Herzbub - Barbara Stewen - E-Book

Herzbub E-Book

Barbara Stewen

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Beschreibung

Die Kriminalsonderermittlerin Elisa Fuchs aus dem Bergischen Land und der Kriminalhauptkommissar Max Teufel, Leiter der Mordkommission in Gelsenkirchen, sind ein starkes Team, haben schon einige Fälle gelöst. In einer frostigen Novembernacht beobachtet Elisa, auf dem Heimweg, einen verdächtigen Abschleppvorgang. Als sie am nächsten Morgen von Sirenenlärm aus dem Schlaf gerissen wird, folgt sie mit Hauptkommissar Teufel ihrem unguten Gefühl und läuft zur nahe gelegen Autowerkstatt. Da steht der in der Nacht abgeschleppte Wagen, mit weit geöffnetem Kofferraum, mit einer furchterregenden Fracht. Eine Sonderkommission unter dem Namen Schneewittchen wird gebildet, doch das Morden hört nicht auf. Opfer sind Frauen, die Liebe suchen.

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Barbara Stewen wurde in Litauen geboren und wuchs in Westfalen auf. Sie arbeitet als Künstlerin und Autorin.

Sie war Krankenschwester im In-und Ausland und Kriminalbeamtin im Ruhrgebiet. Maltechnik erlernte sie bei dem Surrealisten Arnold Krause (1948-1987) und bildete sich fort in Seminaren bei Markus Lüpertz. Ausstellungen im In- und Ausland folgten, in Frankreich, Polen und Kroatien. In Deutschland war sie in den Werfthallen Bremen, in Hamburg und im Kölner Raum, zum Beispiel im Regierungspräsidium, zu Gast. Die Kunst, das Schreiben und die Lesungen füllen neben der Familie ihr Leben aus.

Veröffentlichungen:

2023 Fremde Schwester, Kriminalroman, Ruhrkrimi Verlag

2021 Puppenräuber, Kriminalroman, Ruhrkrimi Verlag

2019 Fuchsteufelsmord, Ruhrpott-Krimi, Scylla Verlag

2018 Vom Bleiben und Schwinden, Anthologie Bergischer Autoren, Heider Verlag, Bergisch Gladbach

2013 Ein Engel, so gut wie auch schön, Biografie Königin Luise von Preußen, E. Humbert Verlag, Bodenheim.

Inhaltsverzeichnis

Verhängnisvoller Tanz

Die Panne

Elisa Fuchs

Nachtgedanken

Das Versteck

Die Monster-Mutter

Berthas Häuschen

Aufruhr an der Raststätte

Der Notruf

Der verschwundene Charmeur

Der Unbekannte

Die Werkstatt

Eisprinzessin

Der Einsatz

Die Rechtsmedizinerin

Dissonanzen

Soko ‘Schneewittchen‘

Der verschwundene Gatte

Nachhilfeunterricht

Nachtleben eines Schwiegersohns

Recherche in Gelsenkirchen

Die Unschuld vom Land

Dienstbesprechung

Der sanfte Engel

Der Fluch der bösen Tat

Blutschnee

Ausgebrannt

Die letzte Reise der Mia Angstmann

Ein Hauch Vergänglichkeit

Wir jagen einen Schatten

Auf den Spuren des Metzgers

Telefonkonferenz

Die Stimme des Mörders

Ausklang eines Wintertages

Traurige Bilanz

Der wilde Mann im Wald

Schlimme Zeichen

Das Versteck

Das Foto

Wo ist Frau Immengrün?

Spurenauslese

Der Herzbub in Aktion

Das Ende eines Tages

Nirgendwo ist der Himmel so grau wie im Bergischen, wenn es regnet

Gusti Küssnachts letzter Krimi

Die verschollene Witwe

Der verschwundene Rollstuhl

Rex, König der Spürhunde

Schattenreich

Das Haus an der Agger

Kioskgeschichten

Die Falle

Reich mir die Hand, mein Leben

Epilog

Personen der Handlung

Sonderermittlerin Elisa Fuchs hat böse Vorahnungen.

Hauptkommissar Max Teufel und Elisa Fuchs sind ein starkes Team. Sie kommen dem Täter gefährlich näher.

Katharina Jankowski dichtet nicht mehr.

Sven Jankowski hat kein blütenreines Gewissen.

Der Erste Hauptkommissar Moritz Marder hat den gefürchteten Marderblick.

Lou Hollander ist nicht der, für den sich ausgibt.

