Teilen der Galaxie – noch nicht unternommen. Allerdings lagen die Vasallenplaneten weitaus näher, und zwischen ihnen und Iskat herrschte reger Schiffsverkehr.

Eines der Schiffe, das neben einem der Abfertigungstürme schwebte, verursachte Kiem Kopfschmerzen. Die mattschwarze Oberfläche schien jegliches Licht einzusaugen und es huschte ein Schimmer darüber hinweg, der rein gar nichts mit dem einfallenden Sonnenlicht zu tun hatte. Kiem kniff die Augen zusammen, um die Größe einschätzen zu können. Üblicherweise vermochte kein Schiff dieser Größenordnung einfach so in der Gravitation des Planeten zu schweben. Zwar ähnelte es nicht direkt dem splittergleichen Relikt auf dem Geschenketisch des Reichsoberhaupts, aber es gehörte definitiv zu der Art von seltsamem Zeug, das den normalen Regeln der Physik nicht gehorchte. Er wagte eine Vermutung. »Die Galaxier?«

»Liest du eigentlich nichts anderes als deine Schundblätter?«, fragte sie. Es schien sich um eine rhetorische Frage zu handeln. »Das Schiff gehört der Resolution. Trotz der schier absurden Größe befinden sich lediglich ein Auditor sowie drei Verwaltungskräfte an Bord. Offenbar kann es sich aus eigener Kraft durch die Links bewegen und wird von Massescannern nicht erfasst. Der Auditor – den ich aus zwischenmenschlicher Sicht als äußerst beunruhigend empfinde – ist hier, um das Abkommen zwischen dem Imperium und der Resolution offiziell zu erneuern. Selbst dir kann das nicht entgangen sein. Bitte sag mir, dass du wenigstens weißt, worum es sich bei der Resolution handelt.«

Kiem hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück, ehe ihm die Bemerkung entglitt, dass er nicht hinterm Mond lebte, obwohl Iskat eine Jahresreise vom nächsten Sektor entfernt lag. »Jawohl, Ma’am. Sie regiert die restlichen Galaxien.«

»Das tut sie nicht«, erwiderte Ihro Majestät scharf. »Die Resolution ist nicht mehr als Folgendes: ein Bündnis aus Regierungskräften. Sie betreibt das Link-Netzwerk. Iskat und dessen Vasallenplaneten haben ihre eigene Kombination von Resolutionsverträgen unterschrieben, genauso wie andere Reiche und Kräfte der Galaxie. Solang diese erfüllt werden, können wir über unseren Link Handel treiben, uns selbst um unsere Angelegenheiten kümmern und sicher sein, dass keine feindliche Macht das Link-Netzwerk benutzt, um uns anzugreifen. In etwas mehr als einem Monat ist Vereinigungstag, dann müssen wir das Abkommen erneut unterzeichnen. Wenn alles gut geht, wird der Auditor unseren Papierkram durchsehen, diese Relikte einsammeln, von denen die Resolution so besessen ist, der Unterzeichnung beiwohnen und verschwinden.«

Kiem löste den Blick von dem Resolutionsschiff, das ihm die Tränen in die Augen trieb, und sah stattdessen sie an. Ihre runzlige Hand berührte kurz den Feuersteinanhänger, der an einer Kette um ihren Hals hing. Die Geste deutete darauf, dass sie angespannt war. Kiem konnte sich an keine Zeit erinnern, in der ihr Haar nicht schlohweiß gewesen war, und doch schien sie nicht zu altern. Sie wurde nur dünner und härter. Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken: Er hatte sie noch nie ängstlich erlebt.

»Verstehe«, sagte er. »Bestes Benehmen im Beisein der Resolution und VIP-Behandlung für den Auditor. Wir zeigen ihm, was er sehen will, und schicken ihn wieder weg.« Er unternahm einen letzten verzweifelten Versuch. »Aber was hat das mit mir und den Theanern zu tun? Eine Hochzeit ist doch vermutlich so ziemlich das Letzte, womit Ihr Euch gerade beschäftigen wollt.«

Das hätte er wohl nicht sagen sollen. Ihro Majestät warf ihm einen scharfen, unerbittlichen Blick zu, wandte sich vom Fenster ab und ging mit steifen Schritten zu ihrem Stuhl zurück. Sie setzte sich und strich ihre altmodische Tunika glatt. »In einer solch großen Familie wie der unsrigen«, begann sie, »gibt es zwangsläufig Mitglieder, die ihrer Verantwortung besser gerecht werden als andere. Angesichts der Errungenschaften deiner Mutter hätte ich mehr von dir erwartet.«

Kiem zuckte zusammen. Er kannte diese Litanei bereits – zuletzt hatte er sie nach einem Vorfall an der Universität zu hören bekommen, kurz bevor er für einen Monat in ein Kloster geschickt worden war. »Es tut mir leid, Ma’am.« Es gelang ihm immerhin, für den Bruchteil einer Sekunde still zu sein, ehe er sagte: »Allerdings verstehe ich es immer noch nicht. Ich weiß, dass die Verträge wichtig sind. Aber der Mann, den die Theaner geschickt haben – Jainan –, hat doch schon Ihro Hoheit Taam geheiratet. Nur weil Taam gestorben ist, heißt das doch nicht gleich, dass es keine Hochzeit gegeben hat.«

»Die Verträge mit unseren Vasallen bilden die Basis für unser Abkommen mit der Resolution«, erklärte sie. »Sie formalisieren unser Recht, für das Imperium zu sprechen. Der Auditor überprüft, ob alles gesetzeskonform zugeht. Sollte er herausfinden, dass eine unserer durch Heirat geschlossenen Verbindungen durchtrennt ist, wird er das Abkommen für nichtig erklären.«

Kiem war noch zu jung, um sich an die letzte Erneuerung des Abkommens zu erinnern, und hatte zeitlebens nie viel Interesse daran, etwas über die Resolution zu lernen. Doch selbst ihm war alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass der Auditor etwas eingehend prüfte, wofür er verantwortlich war. Man sagte den Auditoren nach, dass sie peinlichst genau nach Unstimmigkeiten suchten und sich in keiner Weise um die Befindlichkeiten der damit verbundenen Personen scherten. Er schluckte schwer. »Jawohl, Ma’am.«

»Du musst weder besonders clever sein noch dich politisch engagieren«, sagte Ihro Majestät, deren Tonfall nun wieder normal klang. »Du musst nur am richtigen Platz stehen, ein paar Worte nachsprechen und darauf achten, nicht das gesamte theanische Pressecorps gegen dich aufzubringen. Auf Thea gab es in letzter Zeit Schwierigkeiten mit Protesten und radikalen Studenten, und unsere politischen Verbindungen sind derzeit nicht so stabil, wie wir es gern hätten. Eine neue Heirat wird helfen, die Wogen zu glätten.«

»Was soll das jetzt bedeuten?«, fragte Kiem.

Ihro Majestät presste die Lippen zusammen. »Die Theaner ziehen jede Entscheidung, um die wir sie anhalten, unnötig in die Länge. Unsere Minen im theanischen Raum versorgen uns mit wertvollen Mineralien, doch die Theaner finden immer wieder neue Wege, sich darüber zu beschweren. Momentan empfiehlt mir einer meiner Berater, unsere Bemühungen aufzugeben und Thea zum Sonderterritorium zu erklären.«

»Ihr werdet das doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen!«, erwiderte Kiem schockiert. Iskat setzte auf anderen Planeten nur dann ein außerordentliches Regierungsgremium ein, wenn dort keins zustande kam. Sefala war das einzige Sonderterritorium im Imperium, und zwar nur, weil es von kriminellen Gangs kontrolliert wurde. »Thea besitzt eine eigene Regierung.«

»Selbstverständlich möchte ich das um jeden Preis vermeiden«, sagte Ihro Majestät gereizt. »Ich habe kein gesteigertes Interesse an einem weiteren Krieg und jetzt wäre ohnehin der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür. Aus diesem Grund wirst du morgen mit Graf Jainan einen Heiratsvertrag unterzeichnen.«

Zum ersten Mal in seinem Leben fehlten Kiem die Worte.

