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Ein mächtiger Gefangener und eine unfreiwillige Kriegswaffe werden in eine Welt voll brutaler Ambitionen und tödlicher Verschwörungen gestürzt. Ihr Überleben hängt von ihrer Verbindung ab. Und diese Verbindung wird das Schicksal von Welten verändern! Tennalhin Halkana – ein reicher Salonlöwe, ein unverbesserlicher Casanova und eine wandelnde Katastrophe – wird dabei erwischt, wie er seine telepathischen Kräfte für illegale Aktivitäten einsetzt. Das Militär beschließt, seinen Geist an jemanden zu binden, dessen Kräfte stark genug sind, um ihn zu kontrollieren. Die Wahl fällt auf Lieutenant Surit, der Sohn eines in Ungnade gefallenen Generals. Aus dem verzweifelten Bedürfnis heraus, den Lebensunterhalt seiner verbliebenen Familie zu sichern, willigt Surit ein, sich an Tennal zu binden und ihn in der Armee zu halten – eine Aufgabe, die selbst für jemanden mit Surits Fähigkeit, Gedanken zu kontrollieren, unmöglich erscheint. Tennal will einfach nur fliehen, doch Surit ist nicht das, was er zu sein scheint. Und ihre Verbindung könnte der Schlüssel zu ihrer Freiheit sein.
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Seitenzahl: 759
Veröffentlichungsjahr: 2024
TEIL I
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
TEIL II
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
TEIL III
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
TEIL IV
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
TEIL V
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
Tennalhin Halkana kam spät zur Party, wie es sich gehörte. Allerdings wäre dies nur dann von Bedeutung gewesen, wenn man ihn eingeladen hätte. Tennal war häufig auf Ärger aus, das stimmte schon. Aber an diesem Abend wollte er nur gemütlich etwas trinken und Spaß haben.
Das war eine Lüge. Er war auch auf der Suche nach einer Person mit Architekturfähigkeiten und diese Party war voll von ihnen.
Besagte Party fand im Penthouse des exklusivsten Hotels der Stadt statt. Es bildete die glitzernde Fassade für einen illegalen Glücksspielring, also gab es hier so einige gefährliche Leute. Doch Tennal hatte bereits vor einiger Zeit aufgehört, darüber nachzudenken, mit wem er sich abgab. Inzwischen ließ sich Tennal von einem Glücksspieltreffen zum nächsten treiben und wirkte dabei immer interessant genug, um eine Daseinsberechtigung zu haben, aber niemals ausreichend involviert, um in ernste Schwierigkeiten zu geraten. Es war ein Lebensstil mit Vor- und Nachteilen. Als Fluchtplan taugte er nur bedingt, doch er konnte ihn so lange aufrechterhalten, wie es nötig war. Er musste sich nur jemandes Architekturfähigkeiten zunutze machen.
Er wollte es nicht riskieren, den privaten Drohnenservice zu benutzen, der die Leute direkt hoch zum Balkon brachte. Stattdessen flirtete sich Tennal am Sicherheitspersonal in der Hotellobby vorbei und betrat den Fahrstuhl, als gehörte er dorthin. Am Eingang zum Penthouse standen keine Sicherheitsleute. Normalerweise ging man nicht ohne Einladung auf solche Partys. Aber Tennal hatte festgestellt, dass es nur sehr wenige Dinge gab, die man nicht tun konnte, wenn es einem egal war, ob man sie vermasselte. Er hatte kein Geld, keine Optionen und nicht mehr viel zu verlieren.
Im Penthouse herrschte ein Durcheinander aus Lärm und niedrigschwelligen sensorischen Vibrationen. Farbige Lampen unter den Tischen und Lichtfasern, die sich wie blühende Blumen in den Ecken wanden, spendeten ein schummriges Licht. Dutzende Leute hatten sich um verschiedene Spieltische, die Bar und die kleineren Tische versammelt, an denen die wichtigen Geschäfte abgeschlossen wurden. Zwischen dem Stimmengewirr und der Musik schwang ein tiefes Dröhnen mit, das einige, die gewisse chemische Substanzen konsumierten, als angenehm hypnotisch empfanden. Ein paar Anwesende waren offensichtlich schon high. Tennal war neidisch.
Aber er behielt recht. Solche mit Architekturfähigkeiten waren da.
Die Frau da drüben mit der goldenen, feuersteinbesetzten Halskette und der Waffe im Holster. Genauso wie der grauhaarige Schlägertyp, der sich gerade übers Buffet hermachte. Und – interessanterweise – auch der überirdisch schöne Mittzwanziger, der wie jemandes Vorzeigefreund aussah. Tennal traf nicht oft auf Menschen, die über diese Fähigkeiten verfügten und in etwa so alt waren wie er.
Allerdings war keiner von ihnen sonderlich gut. Zwar warfen sie an der Bar nicht mit mentalen Kommandos um sich. Doch Tennal konnte es sehen: Wenn man wusste, wonach man suchen musste, waren Architekturmenschen von einer Aura umgeben, wie das Licht, das von einem Stern ausgestrahlt wurde. Die hier leuchteten nur sehr schwach. Vielleicht waren sie in der Lage, das Bewusstsein eines Menschen für einen Sekundenbruchteil zu übernehmen. Jedoch nur, wenn sie sich extrem anstrengten. Tennal suchte nach jemand anderem. Jemand Besserem.
Selbstverständlich würden alle hier Anwesenden mit Architekturfähigkeiten penibel darauf achten, wofür sie ihren mentalen Einfluss nutzten. Benutzte man ihn bei der falschen Person auf der Straße, konnte man mit einer Verwarnung durch die Ordnungshüter rechnen. Doch hier könnte man dafür durchaus erschossen werden. Und immerhin verfügten jene mit Architekturkräften über die akzeptablen mentalen Fähigkeiten.
Tennal war zu nüchtern dafür.
Er setzte sich auf einen der Hocker an der Bar und schenkte diem Barkeeper ein strahlendes Lächeln. »Was gibt’s für lau?«
Auf Veranstaltungen wie diesen gab es eigentlich immer etwas umsonst. Dier Barkeeper hielt inne und beargwöhnte ihn. Offenbar sah Tennal weder reich noch gefährlich genug aus, um hier sein zu dürfen. Doch Tennal ließ sich nicht einschüchtern und schließlich schlitterte über den Tresen ein Pinnchen auf ihn zu.
Fragen kostet nichts. Tennal nickte in Richtung der vielen Unterhaltungen hinter ihm und fragte: »So, und welcher von denen ist der Boss?« Der Boss konnte sich in Sanura auf viele Menschen beziehen. Aber hier drinnen war der Anführer des Glücksspielrings gemeint, derjenige, dem dieses Hotel gehörte. »Mir wurde gesagt, dass er ein Architekt ist.«
Die Hand dies Barkeepers blieb reglos auf dem Tresen liegen. Tennal spürte die Skepsis, die von xiem ausging. Xier fand Tennals Blicks und zuckte mit den Schultern.
Just in diesem Moment tippte Tennal jemand an und er fuhr zusammen.
Er versuchte es zu verbergen und drehte sich um. Er musste solcherlei unwillkürliche Reaktionen dringend unter Kontrolle bringen. Hätte die Legislatorin ihn aufgespürt, hätten ihm ihre Leute wohl kaum freundlich auf die Schulter getippt und ein Gespräch mit ihm angefangen.
Allerdings war das hier nicht viel besser. Eine junge Frau mit einer Schutzweste starrte ihn an, ihre Hand ruhte auf dem Holster an ihrer Hüfte. Sie war wohl die Leibwache einer der anwesenden Personen.
An der Tür stand keine Security, weil jeder sein eigenes Sicherheitspersonal mitbrachte. Wenn sich herausstellte, dass man der Strafverfolgung angehörte, war die Sache ganz einfach: Man verließ augenblicklich die Veranstaltung oder wurde von einem der Bodyguards erschossen. Tennal gehörte nicht zur Strafverfolgungsbehörde, doch hätten die Leute dort gewusst, wer genau er war, und auf ihn geschossen, hätte er ihnen das nicht einmal vorgeworfen.
»Ich glaube nicht, dass Sie eingeladen wurden«, sagte die Leibwache.
Tennal hob die Hände vor den Körper. »Ich bin unbewaffnet. Versprochen. Es sei denn, Sie betrachten drei Taschentücher und eine Packung Neuros als Gefahr – ehrlich gesagt müsste ich mir dann aber auch ganz schön was einfallen lassen.«
Sie starrte ihn unbeeindruckt an. Unter dem kurzen Haar glitzerten Feuersteinohrstecker. »Ich habe Sie schon einmal gesehen.«
Panik durchfuhr Tennal. Sie konnte es nicht wissen. Oder doch?
Tennals Verstand war immer etwas zu offen für das Universum. Er war kein Architekt, denn das hätte sein Leben zu einfach gemacht. Nein, er hatte die inakzeptablen Kräfte abbekommen. Er öffnete seine Sinne weiter, nur ein winziges bisschen, und las ihre Gedanken.
In dem Moment, als er sich öffnete, nahm er sogleich die Gedanken Dutzender Anwesender wahr. Die Party war gut besucht; jede einzelne Person war von einem Lichtschimmer umgeben, der jeweils die individuellen Stimmungen wiedergab. Wenn Menschen mit Architekturfähigkeiten blasse Sterne waren, die Absicht und Einfluss ausstrahlten, war Tennal genau das Gegenteil. Bisher hatte ihm niemand sagen können, wie sein Verstand von außen wirkte. Allerdings hatte er so eine Vermutung: eine beunruhigende Leere, ein schwarzes Loch.
