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Wenn du deinen Freund vor dem Tod rettest, indem du ihm das menschliche Leben nimmst - was würdest du tun? Savannah weiß, dass sie Tristan nicht lieben darf. Sie hat es dem Hohen Rat der Vampire geschworen. Es ist zu riskant. Was, wenn ihr Blutshunger erwacht? Wenn durch sie der Waffenstillstand zwischen den Vampiren und Tristans Familie, dem magischen Clann, zerstört wird? Sie sollte Tristan aus dem Weg gehen. Aber das ist unmöglich, denn jeden Tag sehen sie sich in der Jacksonville High, und wenn sich ihre Blicke kreuzen, will Savannah nur ihn … Noch während sie versucht, sich an ihren Schwur zu halten, stacheln dunkle Mächte einen Krieg zwischen ihren Welten an. Die Gefahr bringt Savannah und Tristan wieder zusammen - aber die Folgen sind unwiederbringlich!
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Seitenzahl: 634
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books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]
Copyright © 2012 by Melissa Darnell Originaltitel: “Covet” Erschienen bei: Harlequin TEEN, Toronto Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l Deutsche Erstausgabe Copyright © 2013 bei MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH Übersetzung: Peer Mavek Copyright © 2015 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Umschlagmotiv: Subbotina Anna/Shutterstock Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel
Veröffentlicht im ePub Format im 12/2015
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733785352
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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1. KAPITEL
Savannah
Der Privatjet des Vampirrates, ein riesiger Kokon aus weißem Leder und exotischen Hölzern, wollte mich mit seinem Brummen in den Schlaf wiegen. Ich lag warm und sicher in den Armen des einzigen Jungen, den ich je geliebt hatte, aber ich konnte meiner Erschöpfung nicht nachgeben. Noch nicht. Uns blieb so wenig Zeit, diese Illusion von Frieden und perfektem Glück zu genießen. Ich musste gegen den Schlaf ankämpfen, solange ich konnte.
Tristan Coleman hatte neben mir schon den Kampf verloren. Er lag wie hingegossen am einen Ende des Sofas, das wir uns in der hinteren Kabine teilten. Obwohl ihm das Kinn mit dem Dreitagebart auf die Brust gesackt war, was eigentlich nicht angenehm sein konnte, umspielte ein leises Lächeln seine Lippen. Seine Arme hielten mich fest umschlungen. Selbst im Traum wollte er mich beschützen.
Dabei hätte ich ihn beschützen müssen.
Wir saßen zwar auf einem weichen Ledersofa, trotzdem musste diese Haltung für Tristan unbequem sein. Immerhin war er, im Gegensatz zu mir, ein Mensch, und sein Körper konnte nicht so viel vertragen. Als ihm vor ein paar Stunden langsam die Augen zugefallen waren, hatte ich ihm gut zugeredet, er solle doch einen Liegestuhl oder zumindest das Sofa für sich allein nehmen und sich richtig ausstrecken. Aber Tristan hatte sich geweigert. Er wollte unbedingt im Sitzen schlafen, damit ich in seiner Nähe bleiben konnte.
Weil ich wusste, was uns erwartete, hatte ich nachgegeben. Es war egoistisch, aber auch ich wollte ihn noch nicht loslassen.
Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn, genauso eigensinnig wie Tristan selbst. Ich strich sie sanft zurück und versuchte den Kontrast zwischen meiner blassen und seiner gebräunten Haut zu ignorieren.
In wenigen Stunden würde ich mir nicht mal mehr diese kleine Berührung erlauben können.
Ich versuchte mir sein Gesicht in allen Einzelheiten einzuprägen. Meist wirkte es fest entschlossen oder blendete alle mit seinem berüchtigten Grinsen. Jetzt erschien es sanft vom Schlaf und dem falschen Glauben daran, dass alles gut sei. Er ahnte ja nicht, welches Opfer ich gebracht hatte, damit der Vampirrat ihn freiließ. Die Vampire hatten meine Selbstbeherrschung mit Tristans mächtigem Clann-Blut voller Magie auf die Probe gestellt. Tristan war in einem Nebenraum mit Handschellen an einen Stuhl gekettet gewesen. Er hatte nicht gehört, welch schreckliches Versprechen ich diesen kalten Wesen geben musste. Und bald würde ich so sein wie sie.
Nachdem wir den Pariser Hauptsitz des Rates verlassen hatten, hätte ich Tristan die Wahrheit sagen können. Aber ich hatte es nicht getan. Zum Teil aus Angst vor seiner Reaktion, aber vor allem, weil ich jeden Moment auskosten wollte, der uns noch zusammen blieb.
Mein Brustkorb verkrampfte sich so, dass ich nicht richtig atmen konnte, und wieder rann eine Träne an meiner Nase herab. Blöde Tränen. Seit wir das Tunnellabyrinth vor dem Sitz des Rates verlassen hatten, musste ich immer wieder weinen.
Und wenn ich daran dachte, was ich zu Hause im texanischen Jacksonville tun musste, damit Tristan in Sicherheit war, bekam ich Angst, dass die Tränen nie versiegen würden.
Eine ganze Reihe absolut logischer und guter Gründe sprach dafür, dass ich für Tristan die Falsche war, dass ich mich einfach an mein Versprechen halten musste, mich nicht mehr mit ihm zu treffen. Vom Kopf her verstand ich das. Warum nur wollte mein Herz es nicht begreifen?
Tristan ließ den Kopf nach hinten sacken und zog mich seufzend näher. Ich hätte mich, zu seiner Sicherheit, losmachen und von ihm abrücken sollen. Aber ein letztes Mal gab ich meinem Herzen nach. Mit geschlossenen Augen schmiegte ich den Kopf an die warme starke Stelle zwischen seinem Hals und der Schulter, die wie für mich geschaffen schien. Als ich tief die Luft einsog, nahm ich noch einen Hauch seines Aftershaves von Freitagmorgen wahr, als er sich zum letzten Mal hatte rasieren können. Darunter witterte ich ganz vage das köstliche und absolut verbotene Clann-Blut, das er für meine Prüfung hatte vergießen müssen. Eine Prüfung, die ich um ein Haar nicht bestanden hätte. Und die ihn beinahe das Leben gekostet hätte.
Ich schluckte schwer und versuchte die gefährliche Erinnerung zu verdrängen.
Bald. Bald würde ich mich an mein Versprechen dem Rat gegenüber halten. Aber … jetzt noch nicht. Ein paar Stunden waren wir in diesem Flugzeug vor den Gesetzen des Clanns und des Vampirrates noch sicher. Einige kostbare Erinnerungen konnten wir noch schaffen, bevor wir auf dem Boden der Tatsachen landeten. So würde ich das Gefühl nicht vergessen, von ihm gehalten und geliebt zu werden. Würde seine Arme um meine Taille nicht vergessen, seine starke Brust unter meiner Wange, das Schlagen seines Herzens. Die Illusion, in seinen Armen sicher zu sein, oder wie er mich mit seinen starken Händen festhielt, als wäre ich ein kostbarer Schatz statt eines Ungeheuers …
„Savannah“, säuselte eine vertraute Stimme wie ein lästiges Moskito an mein Ohr.
„Mmm“, grummelte ich. Ich wünschte, die Stimme würde verschwinden. Im Moment wollte ich nur eine hören, aber nicht diese.
„Savannah, wach auf“, flüsterte Dad etwas lauter, aber immer noch viel zu leise für Tristans menschliche Ohren.
Ich öffnete ein Auge und sah ihn finster an.