»Es gibt keine rechtlichen Komplikationen«, fuhr Ihro Majestät fort. »Du bist alt genug und stehst weit genug oben in der Thronfolge. Er wird …«

»Morgen?«, entfuhr es Kiem. Er plumpste auf den unbequemen vergoldeten Stuhl. »Ich dachte, Ihr meintet in ein paar Monaten! Der Mann hat seinen Partnermenschen verloren!«

»Nun hab dich mal nicht so«, sagte Ihro Majestät. »Bis zur Vertragsunterzeichnung am Vereinigungstag bleibt uns nur noch wenig Zeit. Bis dahin muss alles wasserdicht sein. Dazu kommt noch, dass wir zugestimmt haben, die Zeremonie jedes Mal auf einem anderen Planeten abzuhalten. Vor zwanzig Jahren war es Eisafan und diesmal ist Thea dran. Die Radikalen auf Thea scheren sich nicht um Stabilität. Nehmen sie auch nur einen Anflug von Schwäche wahr, können wir davon ausgehen, dass sie die Situation ausnutzen werden, um Zwietracht zu säen. Der Auditor könnte zu dem Schluss kommen, dass Iskat nicht genügend Kontrolle über den Rest des Imperiums hat, um unser Abkommen mit der Resolution zu erfüllen. Um von vornherein jegliche Zweifel auszuräumen, brauchen wir ein vorzeigbares Paar, das keinerlei Besorgnis ausstrahlt und glücklich in die Kameras lächelt. Du wirkst auf Fotos immer recht selbstbewusst. Das sollte deine Fähigkeiten also nicht übersteigen.«

Kiem ballte die Fäuste und sah zu Boden. »In ein paar Monaten, sicher«, sagte er. Die Falten um die Augen des Reichsoberhaupts vertieften sich; sie reagierte nie gut, wenn man sie anflehte. Egal wie viel Mühe Kiem sich gab, vernünftig zu sein, er hatte sich niemals gegen sie behaupten können. Er wagte einen allerletzten Versuch. »Sagt dem Auditor, dass wir verlobt sind. Wir können Graf Jainan nicht dazu zwingen.«

»Ich will keine weiteren Ausflüchte mehr hören«, verlangte Ihro Majestät. Sie ging zu ihrem Schreibtisch zurück, stützte die Hände darauf und lehnte sich zu ihm hinüber. Zwar mochte sie etwas älter und langsamer sein, doch ihr Blick bohrte sich in Kiems Eingeweide wie ein Fischhaken. »Du verlangst von mir, das Abkommen in Gefahr zu bringen«, sagte sie. »Du würdest unsere Verbindung zur Resolution zerstören und uns vom Rest des Universums abschneiden. Nur weil du nicht bereit bist, deine Pflicht zu erfüllen!«

»Nein«, entgegnete Kiem, doch Ihro Majestät war noch nicht fertig.

»Jainan hat bereits zugestimmt. Das muss ich Thea schon lassen: Ihre adligen Repräsentanten sind sich ihrer Pflichten bewusst. Wirst du unsere Ehre vor ihnen beschmutzen?«

Kiem versuchte gar nicht erst, ihrem Blick standzuhalten. Falls sie sich dazu entschloss, die Hochzeit als kaiserlichen Befehl zu deklarieren, und er sich nicht fügte, könnte er ins Kittchen wandern. »Selbstverständlich nicht«, sagte er. »Ich freu… freue mich darauf …« Er stotterte und hielt irgendwann inne. … jemanden heiraten zu müssen, der gerade erst seinen Partnermenschen verloren hat. Was für eine wundervolle Idee. Lang lebe das Imperium!

Ihro Majestät sah ihn scharf an. »… sicherzustellen, dass Thea sich der Verbindung mit uns weiterhin bewusst ist«, sagte sie.

»Aber natürlich«, bestätigte Kiem.

Aus dem Schrein des Palasts stieg eine dünne Rauchschwade auf. Die Luft draußen war kühl und roch leicht nach zeremoniellem Räucherwerk. Jainan nav Adessari von Feria – kürzlich verwitwet und frisch verlobt – stand oberhalb einer steinernen Treppe. Er ließ den Blick über die vom Frost gezeichneten Gärten des kaiserlichen Palasts von Iskat schweifen und zwang sich zu fokussieren. Er hatte immer noch einige Pflichten zu erledigen.

Die eleganten kahlen Reihen des Gartens traten nun, da der Schneefall eingesetzt hatte und die Pflanzen zurückgeschnitten oder bis zum Frühling eingelagert waren, noch stärker hervor. Die blassen Steinpfade und gewundenen Mauern aus Marmor umringten ihn wie das Skelett eines prähistorischen Wesens, gleich verstreuten bleichen Knochen, die mit dem Hügel unter ihm verschmolzen. Jeder Pfad begann und endete mit einer Steinplatte, in die das Wappen von Iskat eingelassen war: eine einzelne gebogene Linie, die den Hügel Immerdar darstellen sollte.

Jainan konnte den Garten nicht so bewundern, wie er sollte. Oder ihn überhaupt wahrnehmen. Seit Taams Tod lagen seine Gedanken im Nebel. Systematisch schritt er von einer Seite der Treppe zur anderen, um warm zu bleiben.

Er fühlte sich leer. Die Verantwortung für den Fortbestand des Abkommens zwischen Iskat und Thea lastete seit jeher schwer auf seinen Schultern. Doch nun schien sie eine noch größere Bürde zu sein und lag ihm wie ein Stein im Magen. Taam und er waren Symbole für den Zusammenhalt zwischen den beiden Mächten gewesen. Jainan hatte sich geehrt gefühlt, für die Rolle auserkoren zu sein. Obschon sich später herausstellte, dass es sich größtenteils um eine zeremonielle Position handelte: Er war weder ein Botschafter noch ein Unterhändler und sollte sich demnach aus allen politischen Angelegenheiten heraushalten. Allerdings wusste er seit nunmehr fünf Jahren, dass er eines Tages vor einem Auditor der Resolution stehen würde, um Theas Abkommen zu erneuern und seinen Teil dazu beizutragen, den galaktischen Link offen zu halten und den Sektor zu schützen. Jetzt stand all dies infrage.

In Verlauf der letzten Woche war es ihm zunehmend schwerer gefallen, sich zu konzentrieren, da das Kabinett begonnen hatte, mit Hochdruck nach einem Ersatz für Taam zu suchen. Jainan hatte seinen Stempel unter das Genehmigungsformular gesetzt – es war einfach undenkbar, Thea ohne offizielles Vertragspaar dastehen zu lassen –, allerdings hatten sie noch keinen iskanischen Partnermenschen bestätigt. Es könnte jeder von Dutzenden niederen Adligen sein. Jainan kannte zu wenige von Taams näheren Verwandten, um auch nur eine Ahnung zu haben, wer es werden könnte. Die Unsicherheit lag wie ein Spinnennetz auf seinem Antlitz; er musste es immer und immer wieder beiseiteschieben, um überhaupt an etwas anderes denken zu können.

Er musste sich konzentrieren. Auf der anderen Seite des Gartens erschienen einige dick gegen die Kälte vermummte Angehörige des Palasts und machten sich auf den Weg zum Schrein, um der letzten Andacht für Taam beizuwohnen. Jainan blickte in ihre Gesichter, aber keines kam ihm bekannt vor. Auch Jainan wurde bei der Zeremonie erwartet, obwohl er erst gestern eine Einladung erhalten hatte. Es war verständlich, dass er erst so spät informiert worden war, denn alle Iskaner, mit denen er gesprochen hatte, waren mit dem Besuch der Resolution beschäftigt und mussten sich um wichtigere Angelegenheiten kümmern. Jainan war dem Auditor bisher noch nicht begegnet. Man hatte ihm gesagt, er solle sich von den Gästen der Resolution fernhalten, bis die neue Ehe unter Dach und Fach sei und er und sein iskanischer Partnermensch sich für das Abkommen aussprechen konnten. Jainan wusste, wie wichtig es war, eine vereinte Front zu repräsentieren.

Schließlich zahlte es sich doch aus, dass Jainan draußen gewartet hatte: Auf dem langen Schotterweg, der zum Hauptquartier des Militärs und zu den Baracken führte, tauchte eine Person in Generalsuniform auf, flankiert von zwei weiteren Armeeangehörigen. Jainan holte tief Luft und ging mit schnellen Schritten auf sie zu.