Solang er sich erinnern konnte, hatte Tennal stets das unterschwellige Dröhnen der Gedanken und Gefühle um ihn herum wahrnehmen können. Es fühlte sich wie eine Art Tinnitus an. Wahllose Eindrücke drifteten in seine Richtung, und wenn er sich bemühte, konnte er sie lesen: vage Emotionen, unspezifische Intentionen, nichts wirklich Hilfreiches. Die oberflächlichen Gedanken der Menschen waren jedoch nur selten interessant – jetzt gerade spürte er von der Menge im Raum Hunger, Ärger, Interesse, Langeweile. Das Übliche.
Es war nicht verboten, diese Art von mentalem Hintergrundrauschen zu lesen. Nicht wirklich. Genau betrachtet war es ja kaum mehr als die Interpretation von Körpersprache; er ging nicht tiefer. Tennal konzentrierte sich auf die Leibwache und suchte nach Bedrohung.
Nichts. Weder hatte sie irgendeine diesbezügliche Absicht noch spürte er ein irgendwie gesteigertes Interesse, das darauf hinweisen könnte, dass sie wusste, welcher Familie er angehörte. Sie hatte die Nase voll von ihrer langen Schicht, brauchte dringend eine Pause und Tennal war schlicht paranoid.
»Ich bin nur hier, um den Boss um einen Gefallen zu bitten«, sagte er und lehnte sich gegen die Bar. »Ist das etwa ein Verbrechen?«
Er hätte seine Lesefähigkeiten erwähnen können. Doch das musste er sich für einen Moment aufsparen, in dem es auch sinnvoll war. Zu den Lesemenschen zu gehören – es gab nicht viele von ihnen – ließ ihn skandalös genug wirken, um Interesse zu wecken. Und Licht allein wusste, dass ihn niemand wegen seiner reizenden Persönlichkeit einlud.
Die Wache warf ihm einen extrem unbeeindruckten Blick zu. Tennal hatte kaum jemals einen derart unbeeindruckten Blick gesehen und immerhin kannte er sich mit derlei Blicken bestens aus. »Worum wollen Sie den Boss denn bitten? Drei warme Mahlzeiten und einen Job?« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Theke, um die Aufmerksamkeit dies Barkeepers zu erregen. »Sie sollten’s packen und von hier verschwinden. Ich hasse Leute, die sich in Situationen begeben, denen sie nicht gewachsen sind.«
Dier Barkeeper, dier sie offensichtlich kannte, stellte einen Teller mit Essen vor ihr ab. Tennal wollte gerade Betäubungsmittel aus seiner Tasche holen, hielt jedoch inne. Ja, er hatte bereits seit Tagen einen Kater, und ja, er war komplett aus dem Schlaf- und Essensrhythmus, weil er überhaupt nicht planen konnte. Aber so schlimm sah er ja wohl auch nicht aus. »Mir geht es gut, aber ich weiß Ihre Sorge zu schätzen.«
Sie nahm den Teller, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. »In einer Stunde bin ich wieder im Dienst. Bis dahin sind Sie am besten nicht mehr da.«
»Oder ich könnte dafür sorgen, dass Ihr Boss mich einlädt hierzubleiben«, schlug Tennal vor. Er spürte einen Anflug von Ärger und wusste, dass er richtig getippt hatte: Sie arbeitete für den Gastgeber dieser Party. Das konnte er für sich ausnutzen.
»Licht!«, sagte die Frau zur Decke gewandt, als könnte sie eine göttliche Kraft herbeibeschwören, die ihr zu Hilfe kam und Tennal aus dem Fenster warf. Sie nickte in Richtung Barkeeper. »Besorg ihm was zu essen. Setz es auf die Partyrechnung; Nächte wie diese kosten eh Tausende. Vielleicht wird er wieder nüchtern und haut ab.«
Damit hatte Tennal nicht gerechnet. Er öffnete den Mund, um zu sagen, dass er keine Almosen brauchte – oder zumindest nicht diese Art, kein Mitleid. Doch sie hatte sich schon ihr Sandwich geschnappt und war weg.
Tennal bestellte sich das teuerste Gericht auf der Speisekarte, eine artistische Konstruktion aus mit Blattgold verziertem Gebäck und Früchten. Beim Essen beobachtete er die Menge und suchte nach Hinweisen auf den Boss.
Er sah der Sicherheitsfrau nach, die gerade in die Pause ging, und unternahm noch einen letzten Versuch, sie zu lesen. Er musste vorsichtig sein. Lesen war anstrengend, und falls er tiefer ging als in die obersten Schichten, würde sie es fühlen. Und wenn sie es fühlte, bekäme er eine Menge Ärger.
Doch er nahm nichts wahr als ihr gesteigertes Interesse an einer Gruppe älterer Leute, die sich in einer Ecke des Raums zusammengesetzt hatten, um Karten zu spielen.
Tennal betrachtete den Ort genauer. Die Spielenden sahen wie Veteranen aus; die meisten einflussreichen Leute auf Orshan hatten irgendwann mal im Militär gedient. Ihre Kleidung war dunkel, doch die meisten von ihnen trugen farbige Divisionsdekorationen: metallene Abzeichen, Medaillen, farbige Bänder. Sie hatten einen eigenen Wagen mit Getränken. Als Tennal unauffällig durch den Raum ging und seinen Geist öffnete – er musste schon nahe dran sein, um eine Aura genauer wahrzunehmen –, pulsierten sie wie ein Cluster aus mehreren Sonnen. Er atmete aus. Es ist einer von euch.
Tennal blieb nichts anderes übrig. Es war Zeit für seine letzte Option.
Als er sich dem Spieltisch näherte, hielt ihn niemand auf. In diesem Teil der Party war es leiser und die Atmosphäre etwas privater. Ein paar Hängelampen tauchten das Kartenspiel in ein gelbliches Licht. Die einzige andere Beleuchtung drang von der nächtlichen Skyline durch die Fenster herein. Im Dämmer glitzerte Silberschmuck an Handgelenken und Oberkörpern. Tennal würde Geld darauf wetten, dass es sich hierbei um die Anführer aller Glücksspielringe Sanuras handelte.
Er spürte, dass er beobachtet wurde. Er warf einen kurzen Blick auf die bewaffneten Bodyguards, die ganz lässig in der Nähe des Tischs standen, und sein Verdacht bestätigte sich.
Tennal kam damit klar, gemustert zu werden. Er erwiderte die feindseligen Blicke mit einem freundlichen Lächeln und las die Sicherheitsleute oberflächlich, bis er die Person mit leicht erhöhtem Stresslevel ausmachte. Dies deutete darauf hin, dass sie Teil eines Zweipersonenteams war, aber die Partnerwache gerade Pause machte und sie den Posten nun allein besetzte. Tennal blieb stehen und erkannte den Spieler, den die Sicherheitsperson beobachtete.
Hab den Boss gefunden.
Nicht alle hatten in dieser Runde mitgespielt. Einer von ihnen stand am Getränkewagen. Er war blass, stämmig und teuer gekleidet. An seinem Handgelenk trug er ein Armband mit einem Holzelement, das sein Gender anzeigte, genauso wie der Holzanhänger, der an einer Silberkette um Tennals Hals baumelte. Tennal hätte ihn auch dann nicht links liegen lassen, wenn er kein Architekt gewesen wäre. Doch als er ihn mit seinen Lesesinnen betrachtete, bestand kein Zweifel, dass er ein Architekt war.
Tennal trat an ihn heran und lehnte sich über die Auswahl an Getränken auf dem Wagen.
Er sollte vorsichtig vorgehen. Falls er die richtige Person ausgemacht hatte, beherrschte dieser Mann den Markt für illegale Rennen, den halben Finanzdistrikt und den Waffenhandel. Tennal sollte sich höflich und unauffällig verhalten. Allerdings war er noch nie vorsichtig gewesen und kannte nur wenige Arten, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen.
Er streckte die Hand aus und stieß gegen den Arm des Mannes, der daraufhin sein Glas fallen ließ.
»Hoppla!«, sagte Tennal unaufrichtig. »Lassen Sie mich das für Sie in Ordnung bringen.«
Der Mann ergriff sein Handgelenk, ohne eine Miene zu verziehen. Tennal spürte einen Anflug von Ärger von ihm ausgehen.
Zeit für den Partytrick. Tennal fuhr mit der freien Hand über die großzügige Auswahl importierter Spirituosen und nahm die Flasche, die sich in den Gedanken des Mannes am deutlichsten abzeichnete: eine kleine blaue Flasche mit Schnaps aus destillierten Silberbeeren, die laut Etikett aus irgendeinem Kaff im von den Galaxiern kontrollierten Raum stammte und vermutlich ihr Gewicht in Gold wert war. Tennal fand, dass das Zeug wie Schmieröl schmeckte. Schlechte Wahl für ein Lieblingsgetränk; nun hatte er vom Geschmack des Mannes keine besonders hohe Meinung mehr.
Tennal füllte etwas davon in ein neues Glas, ohne sein Handgelenk aus dem Griff des Mannes zu befreien. »Ich habe gehört, dass Sie Menschen mit Lesefähigkeiten hin und wieder einen Gefallen tun.«
Der Mann ließ sein Handgelenk los. Er lächelte schwach. »Auf der Stelle. Ich tue Menschen mit Lesefähigkeiten einen Gefallen, wenn sie mir im Gegenzug auch einen tun.«
Tennal öffnete seinen Geist und konzentrierte sich auf ihn. Der Mann gab oberflächlich nicht viel preis: Er war nur mäßig interessiert und sah auf alle herab, da er den Raum vollkommen unter Kontrolle hatte. Lesekräfte waren ihm nicht fremd, also dachte er vielleicht, dass er wüsste, wozu Tennal imstande war.