Bertha Immengrün hat ein Ferienhäuschen an der Agger.

Kriminalhauptkommisssarin Eck kommt nicht immer auf den Punkt

Kriminalhauptkommissar Falke aus Bergisch Gladbach ist Leiter der Soko ‚Blutschnee‘.

Polizeioberkommissarin Barbara Gotthard überzeugt mit sanfter Stimme.

Polizeianwärter Marc Gilles hat eine große Klappe.

Rechtsmedizinerin Frau Professorin Dr. Alma Rigens seziert nicht nur mit dem Skalpell.

Metzger Erich Angstmann rastet schnell aus.

Zeitungsbotin Mia Angstmann verteilt die letzten Nachrichten.

Witwe Gusti Küssnacht lässt sich gern verführen.

Leichenspürhund Rex hat stets die Nase vorn.

Tödliche Kälte herrscht in dieser Novembernacht.

Frostige Windböen fegen über einen verrotteten Parkplatz.

Niemand wird es hören, das verstörend laute Fluchen, das Aufheulen eines Motors und das Knirschen von

Scheibenwischern auf vereistem Glas.

Schreie versinken im monotonen Lärm vorbeirasender

Fahrzeuge. Die nächtliche Ruhe zersplittert wie Glas.

Grelle Lichtkreise von Scheinwerfern huschen im Vorbeifliegen über die schäbigen, von Reif überzogenen

Wände des Toilettengebäudes, um im Dunkel der nächsten Kurve zu verschwinden. Für immer. Es geht bergab.

Eisige Stille.

Verhängnisvoller Tanz

Ich tausche nur die Räume,

Ich leb in euch

Und geh durch eure Träume.

Michelangelo

Freitag, der 26. November 2004, 22:40 Uhr. Eine frostige Neumondnacht. Katharina Jankowski befindet sich auf der A4. Sie ist auf dem Weg nach Gelsenkirchen. Völlig erschöpft durch einen Krankenbesuch bei ihrer Mutter in Overath, möchte sie so schnell wie möglich nach Hause.

Hoffentlich hat Sven gute Laune, denkt sie und versinkt in Traurigkeit. Sven ist ihr Mann.

Nach einigen Kilometern macht sich ihre Blase quälend bemerkbar.

Dummerweise habe ich die Raststätte Aggertal verpasst, denkt sie und fährt mit ihrem racing grünen Rover 200 den nächsten Parkplatz an.

Aufatmend entdeckt sie, weit hinten, am Ende des Platzes, ein Toilettenhäuschen. Sie steuert dem von Bäumen und Sträuchern umgebenen Gebäude zu.

Bäume glitzern im Reif. Wie funkelnder Feenstaub im Mondlicht, denkt sie, denn sie ist Lyrikerin, schreibt gerne Gedichte und Geschichten für Geburtstage von Freunden oder auch nur, weil ihr danach ist.

Sie parkt, steigt aus dem Wagen und fixiert aufmerksam das verwaiste Gelände.

War da nicht gerade ein Knistern und Rascheln im Gebüsch? Sie ist keine ängstliche Person, doch bei näherem Hinsehen ist ihr der Rastplatz gar nicht mehr geheuer. Ihr Herz pocht. Unruhe erfasst sie.

Es ist wahrscheinlich nur der Wind in den Sträuchern, beruhigt sie sich, während sie auf das WC zueilt.

Bei näherer Betrachtung der vernachlässigten Sanitärräume zerplatzt die eben noch empfundene Mondscheinidylle endgültig wie eine Seifenblase.

Die schmutzigen Becken der Toilette mit dem durchdringenden Pissoir-Gestank sind ekelig.

Erleichtert reinigt sie sich nach dem Toilettengang die Hände und reibt sie flüchtig an ihrem schwarzen, wollenen Faltenrock trocken. Frierend schlingt sie ihren roten Wollschal enger um die Schultern. Nichts wie weg von diesem Ort.

Schon auf dem Sprung, fährt sie sich hastig noch einmal mit einem Taschenkamm durch ihr langes, mittelblondes Haar. Gewohnheitsmäßig blickt sie kurz in den halb erblindeten Spiegel und erschrickt.

Im fahlen Schein der Glühbirne werden, wie aus dem Nichts kommend, die Umrisse eines Mannes sichtbar.

Unangenehmer Moschus Duft vermischt sich mit dem Gestank des Pissoirs.