Taam war ein Colonel im iskanischen Militär – gewesen. Im Durcheinander nach dem Flybug-Unfall waren Taams ehemalige Vorgesetzte erschienen und hatten die Aufgabe übernommen, ihn durch all die Beerdigungsvorbereitungen zu führen: Stehen Sie hier, gehen Sie zu jener Zeremonie, sprechen Sie keinesfalls mit der Presse. Jainan war wie in Trance allen Anweisungen gefolgt. Es oblag nicht ihm, kommandierenden Offizieren des kaiserlichen Militärs zu widersprechen.

»General Fenrik«, sagte Jainan und blieb mitten auf dem Weg stehen. »Könnte ich …« Er brach ab. … einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen klang anmaßend. »Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«

General Fenrik war ein breitschultriger strenger Mann mit kurzem weißen Haar und einem Gehstock. Er wirkte nüchtern und man merkte ihm an, dass er die Streitkräfte des Imperiums seit vierzig Jahren anführte. Ein poliertes hölzernes Abzeichen auf seiner Brust zeigte eine alte Version des kaiserlichen Wappens. Sein Blick bohrte sich in Jainans Inneres. Er schien ihn nicht zu erkennen. »Ja? Was? Aber schnell.«

Eine der beiden Personen an seiner Seite flüsterte ihm Jainans Namen zu. Jainan kannte die Militärmitglieder, mit denen Taam gedient hatte: Dieses hier trug eine Feuersteinbrosche am Kragen und einen strengen Pferdeschwanz. Sie hieß Colonel Lunver und hatte Taams militärische Pflichten übernommen. Sie besaß nicht viel Geduld mit Zivilisten und noch weniger mit Angehörigen von Vasallenplaneten.

Der Hinweis schien Fenriks Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. »Ah ja. Taams Partner. Was wollen Sie?«

»Es geht um die Zeremonie«, antwortete Jainan. Sein Mund war total trocken. Er durfte es sich keinesfalls erlauben, Ärger zu machen. Aber er hatte noch andere Pflichten als die von Iskat zu erfüllen. »Ihro Hoheit Taam hat iskanische Beerdigungsriten erhalten. Es gibt auch noch einige theanische Clanrituale …«

»Theanische Rituale?« General Fenrik hob die Brauen. Er musste die Worte gar nicht erst aussprechen. Taam war Iskaner oder Die kaiserliche Familie muss den kaiserlichen Gebräuchen folgen, das wussten sie beide.

»Ich kann Ihnen versprechen, dass es keine Störungen des Ablaufs geben wird«, sagte Jainan und versuchte damit, etwas Boden zu gewinnen. Er hätte sich eine etwas taktvollere Strategie überlegen sollen, aber dafür war keine Zeit gewesen. »Der neue theanische Botschafter wird auch anwesend sein und die theanische Presse wird mit Sicherheit über die Zeremonie berichten.«

»Was brauchen Sie?«, fragte der dritte Offizier mit Nachdruck, indessen Fenrik ihn noch stirnrunzelnd anblickte. Jainan kannte auch ihn: Aren Saffer, Taams ehemaligen Stellvertreter, lebhaft und nonchalant wie eh und je. Arens Tonfall klang schon fast mitfühlend und Jainans Nacken prickelte vor lauter Scham. Doch Jainan fühlte sich zu taub, um sich davon aufhalten zu lassen.

Im Kopf kalkulierte Jainan in Windeseile, inwieweit die Riten eingehalten werden mussten, um die theanische Presse nicht gegen sich aufzubringen. »Wenn ich bei der Zeremonie nur fünf Minuten Zeit bekäme, damit ich etwas rezitieren könnte. Am besten würde es passen, während die Bilder der Beerdigung geweiht werden.«

»Warum haben Sie Ihre Bitte nicht dem Zeremonienpersonal mitgeteilt?«, fragte Fenrik.

»Es war … nicht gerade hilfsbereit«, antwortete Jainan. Das Schreinpersonal hatte es rundweg abgelehnt, den Ablauf der Zeremonie zu verändern. Jainan verstand das, denn immerhin hatte er erst in letzter Minute darum gebeten. General Fenrik war Jainans letzte Chance.

Dieser beäugte ihn, als vermutete er hinter Jainans Ansinnen irgendeine Art politischen Trick. Jainan ließ die Musterung über sich ergehen. Für ein Rezitieren der Clanriten reichten fünf Minuten nicht einmal ansatzweise aus. Aber Jainan war bewusst, dass selbst dies die Grenzen des Möglichen beinahe sprengte.

Doch augenscheinlich entschied Fenrik, dass fünf Minuten ein kleiner Preis waren, um Jainans Bitten abzustellen. »Kümmern Sie sich darum«, sagte er zu Colonel Lunver, die sich verkniff, was sie hatte sagen wollen, und stattdessen salutierte. Fenrik nickte Jainan kaum merklich zu und ging weiter. Ganz offensichtlich wollte er sich nicht noch länger damit beschäftigen. Die beiden Militärs verbeugten sich vor Jainan und folgten dem General.

Jainan trat einen Schritt zurück, um die drei vorbeizulassen. Eigentlich sollte er erleichtert sein, stattdessen spürte er nur die Kälte im Rücken und ein wenig Furcht vor der Zeremonie.

Er wartete kurz, ehe er ihnen hinterherging, und achtete darauf, zu den anderen Anwesenden einen gewissen Abstand zu halten. Er vermochte gerade keine Kondolenzwünsche zu ertragen. Als er sich den Eingangstoren näherte, bot sich ihm ein Blick den Hügel hinab auf die Stadt Arlusk. Mehrere Flugschiffe näherten sich dem Palast und warteten darauf, die Gäste an Bord auszuspeien. Rechts von ihm erhob sich die niedrige Kuppel des Palastschreins. Die Presse durfte bis zu den Toren herankommen: Ein halbes Dutzend Kameradrohnen umkreiste den marmornen Dom und machte von den Anwesenden Fotos. Es gab keinen Weg, ihnen auszuweichen. Jainan bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

Im Inneren des Schreins war die Luft unterhalb der hohen steinernen Kuppeldecke vom Duft des Räucherwerks erfüllt. Zum Glück schwebten hier keine Kameras in der Luft herum. Die Anwesenden nahmen auf den Sitzen Platz, die rings um den eigentlichen Schrein aufgestellt waren; die uniformen Reihen hochdekorierter Militärmitglieder wurden hier und da von Zivilpersonen in schlichter heller Kleidung unterbrochen.

Eine Sitzreihe war speziell für die zwölf Delegierten des Abkommens reserviert worden. Die Abgeordnete von Eisafan war wie üblich in ein üppiges Gewand aus bronze- und cremefarbenen Stofflagen gehüllt. Neben ihr saß flankiert von ihrer Dienerschaft ihr königlicher Partnermensch. Ihr Haar war durch zwei schwere Feuersteinringe geflochten – eine demonstrative Zurschaustellung ihres Genders. Die Vertretungen von Rtul und Tan-Sashn hatten sich wie Jainan für schlichtes Grau entschieden, das auf Iskat als Zeichen der Trauer galt; sie sahen ernst und teilnahmslos aus. Auf den Sefala zugedachten Plätzen saßen Einwohner Iskats. Die Kaani hatten noch nicht einmal jemanden geschickt. Jainan bewunderte beinahe ihre Fähigkeit, jedes Mal eine andere für ihr Volk typische Unpässlichkeit zu finden, sobald sie kein Interesse hatten, an irgendetwas teilzunehmen.

Jemand tippte ihn am Ellbogen an. »Ihro Gnaden?«

Jainan zog seinen Arm weg und trat einen Schritt zurück. Es war ein junger Mann, groß und hager, gekleidet in eine Tunika in theanischem Stil. Jainan brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass ihm die Kombination aus Weiß und Dunkelblau bekannt vorkam: Es war der Kleidungsstil des Clans der Esvereni. Dies musste also der neue theanische Botschafter sein.