Es gab nur wenige Menschen mit dieser Fähigkeit und sie waren überall verstreut. Zumeist gab das Lesen einer Person nicht viel über die Gedankenwelt preis. Wie jeder andere, der solcherlei Fähigkeiten besaß, war Tennal in der Lage, jemanden oberflächlich zu lesen, wenn er sich konzentrierte. Allerdings bekam er so nur eine vage Vorstellung von den Gefühlen und Absichten der betreffenden Person, und wenn er die Verbindung zu lange offen hielt, bekam er fürchterliche Kopfschmerzen. Selbst das oberflächliche Lesen war illegal, doch recht nützlich, wenn man diskret vorging.
Lesemenschen, die nicht nur an der Oberfläche kratzten, sondern auch tiefer vordringen konnten, galten sogar als außergewöhnliche Anomalie – so sehr, dass einige glaubten, es gäbe sie gar nicht. Womöglich hätte es Tennal mehr genossen, eine Anomalie zu sein, wenn dieser Umstand während seiner Jugend nicht mehrmals beinahe zu einer Verhaftung geführt hätte. Leider war es keine Option, seine tiefgehenden Lesefähigkeiten anzupreisen, weil die Leute es eher bemerkten, sobald man sie einsetzte. Und er wollte sich nicht zu sehr in kriminelle Machenschaften hineinziehen lassen. Er musste vorgeben, gut zu sein, aber nicht zu gut. »Ich könnte Ihnen eventuell von Nutzen sein.«
»Ich arbeite hin und wieder mit Lesemenschen«, sagte der Mann und blickte ihn an. »Doch bevor wir weiterreden, sagen Sie mir eines: Wie gut können Sie sich verteidigen? Ich kann Sie nicht gebrauchen, wenn Sie beim ersten Kontakt mit einem Architekturmenschen gleich allen Ihr Herz ausschütten.«
Tennal setzte ein gelangweiltes Lächeln auf. Er schwang die verzierte Flasche. »Die kommen nur schwer an mich ran«, sagte er. »Wollen Sie, dass ich es Ihnen beweise? Wie wär’s mit einer kleinen Wette?«
Mit nur einem Blick machte der Boss einen Tisch für sie klar. Seine Bodyguards mussten nicht einmal näher kommen. Er bedeutete Tennal mit einer Geste, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Irgendwo weit hinten in Tennals Kopf spukte der Gedanke herum, dass er niemals zuvor so weit gegangen war wie jetzt. Er ging Risiken ein, die er noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten hätte – doch das war schon in Ordnung. Alles war in bester Ordnung. Es musste einfach so sein, denn überall sonst hatte Tennal seine Gastfreundschaft bereits ausgereizt. Wenn er keine Lösung fand, würde er auf der Straße landen. Nach Hause zurückzukehren war keine Option. »Halten wir’s einfach«, sagte Tennal. Er ließ sich nachschenken. »Ich wette mit Ihnen, dass ich es drei Minuten aushalte, dieses Getränk nicht zu trinken. Starten Sie die Uhr.«
Der Boss lachte. »Wenn ich Sie nicht überschreibe, meinen Sie.«
Überschreiben war der informelle Ausdruck für die Kraft der Architekturmenschen, den Geist ihres Gegenübers zum Gehorsam zu zwingen. Die Fähigkeit war besser angesehen als das Lesen, weil man wenigstens merkte, dass es passierte – und es gab so viele verdammte Menschen mit diesen Fähigkeiten, dass man in Exana kaum um eine Ecke biegen konnte, ohne über einen zu stolpern. Tennal hatte nie verstanden, warum dies für die Gesellschaft so viel besser sein sollte als das Lesen. »Wie gut sind Sie?«, fragte Tennal mit genügend Skepsis in der Stimme, um die Frage wie eine Herausforderung klingen zu lassen. Dieser Mann war ganz offensichtlich ein Architekt, da er mit Tennals Lesesinnen betrachtet sehr hell leuchtete. Allerdings hatte Tennal schon Bessere mit der Fähigkeit erlebt. »Probieren Sie es doch aus.«
Der Boss ließ seinen Blick ein weiteres Mal über ihn schweifen. »In Ordnung.« Er sah zu seinem Bodyguard hinüber und tippte auf sein Armband.
Kurz darauf legte der Bodyguard wortlos einen kleinen Schaukasten auf den Tisch. Er hob den Deckel und trat zurück.
Tennal versuchte, sich eine Reaktion zu verkneifen. Es sah absolut harmlos aus: Darin befand sich ein Set aus langstieligen, bauchigen Spirituosengläsern, wie sie in diesem Teil der Welt üblich waren. Darauf prangten die Abzeichen aller militärischen Divisionen. Rot für die Kavallerie, Dunkelgrau für die Infanterie, Gold für die Bogenschützen, Blau für die Vortrupps … das gesamte Dutzend war da, sogar die kleineren Divisionen, die über keinerlei politischen Einfluss verfügten.
»Sie haben die Wahl«, sagte der Boss und beobachtete sein Gesicht genau.
Dies war ein Test. Die ersten Menschen mit Architekturoder Lesefähigkeiten waren vor etwa zwanzig Jahren vom Militär geschaffen worden, also musste jeder in Tennals Alter das Lese-Gen von einem ausgedienten Elternteil geerbt haben. Das bedeutete, dass Tennals Familie mit einer der Divisionen in Verbindung stand: wenn nicht mit der Kavallerie, die gerade die Verantwortung über die Legislatur innehatte, dann vielleicht mit der Infanterie oder der Marine oder einer der anderen Divisionen. Militärpolitik spielte überall auf diesem verdammten Planeten eine Rolle. Man konnte ihr nicht entkommen. Der Mann versuchte herauszufinden, ob sich Tennal zu einer der Divisionen bekennen würde.
Tennal ignorierte das leuchtende Rot der Kavallerie und ergriff wahllos eines der anderen Gläser. Gelb glitzerte zwischen seinen Fingern, als er es über den Tisch schob, um es auffüllen zu lassen. »Drei Minuten«, sagte er. »Versuchen Sie, mich zu überschreiben.«
»Und was wollen Sie, falls Sie gewinnen?«, fragte der Mann.
»Ihnen gehört doch dieses Hotel«, antwortete Tennal. »Die Leute, bei denen ich untergekommen bin, wollen mich loswerden. Ich brauche einen Ort, an dem ich eine Weile bleiben kann.« Er versuchte, die Worte salopp klingen zu lassen. Eigentlich hatte man ihn an diesem Morgen rausgeworfen. Aber das war ein unwichtiges Detail. Tennal mochte das Wort verzweifelt nicht und sah keinen Grund, es auf sich selbst anzuwenden.
»Das ist alles?«
Tennal spürte es. Den ersten Anflug eines Architekturkommandos. Es flackerte am Rande seiner Wahrnehmung wie eine Sonneneruption. Er zeigte keine Reaktion. »Ich will etwas Zeit herausschlagen«, sagte Tennal. Er lehnte sich zurück und hielt das Glas zwischen seinen Fingern. »Warum? Können Sie es sich nicht leisten, mir ein Zimmer zur Verfügung zu stellen? Laufen die Geschäfte nicht gut?«
Der Boss griff an.
Von einem Architekturmenschen überschrieben zu werden, fühlte sich an, als blickte man ohne Schutzbrille in einen Glutofen. Ein grelles Licht drang in Tennals Augen, flutete sein gesamtes Gehirn. Eine blendende Helligkeit, die alle Gedanken beiseiteschob. Wenn Tennal jemanden mit ausreichend starken Architekturfähigkeiten gefunden hätte – oder eine der kleinen Neuro-Enhancer-Pillen geschluckt hätte, die in seiner Tasche lagen –, könnte er sich in die weißen Flammen sinken lassen und sein Gehirn ausschalten. So nervtötend es auch sein mochte, es verschaffte ihm doch eine kleine Pause von sich selbst.
Natürlich war Tennal gerade beinahe nüchtern und seinem Gegenüber mehr als gewachsen. Die Kommandos des Architekten glitten von seinem mentalen Schutzwall ab wie Sonnenstrahlen von einem Spiegel. Voller Ironie eine Augenbraue zu heben wäre wohl einem Selbstmordversuch gleichgekommen. Also betrachtete Tennal stattdessen das Glas in seinen Fingern.
Der Mann versuchte es noch mal. Der Timer zählte unaufhaltsam herunter.
Als die Umstehenden bemerkten, was vor sich ging, wurde es rings um den Tisch totenstill. Der mentale Kampf fand unter absolutem Schweigen statt. Der Boss starrte Tennal an, als könnte er mit purer Willenskraft ein Loch in seine Stirn starren. Tennal schlug ein Bein über das andere und tippte mit den Fingern an das Glas. Das Licht krachte vergebens gegen seinen mentalen Schutzwall.
Der Timer piepte leise.
Tennal blickte dem Boss über den Tisch hinweg in die Augen. »Ich habe gewonnen.« Für einen Moment wurde es gefährlich. Der Mann lehnte sich vor und strahlte große Verärgerung aus. Adrenalin schoss durch Tennals Körper. Er lebte für solche Highs, obwohl ihm bewusst war, dass das keine gute Idee war. Aber wenn er es vermasselt hatte … wenn er doch zu weit gegangen war …
Da gab der Boss nach. Er zuckte mit den Schultern und schnippte zu einem der Umstehenden. »Besorg ihm ein Zimmer. Langzeitaufenthalt.« Er schob den Stuhl vom Tisch zurück und stand auf. »Wir sprechen uns ein anderes Mal.« Dann hielt er kurz inne. »Ihr Akzent klingt nach Exana.«
Es war eigentlich eine Frage. Nicht um Informationen zu bekommen, sondern um zu schauen, was Tennal preisgeben würde, wenn man ihn mit der Nase auf etwas stieß. Er hatte bereits eine Reaktion vorbereitet. »Ich habe das alles ganz offensichtlich hinter mir gelassen«, sagte er. »Warum würde ich mich mit den Politikern abgeben wollen? Ich bin hier, um Spaß zu haben. Immerhin ist das hier die Partyhauptstadt des Planeten, was könnte ich mehr wollen?«
Der Mann lächelte kühl. »Dann hoffe ich mal, dass Sie hier Spaß haben. Viel Vergnügen!«
Tennal spürte deutlich, dass es nun Zeit war zu gehen. Sein Augenblick im Rampenlicht war vorüber. Nun sollte er sich wieder in die anonyme Sicherheit der Masse zurückziehen.