Frösteln, Erstarren bis ins Mark. Gänsehaut breitet sich über ihren Körper aus. Sie will fliehen, macht abrupt eine Drehung.

Der furchterregende Mann, groß und muskulös, blockiert den Eingang des Toilettenhäuschens und starrt aus kalten Augen unverwandt auf sie, rückt näher, abschätzig ihre Gestalt taxierend.

Mit schiebenden Schritten drängt er sie weit in den Raum. Viel zu nah, macht er mit höhnischem Grinsen eine Verbeugung, so als wolle er sie zu einem Tanz auffordern, einem verhängnisvollen Tanz.

Sie spürt seinen unangenehmen Atem, der nach Zigaretten stinkt, würgt, und wendet ihr Gesicht ab.

Rasch folgt der Übergriff. Eine Hand zerrt grob an ihrer Umhängetasche, die sie um ihren schmalen Hals geschlungen hat.

Mit weit aufgerissenen Augen weicht sie, schwer atmend, weiter zurück und stürzt mit dem Rücken gegen ein metallenes Waschbecken.

Erstickte Entsetzenslaute, wieder und wieder, gefolgt von hastigen, sich entfernenden Schritten.

Niemand kann sie hören. Kurze, versinkende Schreie im monotonen Lärm vorbeirasender Fahrzeuge. Grelle Lichtkreise von Scheinwerfern huschen im Vorbeifliegen über die schäbigen, von Reif überzogenen Wände des Toilettengebäudes, um im Dunkel der nächsten Kurve zu verschwinden. Für immer. Es geht bergab. Stille.

Minuten später: Der Knall einer Heckklappe schreckt eine schlafende Spatzenfamilie aus den Bäumen. Sie macht sich zeternd davon.

Verstörend ist ein lautes Fluchen, mehrfaches Aufheulen eines Motors und knirschendes Scharren von Scheibenwischern auf vereistem Glas.

Die Ruhe des einst so friedlichen Rastplatzes zersplittert wie dünnes Glas.

Schlingernd verlässt ein racing grüner Rover das Gelände, schlängelt sich in den Verkehr ein und wird von der Nacht verschluckt.

Fahles Mondlicht taucht das verlassene Gebäude in eiskalten Schimmer. Aufkommende Windböen schleudern Abfälle über den unseligen Platz.

Getränkedosen kollern einen Hang herunter. Eine geöffnete Tüte Marshmallows, wie aus dem Nichts kommend, fliegt hinterher.

Jetzt wirkt der von knorrigen Büschen, besprühten Bänken und umgestürzten Mülleimern umsäumte Ort verkommen und verlassen. Er hütet ein dunkles Geheimnis.

Die Panne

Wer Weg und Ziel nicht kennt, dem weht kein Wind günstig. Seneca

„ARAC Service, Börgel am Telefon. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich stehe auf der A4. Mein Wagen, ein Rover 200, racing grün, hat plötzlich gestottert, geruckt und ist stehen geblieben.“

„Tank leer?“

„Ich bin doch nicht blöd!“, antwortet der Anrufer brüsk, mit schnarrender Stimme.

„Na, immer mit der Ruhe. Sind Sie Mitglied, Herr …?“

„Jankowski mein Name. Meine Frau ist Mitglied des Vereins. Ihr gehört das Auto. Ich gebe Ihnen die Kundennummer durch.“ Er nennt den Zahlencode.

„Wo befinden Sie sich?“

„Ich stehe hier auf dem Haltestreifen der A4, das muss in der Nähe der Abfahrt Engelskirchen sein“, schreit der Anrufer in sein Handy.

„Sie haben Glück! In Engelskirchen ist eine Autowerkstatt. Es ist jetzt 23:00 Uhr. Wir schicken einen Abschleppwagen und …, beruhigen Sie sich bitte. In der Ruhe liegt die Kraft. Atmen Sie tief durch und bleiben geschützt auf dem Seitenstreifen stehen. Vielleicht haben Sie eine Taschenlampe? Schalten Sie auch das Warnlicht des Wagens ein und stellen auf jeden Fall ein Warndreieck auf.“

Warndreieck? Der Mann erschrickt, wehrt sich gegen den Gedanken, verdrängt ihn. Blöder Behördenkram, denkt er.

„Noch eine Frage, Herr Jankowski. Sind Sie allein im Wagen?“

Der Mann zögert einen Augenblick. „Ja, ich bin allein.“

„Wir finden Sie schon. Kann eine halbe Stunde dauern, bis unser Fahrer bei Ihnen ist. Ende“.