„In einer Stunde erreichen wir den Flughafen, und der Pilot hat mich gewarnt, dass wir bei schlechtem Wetter landen müssen. Du solltest deine Großmutter und deine Mutter anrufen.“ Dad streckte mir ein schwarzes Telefon entgegen, auf dem in Goldschrift stand: Nur während des Flugs verwenden.
Nachdem ich das Smartphone angenommen hatte, kehrte Dad zu seinem Liegesitz im vorderen Teil der Kabine zurück.
Um Tristan nicht zu wecken, wollte ich mich aus seinen Armen winden und zum Telefonieren nach vorne zu Dad gehen. Aber bei der ersten Bewegung wachte er auf.
„Tut mir leid“, flüsterte ich. „Ich muss telefonieren. Schlaf wei ter.
„Ist schon gut.“ Er zog mich wieder auf seinen Schoß und streifte meine Nase sanft mit seiner, damit ich ihn küsste. Im letzten Moment wandte ich den Kopf ab, und seine Lippen trafen nur meine Wange. Er lehnte den Kopf zurück und sah mich aus verschlafenen Augen verletzt und verwirrt an.
„Lieber nicht, nicht bevor wir gelandet sind und du Energie tanken konntest.“ Dank der Dämonin Lilith, von der die Vampirart meines Vaters abstammte, konnte ich Menschen durch Bisse und Küsse Energie entziehen. Erst vor Kurzem hatte ich einen eindrucksvollen Beweis dafür bekommen. Hier oben in der Luft hätte ich Tristan mit einem Kuss töten können, obwohl er aus der mächtigsten Hexenfamilie des Clanns stammte. Durch direkten Kontakt mit der Erde konnte er Energie aufnehmen. Nur das hatte ihn vor ein paar Tagen gerettet, nachdem er mich zu lange geküsst und sich danach mit Dylan Williams, einem anderen Jungen aus dem Clann, geprügelt hatte. Hätte ich Tristan nicht ein Stück weiter bis zum Rasen gezogen, wo er Energie aufgenommen hatte, wäre er an jenem Abend vielleicht gestorben.
Er runzelte die Stirn, nickte aber und ließ mich los. Ich setzte mich ans andere Ende des schmalen Sofas und zog die Beine hoch. Sofort legte er seine Hand auf meinen Knöchel. Ich wunderte mich schon, weil er mich seit Stunden kaum loslassen konnte. Ahnte er irgendwie, was der Rat von mir verlangt hatte? Oder war er nach der Prüfung durch den Rat nur nervös und machte sich Sorgen um mich?
Ich legte eine Hand auf seine und tippte mit dem Daumen der freien Hand die Nummer in das Handy ein.
Zu Hause klingelte es viermal, bevor der Anrufbeantworter ansprang. Ich sah auf meine Uhr, die noch auf unsere Zeitzone eingestellt war. Es war zehn Uhr am Sonntagmorgen. Nanna, bei der meine Mutter und ich kurz nach meiner Geburt eingezogen waren, sollte zu Hause sein und sich für die Kirche zurechtmachen. Sie spielte im Gottesdienst Klavier und verpasste keinen Sonntag. Warum ging sie nicht ans Telefon?
Vielleicht war sie gerade in ihrem Zimmer und zog sich an. Ich versuchte es noch einmal. Wieder meldete sich der Anrufbeantworter. Mit einem unguten Gefühl hinterließ ich eine Nachricht.
Als Nächstes rief ich meine Mutter auf dem Handy an. Zumindest musste ich bei ihr nicht überlegen, wo sie war. Wahrscheinlich drehte sie noch ihre Verkaufsrunde als Vertreterin.
Ich erschrak, als Mom sich beim ersten Klingeln meldete. Sie hatte oft kein Netz, wenn sie weit draußen Arbeitsschutzprodukte und Chemikalien an ihre Kunden in der Forstwirtschaft auslieferte.
„Oh! Hallo, Mom. Ich wollte nur sagen, dass es mir gut geht und…“
„Savannah! Gott sei Dank. Ich, wir, deine Großmutter …“ Sie kreischte beinahe. Ihre sonst eher tiefe Stimme ertönte so schrill, dass es mir in den Ohren wehtat. „Ich bin auf dem Heimweg. Aber bis Jacksonville brauche ich noch ein paar Stunden und…“
Meine Hände krallten sich um das Smartphone und um Tristans Hand. „He, Mom, langsam. Was ist los?“ Tristan runzelte besorgt die Stirn und verschränkte seine Finger mit meinen. Dankbar für seine Stärke, drückte ich seine Hand.
„Sav, sie haben Nanna! Sie haben mich angerufen und …“
„Was? Wer hat Nanna?“ Das bisschen Wärme, das Tristan mir gespendet hatte, wich aus meinem Körper. Hatte der Vampirrat sich jetzt meine Großmutter geholt?
„Der Clann. Sie haben mich angerufen und gefragt, wo der Sohn der Colemans ist. Als würde ich das wissen. Aus irgendeinem Grund glauben sie, ihr wärt zusammen. Ich wollte ihnen klarmachen, dass sie sich irren, dass du niemals etwas so Verbotenes tun würdest. Aber sie haben mir nicht geglaubt.“
Mein Gott. Der Clann wusste Bescheid. Bestimmt hatte Dylan erzählt, dass er Tristan und mich Freitagabend nach dem Tanztraining beim Knutschen erwischt hatte.
Ich zog meine Hand auf meinen Schoß zurück. Tristan rutschte stirnrunzelnd vor bis an die Sofakante, stützte die Ellbogen auf die Knie und beobachtete mich.
„Sie haben steif und fest behauptet, er wäre bei dir“, erzählte Mom weiter. „Ich habe gesagt, das könne nicht sein, du seiest mit deinem Vater verreist. Und da sind sie ausgeflippt! Sie haben gesagt, dass sie Nanna haben und sie erst freilassen, wenn wir ihnen den Jungen bringen. Ich wollte sie anrufen, aber sie meldet sich nicht.“
Ach du Scheiße. „Mom, bleib mal dran. Ich gebe dir Dad.“
Dad musste uns von vorne aus zugehört haben, denn er kam sofort nach hinten und ließ sich das Smartphone geben. Während Mom ihm alles erzählte, erwiderte ich Tristans Blick und versuchte die Neuigkeiten zu verdauen.
„Der Clann … hat meine Großmutter entführt“, flüsterte ich. Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da sagte.
„Das würden sie nicht tun“, widersprach Tristan. „Das muss ein Irrtum sein.“
Ich wiederholte Wort für Wort, was meine Mutter gesagt hatte. Am Ende war er blass geworden, und sein Knie wippte so schnell auf und ab, dass höchstens ein Kolibri hätte mithalten können.
„Ich bringe das in Ordnung“, versprach er. „Gib mir das Telefon, dann rufe ich meine Eltern an.“
„Joan, wir landen in einer halben Stunde“, sagte mein Vater. „Ich kläre das und melde mich wieder, wenn es Neuigkeiten gibt.“ Nachdem er das Gespräch beendet hatte, gab er Tristan das Smartphone.
Tristan versuchte es zuerst bei seinem Vater, danach bei seiner Mutter und sogar bei seiner Schwester Emily. Mit finsterem Blick probierte er die Festnetz- und Handynummern weiterer Nachfahren durch. Niemand meldete sich.
„Das verstehe ich nicht. Müssten sie nicht auf deinen Anruf warten?“, fragte ich.