Doch stattdessen stürzte Tennal sein widerwärtiges Getränk hinunter, sah auf und sagte: »Haben Sie nichts Besseres?«
Tennal kehrte in dieser Nacht nicht in sein neues Zimmer zurück. Er versank im Partylärm und später flogen die Drohnen wie Sterne vor den Fenstern vorüber. Ein paar Stunden lang war es in seinem Kopf glücklicherweise still.
Am nächsten Tag wachte Tennal in einem nahezu leeren Penthouse auf. Er hatte einen fürchterlichen Kater und neben ihm lag ein Architekt. Schon wieder.
Als dieser aufstand, bewegte sich das Bett. Tennal machte ein Geräusch und bemühte sich, die Lider zu öffnen. Der Mann von letzter Nacht sagte nichts zu ihm, sondern begann, die Kleidung anzuziehen, die gefaltet neben dem Bett lag: exklusiver Schnitt und teure Stoffe plus ein verschlüsseltes Kommunikationsgerät, das an einer glänzenden Goldkette hing. Tennal hätte sich wohl seinen Namen merken sollen.
»Du siehst scheiße aus, Süßer«, sagte der Boss. »Ich muss dringend telefonieren. Geh du unter die Dusche.« Er versah das Wort Dusche mit einem Architekturkommando, einem mentalen Lichtblitz. Aber es strich an Tennal vorbei wie ein Windhauch an einer Scheibe.
Ein bekanntes Gefühl der Enttäuschung überkam Tennal. Er hatte letzte Nacht ein paar Neuro-Enhancers eingeworfen, um seinen Schutzwall etwas durchlässiger zu machen. Allerdings hatte der Effekt bereits nachgelassen. »Jaja. Bringst du mir noch Frühstück?«
Der Boss lachte in sich hinein. »Weißt du, die meisten Lesemenschen, die für mich arbeiten, haben mehr Taktgefühl. Ich würde nicht mal glauben, dass du einer von ihnen bist, wenn ich nicht gesehen hätte, wie du feierst. Bis später!«
Als der Architekt das Zimmer verließ, stützte sich Tennal auf die Ellbogen. Die Sonne stand bereits hoch über dem Horizont. Durch das Glasdach des Penthouse drang Licht herein: Es sah aus, als hätte letzte Nacht niemand daran gedacht, es auf Opak zu setzen. In der Morgensonne glänzte die Skyline von Sanura.
Tennal fühlte sich wie der Tod auf Latschen. Ein Blister mit Neuros, der die Nacht überlebt hatte, lag neben ihm auf dem Nachttisch; abwesend drückte er eine Tablette heraus. Die Betäubungsmittel hatten keinen Einfluss auf das Denkvermögen, sondern verursachten lediglich ein leichtes Summen, das der Welt die Schärfe nahm. Tennal fragte sich, wie spät es sein mochte.
Nach kurzer Suche entdeckte er sein Armband unter dem Bett. Es blinkte und zeigte einige Fehlermeldungen an; vor ein paar Monaten hatte er jemanden damit beauftragt, es zu knacken und alle Funktionen zu löschen, die die Legislatorin nutzen könnte, um ihn ausfindig zu machen. Natürlich stand Tennal nicht ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Aber je schwieriger es war, ihn aufzuspüren, desto unwahrscheinlicher würde sie sich überhaupt damit befassen. Durch die fehlenden Funktionen war sein Armband eigentlich nur ein überteuertes Zeitmessinstrument und es diente kaum noch zu …
Das Armband piepte. Tennal ließ es fallen.
Es piepte weiter leise vor sich hin und er starrte es an. Das sollte es eigentlich nicht mehr können. Alle Kommunikationsfunktionen waren ausgeschaltet. Angst durchströmte ihn und setzte in seinem Körper Adrenalin frei. Er kniete sich neben sein Armband und hob es auf.
Die dargestellte Projektion war keine Nachricht. Tennal unterdrückte den vom Adrenalin aufgeputschten Teil in sich, der irgendwie gewollt hatte, dass es eine Nachricht war, und sah genauer hin. Offenbar hatte er seine Kalenderfunktionen nicht vollständig abgeschaltet, obwohl er sie bereits seit Monaten nicht mehr nutzte. Eine sich drehende Grafik erinnerte ihn daran, dass seine Schwester demnächst eine Art Event veranstaltete. Er hatte eine Erinnerung daran erstellt, als er noch Nachrichten empfangen hatte. Ihre Abschlussfeier an der juristischen Fakultät.
Tennal setzte sich auf den Boden.
Die Übelkeit, die er mühsam niedergerungen hatte, kehrte mit voller Kraft zurück. Am liebsten würde er wieder ins Bett gehen und nie mehr aufstehen. Aber so würde sich das Problem nicht lösen lassen. Bei allen anderen Studierenden waren mit Sicherheit Teile der Familie anwesend, wenn nicht vor Ort, dann zumindest digital. Zin und Tennal standen den anderen Mitgliedern ihrer Familie nicht besonders nahe. Ihr Gen-Elternteil wäre wohl kaum in der Lage, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, es sei denn, es gäbe bei der posthumen Kommunikation mittlerweile große Fortschritte. Ihm war komplett entfallen, dass Zins Studienabschluss bevorstand, auf den sie Jahre hingearbeitet hatte. Er hatte gar nicht über eine eventuelle Entscheidung nachdenken wollen.
Er schnappte sich sein Armband, warf sich etwas über und stolperte aus dem Penthouse. In den oberen Etagen waren die Spuren der Party letzte Nacht noch deutlich zu sehen, aber wenigstens befanden sich kaum Leute dort. Ein paar Etagen tiefer stieß Tennal auf eine leere Lounge. Er ließ sich in einen Ledersessel fallen, befahl seinem Armband, über dem Schreibtisch eine Projektion aufzurufen, und machte sich daran, den entstandenen Schaden in mühseliger Kleinarbeit zu beheben.
Es war schwierig, denn Tennal wusste nur das, was er von dem Programmierer mitbekommen hatte, der die Funktionen auf seinem Armband deaktiviert hatte. Er wollte keinesfalls die Standorterfassung reaktivieren. Nach gut zwanzig Minuten Suche in den technischen Tiefen des Geräts gelang es ihm, die Stimmenübertragung wieder zum Leben zu erwecken und eine ganz bestimmte Person zu kontaktieren.
Schließlich projizierte sein Armband in Kopfhöhe einen wirbelnden grauen Fleck und er wartete darauf, dass Zin den Anruf annahm. Die kurze Verzögerung verschaffte ihm genug Zeit, um darüber nachzudenken, sich eine weitere Tablette einzuwerfen.
Dann verschwand das Grau und über dem Schreibtisch erschien eine Projektion: eine Sechzehnjährige mit einem kurzen schwarzen Bob, einer grauen Anwaltskluft und einem erschrockenen Gesichtsausdruck. In Tennals Innerem tat sich ein Abgrund auf. Er strich sich das Haar aus dem Gesicht, wünschte sich beim Licht, er hätte geduscht, und sagte: »Hey, Zin!« Einen Moment lang herrschte eine schreckliche Stille. Tennals hübschestes Lächeln sorgte offenbar nicht für den gewünschten Effekt. »Es hat alles geklappt. Guck dich nur an!«
»Tennal«, sagte Zin. »Licht der Führung, wo bist d…« Unverkennbar verkniff sie sich den Rest. Tennal bemerkte, wie sie schluckte. »Ich werd nicht fragen«, sagte sie. »Ist deine Sache. Ich bin froh, dass … ähm … Ich bin froh, dass dein Armband wieder funktioniert.«
Jetzt fühlte sich Tennal noch schlechter. Er erkannte, dass sie um seine Projektion herumzuspähen versuchte, um Aufschlüsse über seinen Aufenthaltsort zu erhalten. Sie ertappte sich dabei und sah ihn wieder an. Sie hatten sich schon früher darüber gestritten, dass er nach Hause kommen sollte. »Ja«, sagte Tennal. »Ich dachte nur, dass ich … na ja. Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut, danke.« Zin senkte leicht den Kopf und fügte hinzu: »Ich bin auf dem zweiten Platz in meinem Jahrgang.« Sie klang wie jemand, der keinesfalls prahlen wollte, aber es gleichzeitig doch unbedingt wollte.
»Na klar«, sagte Tennal. »Du hast nur kurz Hallo gesagt und sie haben dich durchgewunken. ›Schnell, gebt ihr eine gute Note oder sie könnte sich für einen anderen Karriereweg entscheiden!‹«
Das brachte ihm ein kleines Lächeln ein, obwohl sie sich bemühte, ernst zu bleiben. »Ganz genau so ist es abgelaufen.«
»Aber hey, meinen herzlichsten Glückwunsch!« Tennal holte tief Luft. Er musste etwas Aufrichtiges sagen oder es hätte überhaupt keinen Sinn ergeben, sie anzurufen. Aufrichtig konnte er nicht so gut. »Das ist, ähm, du weißt schon. Das ist eine famose Leistung. Ich bin sehr stolz auf dich.« Das auszusprechen klang irgendwie falsch. Doch nach ihrer überraschten Miene und ihrer Art, sich zu geben, wenn sie erfreut war, es aber nicht zeigen wollte, hatte er wohl doch etwas richtig gemacht. Geblendet von seinem Erfolg redete Tennal weiter. »Echt tolle Leistung, besonders für eine Leserin.«
Nun hatte er es doch vermasselt. Sie zuckte zusammen.