Der ist aber schräg drauf, denkt Herr Börgel vom Service-Dienst des ARAC.

Trotz der Kälte läuft dem Unbekannten der Schweiß in den Nacken. „Eine halbe Stunde“, murrt er, „eine Ewigkeit.“

Er sucht in seiner Reisetasche nach seiner schwarzen Wollmütze. Männermützen mag er nicht, läuft lieber im Business Style herum. Hüte oder Kappen trägt er gerne, um Eindruck zu schinden. Doch bei dieser Kälte und der Wunde … Er fasst an seinen Kopf, fühlt Feuchtigkeit, schaut auf seine Hand und stutzt.

„Blut! Mist, ich darf nicht erkannt werden. Darf keine Blutspuren hinterlassen. Muss unbedingt diese blöde Mütze finden.“

Während der hektischen Suche fällt ihm die schwarze Kopfbedeckung aus der Tasche seiner marineblauen Designer Caban-Jacke direkt vor die Füße.

„Na, geht doch“, sagt er und zieht erleichtert die Kopfbedeckung tief in sein markantes Gesicht.

Seine Stimme kann, je nach Situation, wohltönend klingen, mit einem schmeichelnden Unterton. Dann hat sie etwas Werbendes. Das kommt bei Frauen gut an.

Und er sieht blendend aus, wenn man Männer aus Zahnpasta Reklamen mag.

Die tiefroten Kratzspuren an seinen Schläfen sind jetzt durch die Mütze fast verdeckt.

Ungeduldig mit den Fingern das Armaturenbrett traktierend, lässt er die vergangenen zwei Stunden Revue passieren: den erregenden Zwischenfall auf der Raststätte Aggertal Süd, seine Flucht über die Berge und dann der Zusammenstoß mit der Unbekannten im Pissoir des Parkplatzes.

Unerwartet hab ich ein Auto für die Flucht und eine dicke Brieftasche … und jetzt säuft nach ein paar Kilometern die Karre ab. Ich muss verschwinden, die ‘Fliege machen‘, murrt er.

Schon erwägt er loszurennen, das Auto zu verlassen, und verwirft den Plan sofort. Zu Fuß bei der Affenkälte, mit der Tasche und … Nein.

Mit zitternden Händen zündet er eine Zigarette der teuersten Marke an. Noch ehe die Asche verglüht, nickt er vor Erschöpfung ein.

Er schreckt hoch, als er jäh von Scheinwerfern geblendet wird. Seine Wagentür steht auf.

Elisa Fuchs

Zufälle sind Einfälle des Schicksals, die uns plötzlich und unerwartet zufallen.

Monika Kühn-Georg

23:25 Uhr, die gleiche Nacht.

Elisa Fuchs, Sonderermittlerin der Kriminalpolizei, hat es, wie immer, eilig, obwohl sie außer Dienst ist.

Auf dem Weg von Lindlar nach Engelskirchen wird sie nach einer scharfen Kurve plötzlich gezwungen, langsamer zu fahren. Die Warnlampen eines Abschleppwagens lassen sie heftig auf die Bremsen ihres Mini Coopers treten.

Oh je, eine Autopanne, da vorne. Das kann dauern, denkt sie. Hoffentlich sind die Fahrbahnen frei, und es gibt kein Unglück mit Verletzten.

Langsam folgt sie dem Abschleppdienst. Sie schaltet ihr Warnlicht ein.

Am rechten Straßenrand wird, vor dem Abschleppwagen, ein einsames Fahrzeug sichtbar. Weit und breit ist kein Warndreieck zu erkennen.

„So ein Leichtsinn“, schimpft sie, stoppt hinter dem ARAC-Wagen und lässt das Seitenfenster ihres Mini Cooper herunter. Sie beugt sich vor und ruft dem Fahrer des Abschleppwagens zu:

„Alles in Ordnung? Kann ich helfen? Jemand verletzt? Das Fahrzeug da vorne hat kein Warndreieck aufgestellt! Ich würde den Fahrer gerne darauf hinweisen.“

„Nicht nötig, ich habe ihn schon telefonisch darauf aufmerksam gemacht. Er wird’s in der Aufregung vergessen haben.

Es ist aber niemand verletzt. Auch habe ich alle Angaben, die ich zur Abwicklung brauche. Der Fahrer hat nur seinen alten Rover abgewürgt. War schon am Telefon aufgeregt, total durch den Wind.“

„Okay.“

„Seine Personalien sind notiert. Er ist über seine Frau Mitglied unseres Autoclubs. Warum fragen Sie eigentlich nach?“

„Ja, als Polizeibeamtin bin ich halt immer im Dienst. Ist so eine Marotte von mir“, lacht Elisa entschuldigend.