„Ja, eigentlich schon. Es sei denn …“ Er wandte kurz den Blick ab, bevor er mich zähneknirschend ansah. „Es sei denn, sie haben sich schon versammelt und setzen Magie ein. Wenn sie zusammen genug Energie freisetzen, legen sie damit manchmal Radios und Handys lahm.“
„Wieso sollten sie so viel Energie einsetzen?“ Ich hoffte, der Clann würde das bei jedem Treffen machen, vielleicht als eine Art Ritual.
Als Tristan nur stumm meinen Blick erwiderte, drehte sich mir der Magen um.
Es war also nicht normal für den Clann. Was bedeutete, dass sie irgendwas mit Nanna machten…
Beißende Galle stieg mir die Kehle hinauf. Ich konnte Tristan nicht mehr ansehen. Wenn Nanna etwas zustieß, wenn die anderen Nachfahren ihr etwas antaten, um Tristan zu finden, wären wir schuld. Wir hatten die Regeln gebrochen, um zusammen zu sein. Ich hatte gedacht, der Vampirrat sei unsere einzige große Sorge und der Clann könne meiner Familie nicht weiter schaden. Er hatte uns schon ausgestoßen, nachdem meine Mutter vor meiner Geburt meinen Vater, einen Vampir, geheiratet hatte.
Ich hatte mich geirrt. Und jetzt musste Nanna dafür bezahlen.
„Kommt auf eure Plätze und schnallt euch an“, brach mein Vater leise das Schweigen. „Wir landen jetzt.“
Als wir zu unseren Sitzen gingen und uns anschnallten, sah ich weder ihn noch Tristan an. Mit hämmerndem Herzen klammerte ich mich an die Armlehnen.
Bitte lass es nicht zu spät sein, betete ich.
Sobald der Jet gelandet und ein kurzes Stück über die Rollbahn gefahren war, löste ich meinen Gurt und sprang auf. Aber Dad war schneller, er stand schon im gleichen Augenblick neben der Tür. Nachdem er sie geöffnet hatte, klappte die Treppe aus, und wir liefen zu dem Mietwagen hinunter, den er bestellt hatte. Der Himmel war nicht strahlend blau, wie es zum Frühling gepasst hätte, sondern unheilvoll grau verhangen. Sturmwolken verfinsterten die Sonne, fast als ob es schon dämmern würde. Meine roten Haare wurden vom Wind aufgewirbelt, die Strähnen klatschten mir ins Gesicht.
Im Mietwagen setzte ich mich auf den Rücksitz, Tristan folgte mir. Als ich nach seiner Hand greifen wollte, hielt ich inne. Jacksonville lag knapp zehn Kilometer entfernt. Ich hatte dem Rat versprochen, mit Tristan Schluss zu machen, sobald wir zu Hause waren.
Aber noch nicht jetzt. Nicht bevor die Sache mit Nanna und dem Clann geklärt war.
Als ich zögerte, sah Tristan mich stirnrunzelnd an. „Wir bringen das in Ordnung, Sav.“ Er drückte meine Hand.
Ich nickte und versuchte den Kloß in meiner Kehle herunterzuschlucken. Während ich aus dem Fenster sah, raste Dad so schnell Richtung Norden nach Jacksonville, dass mir die Fahrt durch die hügeligen Kiefernwälder vorkam wie ein Trip in der Achterbahn.
Die ganze Fahrt über rang ich stumm mit den Schuldgefühlen, die mich fest im Griff hatten.
Was hatte ich nur getan?
Ich hätte mich nie von Tristan überreden lassen dürfen, mit ihm die Regeln zu brechen. Dann wäre Nanna nicht in Gefahr.
Dabei konnte ich mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, wenn ich Tristans Liebe nie gespürt hätte. Alles, was ich mit ihm erlebt hatte, gehörte jetzt zu mir. Es hatte alles verändert – meinen Blick auf die Welt und die Zukunft, meine Gefühle mir und anderen gegenüber. Mit Tristan fühlte ich mich authentisch, bodenständig und … gut. Als wäre die Tatsache, dass ich zur Hälfte von Vampiren und zur Hälfte vom Clann abstammte, nur eine Äußerlichkeit. Als würde das nichts über mein Wesen sagen und als könnte ich meinen Weg selbst bestimmen, statt andere für mich wählen zu lassen.
Nur stimmte das nicht, denn ich konnte weder ändern noch mir aussuchen, was ich war. Hätte ich etwas anderes geglaubt, hätte ich mich belogen, so wie ich in den letzten sechs Monaten meine Familie belogen hatte, um mit Tristan zusammen zu sein. Deshalb war unsere Beziehung auch falsch, egal, wie sehr wir uns liebten. Unsere Liebe war egoistisch. Sie hatte Tristan fast das Leben gekostet, und jetzt, in diesem Moment, verletzte sie vielleicht Nanna.
Wie hatte es so weit kommen können?
Ich hatte mich immer für einen guten Menschen gehalten, aber in Wirklichkeit war ich durch und durch ein Ungeheuer. Und das nicht nur, weil meine Vampirhälfte die Oberhand gewann. Wie vielen Menschen hatte ich wehgetan? Letztes Jahr hatte ich diese Jungs aus dem Algebra-Kurs und sogar Greg Stanwick, meinen ersten Freund, mit meinem Tranceblick verwirrt. Das ließ sich noch als Unfall entschuldigen. Damals hatte ich noch nicht verstanden, was ich war. Aber die Beziehung zu Tristan war falsch. Das hatte ich immer gewusst, und trotzdem hatte ich mich monatelang mit ihm getroffen. Egal, wie schön es mit ihm war – dafür gab es keine Entschuldigung.
Ich konnte nur hoffen, dass ich genug Kraft und Zeit hatte, um meine Fehler in Ordnung zu bringen.
In Jacksonville angekommen, dirigierte Tristan uns nach rechts auf die Canada Street und an der Highschool vorbei bis zu seinem Haus außerhalb der Stadt. Anscheinend befand sich dort der Zirkel, der geheime Treffpunkt des Clanns, von dem ich heute zum ersten Mal hörte.
Die Grenze zum Grundstück der Colemans konnte ich daran erkennen, dass auf der rechten Straßenseite keine Häuser mehr standen. Wenig später bremste Dad und bog in eine kiesbestreute Einfahrt. Der Weg zum Haus war von einem mächtigen schmiedeeisernen Tor versperrt. Tristan fuhr sein Fenster auf der Fahrerseite herunter, beugte sich hinaus und tippte einen Code in eine kleine Tastatur ein. Langsam glitt das Tor zur Seite.
Am liebsten wäre ich aus dem Auto gesprungen, um das Tor schneller aufzuschieben.
Die lange Auffahrt wand sich zwischen Laubbäumen hindurch, die ich im Dämmerlicht nicht erkennen konnte. Ihre Zweige peitschten im Wind. Regentropfen trafen unsere Windschutzscheibe und das Dach, aber so vereinzelt, dass Dad die Scheibenwischer nicht einschaltete. Hinter den letzten Bäumen beschrieb die Auffahrt einen Kreis vor einer dreistöckigen Villa, in der alle Lichter brannten. Kein Vergleich zu Nannas einstöckigem Haus mit drei Zimmern und einem einzigen Bad.
Mindestens dreißig Autos säumten die Auffahrt vor dem Haus. Wir stellten unseres noch dazu, stiegen aus und folgten Tristan um das Haus herum. Es regnete heftiger; bei dem schwülen Wetter fühlten sich die Tropfen auf meiner Haut erstaunlich kühl an. Als wir den dunklen Garten erreichten, liefen wir los. Es war genau der Garten, in dem Tristan und ich uns in den letzten Monaten so oft in unseren Träumen getroffen hatten. Dann tauchten wir in den noch dunkleren Wald am Ende des Gartens ein. Sofort spürte ich es – dieses vertraute Prickeln wie von tausend Nadelstichen auf Hals und Armen. Autsch. Ein sicheres Zeichen dafür, dass in der Nähe Nachfahren Magie benutzten.