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Tennal und versuchte eilig, es herunterzuspielen. »Ich meine, wenn man keine Architekturfähigkeiten hat. Du weißt, dass du den Platz nicht wegen deiner Familie oder … oder deinem Ruf bekommen hast.« Er grub sich gerade selbst eine Grube. Er hörte damit auf, bevor sie noch tiefer wurde.
»Ich weiß«, sagte Zin mit brüchiger Stimme. »Ich weiß, dass du deswegen einen Knacks weghast. Ich will mich nicht so definieren.«
Es war der Tag ihres Abschlusses. Tennal konnte wenigstens diese Worte herauspressen: »Es tut mir leid.«
Zin schluckte und zog an einem ihrer Ohrläppchen, was den Ohrring zum Klingen brachte. »Nein, mir tut’s leid. Ich weiß, dass es für mich … nicht so eine große Sache ist.« Ihre Stimme wurde fester. »Übrigens siehst du schrecklich aus.«
Tennal warf mit einer überschwänglichen Geste sein Haar zurück. »Oh, ich danke dir, Schwesterherz. Doch lass mich dir versichern, dass die letzten fünf Leute, die mich schamlos angegraben haben, anderer Meinung waren.« Er versuchte, denselben schneidenden Tonfall wie zu Hause anzuschlagen, scheiterte jedoch kläglich.
Normalerweise machte sie dann ein übertrieben angewidertes Gesicht und sagte, sie finde ihn schrecklich. Vielleicht schrie sie ihn noch an, dass er damit aufhören solle. Aber sie war nun acht Monate älter als bei ihrer letzten Begegnung und blickte ihn nur unverwandt an.
»Du hast abgenommen«, sagte sie. »Ich werde nicht … bitte bekomm das jetzt nicht in den falschen Hals, Tenn, aber du siehst ausgezehrt aus.«
»Ach ja? In welchen Hals soll ich das denn bekommen?«, erwiderte Tennal. »Ich kann nicht glauben, dass ich dich angerufen habe, um mich beleidigen zu lassen. Schreckliche Familie!«
Zin sprang nicht auf den Köder an. »Versteh es, wie du willst«, sagte sie leise. Ihr Gesichtsausdruck über der grüngrauen Uniform war düster. »Tenn …«
»Ich muss los«, sagte Tennal. »Da kommt jemand. Zu viele Fans, zu wenig Zeit. Du weißt ja, wie das ist. Bis später!«
Er beendete die Verbindung und Zins Abbild verschwand. Sein Lächeln verblasste und er bemühte sich, seinen Herzschlag zu beruhigen. Er hatte ihr keine Angst machen wollen. Allerdings hatte er es im Gespräch mit ihr doch getan – war das etwas, worauf er stolz sein konnte? Er wischte sich mit der Hand über die Stirn und entschied, dass es womöglich keine Rolle spielte.
Er saß lange Zeit einfach nur unbeweglich da. In seinem Kopf summte es. Das war ein neues und aufregendes Katersymptom. Er sollte vermutlich mal etwas essen.
»Sie sind immer noch hier?«
Als ein Schatten auf ihn fiel, richtete sich Tennal kerzengerade auf. Es war die Sicherheitsfrau von letzter Nacht. Im hellen Licht des Morgens ließ sich klar erkennen, dass sie anders als alle anderen nicht gesoffen hatte: Ihr sauberes, scharf geschnittenes Gesicht wirkte aufmerksam und reserviert. »Ihr Zimmer liegt nicht in diesem Stockwerk.«
»Muss meine Batterien aufladen«, erklärte Tennal. »Ist so eine Sache bei Menschen mit Lesefähigkeiten.«
Sie schnaubte. »Stimmt gar nicht.«
Ihre Selbstsicherheit war so gut wie ein Geständnis. Als der Groschen endlich fiel, stutzte Tennal. Er konnte es ihr zwar nicht ansehen, aber: »Du bist eine Leserin.«
»Hundert Punkte«, sagte sie und wandte sich ab, um sich aus dem Getränkespender etwas Wasser zu holen. »Warum, glaubst du, habe ich dich letzte Nacht gewähren lassen? Du warst keine Bedrohung.« Es schien sie kein bisschen zu beunruhigen, dass Tennal in aller Öffentlichkeit jemanden gelesen hatte. Das war der Vorteil an dieser Art Klientel: Niemand rief die Strafverfolgung zu Hilfe.
Eine unerwartete Stille senkte sich über den Raum, lediglich unterbrochen von dem Summen, das Tennals Kater in seinem Kopf auslöste. Seine Gedanken kreisten um einige Dinge, über die er für gewöhnlich nicht genauer nachdenken wollte. Diese Leibwächterin war nicht in der Armee, also war sie selbst nicht neuromodifiziert worden. Entweder ein genetisches Elternteil oder eine Gen-spendende Person musste ein militärischer Architektur- oder ein Lesemensch gewesen sein. Genauso wie Tennals genetisches Elternteil. »Wie gut bist du?« Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig und er brach ab. »Oh. Militärstärke.«
»Nicht soweit es der Regulierungsbehörde bekannt ist«, sagte die Frau. Sie leerte ihr Wasserglas. »Ich wollte dich eigentlich fragen, wie du dem Wehrdienst entgangen bist. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, war es schon keine besonders gute Idee, mich überhaupt mit dir zu unterhalten. Du versteckst dich einfach nur, stimmt’s?«
»Ich stehe nicht auf der Wehrdienstliste«, sagte Tennal. Die Legislatorin hatte ihm nie offen damit gedroht. Ein Lesemensch in der Familie war schon schlimm genug. Ein zwangsverpflichteter Lesemensch wäre sogar noch schlimmer.
»Selbstverständlich nicht«, sagte die Frau. »Sonst wärst du schon längst dort.«
Tennal tippte mit den Fingerspitzen auf seinem kläglichen Armband herum. »Wenn man’s genau betrachtet, ist es doch eh kein Wehrdienst, oder?«, sagte er. »Technisch gesehen müsste man erst das Gesetz brechen, sofern man sich nicht freiwillig meldet.« Das Militär stand Personen mit Lesefähigkeiten offiziell zwar ablehnend gegenüber, hielt die stärksten unter ihnen jedoch für äußerst nützlich. Wenn man stark genug war, reichten überraschenderweise schon die kleinsten Verstöße aus. Anscheinend leisteten Lesemenschen bei der Navigation von Raumschiffen gute Dienste. Allerdings wurde man mit einem Architekturmenschen synchronisiert, damit man zuverlässig blieb – immerhin hatte man ja das Gesetz gebrochen.
Die Frau schnaubte. »Als ob sich irgendjemand freiwillig melden würde.« Sie bewegte den Kopf. »Was ist das für ein Geräusch?«
Tennal realisierte im selben Moment zwei Dinge: Erstens war das Summen keine Begleiterscheinung seines Katers und zweitens war es längst nicht so einfach wie gedacht, die Standortübermittlung auszuschalten.
Bei dieser Erkenntnis verkrampften sich seine Muskeln. Er hätte wissen müssen, woher dieses summende Geräusch stammte, denn er war damit aufgewachsen, dass es im Hintergrund stets zu hören war. Er hatte es deshalb nicht erkannt – er hatte nicht danach Ausschau gehalten –, weil Sanura über keine eigene Militärbasis verfügte.
»Scheiße!«, sagte er. »Das ist ein Swift-47-Motor.«
»Was?«, entfuhr es der Frau.
Tennal war bereits aufgesprungen und hämmerte auf dem Kontrollpanel an der Tür herum. »Du musst hier raus. Vor allem du musst hier raus. Warne alle anderen starken Lesemenschen. Wo zum Henker ist der Feuercode auf diesem Ding?«
Die Frau langte über seine Schulter und drückte auf einen Sensor. »Polizei?«
»Schlimmer«, antwortete Tennal. »Militär.« Er bestätigte Alarmstufe eins: Feuer im Innenraum. »Die Leute sind sicher zu einem Soforteinsatz aufgebrochen, also haben sie noch nicht alle Ausgänge gesperrt. Nimm eine der Feuerrutschen aus dem Treppenhaus des Servicepersonals. Der Standort meines Armbands wird verfolgt, also gehe ich davon aus, dass sie über eines der oberen Stockwerke kommen werden.« Er zog es aus der Tasche. »Ich werde …« Er brach ab. Mein Armband im Penthouse lassen, lag ihm auf der Zunge. Dies war der nächste logische Schritt. Er könnte sich auf dem Weg nach draußen unter die Menge mischen und die Militärs würden wertvolle Zeit damit vertrödeln, sein weggeworfenes Armband zu suchen.
Sprinkler senkten sich von der Decke. Die Frau trat ein paar Schritte zurück und hielt im Türrahmen inne. »Also muss ich mir eine neue Stadt suchen?«
Tennals Gedanken gingen ebenfalls in diese Richtung.
Das Militär würde die gesamte Unterwelt von Sanura auf den Kopf stellen und nach Informationen suchen, wohin Tennal verschwunden war, da sie sich für den Verlust des Objekts ihrer Razzia rechtfertigen müssten. Dabei könnte sie verhaftet werden. Normalerweise machte sich Tennal kaum Gedanken über die Leute, die er hier traf, da sie genauso beschissen waren wie er selbst. Allerdings hegte er überraschend Mitgefühl für eine andere Person mit Lesefähigkeiten. Sie hatte einige schlechte Entscheidungen getroffen und war in diesem Job gelandet. Doch was Tennal hier lostrat, war viel schlimmer.