»Graf Jainan von Feria«, sagte der Botschafter und wartete auf Jainans zustimmendes Nicken. »Mein Name ist Suleri nal Ittana von den Esvereni. Ich hatte gehofft, Euch hier zu treffen.«

Jainan verbeugte sich. Taam und er sollten eigentlich über den politischen Interessen stehen, aber es konnte wohl niemand etwas dagegen haben, wenn er den Botschafter seines eigenen Heimatplaneten begrüßte. »Ihro Exzellenz. Meine Glückwünsche zu Eurer Ernennung!«

Der Botschafter schenkte ihm ein ausdrucksloses Lächeln und sagte: »Vielen Dank. Ihro Gnaden, um ehrlich zu sein, habe ich mir Sorgen um Euch gemacht. Ich habe Euch in den vergangenen Tagen mehrmals in die Botschaft eingeladen. Ihr habt jedoch kein einziges Mal geantwortet.«

Jainan holte kurz Luft. Iskat hatte der Ernennung eines neuen Botschafters erst nach einiger Zeit zugestimmt, weil sich der letzte übermäßig in die Angelegenheiten des Palasts einzumischen pflegte. Wäre Jainan der Einladung in die Botschaft gefolgt, bevor er mit seinem neuen iskanischen Partnermenschen verheiratet war, hätte es gewirkt, als wollte Thea genau so fortfahren. Man hätte die Esvereni darüber informieren müssen. Allerdings waren die Esvereni nicht gerade für ihr Taktgefühl und politisches Geschick bekannt. Jainan bemerkte seine Denkweise und schob sie beiseite. Vorurteile zwischen theanischen Clans hatten auf Iskat keine Bedeutung. »Es tut mir leid. Einige religiöse Pflichten haben mich in Anspruch genommen.«

Das Lächeln wurde dünner. »Es tut mir leid zu hören, dass Ihr so viel zu tun habt, Ihro Gnaden. Da die Resolution für die Vertragsfeierlichkeiten anwesend ist, muss ich Euch leider um noch etwas bitten. Ich muss wissen, ob Ihr zumindest bei der Übergabe der Relikte anwesend sein werdet. Kein Mitglied meiner Dienerschaft ist autorisiert, mit dem Auditor zu interagieren.«

Jainan zögerte und spürte wieder einmal, dass etwas seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Er wusste, dass mehrere Zeremonien der Resolution stattfanden, ehe das Abkommen erneuert wurde. Eine davon sah vor, dass jeder Planet alle Xeno-Relikte übergab, die in den letzten zwanzig Jahren in Auffangnetzen für Weltraummüll, bei Ausgrabungen oder dem Terraforming gefunden worden waren. Thea war im Besitz einiger kleiner Splitter, die der Resolution ausgehändigt werden mussten. Selbstverständlich würde Jainan seine Rolle dabei spielen, aber sein neuer Partnermensch musste zustimmen. Er trat zur Seite, damit eine Gruppe von Staatsbediensteten ihre Plätze einnehmen konnte. »Ja, aber ich warte noch auf den genauen Zeitplan …«

»Natürlich«, sagte Botschafter Suleri. »Ich dürfte Euch wohl kaum um etwas bitten, ohne die Zustimmung Iskats abzuwarten.«

Jainan schloss kurz die Augen und spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Ein neuer, unerfahrener Botschafter aus einem rivalisierenden Clan bedeutete ein weiteres zu lösendes Problem, einen weiteren chaotischen Faktor in der Gleichung. Suleri wusste nicht, wie leicht die Beziehungen aus dem Gleichgewicht geraten konnten. »Ich werde Euch meinen Zeitplan so schnell wie möglich zusenden«, versprach Jainan. »Ihr habt mein Wort. Die Hochzeit ist morgen. Bis dahin sollte ich Bescheid wissen.«

Als er morgen sagte, las er in Suleris Gesicht Verblüffung. Doch Jainan war zu müde, um darauf zu reagieren. Suleri setzte wieder eine neutrale Miene auf und verbeugte sich. »Dann also morgen. Ich erwarte Eure Nachricht.«

Jainan wandte sich ab und hatte das Gefühl, soeben ein Minenfeld überquert zu haben. Er setzte sich gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn der Zeremonie auf seinen Platz.

Eine Reihe Geistlicher strömte herein und die Abgeordnete von Eisafan lehnte sich zu ihm hinüber. »Wie es scheint, hatte Euer neuer Botschafter einige Schwierigkeiten, an eine Einladung zu kommen«, murmelte sie, indessen weiterer Gesang anhob. »Meine Dienerschaft musste ihm unter die Arme greifen. Habt Ihr irgendwelche Probleme?«

Jainan starrte stur geradeaus. »Die Einladungen wurden erst spät verschickt«, sagte er. Für gewöhnlich hatte sich Taam mit den anderen Delegierten auseinandergesetzt. An der Art, wie die Abgeordnete von Eisafan auf den leeren Stuhl neben ihm schaute, bevor sie sich an ihn wandte, spürte Jainan es selbst jetzt. »Ich danke Euch für Eure Hilfe.«

»Mit Vergnügen«, sagte sie und lehnte sich wieder zurück. Eisafan war der Vorzeigeplanet des Imperiums: jedes Jahr reicher und pompöser und in sämtlichen Bereichen mit Iskat verbunden. Eisafan hätte niemals ein Problem damit gehabt, eine Einladung für ihren Botschafter zu bekommen.

Jainan zwang sich, dem Rest des Rituals zu folgen. Die Monatstrauerfeier war eine iskanische Zeremonie, deren Gestaltung sich nach Taams Konfession richtete. Technisch gesehen hatte er einer anderen Konfession angehört als Jainan. Allerdings hatte Taam nur deshalb überhaupt eine gewählt, weil die Armee dies erwartete, und weder er noch Jainan hatten den einzelnen Gebräuchen jenseits der hohen Feiertage große Beachtung geschenkt.

Wieder erhoben sich Gesänge und Jainan atmete aus. Dies war die sechste Beerdigungszeremonie in einem Monat. Er erinnerte sich kaum an die vorangegangenen – sie verschmolzen zu einer langen Reihe von Geistlichen und ernst dreinschauenden Militärmitgliedern, die Jainan dabei zusahen, wie er sich an seine Aufgabe in Ritualen zu erinnern bemühte, an denen er bislang noch nie teilgenommen hatte.

Zumindest hatte er sich mittlerweile daran gewöhnt. Er stand auf, als ihn einer der Priester nach vorn bat, und ging mit festen Schritten auf die kreisrund angeordneten Tische mit den Opfergaben zu, auf denen unzählige grau gerahmte Bilder von Taam standen. In der Kuppel herrschte Stille. Die Presse durfte erst am Ende dazustoßen.

In einer Schale mit Räucherwerk entzündete Jainan ein mit Wachs überzogenes Stück Seil. Eine dünne Rauchschwade erhob sich und vermischte sich mit dem restlichen Rauch in der Kuppel. Er sollte etwas empfinden, spürte aber nur Taubheit – die sich kalt anfühlte, wie ein Becken voller eiskaltem Wasser. Er stand einfach nur da, den brennenden Kegel in den Händen, und sah langsam den Rauch aufsteigen. Vor ihm flüsterte einer der Geistlichen etwas, das Jainan eigentlich nicht hören dürfte. Taams Gesicht blickte ihn aus jedem Winkel an – flach, leblos, ganz anders, als Jainan ihn gekannt hatte. Doch der Raum bis zur hohen Decke über ihm war leer und ruhig.

Dies war der Moment, in dem er zu rezitieren beginnen sollte. Jainan wurde schlagartig bewusst, dass er sich gar nicht vergewissert hatte, ob Lunver die Geistlichen informiert hatte. Sie saß sicher neben General Fenrik in der ersten Reihe, allerdings konnte er sich jetzt nicht einfach umdrehen und nach ihr Ausschau halten. Falls die Geistlichen nicht informiert waren, würde er jetzt eine ziemlich unangenehme Situation heraufbeschwören. Doch Taam hatte in den Feria-Clan eingeheiratet, egal wie wenig dies den Iskanern bedeuten mochte. Jainan spürte tief im Innern, dass es falsch wäre, nichts zu sagen. Er schloss die Augen und begann zu sprechen.

Es war ein alter und einfach gehaltener Gesang: Er listete die Namen der Hauptmitglieder des Feria-Clans der letzten paar Generationen auf. Er spulte sie nacheinander ab wie einen Faden, den man aus einem Wandteppich zog. Die ersten Namen verhallten in absoluter Stille. Während er rezitierte, musste sich Jainan immer wieder räuspern. Aber selbst danach klang seine Stimme immer noch irritierend leise und heiser. Er hatte schon lange nicht mehr in der Öffentlichkeit gesprochen. Eine Geistliche, die gerade Taams Fotos einsammelte, sah er wie versteinert innehalten – war sie informiert? Ruinierte Jainan gerade die Zeremonie? Er fühlte einen Anflug von Demütigung, konnte aber nicht mittendrin aufhören.