„Aha, Polizistin!“, kommentiert der Fahrer des Abschleppwagens, fixiert sie kurz, nickt, und poltert dann an der Hydraulik des Anhängers herum. In vorgegebener Entfernung stellt er Warnlichter auf.

„Ja, ja, immer im Dienst“, ruft er ihr zu, „das kenn ich, denn irgendwie muss man seine Brötchen verdienen. Eigentlich sind mir diese Nachteinsätze auch lieber. Nicht so viel Verkehr.“

„Stimmt, Nachteinsätze sind aber oft gefährlicher“, fügt Elisa hinzu.

„Gute Nacht und noch angenehmen Dienst“, ruft sie dem Mann zu.

„Danke. Wenn ich den Wagen abgesetzt habe, geht’s nach Hause. Dienstende!“, brüllt der Fahrer gegen den Motorenlärm an.

„Ja, ich mach mich jetzt auch auf den Weg.“

Sie steht inzwischen mit ihrem metallic-grauen Mini hinter dem Abschleppwagen, und kann nicht in das Pannenfahrzeug hineinsehen. Neugierig geworden, fährt sie ein Stück vor und sieht genau hin.

In dem Rover rührt sich nichts, doch die Fahrertür steht einen Spalt breit offen.

Sie zögert. Da ist es wieder, ihr sprichwörtliches, warnendes Bauchgefühl. Normalerweise würde der Fahrer des liegen gebliebenen Fahrzeugs aussteigen, sich bemerkbar machen und dem Pannenhelfer entgegengehen.

Komisch. Vielleicht ist er eingeschlafen, denkt sie, beugt sich noch einmal aus ihrem Wagen und ruft dem Pannendienst zu: „Wo bringen Sie denn den Wagen hin, Herr …“ „Nachtmann.“

„Oh, der Name passt ja gut“, lacht Elisa, „und wohin bringen Sie den Wagen des Herrn …?“

„Wenn ich hier alles vorbereitet habe, fahren der Herr Jankowski und der Wagen seiner Frau mit mir auf dem Abschleppwagen in die Autowerkstatt nach Engelskirchen.“

„Ach ja, interessant“, kontert Elisa. „Was für ein Zufall, ich fahre auch nach Engelskirchen. Hatte auch mal so einen racing grünen Rover“, sie zeigt auf das Pannenauto.

„Ja, tolles Auto, aber reparaturanfällig.“

„Stimmt, wenn Autos in die Jahre kommen“, gibt sie zu bedenken. „Ich habe ihn geliebt, meinen ersten Wagen. Selbst verdient ... Na ja, vielleicht sieht man sich mal wieder“, fügt sie munter hinzu, schließt das Fenster und gibt Gas.

Sie braust mit einem letzten Seitenblick an dem Pannenauto, dem älteren Rover 200, vorbei und entdeckt jetzt schattenhafte Konturen einer Person im Fond des Wagens.

Inzwischen ist es spät geworden und ihre Freundin Anne, die sie nach langer Zeit besuchen möchte, wartet mit einem köstlichen Mitternachts-Schweizer Käsefondue auf sie und … Elisa atmet tief durch und lächelt. Sie freut sich schon auf einen Anruf von Max, der zurzeit noch Nachtdienst auf der K-Wache in Gelsenkirchen verrichtet, als Kommissar vom Dienst.

Hauptkommissar Max Teufel, Leiter des K1 in Gelsenkirchen, ist seit einem spektakulären Kriminalfall im vergangenen Sommer im Münsterland nicht nur ihr Freund, sondern auch ihr Lebensretter.

Sie hat ihn vor mehr als einem Jahr in einem tragischen Kriminalfall kennengelernt.

Elisas Herz pocht, wenn sie an Max Teufel denkt. Sie liebt ihn. Bevor sie zueinander fanden, waren sie wie Hund und Katze.

Warum? Elisa, ehemalige Kriminalbeamtin, ermittelte damals undercover in Gelsenkirchen in einem Fall, der in Max Teufels Zuständigkeitsbereich gehörte. Ein außerordentlich tragischer Fall, in dem es im Jahr 2003 um die Aufklärung des Mordes an ihrem Bruder Armin, einem Oberstudiendirektor, ging. Sie liebte ihren Bruder sehr.