Aus diesem Grund sollte sich Tennal eigentlich nicht in der Gesellschaft anständiger Leute bewegen.
Scheiße! Er schaltete die Kommunikation an seinem Armband wieder an und steckte seine Faust in seine Tasche. »Vielleicht nicht«, sagte er. »Halt dich ja von mir fern.«
Vor der Tür trennten sich ihre Wege. Ein Teil der Wand hatte sich geöffnet und gab den Blick auf eine rot schimmernde Notfallrutsche frei. Tennal lief daran vorbei und hämmerte auf den Fahrstuhlknopf. In dem Moment, in dem ihm wieder einfiel, dass die Aufzüge bei Feueralarm nicht funktionierten, schaltete sich die Sprinkleranlage im Flur an. Er hechtete mit feuchten Haaren und Schultern in eines der nahen Treppenhäuser und ließ sich ständig neue Namen für den Deppen einfallen, der den Feueralarm ausgelöst hatte. Er hetzte die Treppe hinauf und nahm gleich drei Stufen auf einmal.
Es waren nur fünf Stockwerke bis nach oben, doch es fühlte sich wie zwanzig an. Auf halbem Weg wurde ihm übel. Obwohl er in Panik war, dachte er unwillkürlich: Früher hatte ich mehr Ausdauer.
Er stolperte in das Penthouse, das noch immer leer war. Überall lagen achtlos weggeworfene Becher und Flaschen herum. Tennal hielt sich an der Lehne eines unbequemen Designerstuhls fest und beobachtete, wie die graue Silhouette eines Schwebeflugzeugs immer größer wurde und sich dem Gebäude weiter näherte. Es sah aus, als würde es über den Balkon hereinfliegen. Zwar war die Tür verschlossen, doch das würde sie kaum mehr als zehn Sekunden aufhalten.
Tennal ertappte sich dabei, wie er ganz automatisch auf den Kühlschrank in der Ecke des Raums zusteuerte. Als er bemerkte, was er da tat, zuckte er nur mit den Schultern und nahm sich eine Handvoll Gläser an den Stielen.
Sein Rücken zeigte zum Balkon. Das war gut so. Er goss sich ein Glas Champagner ein und das wilde Klopfen seines Herzens vermischte sich mit dem enormen, umfassenden Krach, den die vier Turbomotoren des Swifts verursachten, der nun kaum mehr als zehn Meter von ihm entfernt war.
Die Motoren wurden heruntergeregelt, der ohrenbetäubende Lärm schwächte sich zu einem tiefen Rumpeln ab und das Flugzeug schwebte etwa auf Höhe des Balkons auf der Stelle. Das war echt guter Champagner.
Als kugelsicheres Glas zersprang, drehte er sich um.
»Zwanzig Minuten, nur um ein paar Scheiben einzuschlagen«, sagte er. »Ein bisschen langsam, nicht? Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?«
Drei Uniformierte seilten sich vom Flugzeug aus auf den Balkon ab. Einer der Militärs brach mit der Schlagbohrmaschine die Tür auf, dann legten sie ihre Gurte ab und traten über das zerbrochene Glas ins Innere des Penthouse. Tennal beachtete die beiden bewaffneten Militärs gar nicht. Sie bildeten lediglich den Hintergrund für die dritte Person.
Es handelte sich um einen Offizier, untersetzt, kahlköpfig und augenscheinlich auf gehobenem Rang. Tennal kannte sich zwar nicht mit Rangabzeichen aus. Doch als er die ganzen Goldborten auf der Uniform sah, schwante ihm Böses. Allerdings spielte der nominelle Rang des Offiziers keine Rolle. In dem Moment, als er den Raum betrat, wurde Tennals Kopf von einem gleißenden Licht geflutet, das selbst das Dröhnen der Motoren zu verdrängen schien. Tennal konnte nichts sehen. Er konnte nicht denken.
Auf dem Planeten gab es nur sehr wenige Rang-eins-Architekturmenschen. Offenbar hatte die Legislatorin einen aufgetrieben, um ihn zu holen.
Das Licht des Kommandos bombardierte Tennal mit dem Impuls, genau dort zu bleiben, wo er war; Tennal zuckte vor dem Licht zurück, das so grell war, als leuchtete ihm jemand mit einer Industrietaschenlampe aus kürzester Entfernung ins Gesicht. Seine Füße konnte er keinen Millimeter bewegen. Er hatte einige Techniken gelernt, mit denen er eine solche Gefahr abwenden konnte. Aber die pochenden Kopfschmerzen bewirkten, dass er sich nicht darauf konzentrieren konnte. »Dann nehme ich mal an, dass Sie keinen Drink möchten«, sagte er. »Sie könnten das nicht zufällig ein wenig runterdrehen …«
»Das ist er«, sagte der Architekt. »Sichert die Ausgänge.« Er wies mit einem Finger auf die Türen zum Flur und zum Badezimmer. Die Militärs teilten sich bereits auf, um sich jeweils vor einer der Türen zu postieren. Sie zielten mit ihren Betäubungspistolen nach außen, um mögliche Eindringlinge abzuwehren, und nicht nach innen, was jedoch nur eine minimale Verbesserung darstellte.
»Nein? Nein, wohl nicht«, sagte Tennal. Er hatte sein Glas mittlerweile geleert. Er stellte es ab, lehnte sich gegen die Tischkante und hob die Flasche auf. »Wie wär’s mit …«
Der Architekt richtete seine volle Aufmerksamkeit auf ihn und Tennals Stimmbänder versagten ihm den Dienst.
»Nein«, sagte der Architekt. Das Kommando erfüllte Tennals Verstand mit einer unerträglichen weiß glühenden Hitze. Seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich. Tennal hatte damit experimentiert, sich aus Spaß überschreiben zu lassen. Doch ihm war entfallen, was ihm ein Architekt auf Rang eins antun konnte. Er hatte vergessen, wie es war, von jemandem überschrieben zu werden, der ohne positive Absicht und ohne jegliche Rücksicht vorging. Während das Kommando durch die Windungen seines Gehirns rauschte und sie leer fegte, empfand er nur einen brennenden Schmerz. Tennals Blickfeld verschwamm an den Rändern. Er hörte bloß noch die dünne und kratzige Stimme des Architekten, die seinen gesamten Verstand ausfüllte. »Stellen Sie das ab und treten Sie vom Tisch zurück, Sen Tennalhin.«
Tennals Arm bewegte sich, noch ehe er das Kommando bewusst wahrgenommen hatte. Seine Muskeln steuerten ihn ungelenk in die Mitte des Raums. Sperr ihn aus, dachte er verzweifelt. Das ist nicht real. Du musst das nicht tun. Doch um sich selbst davon zu überzeugen, musste er seine Verteidigungstricks benutzen, sodass er mehrere unterschiedliche Gedanken zur selben Zeit im Kopf halten musste. Aber mit einem Kater und den Nachwirkungen der Neuros von letzter Nacht war das kaum zu schaffen.
»Na gut. Und jetzt?«, brachte er mühsam heraus. Es war ein richtiger Kampf, die Worte auszusprechen – die volle Aufmerksamkeit des Architekten bewirkte, dass er in der Hoffnung, unbemerkt zu bleiben, am liebsten einfach nur still dagestanden hätte. Allerdings lag das nur an dem Architekten, der versuchte, seine Reaktionen zu kontrollieren. Doch wenn Tennal ein Talent besaß, dann das, sich aus unangenehmen Situationen herauszuwinden. Keinem Menschen mit Architekturfähigkeiten, den er jemals getroffen hatte, war es gelungen, ihn für mehr als ein paar Minuten zu überschreiben, und selbst dieser Rang-eins würde irgendwann nicht mehr so gut aufpassen. »Können Sie meiner Tante nicht einfach ein paar Grüße von mir bestellen?«
Der Architekt schnaubte. »Drehen Sie sich um.« Als ein weiterer Lichtblitz seine Gedanken wegfegte, klappte Tennal der Mund zu. Er drehte sich um und merkte, wie sich um seine Handgelenke scharfkantige Handschellen schlossen.
»Sie wollen wohl kein Risiko eingehen, was?«, sagte Tennal. Es fiel ihm leichter, etwas zu sagen, wenn er sich einredete, dass er sich jetzt erst mal nicht bewegen würde. »Wo soll ich Ihrer Meinung nach denn meine Waffe verstecken? In meiner Socke?«
Der Architekt legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn herum. »Sie sind ein starker Leser«, sagte er. »Ich weiß über Ihre Fähigkeiten Bescheid. Man hat mich umfänglich über Sie informiert. Wenn ich nur den kleinsten Hinweis erhalte, dass Sie versuchen, in die Tiefen meines Geistes oder die eines anderen einzudringen, sediere ich Sie für die Länge der Reise. Verstanden?«
Hinter diesen Worten lag kein Befehl. Also erzählte er die Wahrheit und wusste, dass seine Kommandos keine besonders lange Wirkung entfalteten. Angesichts des Vorwurfs schluckte Tennal einen Anflug von Verbitterung herunter. Es stimmte schon, dass er die Leute um ihn herum oberflächlich las. Aber er hatte es sich nie zur Gewohnheit werden lassen, gewaltsam in die geistigen Tiefen der Menschen einzudringen, zumal dies absolut illegal war. Technisch gesehen war auch das Überschreiben illegal, doch das schien diesen Architekten nicht aufzuhalten. »Selbstverständlich«, sagte Tennal. »Ich überlasse Ihnen die Gehirnwäsche.«
Er sprach die Beleidigung in voller Absicht aus. Die Kommandos der Architekturmenschen wirkten nur für gewisse Zeit und niemand, egal ob er über Architektur- oder Lesefähigkeiten verfügte, konnte jemandes Geist vollständig verändern. Allerdings war die Propaganda der Architekturmenschen zur Beruhigung der Bevölkerung in diesem Punkt besser gelungen. Doch wenn Tennal auf eine Reaktion dieses Architekten gehofft hatte, wurde er enttäuscht. Ein weiteres Kommando schwang in dessen Stimme mit. »Steigen Sie ins Flugzeug und halten Sie den Mund. Ich wurde vom Hauptkommando der Region für diese Sache abgezogen und habe null Bock auf irgendwelchen Bullshit.« Noch bevor der Architekt seinen Satz beendet hatte, stolperte Tennal bereits auf die Landerampe des Swifts zu.