Er gelangte ans Ende. Die letzten Namen – die von Jainans Eltern – durchstießen die Stille. Jainan hörte die Echos verstummen. Sein Kopf fühlte sich vor lauter Erleichterung ganz leer an und er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was als Nächstes kam. Es folgte eine eigenartige Pause. Der Geistliche vor ihm hustete.

Ein unangenehmer Druck umschloss Jainans Brust wie ein eisernes Band. Die religiösen Zeremonien von Iskat folgten einem strikten Ablauf ohne jegliche Unterbrechung. Die Anwesenden würden wohl glauben, er sei mit den Nerven am Ende. Er blickte rasch nach unten und erinnerte sich daran, was er nun tun musste: Er nahm das Stück Kohle, das neben der Räucherschale lag, und zeichnete damit vor jedes der weiß gerahmten Fotos eine Linie. Taams Abbild sah ihn ruhig an, ohne etwas von Jainans Verfehlungen zu ahnen.

»Vielen Dank, Ihro Gnaden«, sagte der Geistliche. Jainan versuchte den anklagenden Unterton zu überhören. »Bitte nehmt wieder Platz.«

Jainan wandte sich vom mittleren Tisch ab. Er musste sich zusammenreißen. Er konnte es sich nicht leisten, den Eindruck zu erwecken, als verlöre er den Verstand.

Noch bevor er den letzten Segen aussprechen und sich in Bewegung setzen konnte, ertönte vor den Eingangstoren des Schreins ein gedämpfter Tumult. Die Tore öffneten sich ein Stück und ließen einen Strahl silbernes Licht und ein paar Leute herein. Jainan wurde eiskalt; die Presse durfte doch noch gar nicht dazukommen. Er hatte das Timing der Zeremonie durcheinandergebracht.

Aber es waren keine Reporter. Zwei von ihnen trugen die seltsam geschnittene Kleidung und die weiten, in Falten gelegten Halskragen der Völker aus den weiter entfernten Teilen der Galaxie. Bei beiden schimmerte etwas vor dem linken Auge, als würde das Licht von einem Gegenstand gebrochen.

Der Letzte in der Reihe musste der Auditor sein.

Dieser war ebenso unauffällig gekleidet wie seine beiden Hilfskräfte. Von seiner Position aus konnte Jainan keine Ornamente erkennen, allerdings kannte er das Gender des Auditors aus Berichten. Das Beunruhigende an ihm war die Hülle aus weichem Licht, die seine Augen und den Großteil seines Gesichts verbarg. Das Licht umhüllte sein Antlitz wie eine Art Rüstung in einer Farbe, die Jainans visuelle Rezeptoren nicht zu analysieren vermochten. Jainan meinte, darunter menschliche Züge zu erkennen. Aber er gewann keine Klarheit, denn ihm wurde übel, wenn er länger hinsah.

Jainan hatte nicht die leiseste Ahnung, wieso der Auditor zu einer religiösen Zeremonie gekommen war, die rein gar nichts mit Politik zu tun hatte. Als er sich setzte, bewegte er sich wie ein Mensch und sein Kopf drehte sich auf seinem Hals wie auf dem eines Menschen. Doch sein Gesicht blieb verstörend leer. Jainan brauchte eine Sekunde, um zu bemerken, dass der Auditor ihn anblickte.

Jainan war aufkeimende Panik gewohnt. Er wusste, dass man ihm nichts davon ansah. Es war überaus unerfreulich, dass der Auditor genau zu dem Zeitpunkt eingetroffen war, als einer der Delegierten des Abkommens wie gelähmt dastand. Immerhin hatte er soeben eine iskanische Zeremonie unterbrochen, weil er auf theanischen Bräuchen bestand. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre sicher noch Zeit, einen besseren Eindruck der Einheit abzugeben, nämlich sobald Jainans neuer Partnermensch ausgewählt war. Jainan versuchte nicht daran zu denken, was dieser von den Ereignissen dieses Morgens halten würde.

Er lenkte seine Gedanken wieder auf die Verpflichtungen, die vor ihm lagen. Er wandte sich erneut den Tischen mit den Opfergaben zu und achtete darauf, jede seiner Bewegungen streng unter Kontrolle zu halten. Dann sprach er den letzten Segen von Taams iskanischer Konfession, und ehe er sich umdrehte, vollführte er die korrekte Verbeugung. Er konnte gerade nicht an die Zukunft denken, sie lag in einem furchterregenden Nebel verborgen. Aber wenn er eben nur die Gegenwart kontrollieren konnte, dann würde er dies wenigstens, so gut er konnte. Thea könnte es kaum verkraften, wenn er ins Wanken geriet. Wer immer sein neuer Partnermensch sein mochte, xier würde verstehen, dass der Fortbestand des Abkommens wichtiger war als alles andere.

KAPITEL 2

Verdammt! Verdammt noch mal! Kiem schaffte es gerade noch zurück in seine Gemächer, wo er sogleich zusammenbrach und bäuchlings auf dem Sofa landete. Heute ohne Vorwarnung zu einer Audienz gerufen und morgen schon verheiratet – verheiratet! Er fragte sich, ob man seinen unglückseligen Bräutigam bereits über den Terminplan in Kenntnis gesetzt hatte.

Er wusste schon immer, dass er eines Tages heiraten würde, und zwar vermutlich nicht aus Liebe. Obwohl er es sich irgendwie lustig vorstellte, einfach durchzubrennen. Doch Kiem war davon ausgegangen, dass er und sein zukünftiger Partnermensch zumindest einige Monate Zeit haben würden, um sich kennenzulernen. Aber einen trauernden Fremden zu überzeugen, dass die Situation doch gar nicht so schlimm war, nachdem man ihn zu einer raschen Heirat gezwungen hatte – das würde schon mehr als nur ein bisschen Überzeugungskraft erfordern. Dafür müsste man schon ein verdammtes Wunder vollbringen können.

Es lief wohl darauf hinaus, dass er für den Rest seines Lebens an jemanden gekettet sein würde, der alles an ihm verabscheute. Und Kiem war dabei noch der Glückliche in der Beziehung. Für Graf Jainan wäre die Lage deutlich schlimmer, denn es handelte sich keineswegs um eine gleichberechtigte Partnerschaft: Thea war in dieser Allianz der Juniorpartner. Also wurde von Jainan erwartet, dass er sein Leben an Kiem ausrichtete. Möglicherweise las er genau in diesem Moment seine Presseakte und wünschte sich, Kiem wäre anstelle von Taam bei dem Flybug-Unfall ums Leben gekommen.

Kiem ließ seinen Kopf in die Kissen sinken und stöhnte.

»Ihro Hoheit«, sagte seine Assistentin mit mahnendem Unterton in der Stimme. »Die Couch ist zum Sitzen da, das Bett zum Liegen und die Bars am Shuttlehafen zu wie auch immer gearteten unheiligen Kombinationen aus beidem. Oder was Ihr da eben so treibt.«

Kiem rollte sich auf den Rücken und erhob sich ein Stück. Mit ihrem frisch gewaschenen Gewand und ihrem ordentlich zu vielen kleinen Zöpfen geflochtenen Haar wirkte Bel wie immer wie der Inbegriff einer kaiserlichen Assistentin. Beim Antritt ihrer Stelle hatte sie Kiem versprochen, dass sie sich an die Gepflogenheiten Iskats anpassen würde, und wirklich machte sie keine halben Sachen: Ihr Gender zeigte sie anhand silberner, mit Feuerstein verzierter Ohrringe. Obendrein war es ihr gelungen, ihren sefalanischen Akzent abzulegen. Sie klang wie eine waschechte Iskanerin.