Nachdem Elisa und Max auf einer Dienstfahrt fast in eine Todesfalle gerieten, schwer verletzt wurden, wendete sich das Blatt. Max und Elisa verliebten sich, arbeiteten zusammen und lösten gemeinsam das Verbrechen an Elisas Bruder.

Seitdem ist Elisa wieder im Polizeidienst. Sie wird als Sonderermittlerin in Verfahren integriert, explizit in Fälle, in denen Frauen, Kinder oder Jugendliche Täter, Zeugen oder auch Opfer sind.

Morgen wird sie Max wiedersehen. Die Freude über das Wochenende mit ihm ist ihr sprichwörtlich in das Gesicht geschrieben.

Sie legt eine CD ein mit ihrem Lieblingssong ‘Imagine‘ von John Lennon und erhöht die Geschwindigkeit.Schon bald verblassen die Lichter des Abschleppwagens hinter ihr.

* * *

„Was wollte die neugierige Ziege“, murrt Jankowski, der sich, als die Luft rein ist, endlich aus seinem Pannenauto quetscht.

Der Pannenhelfer wirft einen Blick auf den Kunden, eine Gewohnheit von ihm, um die unbekannten Menschen, die er aufliest, einzuschätzen.

Dieser Kunde trägt Freizeitklamotten von bester Markenqualität, aber etwas ist mit seinem Gesicht passiert. Kaum was zu erkennen unter der Wollmütze ... Aha, eine Blutspur unter dem rechten Auge. Er fragt besorgt:

„Mann, Sie sind aber schlecht drauf, kein Wunder, bei der Verletzung … doch im Gegensatz zu Ihnen finde ich es prima, dass die Polizei aufmerksam ist. Man weiß doch nie, was für ein Gesindel sich hier mitten in der Nacht auf der Straße herumtreibt, da könnte ich Ihnen Geschichten erzählen …“

Aufgebracht unterbricht der Fahrer ihn. „Ich weiß mir selbst zu helfen“, sagt er und es klingt überheblich. Nervös fährt er fort: „War die Frau in dem Mini eine Polizeibeamtin?“ Die Stimme des Fahrgastes hat jetzt einen gehetzten Unterton.

„Ja.“

Ein lautes Schluckgeräusch kommt aus dem Hals des Fremden. Sein ausgeprägter Adamsapfel tritt hervor.

„Entschuldigung“, würgt er nervös und öffnet seinen Hemdkragen.

„Ist Ihnen schlecht?“, fragt der Pannenhelfer besorgt.

„Nein, geht schon“, murrt der Mann, der sich Jankowski nennt.

Jankowski? Ja, so hat er sich vorgestellt und sich mit den Autopapieren seiner Frau ausgewiesen.

Um das eingetretene Schweigen zu überbrücken, plaudert der ARAC Monteur aus dem Nähkästchen, Histörchen, die er in seinen Nachtschichten auf Deutschlands Straßen erlebt hat. Während er freundlich daher plappert, auch um den Fahrgast aufzumuntern, denkt der genervt:

Halt doch einfach deine Klappe, Mensch! Wenn du wüsstest, was und wen du herumkarrst, wärst du augenblicklich still.

Fahrig kramt er immer wieder in den Papieren, die er dem Seitenfach des Rovers entnommen hat.

Scheint sich Notizen zu machen, denkt Nachtmann.

„Soll ich Ihnen Licht machen?“, fragte er.

„Nein, geht schon.“

Aufatmend reicht Jankowski dem ARAC-Fahrer nach einer Weile die Fahrzeugpapiere, die er sorgfältig studiert hat. Die Namen und Daten von Frau und Herrn Jankowski hat er sich eingeprägt. Es fällt ihm leicht. Falls noch eine Kontrolle kommt, zum Beispiel von so einer wild gewordenen Polizistin, die ihre Nase in Angelegenheiten stecken möchte, die sie nichts angehen. Die soll mir nur nicht in die Quere kommen.

Er grollt schweigend und zieht sich zurück in die dunkelsten Nischen seiner Erinnerungen.

Völlige Dunkelheit herrscht an der verlassenen Werkstatt in Engelskirchen, als der Abschleppwagen lärmend vorfährt.

Monteur Nachtmann lässt den Rover vorsichtig hinunterrollen und stellt ihn direkt vor die Werkstatttür.