Der Architekt gestikulierte in Richtung der anderen Militärs, damit sie sich auf den Weg machten. Eine Soldatin blieb mit dem Fuß in einem herumliegenden Hemd hängen, das wohl dazu gedient hatte, etwas aufzuwischen, und kam beinahe zu Fall. »Verdammte Scheiße!«, fluchte sie leise. »Das ist keine Aufgabe fürs Militär.«
»Ist wohl eher der teuerste Taxiservice des Planeten«, sagte Tennal über die Schulter nach hinten. »Wo ist mein Platz?«
Im kargen, nur schwach beleuchteten Innenraum des Flugzeugs setzten sie ihn in eine der hinteren Reihen. Der andere Soldat nahm neben ihm Platz, um ihn zu bewachen, obwohl Tennal ja ohnehin nirgendwo hinkonnte. Immerhin gelang es Tennal, einige Minuten lang Tapferkeit vorzuschützen, bevor er in sich zusammensank und die Augen schloss. Der Architekt befand sich gemeinsam mit diem Piloten im Cockpit und hatte, dem Licht der Führung sei Dank, aufgehört, ihn zu überschreiben.
»Sen Tennalhin«, sagte der andere Soldat. »An unserem Zielort werden Sie von unserem medizinischen Personal in Empfang genommen. Ich muss Ihnen für einige Tests etwas Blut abnehmen.«
Tennal streckte ihm seinen Arm hin, ohne die Augen zu öffnen. »Um mich präsentabel zu machen?«
»Über diese Information verfüge ich nicht, Sir«, sagte der Soldat. Doch in seinem Tonfall klang deutlich der Zusatz vermutlich mit.
Ihm stand eine lange Heimreise bevor. Tennal hatte auf dem Weg nach Sanura verschiedene kommerzielle Flugzeuge genutzt, da waren es nur hier und dort mal ein paar Stunden am Stück gewesen. »Hey«, sagte er. »Ich nehme an, dass Sie mich nicht zufällig bei einer … Familienveranstaltung absetzen könnten? Wenn wir richtig auf den Turbo drücken, könnten wir noch an der Abschlussfeier meiner Schwester teilnehmen.«
»Nein, Sir, wir haben bezüglich Ihres Transports genaue Befehle erhalten.«
Sobald der Soldat ihn losließ, bewegte Tennal den Arm. »War ja klar.«
Der Soldat übermittelte die Ergebnisse über das Kommunikationssystem an das medizinische Personal. Wegen des lauten Dröhnens der Motoren bekam Tennal kaum etwas davon mit, was gesprochen wurde. Er hörte nur Alkoholentzugsinjektion und Enhancerentzug und verzog das Gesicht. Dank Entzugsinjektionen war man in kurzer Zeit wieder einsatzfähig, solang man nichts dagegen hatte, sich stundenlang zu übergeben. Sie waren nicht gerade angenehm. »Zwei auf einmal?«, sagte er. Das würde total schrecklich werden.
Er bemerkte, dass die verantwortliche medizinische Person ihn durch die Projektion ansah. Xier verzog das Gesicht, als xier einen Blick auf xiese Notizen warf, als wäre xier überrascht. »Anhand dieser Ergebnisse«, erklang xiese kratzende Stimme, »ist das wohl schon seit einer ganzen Weile nötig.«
Tennal fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Oh«, sagte er. »Dessen bin ich mir bewusst.«
Vier Stunden später rauschten sie in die Hauptstadt. Mit ihren niedrigen Gebäuden erstreckte sich die pittoreske Stadt Exana unter ihnen wie verstreute Mosaikteile. Zwar mochten andere Städte auf Orshans drei Planeten älter, reicher oder eindrucksvoller sein, doch Exana war der Regierungssitz und darüber hinaus Tennals Heimat: Die gewundenen Straßen und gepflegten Gärten waren ein so vertrauter Anblick, dass sie sich wie seine eigenen Venen auf seiner Haut abzeichnen könnten.
Zwischen den alten Militärbaracken hinter den ausladenden Flügeln und Kuppeln des Kodifikationsgebäudes setzte das Flugzeug zur Landung an. Nach weiteren zwei Stunden hatte Tennal all den medizinischen Spaß hinter sich. Mit der Behandlung durch militärisches Medizinpersonal hatte er Erfahrung – seine Tante traute ihnen weit mehr als Zivilisten – und zumindest versuchten sie nicht, Sympathie zu heucheln. Als die Entzugsinjektionen aus seinem Körper raus waren, wuschen sie ihn, steckten ihn in Krankenhauskleidung und übergaben ihn an eine humorlose Militärperson niederen Ranges, die ihn von den Baracken zum Kodifikationsgebäude brachte.
Die Residenz der Legislatorin befand sich gleich daneben in einem kleinen, von Mauern umgebenen Garten. Das gesamte Grundstück lag im Schatten der hoch aufragenden Kuppel. Durch den Garten führte ein schmaler Pfad, vorbei an hohen Büschen mit dunklen, glänzenden Blättern. Bei der Residenz selbst handelte es sich um ein niedriges Gebäude aus vergilbtem Stein. Einst hatten sich auf den Stürzen von Türen und Fenstern geschnitzte Muster befunden, die jedoch mittlerweile verwittert waren. Nun wanden sich blühende Kletterpflanzen darüber und vergruben ihre Wurzelschösslinge im Stein. Die Luft war schwer und stickig.
Tennal wurde von einer Wachperson hineingebeten, die er nicht kannte, und sollte warten. Früher hatte er alle Wachleute beim Vornamen gekannt. So langsam wurde ihm klar, dass acht Monate eine verdammt lange Zeitspanne waren.
Er stand im Empfangsraum und blinzelte. Die Legislatorin war nicht hier.
Die Wände säumten dunkle Bildschirme. Das einzige Licht stammte von einem Objekt in der Mitte des Raums: Es war eine in den Boden eingelassene Karte, die darüber mehrere Himmelskörper projizierte. Die drei Planeten von Orshan schimmerten in der Luft, zwar vergrößert, aber immer noch von der Größe gewöhnlicher Murmeln: Orshan zwei, von ausgedehnten Megastädten bedeckt; Orshan drei, grün und ländlich; und Orshan Central, wo Tennal gerade in Exana den Frühlingsabend genoss. Kurz dahinter lag der riesige galaktische Link – ein wirbelndes Stück Raum, durch das Schiffe in unvorstellbar weit entfernte Gegenden des Alls gelangen konnten. Ihr Tor zum restlichen Universum. Der galaktische Link drehte sich wie ein riesiges Wollknäuel langsam um sich selbst. Wirbelnde Wolken schwebten durch die Luft des Empfangsraums. Tennal fuhr mit den Fingern hindurch und beobachtete, wie sie zu flackern begannen.
In diesem Moment erwachte einer der Bildschirme zum Leben, da ein Anruf einging.
Vielleicht war es Zin. Tennal machte instinktiv eine Geste, um das Gespräch anzunehmen, bis ihm wieder einfiel, dass er ja nicht mehr hier lebte.
Ehe er es ablehnen konnte, tauchte ein Gesicht auf. Bei der Anruferin handelte es sich um eine hochrangige Militärangehörige: Sie war kahl rasiert, strahlte einen gewissen Gleichmut aus und an ihrer Brust prangte das goldene Emblem der Bogenschützendivision. Unter dem Bildschirm war zu lesen: GOVERNOR-GENERAL OMA, LINKSTATION DER BOGENSCHÜTZENDIVISION.
Sie betrachtete Tennal überrascht. »Lässt die Legislatorin jetzt ihre Nachwuchsassistenten ihre Anrufe beantworten?«
»Ich bin Servicetechniker«, sagte Tennal. »Dieses Kommunikationsgerät ist leider kaputt, tut mir leid.« Er hob eine Hand, um die Verbindung zu beenden.
»Warten Sie«, sagte die Chefin der Bogenschützen. Es lag kein Architekturkommando darunter – das wäre über ein Komm sowieso nicht möglich. Aber irgendetwas in ihrer Stimme ließ Tennal innehalten. Sie taxierte ihn von oben bis unten. »Sie müssen der Neffe sein.«
»Keine familiären Verbindungen«, sagte Tennal. »Ich bin nur hier, um das Tafelsilber zu klauen.«
Governor Oma lächelte. Ihr Lächeln sah aus, als nähme man den Deckel von einem Fusionsreaktor; ihr Tonfall erinnerte Tennal an ein Alarmgeräusch im Hintergrund. »Sie dürfen unserer verehrten Legislatorin eine Nachricht übermitteln.«
Zugegebenermaßen hatte Tennal sich keine allzu große Mühe gegeben, um überzeugend zu wirken. »Darf ich das?«
»Sagen Sie ihr, dass ich bis zum Hals in Auseinandersetzungen mit Rebellen stecke«, sagte die Oberbefehlshaberin der Bogenschützen. »Ich kann die Linkstation meiner Division nur dank meiner Truppen halten. Und wenn sie mir noch einen einzigen weiteren Befehl schickt, meine Truppen zu demobilisieren, trete ich zurück.«
»Ich richte es ihr aus«, versprach Tennal, da dies offenbar die einzige Möglichkeit war, das Gespräch zu beenden.