Auch der Wald kam mir sehr vertraut vor. Als würde ich jede Kiefernnadel kennen und wissen, wie sich das federnde grüne Moos unter meinen nackten Füßen anfühlte. Es wuchs überall, bedeckte den Waldboden und zog sich an den Baumstämmen empor. Als ich die Lichtung vor uns sah, wurde mir klar, wo wir waren.
Das konnte doch nicht der Zirkel sein!
Wir waren im Wald aus den Träumen, die ich mit Tristan geteilt hatte. Hier hatten wir uns getroffen, wenn sich unsere Gedanken im Schlaf verbunden hatten. Sogar die Lichtung war fast genau wie im Traum. Der runde, moosbedeckte Platz wurde von dem Bach durchschnitten, neben dem wir getanzt und stundenlang geredet hatten. Aber wo war der kleine Wasserfall, der über Steine geplätschert war und aus dem sich der Bach gespeist hatte? Hatte Tristan ihn dazugedichtet?
An den Bachufern hatten sich unzählige Nachfahren versammelt. Wie riesige Krähen bei der Ernte drängten sie sich zusammen, die Gesichter in den Schatten ihrer blauen und schwarzen Regenschirme verborgen. Hatte meine Mutter Nanna mit ihrem dunklen Regenschirm zu diesen Clann-Treffen begleitet, als sie noch jünger gewesen war? Das hätte erklärt, warum Mom gern in der Forstwirtschaft arbeitete – sie wäre als Kind bei Wind und Wetter durch den Wald zu solchen Treffen gelaufen.
Am Ufer gegenüber hatten Tristan und ich in unseren Träumen auf einer Picknickdecke gesessen und uns unterhalten. Jetzt saß dort Sam Coleman, Tristans Vater und der Anführer des Clanns, auf einem steinernen Thron. Hinter ihm standen Tristans Mutter Nancy und seine Schwester Emily.
Ja, das war auf jeden Fall der Zirkel. Und wir steckten echt in Schwierigkeiten.
Dann sah ich nach oben und schnappte nach Luft. Ein gutes Stück über dem Bach hing Nanna, wie an unsichtbaren Seilen aufgehängt, in der Luft.
2. KAPITEL
Tristan
Savannahs Großmutter Mrs Evans schien bei Bewusstsein zu sein, konnte sich aber nicht bewegen. Der Clann hatte sie erwischt, bevor sie sich anziehen konnte. Ihr langes Baumwollnachthemd umflatterte in Zeitlupe ihre Beine und die nackten Füße wie bei einem Geist. Als Savannah einen Schritt in ihre Richtung machte, ging ein Raunen durch die Reihen der Nachfahren. Savannah blieb stehen und kniff die Augen zusammen, die sich moosgrün färbten. Ein sicheres Zeichen, dass sie richtig sauer wurde.
„Mom, Dad, was macht ihr da?“, rief ich, um den Wind zu übertönen. Ich musste das hier beenden, bevor jemand verletzt wurde.
„Tristan!“, schrie meine Mutter und stürzte hinter Dads Thron hervor. Nach zwei Schritten blieb sie stehen. Während sie Savannah anstarrte, wich ihr freudiges Strahlen Überraschung, Angst und schließlich Entsetzen. „Nein, das kann nicht wahr sein. Tristan, wie konntest du nur? Ich habe ihnen gesagt, du würdest niemals…“
„Weißt du nicht, was sie ist, Junge? Was ihr Vater ist?“ Dads Stimme hallte über die Lichtung. „Sie sind…“
„Ich weiß“, unterbrach ich ihn. „Aber ihr seht doch, dass es mir gut geht. Das hier ist nicht nötig. Lasst ihre Großmutter frei.“
Savannah sah wieder zu ihrer gefangenen Großmutter hinauf. Mrs Evans hatte das Gesicht schmerzverzerrt verzogen, wie zu einem stummen Schrei. Mit Tränen in den Augen streckte Savannah eine Hand nach ihrer Großmutter aus, aber sie konnte nicht mal ihre Füße erreichen.
Das war doch Wahnsinn. Was dachte sich der Clann dabei, eine alte Dame aus ihrem Haus zu zerren und im Nachthemd in den Wald zu schleppen? Mrs Evans hätte uns mit Fug und Recht allesamt verfluchen können, sobald wir sie freiließen.
„Lasst sie runter“, schrie ich wütend.
Der Wind legte sich, aber ein scharfer Ozongeruch versprach Regen.
Dad durchbrach die Stille, die folgte. „So einfach ist das nicht.“
Was?
Verdutzt musterte ich ihn. Dabei versuchte ich herauszubekommen, was in seinem Kopf vorging. So übertrieben formell, wie sein Ton war, sprach er noch als Anführer des Clanns, wahrscheinlich wegen unserer Zuschauer. Aber er lag falsch. Es ging hier nicht um den Clann oder um Vampire. Egal, was passierte, egal, wie mächtig der Clann war, so etwas taten wir einfach nicht.
„Doch, ist es“, widersprach ich. „Diese Frau hat nichts damit zu tun, dass ich verschwunden bin.“
„Wir wissen, wo du warst“, sagte Dad. „Du bist von Vampiren – vom Vater dieses … Mädchens – entführt worden. Und jetzt sag uns die Wahrheit, Junge. Geht es dir gut? Haben sie dir etwas angetan? Was haben sie dich gefragt? Wollen sie unsere Schwachstellen herausfinden?“
Savannah kam einen Schritt näher. „Mr Coleman, die Vampire wollen keinen neuen Krieg anfangen. Sie haben Tristan nur geholt, um mich zu testen. Sie wollten sehen, ob ich gefährlich bin. Und mein Vater hat ihn nicht entführt. Niemand in meiner Familie hatte mit Tristans Verschwinden zu tun.“
„Sie haben mich nicht entführt. Ich bin freiwillig mitgegangen, um Savannah zu helfen.“ Inzwischen war ich verzweifelt genug, um zu lügen.
„Tristan, nicht“, zischte Savannah.
Statt sie anzusehen, blickte ich unverwandt den einzigen Menschen an, der etwas entscheiden konnte: meinen Vater.
Dads Miene verfinsterte sich. „Also hatte Dylan recht. Du bist wirklich mit ihr zusammen.“
Ich antwortete, ohne zu zögern. „Ja. Ich liebe sie.“
Die Nachfahren schnappten nach Luft. Savannah erstarrte. Mir fiel eine Last von den Schultern, von der ich nichts geahnt hatte, und ich musste ein Lächeln unterdrücken. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet. Jetzt musste uns der Clann endlich unsere Freiheit lassen.
Neben unserem Vater schüttelte Emily langsam den Kopf. Dabei verzog sie den Mund, als wollte sie sagen: Ach, kleiner Bruder, jetzt hast du’s aber verbockt.
Ich baute mich breitbeinig auf, verschränkte die Arme und erwiderte ihren Blick. Auch wenn Emily die Ältere war und sich für oberschlau hielt, hatte sie keine Ahnung, wie es war, jemanden so zu lieben und zu brauchen, wie ich Savannah brauchte. Meine Schwester war auf ihre Art in Beziehungen noch schwankender als ich früher. Beim kleinsten Anlass schoss sie Jungs ab. Sie war nie länger als ein paar Monate mit jemandem zusammen gewesen und hatte dafür nie eine Regel gebrochen, weder vom Clann noch überhaupt. Und sie wäre ganz sicher nicht bereit gewesen, sogar den Clann zu verlassen, um bei ihrer großen Liebe zu sein.