Der Fremde wird munter. „Danke, Herr …“

„Nachtmann.“

Hörbar atmet er auf und fährt fort:

„Stecken Sie die Papiere bitte in einen Umschlag und befördern ihn einfach in den Briefkasten der Werkstatt“, sagt er, wie ausgewechselt, mit leutseligem Ton.

„Ich werde um 8 Uhr, also etwa in etwa acht Stunden in der Werkstatt anrufen und alles klären. Meine Adresse und die meiner Frau haben Sie ja.“

„Okay. Geht in Ordnung, Herr Jankowski.“

Auf dem Umschlag entdeckt Nachtmann einen zehn Euro Schein.

„Oh, das wäre doch nicht nötig gewesen, Herr Jankowski.“

Sein Fahrgast winkt in Geberlaune ab. „Ist doch nur eine Kleinigkeit“, sagt er, ganz Mann von Welt.

„Danke“, murmelt der Nachtmann geflissentlich und steckt erfreut den Schein in seine Monteurjacke. Frau und vier Kinder schreien nach Brot, denkt er und grinst. Diesen Spruch hatte schon sein Vater immer auf den Lippen.

„Kann ich Sie denn irgendwo absetzen, Herr Jankowski? Eine Zugverbindung gibt es hier nachts in unserer ungetrübten Natur nicht. Nur die Agger, aber dann müssten Sie schwimmen.“ Er lacht, findet das lustig.

„Nein, danke, ich habe kein Badezeug dabei und weiß schon, wen ich anrufe“, fährt Jankowski ihn an. Nachtmann guckt verdutzt.

„Da bin ich aber gespannt. Ein Taxi nach Köln kostet Sie bestimmt ‘nen Hunni.“

„Meine Sache“, sagt der Fremde ungewöhnlich scharf, Nachtmann durchdringend anblickend.

Der lenkt betreten ein, „wollte nur behilflich sein“, murmelnd.

Er steigt in den Abschleppwagen, schlägt die Fahrertür zu und verlässt kopfschüttelnd die gewundene Einfahrt von der Werkstatt zur Bundesstraße B484.

Noch weit ist in dieser Stunde das durchdringende Motorengeräusch des Abschleppwagens zu vernehmen, ehe es verhallt und das gelbe Warnlicht des Lasters in der Dunkelheit versinkt.

„Ich werde doch nicht so dumm sein, diesem Mann einen Hinweis zu geben, der die Polizei auf meine Spur führt“, raunt der Fremde, der sich eben noch Jankowski nannte. Seine Stimme ist die eines Wolfes, der sehr viel Kreide gefressen hat.

Schnellen Schrittes, sich immer wieder umsehend, verschwindet er in den Schatten angrenzender Wälder und wird bald von der Dunkelheit der eisigen Novembernacht verschluckt.

Nachtgedanken

Zwei Straßen weiter sitzen Elisa Fuchs und ihre Freundin Anna Wichterich gemütlich um einen runden Holztisch. Sie genießen das von Anna zubereitete Käsefondue. Im Licht der Kerzen schimmert Schweizer Fendant, den sie in eine Kristallkaraffe gefüllt haben.

Die Wangen der Freundinnen röten sich während der anregenden Gespräche. Sie haben sich ein Jahr lang nicht gesehen. Es gibt viel zu erzählen. Annas Partner ist vor einem Jahr in einem Hospiz gestorben. Seitdem besucht Elisa die Freundin jedes Mal, wenn sie, aus dem Ruhrpott kommend, nach Hause ins Bergische fährt. Es sind von Engelskirchen nur 12 Kilometer bis zu ihrem Haus in Lindlar.

Anna zeigt zum Fenster: „Sieh mal, da fährt der Abschleppwagen aus der Geschichte vorbei, die du mir eben erzählt hast.“

„Ach ja“, sagt Elisa und schaut abwesend hinaus. Dunkle Wolkenberge türmen sich am Himmel auf. Es könnte Schnee geben. Hoffentlich kommt Max morgen früh gut durch, denkt sie besorgt.

Sie mag das Bergische Land sehr, doch jetzt, in der Dunkelheit, wirken die kantigen Hänge, überlagert von einer undurchdringlichen Wolkenschicht, eher düster und bedrückend auf sie. Ihre Gedanken wenden sich erneut Max zu.

„Elisa! Träumst du?“, fragt Anna. „Ich habe mit dir gesprochen.“

„Oh, entschuldige, ich habe kurz an Max gedacht.“

Anna rollt mit den Augen und lächelt dann. „Verstehe“, sagt sie.