Durch die offene Tür hinter Bel drangen laute Hintergrundgeräusche herein. Man hatte Kiem einige ungenutzte Räumlichkeiten im Westen des Palasts zugewiesen. Diese lagen inmitten zweier Geschosse weiterer Wohneinheiten in einem renovierten Flügel des Palasts, der früher einmal ein Teil der Stallungen gewesen war. Es handelte sich streng genommen nicht um kaiserliche Gemächer, aber in Zeiten wie diesen hätte Kiem in der einsamen Stille des Herrscherflügels schier den Verstand verloren. Das hier war immerhin besser, als leise vor sich hin zu grübeln. »Was ist mit verzweifelt in sich zusammensinken?«, fragte er. »Haben wir dafür passende Möbel? Setz Folgendes auf die Liste: Besorg ein Verzweiflungsmöbelstück fürs Wohnzimmer. Hab ich schon erwähnt, dass ich heiraten werde?«

»Darüber bin ich bereits informiert«, sagte Bel. Sie schloss die Tür hinter sich, reaktivierte die Schallversiegelung und vollführte über ihrem Handgelenk eine Geste. Ihr silberfarbenes Armband deutete diese und projizierte in Höhe ihres Ellbogens einen kleinen leuchtenden Bildschirm. »Ich habe vor zwanzig Minuten davon gehört.«

Diesmal konnte Kiem aus ihrer Stimme deutlich ihren Missmut heraushören. »Hey, ich habe das erst vor zehn Minuten erfahren!« Er verzog das Gesicht. »Ich kann’s nicht fassen, dass du davon wusstest und mir nichts gesagt hast!«

»Ihr befandet Euch inmitten einer privaten Audienz mit Ihro Majestät, als ich von der Hochzeit erfuhr«, sagte Bel. Sie steckte einen ihrer Zöpfe zurück, der aus ihrer strengen Frisur gerutscht war – ein Zeichen, dass sie sich beruhigt hatte. »Euer Verlobter ist Graf Jainan nav Adessari von Thea, siebenundzwanzig Jahre alt, aus dem Feria-Clan. Ich habe alle Dokumente über ihn zusammengetragen, die ich finden konnte. Ihr seht den Ordner ganz vorn, wenn Ihr Euren Bildschirm öffnet.«

»Du vollbringst wahre Wunder«, sagte Kiem. Er zog seine Hand unter einem der Kissen hervor und tippte auf sein Armband, um es zu aktivieren. In seinem In-Ear-Kopfhörer ertönte ein leises Pling und vor ihm erschien ein Bildschirm: ein leuchtendes Rechteck, das etwa auf Brusthöhe vor ihm schwebte. Ein Text erschien darauf. »Was muss ich über Thea wissen? Was wusstest du vor dieser Sache über Thea?«

Bel überlegte nur für den Bruchteil einer Sekunde. »Nicht besonders viel«, antwortete sie. »Ich informiere mich weiter. Erfolg beim Terraforming, viel Ackerland und stabile Meere – muss wohl ein hübscher Ort sein, um dort aufzuwachsen, nehm ich an. Es war lange Zeit ruhig, aber neuerdings liest man in den Newslogs immer öfter etwas über Thea. Ihre Kultur ist Clan-basiert.«

»Was machen die Clans denn so?«, wollte Kiem wissen. »Erinnern sie dich rechtzeitig an den Geburtstag deiner Großtante?«

»Sie regieren«, erklärte Bel. »Bei den Clans handelt es sich um erweiterte Familiengruppen, die mit den theanischen Präfekturen verbunden sind. Die Mitglieder müssen noch nicht einmal alle aus derselben Familie stammen. Feria wäre ein Beispiel dafür.«

»Oh Scheiße, richtig, das hätt ich wohl wissen müssen. Ich kenn mich mit so was überhaupt nicht aus, Bel.« Kiem fuhr sich abwesend mit einer Hand durchs Haar. »Was soll ich bloß machen?«

»Oh, ich bin froh, dass Ihr fragt«, sagte Bel mit einer Stimme, die Kiem deutlich zu verstehen gab, dass einiges an Arbeit auf ihn zukam. »Ihr werdet Euren Terminplan durcharbeiten. Ich versuche schon den ganzen Morgen, Euch dazu zu bringen.«

Kiem warf ergeben die Hände in die Höhe. »Okay! Terminplan.«

Kiems Hauptraum verfügte über interaktive Fenster, die einen Blick auf die kaiserlichen Gärten ermöglichten. Für gewöhnlich lagen keine Filter auf dem Glas, daher war das diffuse Licht, das aus dem wolkenverhangenen Himmel hereindrang, blass und klar. Über eine Geste veränderte Bel eines der Fenster in ein intransparentes Display. Sie schnipste schnell mit dem Finger und ließ seinen Kalender darauf erscheinen. »Ihr werdet Euch etwas freischaufeln müssen, um die Vertragspapiere durchzulesen, bevor Ihr sie morgen unterschreibt«, sagte sie. »Außerdem braucht Ihr einen weiteren Zeitblocker für die Glückwunschbotschaften und Ihro Majestät hat vorgeschlagen, dass Ihr Jainan eine halbe Stunde vor Beginn der Zeremonie empfangt.«

»Ja. Absolut. Haben wir was mit Alk da? Sorg unbedingt für Drinks. Wart mal, wir haben nur eine halbe Stunde Zeit?«

»Kann ich Euer Mittagessen mit der Schulleitung gleich davor absagen?«

»Absagen. Um Himmels willen, sag alles ab!«, sagte Kiem. »Was sollen die Leute denken, wenn ich unmittelbar vor meiner Hochzeit zum Mittagessen verschwinde? Ihro Majestät wird mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.«

»Ihr genießt kaiserliche Immunität«, kommentierte Bel trocken.

»Dann wird Graf Jainan mir die Haut abziehen«, sagte Kiem. »Und er hätte jedes Recht dazu. Denkst du, wir könnten ihn bereits am Morgen hierher einladen? Oder schon heute Abend?«

»Möchtet Ihr, dass ich nachfrage?«

Kiem richtete seinen persönlichen Bildschirm aus und starrte darauf hinunter. »Nein«, antwortete er. »Nein, ich will lieber keine Forderungen stellen.«

Bel warf ihm einen Blick zu, der nicht gerade nach Sympathie aussah, und zog sich daraufhin ins Arbeitszimmer zurück, um einige Anrufe zu erledigen. Sie wahrte stets die Etikette. Kiem machte eine Handbewegung zum vor ihm schwebenden Bildschirm. Sein Armband erkannte die Geste und öffnete Jainans Akte.

Der Mann auf dem Foto kam ihm vage bekannt vor. Ein Gesicht, das er bei kaiserlichen Empfängen schon mal aus der Ferne gesehen hatte. Er wirkte ernst, mit feinen Gesichtszügen, seine braune Haut etwas blasser als Kiems. Durch irgendetwas in seinen eindringlichen dunklen Augen wirkte er nicht abweisend, sondern gewissenhaft, als befände er sich inmitten einer wichtigen Konversation. Er trug eine formelle theanische Uniform, bei der grüne und goldene Farbtöne vorherrschten, und seine langen schwarzen Haare waren zu einem Zopf zurückgebunden. In das Band, das sein Haar zurückhielt, war ein diskreter hölzerner Anhänger eingearbeitet. Er zeigte ein für Thea typisches Muster, dessen Bedeutung Kiem nicht kannte.

Kiem starrte auf das Foto. Es war das erste Mal, dass er sich das Gesicht wirklich ansah. Beinahe hätte er laut Taam, du Glückspilz gesagt, doch irgendwo zwischen Hirn und Zunge konnte er den Gedanken noch abfangen. Was zum Teufel war bloß los mit ihm? Jainan trauerte! Kiem löste den Blick von dem Foto und las einige der Informationen. Jainan und Taam waren fünf Jahre lang verheiratet gewesen. Er war hochgebildet.

»Er hat einen Doktor in Raumfahrttechnik!«, rief Kiem zu Bel ins Arbeitszimmer hinüber. »Mit siebenundzwanzig! Wie um alles in der Welt soll ich mich mit jemandem unterhalten, der so intelligent ist?«

»Ihr habt doch Erfahrung mit mir«, ertönte Bels amüsierte Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Du zählst nicht! Du wirst dafür bezahlt, dass du komplizierte Dinge für mich auf ein einfacheres Niveau herunterschraubst!« Kiem scrollte weiter herunter. »Hier steht, dass er mit achtzehn einen Preis für eine neuartige Methode der Kraftstoffeinspritzung bekommen hat. Glaubst du, er könnte stattdessen dich heiraten?«

»Kommt drauf an. Seid Ihr in der Lage, lange genug den Mund zu halten, um den Vertrag zu unterschreiben?«, erwiderte Bel mit einem verärgerten Unterton in der Stimme, der verriet, dass sie versuchte, mit ihrer Arbeit voranzukommen. Kiem verstand den Hinweis und ließ sich zurück auf die Couch sinken, um zu lesen. Der Bildschirm schwebte über seinem Gesicht.