Ich war bereit dazu. Und das sollte der Clann jetzt erfahren.
„Wir müssen die Vergangenheit endlich hinter uns lassen“, sagte ich so laut, dass mich alle hörten, nicht nur meine Eltern. „Seit Jahrzehnten herrscht zwischen uns und den Vampiren Frieden. Wie lange muss er noch halten, bis wir unsere alten Vorurteile und Ängste überwinden? Ich liebe Savannah, und sie liebt mich. Und ich würde alles tun, damit ihr begreift, dass wir füreinander bestimmt sind. Wenn es sein muss, verlasse ich sogar den Clann.“
„Tristan!“, rief Mom entsetzt. Dad schoss vor und krallte sich mit seinen Pranken an den verzierten Armlehnen fest.
In der Ferne zuckte ein Blitz. Wenige Sekunden später kündigte Donnergrollen den nahenden Sturm an.
„Er glaubt, dass er mich liebt“, sagte Savannah. „Aber in Wirklichkeit ist alles meine Schuld.“
„Was zum …“ Ich wandte mich zu ihr um. Das hatte ich doch nicht wirklich gehört.
„Sprich weiter“, befahl Dad.
Savannah schluckte schwer und wich meinem Blick aus. „Ich bin zur Hälfte Vampirin. Ihr Sohn hat die ganze Zeit geglaubt, er wäre in mich verliebt, weil meine Vampirseite … na ja, weil ich ihn verhext habe. Ich habe ihn mit meinem Tranceblick angesehen. Er konnte gar nicht anders.“
Sie war verrückt geworden. Erst dem Vampirrat und jetzt dem Clann gegenüberzustehen, hatte sie um den Verstand gebracht. Sie wusste doch, dass der Tranceblick bei mir nicht funktionierte!
„Wusste ich’s doch!“, jubelte eine der Zickenzwillinge. Ich konnte nicht erkennen, ob es Vanessa oder Hope war. „War doch klar, mit ihren komischen Augen.“ Ihre Mutter zischte ihr zu, sie solle still sein.
„Savannah, hör auf“, knurrte ich. Ich ballte die Fäuste, damit ich sie nicht schüttelte, bis sie wieder zu Verstand kam. „Du weißt doch, dass dein Blick bei mir nicht wirkt.“
„Offenbar doch.“ Sie sprach laut weiter, damit alle hörten, was eigentlich nur uns etwas anging. „Warum hast du dich sonst in diesem Jahr plötzlich mit mir verabredet, obwohl der Clann es verboten hat?“
Auch wenn sie zur Hälfte Vampirin war, hatte sie das schlechteste Pokerface aller Zeiten. Sie log uns ganz bewusst an. Aber warum? Nachdem endlich alles herausgekommen war, musste sie sich doch nicht zum Opferlamm machen. Wir hatten es fast geschafft. Wenn wir jetzt zusammenhielten und stark blieben, musste der Clann ein Einsehen haben.
„Du weißt, warum“, sagte ich leise. Ich ging einen Schritt auf sie zu, aber sie wich zurück. „Sav, tu das nicht. Sag ihnen einfach die Wahrheit.“
Sie schüttelte den Kopf. Vor Traurigkeit färbten sich ihre Augen schiefergrau. „Das ist nur der Tranceblick. Du würdest jetzt alles sagen, um mit mir zusammen zu sein.“
„Seht ihr?“, zischte Mom in die Runde, während sie Savannah anfunkelte. „Ich habe euch doch gesagt, dass Tristan nicht freiwillig die Regeln bricht. Sie hat ihn dazu gebracht.“
Savannah nickte. „Ja, habe ich. Und es tut mir sehr leid. Ich konnte meine Vampirfähigkeiten noch nicht einschätzen. Aber nachdem ich weiß, was ich bin und was ich kann, verspreche ich Ihnen …“ Sie musste schwer schlucken.
„Sav, nicht“, bat ich mit zusammengebissenen Zähnen.
Sie richtete sich auf und reckte das Kinn. „Ich verspreche Ihnen, dass ich jeden Kontakt zu Ihrem Sohn abbreche. Wenn Sie versprechen, Nanna und Tristan nicht zu bestrafen. Nanna wusste nicht mal etwas von uns, und Tristan …“
„Nein!“, rief ich. Ihre Worte zerrissen mich innerlich. „Ich wusste, was ich tue. Hört nicht auf sie. Sie lügt, um …“
„Woher sollen wir wissen, dass du dein Versprechen hältst?“, fragte Dad, ohne mich zu beachten.
„Weil …“ Savannahs Stimme kippte. Sie räusperte sich und setzte noch einmal an. „Weil ich dem Vampirrat schon das gleiche Versprechen gegeben habe. Und er wird überprüfen, ob ich mich daran halte. Und Sie sicher auch.“
Sie log. Das konnte nicht wahr sein.
Ich musterte ihr Gesicht. Aber dieses Mal sagte sie die Wahrheit. Ihr zitterndes Kinn, die Tränen in ihren Augen und ihre hängenden Schultern verrieten es deutlich.
Sie hatte Fremden versprochen, dass sie mit mir Schluss machen würde. Schon vor Stunden. Lange bevor wir in Paris in das Flugzeug gestiegen waren. Bevor sie sich an mich gekuschelt, sich in meine Arme geschmiegt und mir sogar dabei zugesehen hatte, wie ich einschlief. Bevor sie so getan hatte, als würde sich endlich alles zum Guten wenden.
Die ganze Zeit hatte sie vorgehabt, mit mir Schluss zu machen. Mich abzuschießen. Und ich hatte es nicht einmal geahnt.
Der Wind kehrte zurück und wirbelte Savannahs lange rote Locken hoch, bis ich ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Die Böen wollten mich umwerfen, aber ich spürte sie nicht einmal.
„Wir stimmen deinem Vorschlag zu“, sagte Dad.
Als er nickte, schwebte Savs Großmutter langsam zu Boden.
Savannah erwartete sie. Ich hätte ihr helfen sollen, Mrs Evans aufzufangen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war starr wie eine Statue, die nur darauf wartete, zu fallen und in tausend Teile zu zerbersten.
Das konnte gerade nicht passieren. Sav und ich waren füreinander bestimmt, für immer. Das wusste sie. Sie liebte mich. Daran hatte ich keinen Zweifel. Sie wählte nur den einfachen Weg und gab dem Druck nach, weil sie nicht erkannte, wie nah wir unserer Freiheit schon waren.
Ich musste das irgendwie verhindern. Ich musste die richtigen Worte finden, um das ungeschehen zu machen.
Mit Mühe schaffte ich einen Schritt, dann einen zweiten und erreichte sie schließlich. „Savannah, tu das nicht. Wir sind doch füreinander bestimmt.“ Ich streckte eine Hand aus und berührte ihren Arm, damit sie mich ansah. „Gib uns nicht auf.“
Sie sah mich immer noch nicht an.
„Savannah“, keuchte Mrs Evans, als die Magie der Ältesten sie freigab. Sie fiel nach vorn, und Savannah und ich fingen sie auf.
Dann packten mich zwei Paar Hände und zerrten mich zurück. Auf Savannah lastete plötzlich das ganze Gewicht ihrer Großmutter, sie fielen zusammen zu Boden.