»Vielen Dank«, sagte Oma. Der Screen wurde dunkel.
Tennal trat von den Bildschirmen zurück. Ihm war irgendwie mulmig, so als hätten die politischen Ränke, in die seine Tante verstrickt war, auf seinen Händen einen Rückstand hinterlassen. Er ließ den Raum mit der Karte hinter sich und ging weiter ins Hausinnere. Er war nur hier, bis er sich wieder davonstehlen konnte.
Tennal betrat das Büro, das leer und ruhig war. Um die Bögen, die in den Privatgarten der Legislatorin führten, rankten Clematis. Ihr Duft erfüllte die Abendluft und drang durch die Spalten der hölzernen Läden herein. Es war dämmrig: Das einzige Licht stammte von einer flackernden Öllampe, die im Schrein der Patronin der Führung stand und nun schon beinahe heruntergebrannt war. Tennal ging durch den Raum. Das Geräusch seiner Schritte wurde von den gemusterten Teppichen auf dem Boden gedämpft. Sie hatte die Lampen mal wieder nicht aufgefüllt – das vergaß sie immer und die Bediensteten berührten keinen Schrein, der nicht der eigenen Familie gehörte. Er goss etwas Öl in die flackernde Lampe und füllte die beiden daneben wieder auf. Als er sie mithilfe einer der Wachskerzen entzündete, die neben den Lampen in einem Glas standen, reflektierte das rote Glas das Licht der Flammen. Schon bald flackerten Dutzende Lichter um die Ikonen der Führung darüber.
Tennal löschte die Wachskerze und nahm in einem Sessel Platz. Er fühlte sich ausgelaugt wie ein Kleidungsstück, das man soeben gewaschen hatte. Seine Gedanken waren so klar wie schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Und in seinem Hinterkopf fühlte sich irgendetwas wund an, so als habe jemand darübergeschrubbt. Das machte echt keinen Spaß.
Als im Flur das Licht anging und ein grellweißes Rechteck durch die offene Tür warf, blieb er still sitzen. Eine Gestalt trat durch den Türrahmen und gestikulierte zu dem Panel im Raum. Tennal kniff die Augen zusammen, denn alle Lampen im Raum schalteten sich auf einmal an.
Sie beleuchteten eine schmale Gestalt mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und einer Präsenz wie ein Schwall eiskalter Luft. Offensichtlich kam sie direkt von einem politischen Termin, vermutlich der Synode, denn ihr zivil gehaltenes Oberteil und ihr Wickelrock waren etwas farbenfroher als ihr üblicher Kleidungsstil. In ihren Ohrringen funkelten Diamanten, an ihrem Handgelenk glitzerte ein Feuersteinarmband. Sie hatte erst kürzlich angefangen, Schmuck zu tragen, um die Leute davon zu überzeugen, dass sie Zivilistin genug war, um ihr Amt zu führen.
»Von all den beschissenen neuen Militärs, die ich während ihrer ersten verbockten Missionen kommandieren durfte«, sagte die Legislatorin und stützte ihre Hand auf den Mahagonitisch, »hast du abgründigere und unvorstellbarere Tiefen erreicht, als ich mir je zu erträumen wagte.«
Tennal streckte die Beine aus. »Auch schön, dich zu sehen, Tantchen.«
»Du hast vielleicht Nerven«, sagte sie. »Steh gefälligst auf!«
Es war kein Architekturkommando – obwohl die Legislatorin über starke Kräfte verfügte, war sie dafür bekannt, ihre Fähigkeiten nicht für die Regierungsarbeit einzusetzen. Jedoch war es immer noch ein Befehl. Einen Moment überlegte Tennal, nicht zu gehorchen. Doch er wusste, dass sie ihn dazu bringen konnte, und der Gedanke daran, heute noch mal überschrieben zu werden, ließ sein Inneres rebellieren. Langsam erhob er sich aus dem Sessel.
Die Legislatorin ließ ihren Blick über ihn schweifen. »Das Zittern kommt von den Entzugsinjektionen, richtig?«
»Ich erzittere in Ehrfurcht«, sagte Tennal. »Ich bin neu in der großen Stadt. Hätte nie gedacht, dass ich die Legislatorin mal von Angesicht zu Angesicht treffen würde. Sollte ich mich verbeugen?«
Bevor er damals gegangen war, hätte er ein Treib’s verdammt noch mal nicht zu weit! gehört und sich setzen dürfen. Diesmal wandte sie sich jedoch einfach ab und aktivierte in einem Rahmen an der Wand ein Holofeld. Die ausbleibende Reaktion machte Tennal nervöser, als wenn sie ihn angeschrien hätte.
Er setzte sich langsam wieder hin und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu halten. Er ließ seine Stimme unbekümmert klingen. »Warst du bei Zins Abschlussfeier? Ich wollte mir den Rest noch ansehen, aber deine Leute haben mich nicht aus der Krankenstation gelassen.«
Die Legislatorin würdigte ihn keines Blickes. »Deine Fähigkeit, mir kompletten Blödsinn aufzutischen, während du so tust, als könntest du kein Wässerchen trüben, erstaunt mich immer wieder.« Ein Dokument erschien und das Holofeld wurde milchig weiß. »Ich kann schon verstehen, dass du zu Zinyarys Abschlussfeier kommen wolltest. Du wolltest es sogar so sehr, dass du auf der anderen Seite des verfluchten Planeten abgetaucht bist und von einem bewaffneten Aufspürtrupp wieder rausgeholt werden musstest.«
Auf dem Holofeld war nun eine Karte zu erkennen: Die Projektion einer bekannten Küstenlinie zoomte allmählich auf die Gebäude rund um Sanura. Daneben öffneten sich weitere Dokumente.
Sie alle zeigten Gesichter unterschiedlicher Personen. Tennal war mit mehreren Partyleuten herumgezogen; sie waren alle dabei. Angehörige verschiedener Glücksspielringe, Mittelsleute für illegale Geschäfte, Leute, die einfach nur mit den wichtigen Personen abhängen wollten – in den acht Stunden, seit Tennals Standortanzeige wieder funktionierte, hatte jemand aus dem Stab der Legislatorin eine recht umfangreiche Akte über alle Aktivitäten angelegt, an denen Tennal in den letzten acht Monaten beteiligt gewesen war.
»Kennst du diese Personen?«, fragte die Legislatorin.
Tennal zuckte unverbindlich mit den Schultern. Offensichtlich wusste sie bereits jede Menge. Aber das bedeutete nicht, dass er ihr die Identitäten der Personen verraten musste. »Flüchtig.«
Die Legislatorin vollführte eine Geste. Über der Hälfte der Gesichter glomm ein rotes Licht auf. »Diese hier werden von den lokalen Regulierungsbehörden gesucht. Wusstest du das?« Tennal schluckte. Seine Kehle war plötzlich staubtrocken und er sagte kein Wort. Alle Gesichter bis auf sechs verschwanden. Diese wurden nun vergrößert und rotierten vor einem weißen Hintergrund. »Allerdings sind das nur kleine Fische. Doch diese sechs hier werden von den globalen Behörden wegen mehrerer Vergehen gegen den orshanischen Staat gesucht. Sie stehen in einigen der schlimmsten Verbrecherorganisationen ganz weit oben. Wir haben vier von ihnen aufgrund dieses Berichts verhaften können.«
Unter jedem der Gesichter erschien ein Text. Eintreiben von Schutzgeldern. Geldwäsche. Erpressung. »Mit denen war ich aber nicht befreundet.« Das stimmte immerhin zur Hälfte. Tennal hatte keinem von ihnen wirklich nahegestanden. Allerdings hatte er lange Abende mit den Leuten verbracht, die ihnen nahestanden. Und er kannte die Gesichter. Der Letzte von ihnen war der blasse Architekt, mit dem er in der Nacht zuvor geschlafen hatte.
»Erzähl mir nicht, dass du sie nicht kennst«, sagte die Legislatorin mit sanfter Stimme. »Du hast ihnen in den letzten fünf Monaten geholfen, sich die Taschen zu füllen.«
»Ich habe nicht …«
Die Legislatorin schlug mit der Handfläche auf den Tisch und Tennal zuckte zusammen. »Du hast deine Kräfte für sie eingesetzt«, sagte sie. »Wie eine verfluchte Marionette. Ich weiß, dass du deine Lesefähigkeiten zum Verkauf angeboten hast. Ich bin mir sicher, dass es Spaß gemacht hat, Kriminelle dazu zu bringen, dir einen Gefallen zu schulden. Doch dieser ganze Spaß entstammt der Verbrecherwirtschaft von Sanura. Weißt du, wo die ganzen Glücksspielgewinne landen? Soll ich dir einen kurzen Überblick darüber verschaffen, wo dieser Abschaum überall zugeschlagen hat? Über die ganzen gesetzestreuen Handelsleute, die sie aus dem Geschäft gedrängt haben? Über die Waffen und Drogen und das Spionageequipment, das sie von ihren Gewinnen gekauft haben?«
Tennal versuchte gar nicht erst, ihr eine Antwort zu liefern. Er stützte seine Ellbogen auf die Sessellehnen und legte den Kopf in die Handflächen.
»Und das ist noch längst nicht alles«, fuhr die Legislatorin unentwegt fort. »Das Säuberungsteam hat mehr als ein Dutzend Lesemenschen …«