Es gab eine kurze Auflistung von Jainans Veröffentlichungen. In den letzten paar Jahren schien er nicht viel gemacht zu haben. Vielleicht hatte er sich nach der Hochzeit mit Taam anderen Dingen zugewandt. Eventuell war es etwas, worüber sich Kiem besser mit ihm unterhalten konnte. Möglicherweise Dartcar-Rennen.

Allerdings war das wohl eher unwahrscheinlich.

Kiem scrollte weiter nach unten. Es gab keinen Abschnitt über Steckenpferde. Wieso standen da keine Steckenpferde? Wer stellte eigentlich diese Dokumente zusammen und ließ die wichtigen Informationen aus, wie zum Beispiel etwas, über das sie sich unterhalten konnten? Kiem durchsuchte schnell einige vergangene Berichte über Jainan. Das entpuppte sich als Fehler: In jedem einzelnen Artikel wurde über seine perfekte Ehe mit Taam berichtet, vom Hochzeitsvideo bis hin zur deprimierend perfekten Holzhütte, in der sie ihren Winterurlaub verbrachten. Jainan wirkte in den Videos jung und fröhlich, ganz anders als auf dem anderen Foto, das wohl nach dem Verlust seines Partnermenschen entstanden war. Für die Allianz mit Thea waren er und Taam das perfekte Vorzeigepaar gewesen. Kein Wunder, dass Ihro Majestät über den Wegfall dieser ehelichen Verbindung so bestürzt war.

Kiem ließ den Bildschirm verschwinden und schaute durchs Fenster in den Himmel hinaus. Über die kahlen Bäume trieben Wolken. Jainan würde nicht automatisch eine eigene Unterkunft erhalten, also würde er zu Kiem ziehen müssen. Zumindest bis im Palast größere Räumlichkeiten für sie gefunden würden. Allerdings könnte dies Monate dauern. Bis dahin mussten sie sich Kiems Gemächer teilen. Vermutlich hätte Jainan gern so viel Platz für sich allein wie möglich, um Kiem aus dem Weg zu gehen. Sie würden sich überlegen müssen, was sie mit dem Schlafzimmer anstellen sollten. »Bel? Können wir hier eine Wand einziehen?«, rief er. »Ich kann doch einfach noch ein Zimmer abteilen, richtig?«

Es läutete. Kiem winkte und die Tür öffnete sich. Als er den Besucher erkannte, wünschte er sich kurz, er hätte es sein lassen.

Der Leiter der Pressestelle war ein gedrungener Mann mit kahlem Kopf, der das Licht reflektierte, und besaß eine Präsenz wie ein Bär in einem Raum voller Nanotechnologie. Breite hölzerne Armreifen wanden sich um beide Handgelenke und er erweckte den Eindruck, lieber Schlagringe tragen zu wollen. »Morgen, Kiem!«

»Morgen, Hren!«, sagte Kiem etwas misstrauisch. Hren unterstand direkt dem Reichsoberhaupt, und er und Kiem pflegten nicht die allerbeste Beziehung. »Alles in Ordnung?«

»Jepp«, sagte Hren. »Glückwunsch, dass du jetzt unter die Haube kommst!«

In diesem Moment kam Bel aus dem Arbeitszimmer und sagte: »Ein weiteres Zimmer? Oh … Hren Halesar. Guten Morgen!«

»Versuchen wir’s noch mal«, begann Hren und ignorierte sie dabei völlig. »Gratulation zur baldigen Hochzeit!«

»Danke?«, sagte Kiem.

Hren nahm auf dem Stuhl gegenüber der Couch Platz und schob seine Hemdsärmel nach oben. »Also hast du deine Presseerklärung noch nicht auswendig gelernt.«

»Ich soll eine Presseerklärung abgeben?«

»Ich fürchte, wir haben die gerade eben erst erhalten«, sagte Bel kühl. »Ich bin gerade hergekommen, um Ihro Hoheit davon in Kenntnis zu setzen.«

»Dann sehen Sie zu, dass es endlich auf seinem verdammten Armband ankommt«, sagte Hren. »Vor fünf Minuten. Wir haben doch darüber geredet. Egal was kommt, als Erstes musst du …«

»Ich weiß schon, meinen Text lernen.« Kiem hasste es, Presseerklärungen abzugeben. Es wurde verlangt, dass er sie nicht nur bei Pressekonferenzen herunterleierte, sondern auch wann immer ihm jemand eine Frage zu einem ähnlichen Thema stellte. Er fühlte sich dann immer wie ein Roboter. Aber es zahlte sich nie aus, Hren zu verärgern. »Bel, lassen Sie hören.«

»Es liegen zwei Seiten mit verschiedenen Statements vor«, sagte Bel. »In diesem Fall solltet Ihr sagen, dass Ihr die Glückwünsche dankend annehmt und stolz seid, die Allianz zum Gedenken an Euren verehrten Cousin, Ihro Prinzliche Hoheit Taam, weiterzuführen.«

»Was ist mit Jainan? Sollte ich Jainan nicht erwähnen?«, fragte Kiem. »Irgendeine Art Kompliment oder so?«

»Kiem«, sagte Hren geduldig. »Er ist ein diplomatischer Abgesandter und keiner von deinen Groupies.«

»Ich dachte nur …«

»Hör zu. Jainan weiß ganz genau, dass es sich um ein politisches Arrangement handelt, und erwartet keine Schmeicheleien. Ich habe mit ihm geredet.«

Beim Ausdruck politisches Arrangement zuckte Kiem zusammen. Vermutlich sollte er sich seine bevorstehende Hochzeit nicht wie eine feindliche Ratsversammlung vorstellen. Doch einmal im Kopf wurde er dieses Bild nur schwer wieder los. »Richtig.«

»Dein Image muss sich nun, da du heiratest, grundlegend verändern. Verstanden?«

»Ich hab mich doch gebessert«, protestierte Kiem. »Es gibt kein Problem mit meinem Image.«

»Ja, genau. Das habe ich schon mal gehört«, sagte Hren. »Damals, als du und deine Freunde mit dieser Eismaschine die Schule überflutet habt.«

»Ich war fünfzehn«, verteidigte sich Kiem.

»Und dann noch mal, als du dein Taschengeld für sechs Monate bei einer Wette verloren hast. Du hast behauptet, du könnest auf den Dom des Schreins klettern, und einer deiner Freunde hat die Presse informiert.«

»Ich war siebzehn«, sagte Kiem, aber das half ihm nicht weiter. »Ich hab damals noch nicht verstanden, was Geld wert ist.« Das klang sogar noch übler. Er hatte sowohl seitens der Presse als auch des Reichsoberhaupts ein Riesendonnerwetter über sich ergehen lassen müssen, was irgendwie noch schlimmer gewesen war als sein gebrochener Knöchel. »Ich weiß, dass ich lauter Mist gebaut habe. Aber das ist doch alles schon Jahre her.«

»Dann hast du dich während deiner Collegezeit für diese Game Show beworben und wir mussten das Studio förmlich dazu zwingen, die Aufnahmen zu löschen.«

Dafür hatte Kiem keine gute Entschuldigung parat. Hren streckte seinen Daumen in Kiems Richtung, um die nächsten Punkte zu unterstreichen. »Keine weiteren Enthüllungen. Keine weitere Bildserie über deine letzte Sauftour und den anschließenden Kater. Bis zum Vereinigungstag bleibt weniger als ein Monat und entsprechend eben so viel Zeit, um der Öffentlichkeit diese Ehe zu verkaufen. Wenn die verdammte Resolution die Einzelheiten des Abkommens überprüft, bezieht sie die öffentliche Meinung in ihre Entscheidung ein. Apropos, du musst genauer hinschauen, mit welchen Stiftungen du künftig zusammenarbeitest, verstanden? Keine Politik.«

»Wir sammeln Geld für wohltätige Zwecke. Da geht’s nicht um Politik.«

»Ich sage dir, worum es nicht geht – nämlich nicht darum, bloß in die verdammte Kamera zu grinsen«, sagte Hren. »Selbst wenn uns die theanischen Einfaltspinsel wohlig warme Gefühle entgegenbringen würden – was sie nicht tun –, wäre es immer noch schwierig, ihnen einen Todesfall und schnelle Wiederheirat zu verkaufen. Ich brauch etwas, das selbst den Außenbezirken keinerlei Angriffspunkte bietet. Was soll das mit dem weiteren Zimmer?«

Kiem brauchte kurz, um sich daran zu erinnern, worüber er und Bel soeben gesprochen hatten. »Nichts Wichtiges«, sagte er. »Jainan wird Raum für sich brauchen. Aber ich weiß, dass es nicht gut aussieht, wenn wir nicht zusammenleben. Wir werden hier nur ein bisschen umbauen, noch ein Schlafzimmer einrichten …« Er bemerkte Hrens Gesichtsausdruck und brach ab.