Sobald ich wieder richtig stand, drehte ich den Kopf und knurrte die beiden, die mich zurückgerissen hatten, an.
Dylan Williams und ein weiterer Nachfahre, der zwei Jahre jünger war als wir. Das hätte ich mir denken können.
„Alter, ich hab dich gewarnt“, raunte Dylan. Unter seinen zu langen blonden Haaren grinste er höhnisch.
Ich fluchte und versuchte mich loszureißen, aber es gelang mir nicht. Offenbar hatten die Ältesten den Jungen mehr Kraft verliehen. Ihre Hände hielten mich fest wie Schraubstöcke.
Ein frischer Windstoß, begleitet von erschrockenen Schreien der Nachfahren, fegte über die Lichtung. Savannahs Vater war aus dem Wald gestürmt und kniete neben seiner Tochter und seiner früheren Schwiegermutter auf dem feuchten Boden.
Um uns herum wurden, wie eine stumme Warnung, Hände gehoben. Ich suchte nach einem Zauber, um Angriffe abzuwehren, aber Savannah war schneller.
Sie streckte die Arme aus. „Nein! Wartet, er ist mein Vater. Er will nur helfen.“
Sie und ihr Vater knieten zu beiden Seiten von Mrs Evans und musterten die angespannten Nachfahren aus grauen Augen.
„Lasst ihn“, sagte Dad. Daraufhin ließen alle die Hände sinken.
Savannah blickte auf ihre Großmutter hinunter. „Nanna, geht es dir gut?“
Zittrig hob Mrs Evans eine knorrige Hand, die Savannah festhielt. In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Strömender Regen ergoss sich über den ganzen Zirkel.
Savannah
Nannas Puls raste und holperte unter ihrer pergamentartigen Haut am Handgelenk. Trotz ihres Alters war sie immer die Stärkste in unserer Familie gewesen. Wann war sie so zerbrechlich geworden?
Ich beugte mich über sie, um sie vor dem Regen zu schützen, der wie eine Strafe der Wolken auf uns niederprasselte. Trotzdem waren wir innerhalb von Sekunden beide durchnässt.
Dad legte kurz den Kopf auf ihre Brust. Dann richtete er sich auf und beugte sich zu mir herüber.
„Ihr Herz ist geschädigt“, raunte er mir ins Ohr. Der Wind versuchte die Worte fortzureißen, bevor sie mich erreichten.
„Ich habe mich zu sehr gewehrt“, flüsterte Nanna so matt, dass ich mich trotz meines Vampirgehörs dicht über ihren Mund beugen musste. „Ich war eine dumme alte Frau. Ich hätte nicht gegen sie ankämpfen dürfen.“
„Jetzt wird alles gut. Dad und ich bringen dich nach Hause.“ Ich wischte ihr den Regen von den Wangen.
Aber Nanna schüttelte den Kopf. „Zu … müde.“ Ihr Griff lockerte sich.
„Jemand muss ihr helfen“, schrie ich den entsetzten Gestalten um uns herum zu. Waren sie so kalt und gefühllos, dass sie eine unschuldige alte Frau einfach so sterben ließen? Sie hatte doch mal zu ihnen gehört!
Der Wind wurde stürmischer und wehte den Nachfahren fast die Schirme aus den Händen. Stolpernd suchten sie zwischen den Bäumen Schutz.
Sie würden nicht helfen.
Dann trat ein Mann in den strömenden Regen. Als er näher kam, erkannte ich Dr. Faulkner, Vater der Zickenzwillinge und Chirurg im örtlichen Krankenhaus.
„Ich bin Arzt. Ich kann helfen.“ Dad machte ihm Platz, und Dr. Faulkner kniete neben Nanna nieder, ohne darauf zu achten, dass seine Hose auf dem Moos nass und schmutzig wurde. Er drückte zwei Finger gegen Nannas Hals und blickte auf seine Uhr.
Der Puls unter seinen Fingerspitzen stoppte.
„Nanna?“ Meine Schreie übertönten den grollenden Donner. Immer wieder schlug ich sanft auf ihren Handrücken. „Nanna!“
Die Zeit blieb fast stehen, und der brüllende Wind schluckte alle anderen Geräusche. Er entriss die Szene der Realität, als würde ich einen Film sehen, statt das hier selbst zu erleben. Mit beiden Händen an Nannas Brustkorb, versetzte Dr. Faulkner ihr einen Energiestoß, dass ihr lebloser Körper zuckte. Tristans Dad sprang von seinem Thron auf, lief wie in Zeitlupe zu uns und versuchte Dr. Faulkner zu helfen. Bei jedem Energiestoß der beiden hob sich Nannas Oberkörper vom Boden und landete mit einem leisen Klatschen auf dem nassen Moos. Ich überlegte fieberhaft, was ich tun konnte, aber der Clann hatte meiner Familie verboten, mir das Zaubern beizubringen. Und weil ich noch keine echte Vampirin war, konnte ich auch nicht Nanna in eine Unsterbliche verwandeln. Nachdem sich der Vampirrat und der Clann solche Sorgen gemacht hatten, was aus mir werden könnte, stand es am Ende nicht mal in meiner Macht, meine Großmutter zu retten. Alles, was ich offensichtlich konnte, war, Zerstörung und die Bedrohung eines neuen Krieges zwischen den Arten auszulösen.
Und dumme Entscheidungen zu treffen, die dazu führten, dass meine Großmutter im Wald lag und um ihr Leben rang, während ein Sturm toste.
Mr Coleman und Dr. Faulkner arbeiteten im Team. Abwechselnd versetzten sie ihr Stromstöße, fühlten nach ihrem Puls und beatmeten sie. Mir ging jegliches Zeitgefühl verloren. Minuten kamen mir vor wie Stunden, während die Männer um sie kämpften, Kleidung und Haare so nass, dass der Regen in kleinen Bächen ihre Arme hinabrann.
Nanna kam nicht wieder zu Bewusstsein.
Irgendwann lösten die beiden ihre Hände von Nannas reglosem Körper. Dr. Faulkner sagte etwas zu mir, aber ich verstand ihn nicht.
„Was?“ Als der traumähnliche Zustand, in den mich der Schock versetzt hatte, nachließ, fühlte ich mich nur noch nass und kalt bis auf die Knochen. Erst jetzt merkte ich, dass sich der Wind gelegt hatte. Das Rauschen in meinen Ohren war nur mein Blut. „Geht es ihr gut?“
Ich beugte mich an Mr Coleman vorbei und tätschelte Nannas kalte Wange, damit sie aufwachte. „Nanna? Hörst du mich? Komm schon, Nanna, du musst aufwachen. Ich muss dich nach Hause bringen und in trockene Sachen stecken. Wach auf, Nanna. Komm schon, wach auf!“
Ihre Augen blieben geschlossen.
Ich kniete mich hinter Nanna, damit ich ihren Kopf und ihre Schultern auf meinen Schoß betten konnte. Noch schlief sie, aber bald würde sie aufwachen. Ich musste nur ihren Kopf anheben, damit sie leichter atmen konnte. Sie brauchte nur noch einen Moment, um zu sich zu kommen.