»Noch ein Schlafzimmer einrichten?«, wiederholte Hren. »Hast du dieser Ehe nun zugestimmt oder nicht? Willst du, dass die theanische Presse schon Geschichten über ihr Scheitern verbreitet, ehe die erste Woche rum ist? Da können sie schön was rausziehen, das Ganze mit den Schwachpunkten in der Allianz mit Thea in Verbindung bringen und gleich noch paar von diesen verfluchten Teenagern auftreiben, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass Proteste gegen die Vereinigung gerade das neue große Ding sind. Keine Umbauarbeiten!«

»Ich … was? Du kannst doch nicht von ihm verlangen, dass er das Bett mit mir teilt.«

»Gefällt er dir nicht? Zu schade. Komm drüber weg!«

»Darum geht’s doch gar nicht!«, sagte Kiem. »Er hat gerade seinen Partnermenschen verloren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht will! Heiraten, meinetwegen, aber nicht miteinander schlafen.«

»Wenn du anfängst, hier neue Schlafzimmer einrichten zu lassen, wird das irgendein Handwerker den Newslogs stecken«, sagte Hren. »Das kannst du schon mal vergessen. Dank dir, deinen Freunden, deinen ehemaligen Kommilitonen und jedem bis hin zur Putzkraft an deiner Universität verfüge ich über detaillierte Informationen zu jedem schwachköpfigen Groupie, mit dem du jemals in die Kiste gehüpft bist …«

»Hey«, beschwerte sich Kiem. »Das waren keine Schwachköpfe.«

»… was nur ein kleiner Teil des Wissens ist, das ich dank meines Jobs erlangt habe und mir am liebsten mit einem Industrielaser aus dem Kopf schneiden will. Das hast du dir selbst eingebrockt. Die Newslogs erwarten Einzelheiten über dein Sexleben. Du bist Freiwild. Macht hinter verschlossenen Türen, was immer ihr wollt. Aber du wirst jedem glaubhaft versichern müssen, dass du und der Theaner glücklich verheiratet seid.«

»Was in meinen Räumlichkeiten passiert, ist privat«, sagte Kiem verbissen. »Nichts dringt nach außen. Und außerdem geht dich das überhaupt nichts an.«

»Dieser Palast hat mehr Lecks als ein Abwasserrohr auf einem Müllschiff.« Hren sah flüchtig zu Bel hinüber.

Kiem kniff die Augen zusammen. »Bel ist diskreter als jedes einzelne Mitglied deines Pressestabs.«

»Ich kann immer jemanden für dich finden, der noch verlässlicher ist«, sagte Hren und Kiem wurde klar, dass er erpresst wurde. Hren hatte einen guten Draht zum Reichsoberhaupt und somit einigen Einfluss auf die Einstellungsentscheidungen. Technisch gesehen wurde Bel vom Palast bezahlt. Mitglied der kaiserlichen Familie hin oder her, Kiem hatte dem nichts entgegenzusetzen. Er musste Bel nicht ansehen, um zu wissen, dass das auch ihr bewusst war. Hren war nie so weit gegangen. Bisher hatte es sich aber auch nicht gelohnt, Kiem zu erpressen. Mit einigem Unbehagen spürte Kiem, dass er eine Art unsichtbare Linie überquert hatte und sich nun in einer ganz anderen politischen Welt befand als noch tags zuvor.

»Keine Umbaumaßnahmen«, bestätigte Kiem. »Aye!«

»In Ordnung. Dann geb ich jetzt deine Presseerklärung an die Journalisten raus.« Kiem überlegte einzuwenden, dass er sie noch nicht mal gelesen hatte. Doch er wusste, dass er gerade keine passenden Argumente vorzubringen vermochte. Hren stand auf. »Hämmer’s dir bis morgen ein. Ich seh dich dann bei der Unterzeichnungszeremonie.«

Kiem brachte ihn zur Tür. Erst nachdem er die Tür geschlossen hatte, wandte er sich zu Bel um, warf die Hände in die Höhe und sagte: »Wieso ist jetzt alles irgendwie noch schlimmer?«

Es wurde noch schlimmer. Früh am nächsten Morgen kam der Haushofmeister vorbei und überbrachte das Programm für die Zeremonie sowie eine todlangweilige Liste von Details, die Kiem absegnen musste. Kaum hatte er sich durchgearbeitet, kamen die ersten Glückwunschanrufe.

Die meisten stammten von Leuten, die er kaum kannte. Diejenigen, die ein Interesse an der Allianz mit Thea hatten, waren bisher noch nicht mal ansatzweise mit seinem Leben in Berührung gekommen: Adlige, die jenseits des Palastes wohnten, über außerplanetarische Volksvertreter bis hin zu hochrangigen Bürokraten. Der theanische Präsident rief an. Der Sekretär aus dem Büro für Angelegenheiten des Imperiums rief an. Kiem nahm die Anrufe im formellen Videostuhl in seinem Arbeitszimmer entgegen, wo die Sensoren ein frei stehendes Abbild von ihm projizierten. Jedes Mal wenn eine neue Person vor ihm auftauchte, spürte er riesiges Unbehagen. Der Beraterstab meldete sich aus einem ihrer Meetings, darunter seine Cousine, Ihro Prinzliche Hoheit Vaile. Mit schon fast bedrückender Aufrichtigkeit gratulierten ihm alle nacheinander. Vaile schenkte ihm allerdings lediglich ein gequältes Lächeln. Hier und da versuchte Kiem von seiner Presseerklärung abzuweichen. Doch mitten im Gespräch mit dem Konsul von Eisafan wurde ihm klar, dass Ich bin sehr glücklich auch nicht passender war. Jainan war es todsicher nicht.

Nach dem zwölften Telefonat war er so verzweifelt, dass er den folgenden Anrufer abwies. Er tippte auf dem Nahrungsmittelspender herum und brachte ihn dazu, ein Sandwich herauszurücken, das nicht im Menü stand. Er brauchte jetzt einfach ein leckeres Trostpflaster. Er besorgte für Bel einen Kaffee und schob ihn ihre Richtung, als sie den Raum betrat. Neben ihr schwebte ein transparenter Bildschirm. »Ich bin fix und alle«, sagte er. »Keine Anrufe mehr. Ich bin unterwegs und sammle Geld für den Verein zugunsten pädagogisch benachteiligter Welpen.«

»Den Letzten hier müsst Ihr ohnehin nicht annehmen«, sagte Bel, schaltete ihren Bildschirm aus und nahm den Kaffee. »Graf Jainan wird in zehn Minuten hier sein. Was ist das da auf dem Sandwich?«

»Schokolade«, antwortete Kiem. Genau in diesem Moment piepte Bels Armband. Er stöhnte auf. »Sag mir, dass das nicht schon wieder einer ist«, sagte er, doch Bel hob bereits einen Finger, um ihr In-Ear einzuschalten.

Sie huschte zurück in den anderen Raum und führte eine kurze Unterhaltung. Als sie sich wieder hinauslehnte, hatte Kiem dem Nahrungsmittelspender ein weiteres Sandwich entlockt und fühlte sich rebellisch. »Ich muss mich fertig machen, um Jainan zu treffen, und kann mich nicht den ganzen Tag …«

»Graf Jainans Schwester«, sagte Bel. »Lady Ressid. Werdet Ihr das Gespräch annehmen?«

Kiem schluckte schwer. Seine Mahlzeit blieb ihm beinahe im Hals stecken. Dies war der erste Kontakt mit einer Person, die Jainan tatsächlich kannte. »Leg das Gespräch auf den Videostuhl.« Er saß aufrecht auf dessen Kante und versuchte wie jemand zu wirken, der alle politischen Befindlichkeiten einer überstürzten Heirat vollkommen unter Kontrolle hatte. Es wäre hilfreich, ein Bild zu haben, wie solch eine Person wohl aussah.