Ich blickte in den Himmel hinauf, ohne auf die Schar Krähen zu achten, die mit ihren Regenschirmen dastanden. Sie drängten sich immer noch am Rand der Lichtung zusammen. Wenigstens zog der Sturm langsam weiter. Donner und Blitze hatten nachgelassen, und der Regen war kein Wasserfall mehr, sondern fiel nun in einzelnen Tropfen. Das war gut. Jetzt konnte Dad Nanna zum Auto tragen. Wir würden sie nach Hause bringen, unter einer heißen Dusche aufwärmen und in trockene Kleider stecken. Sie würde mir sagen, wie ich ihr den Tee so kochen konnte, wie sie ihn mochte, mit Blättern ihrer selbst gezogener Minze …
Eine schwere Pranke legte sich auf meine Schulter.
Ich sah zu Mr Coleman auf, aber er war so verschwommen, dass ich ihn nicht richtig sehen konnte, obwohl ich oft blinzelte. Nur seinen buschigen weißen Bart erkannte ich.
„Es tut mir so leid, Savannah. Wir haben alles versucht. Aber … sie ist tot.“
„Nein.“ Sie war nicht tot. Sie schlief nur. Wieder fiel Regen auf Nannas Wangen. Die Tropfen sammelten sich in den tiefen Falten neben ihrem Mund, und ich wischte sie fort.
„Savannah, es ist vorbei.“ Dad stellte sich auf die andere Seite von mir. „Wir können nichts mehr tun.“
„Nein.“ Kopfschüttelnd starrte ich Mr Coleman an. Er musste mir doch helfen können. „Mit Ihren Kräften …“
„Wir haben es versucht“, sagte Mr Coleman.
„Dann versuchen Sie etwas anderes!“ Ich wandte mich an Dr. Faulkner. Warum hatten sie alle Nanna aufgegeben? Er heilte täglich Menschen, und er war ein Nachfahre. Er musste ihr doch helfen können. „Sie sind Arzt. Können Sie ihr Herz nicht gesund zaubern?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe es versucht. Aber es war zu spät. Das Gewebe war schon lange geschädigt. Offenbar hatte sie schon seit Jahren Herzprobleme. Hat sie dir etwas gesagt?“
Ich starrte auf Nannas Gesicht, auf ihre Brust, die sich einfach nicht heben und senken wollte. Sie hatte so viele Geheimnisse für sich behalten. Sogar meine Familiengeschichte hatte sie mir verschwiegen, bis ich fünfzehn war.
Aber warum hatte sie das geheim gehalten? Wenn sie es uns gesagt hätte, hätten wir ihr helfen können. Wir hätten ihr das fettige frittierte Essen ausreden oder sie zum Sport animieren können. Für solche Fälle gab es doch Operationen und Transplantationen.
Noch einmal flehte ich Mr Coleman und Dr. Faulkner an. „Aber Sie können sie noch retten. Mit einem Zauber oder …“
Dr. Faulkner schüttelte wieder den Kopf. „Wir können keine Wunder vollbringen. Wir können die Toten nicht zum Leben erwecken. Zumindest nicht mit einer Seele …“
„Dann bringen Sie sie ohne zurück!“ Mir juckte es in den Händen, ihn zu schlagen. Er wollte nur nicht helfen, weil der Clann uns ausgestoßen hatte, weil ich ein Mischling war. „Sie ist meine Großmutter! Sie haben sie umgebracht! Machen Sie schon. Bringen Sie sie zurück!“
„Nein“, sagte Mr Coleman fest. „Das werden wir nicht tun. Die Clann-Gesetze verbieten es, Zombies zu erschaffen. Und mehr wäre sie nicht, nur ein Zombie, ohne Persönlichkeit oder echtes Leben. Nicht mehr als eine lebende Leiche. Willst du das? Würde deine Großmutter das wollen?“
Beinahe hätte ich Ja gesagt, aber das Wort blieb mir im Hals stecken. Nanna wäre entsetzt und wütend gewesen, wenn sie uns gehört hätte. Sie hatte Filme über Zombies scheußlich gefunden und auch keine Bücher über sie gelesen. Selbst wenn der Clann ihren Körper zum Leben erweckt hätte, wäre es nicht wirklich Nanna gewesen.
„Bitte, es muss doch etwas …“, flüsterte ich. Ich starrte auf die winzigen Fältchen in Nannas Lidern und streichelte ihre weichen Wangen. Bis ich merkte, dass sie schon kalt und grau wurde.
Nein. Das durfte nicht passieren. Sie konnte nicht tot sein.
„Es tut mir leid, aber wir können nichts mehr tun“, sagte Mr Coleman leise. „Wenn ich sie dir zurückbringen oder ungeschehen machen könnte, was heute passiert ist, würde ich es tun, das schwöre ich. Aber selbst Nachfahren können nicht alles.“
Also war es vorbei. Mit seiner ganzen angeblichen Macht war der Clann nicht besser als ich. Er konnte Nanna das Leben nehmen, aber sie nicht zurückbringen. Sie war wirklich tot. Ich war zu spät gekommen, um sie zu retten.
Und jetzt musste ich mich verabschieden.
„Nanna“, flüsterte ich. Der Schmerz breitete sich wie bleierne Schwere in mir aus. Ich konnte mich kaum noch rühren. Er stieg in mir auf, erfüllte meine Kehle und brannte in den Augen, bis ich dachte, gleich würde mein Schädel platzen. Hätte ich gestanden, hätte er mich wie eine Flutwelle umgerissen. Aber ich kniete schon, und so krümmte ich mich über meiner toten Großmutter zusammen und rang nach Luft.
Als ich sie in die Arme nahm und an mich drückte, dachte ich daran, wie oft sie mich als Kind auf den Schoß genommen und uns auf ihrem Schaukelstuhl gewiegt hatte. Und wie sie jeden Tag, trotz ihrer knirschenden, altersschwachen Gelenke, genau so im Garten gekniet hatte, um den Kräutern und Gemüsepflanzen gut zuzureden. Nie wieder würde ich meine Großmutter in den Armen halten. Sie hatte mich mit großgezogen und war manchmal eher für mich da gewesen als meine Mutter.
Und jetzt war sie gestorben. Wegen mir.
„Nanna, es tut mir so leid.“ Ich konnte es nicht oft genug sagen. Und wenn ich mich mein ganzes Leben entschuldigen würde, es würde nicht genügen.
„Savannah“, sagte Mr Coleman. „Dein Verlust tut mir schrecklich leid. Mein tiefstes Beileid auch für Jo… deine Mutter. Keiner von uns wollte das. Ich wollte nur meinen Sohn zurückhaben, und wir dachten, deine Großmutter wüsste … Ich hätte nie gedacht …“
Diesem Hünen von einem Mann fehlten die Worte. Als ich den Blick hob, sah ich Tränen in seinen Augen, die Tristans so ähnlich sahen. Sie gaben mir einen flüchtigen Eindruck davon, wie Tristan später werden würde. Aber dann würde ich nicht mehr zu seinem Leben gehören.
Jemand legte seine Hände auf meine und versuchte sanft, meine Finger aufzubiegen. Verwirrt sah ich, dass Dr. Faulkner meine Hände von Nanna lösen wollte.
Von Nannas Leiche. Denn Nanna war nicht mehr hier.
Ich ließ sie aus meiner Umarmung gleiten, und er legte sie auf den Boden. Ich konnte mich nicht bewegen, spürte meine Arme und Beine nicht mehr, nicht mal meine Kleidung und Haare, die klatschnass an mir klebten.
Was sollte ich jetzt tun? Was taten normale Menschen, wenn jemand, den sie liebten, mitten im Wald in ihren Armen starb? Es musste doch einen bestimmten Ablauf geben, Dinge, die jemand erledigen musste. Aber mein Verstand wollte sich mit dieser Frage einfach nicht beschäftigen. Ich wackelte mit den Fingern und merkte, dass ich die Hände in die Erde gedrückt hatte. Als ich sie herauszog, klebten Moos und Matsch an ihnen. Der gleiche Matsch, der an Nannas Rücken klebte.
Nanna hätte das nicht gefallen. Sie hätte nicht gewollt, dass ich schluchzend im Dreck neben ihrer Leiche sitze, vor allem nicht vor den Nachfahren, die sie ausgestoßen und alleingelassen hatten. Sie hätte gesagt, ich solle aufstehen, tapfer sein und meinen Schmerz verbergen. Ihnen zeigen, wie stark wir Evans-Frauen sein konnten. Tun, was getan werden musste, und später allein meinen Gefühlen nachgeben.
Um ihretwillen holte ich tief Luft und versuchte meine Hände an meiner Hose abzuwischen. Allerdings war meine Kleidung auch schon vom Matsch verschmiert. Ich würde meine Hände erst zu Hause richtig säubern können.
Zu Hause. Wo Mom auf eine Erklärung warten würde. Mein Gott. Sie wusste es noch gar nicht …
„Wir helfen dir, alles zu regeln“, versprach Mr Coleman leise, und Dr. Faulkner nickte zustimmend.
Was hätte Nanna jetzt von mir erwartet?
„Ich glaube … sie hätte sich gewünscht, zu Hause im Schlaf zu sterben“, sagte ich zu Dr. Faulkner. „Sie hätte nicht gewollt, dass jeder weiß …“ Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Mit einer Geste deutete ich auf den Schlamm, den Regen und die Grasflecken auf Nannas Nachthemd, das bei ihr immer sorgfältig blütenweiß gehalten wurde.
„Dann schreibe ich es so in die Sterbeurkunde“, antwortete Dr. Faulkner. Er, Dad und Mr Coleman standen auf.
Erst jetzt ließ ich meinen Blick über die Lichtung schweifen und bemerkte das entsetzte Publikum, das jede meiner Bewegungen beobachtete. Viele starrten mich an und tuschelten, als würden sie ein Theaterstück sehen, in dem sie keine Rolle spielten. Empfanden sie wenigstens einen Hauch von Schuld wegen Nannas Tod? Oder war ich hier die einzige Mörderin?
Mr Coleman drehte sich langsam im Kreis, bis alle verstummten. „Wir werden niemals über heute sprechen. Verstanden?“
Die Nachfahren nickten zögerlich. Während sie in kleinen Grüppchen im Wald verschwanden, spürte ich, welchen Widerwillen viele von ihnen verströmten.
„Savannah …“, rief Tristan mit erstickter Stimme. Er wollte zu mir kommen, aber Dylan und ein anderer Junge hielten ihn fest. Fluchend versuchte Tristan, sich loszureißen.
Ein Prickeln auf meiner Haut verriet mir, dass sein Energielevel stieg. Gleich würde Tristan mit Magie gegen die beiden Jungen kämpfen.
„Tristan, hör auf!“ Ich sah seinen Vater an. „Darf ich …“
Nach einem kurzen Blick auf Nanna nickte Mr Coleman.
Wieder durchströmten mich Schmerzen. Fast nahmen sie mir die Luft zum Atmen. In mir schrie eine Stimme, ich hätte schon genug verloren. Ich solle das Stückchen Glück, das mir noch blieb, festhalten. Ich würde es nicht überleben, noch etwas zu verlieren.
Aber ich musste es tun. Ich hatte zwei Versprechen gegeben. Und es war zu seiner eigenen Sicherheit.
Widerstrebend ging ich auf tauben Beinen zu Tristan. Bei jedem Schritt patschte das Moos unter meinen Schuhen. Nachdem der Sturm weitergezogen war, war das Geräusch deutlich zu hören. Viel zu schnell erreichte ich das Ende meiner einzigen wahren Liebe.
Ich wollte mir Tristans Gesicht genau einprägen, jede Linie auf seiner Stirn, die vollen geschwungenen Lippen, die er jetzt vor Wut, Schuldbewusstsein und Angst zusammenpresste, die vom Regen tropfnassen dunkelgoldenen Locken, die sein Gesicht einrahmten. Unsere Umgebung, die ich nur aus den Augenwinkeln wahrnahm, erinnerte mich an alles, was wir in unseren Träumen hier zusammen erlebt hatten. An die vielen Küsse, während wir auf der Picknickdecke gelegen und stundenlang geredet hatten. Die schweren Äste der Kiefern wiegten sich in den letzten Ausläufern des Sturms. Genau so hatte es ausgesehen, als ich mit Tristan barfuß auf dem Moos getanzt hatte. Bei meinem Geburtstag im letzten November hatten in diesen Bäumen tausend Lämpchen gefunkelt. Und ich hatte den erträumten Samtkuchen von Tristans Lippen geküsst.
Jetzt waren wir hier. Wir standen tatsächlich im Wald auf der echten Lichtung und schufen eine neue Erinnerung. Eine, die ich nie loswerden würde, und wenn ich es noch so sehr versuchte.
Als ich den letzten Schritt auf ihn zuging, war er wie erstarrt. „Sav, es tut mir so leid. Ich wollte nicht …“
„Ich weiß“, unterbrach ich ihn. „Mir tut es auch leid. Aber der Rat und der Clann haben recht: Wir sollten uns wirklich nicht mehr sehen. So ist es besser. Sicherer.“
„Nein, Sav …“
Ich drückte meine kalten Fingerspitzen auf seine warmen Lippen. Der Regen rann über sein Gesicht und um meine Finger, wie winzige Bäche Steine umspülten. Ich schloss die Augen. Bei dem, was ich jetzt sagen würde, wollte ich sein Gesicht nicht sehen. Sonst würde ich es vielleicht nicht schaffen, und es musste sein.
Auf Zehenspitzen drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange. Ich schmeckte den Regen auf seiner Haut. Und ich ließ mir Zeit, damit ich neben dem Ozon in der Luft Tristans schwaches Eau de Cologne riechen und ein letztes Mal seine Wärme spüren konnte. Dann wich ich zurück, die Augen immer noch geschlossen. Mit ganzer Macht klammerte ich mich an alldem fest, während ich mich gleichzeitig zwang, ihn gehen zu lassen.
„Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Versuch es bitte gar nicht erst. Es ist die richtige Entscheidung. Irgendwann wirst du es verstehen.“
Ich drehte mich um und ging, bevor er mich umstimmen konnte. Irgendwie schaffte ich es, nicht zurückzusehen, als ich ein letztes Mal unseren Wald verließ.
Dabei wusste ich genau, dass ich mein Leben lang an diesen Tag zurückdenken würde, an die letzten Monate und an jede einzelne Entscheidung, die ich getroffen hatte. Und mich fragen würde: Was wäre passiert, wenn ich stärker gewesen wäre? Wenn ich meinen Gefühlen für ihn widerstanden hätte? Wenn ich mich doch nur an die Regeln gehalten hätte …
Dann hätte Nanna jetzt noch gelebt.
3. KAPITEL
Die nächsten Minuten rauschten an mir vorbei. Ich hockte in Dads Mietwagen, und langsam fraß sich der Schmerz in mich hinein. Irgendwann kam ein Krankenwagen. Er wendete in der Einfahrt und fuhr rückwärts auf das Grundstück der Colemans. Zwei Sanitäter sprangen heraus, luden eine Transportliege aus und trugen sie in den Wald. Nach einer Weile kamen sie zurück, dieses Mal langsamer. Auf der Liege zwischen ihnen bauschte sich ein unförmiger schwarzer Sack auf.
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