„Aber erzähl mal von eurer Parisreise nach dem letzten brandgefährlichen Einsatz in Westfalen, im Herbst.“

„Es war wunderbar, so viele Museen, so viel Kunst.“

„Und was macht deine Kunst, Elisa? Hast du neue Werke geschaffen?“

„Ja, ich bin in einem Projekt mit anderen Künstlern. In meiner Arbeit geht es um Kindesmissbrauch und Vernachlässigung von Kindern, von den sogenannten ‘verlorenen Seelen‘. Elisa überlegt einen Moment.

„Da nehme ich mir Zeit ... Zu meinen Brandwunden, die mir in dem letzten Fall ein verrückter Feuerteufel zugefügt hat, gibt es gute Nachrichten. Sie sind fast gänzlich verschwunden.“ Sie streicht zum Beweis ihren rotblonden Pony zur Seite, und sieht Anna in die Augen.

Die Freundin rückt näher, fährt mit ihrem Zeigefinger über die schmale, rosa Spur auf Elisas Stirn. Es ist nur ein kleiner Hautwulst, den die Verbrennung hinterlassen hat.

„Die Narbe wird mit der Zeit fast ganz verschwinden, sagt mein Arzt. Meine Haare sind auch wieder nachgewachsen.“

Sie schüttelt so vehement den Kopf, dass ihre Haare fliegen und die Kerzenflamme flattert.

„Ohne Max schnelles Zugreifen wäre ich verbrannt.“

„Er hat dir das Leben gerettet.“

„Und Constantin? Ich mochte ihn immer sehr gerne.“

„Constantin ist in Südamerika, es scheint ihm gutzugehen“, antwortet Elisa, plötzlich einsilbig geworden.

Sie schweigt.

Sie möchte jetzt nicht über Constantin, ihren Mann, sprechen. Im Sommer hat sie sich schweren Herzens von ihm getrennt.

„Ach Anna, es ist nicht immer rund gelaufen, manchmal dachte ich an Trennung, wollte aber wegen der Kinder die Familie nicht auseinanderreißen … Ich liebe ihn immer noch ein wenig, kann aber einige Begebenheiten einfach nicht vergessen. Hat mit Vertrauen zu tun … und dann traf ich Max.“

Beide versinken eine Weile in Gedanken.

„Anna, ich habe, bevor du die Parisreise erwähntest, nicht nur an Max gedacht. Die völlig unerhebliche Begebenheit auf der Autobahn ist eigentlich schon wieder Geschichte, lässt mir aber keine Ruhe. Ich bin neugierig, wie der Mann aus dem Rover nach Hause kommt, und wo dieses Zuhause ist?“

„Dein Ermittlerfieber. Du denkst auch immer an den Dienst. Hast mal wieder ein ungutes Gefühl, Elisa?“

„Stimmt Anna. Du brauchst gar nicht zu grinsen. Nachts ist alles undurchschaubarer. Ich sehe den Menschen, mit denen ich zu tun habe, gerne ins Gesicht. Vorhin, auf der Autobahn, hatte ich das Gefühl, als wolle sich jemand davor verbergen, von mir gesehen zu werden, nämlich der Mann in dem Pannenfahrzeug. Und das ist doch nicht ganz normal.“

Das Telefon klingelt.

Anna hebt ab: „Elisa, für dich!“

„Hallo Max, wir sind gerade mit dem Essen fertig.“

„Jetzt erst?“

„Ja, auf der Autobahn wurde ein Rover abgeschleppt, der genauso aussah wie der, den ich mal hatte.“

„Du hattest einen Rover? Na, das war dann wohl vor langer Zeit. Ist denn etwas passiert? Abschleppwagen sieht man doch des Öfteren auf der Autobahn.“

„Du wirst jetzt grinsen, ich sehe dich schon vor mir, aber ich hatte wirklich wieder …“

„Sag es nicht, Elisa! Du hattest wieder … dieses unerklärbare Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist.“

„Stimmt Max. Lach nur.“

„Ich lache doch gar nicht.“ Er macht eine Pause. „Elisa, kannst du inzwischen auch hellsehen? Das wäre doch praktisch, würde dem Polizeiapparat eine Menge Geld einsparen.“

„Nein, Max, so weit bin ich noch nicht. Ich weiß aber, dass ich dich am frühen Morgen wiedersehe, halt, es sind ja nur noch wenige Stunden. Ich freue mich darauf. Was machst du eigentlich im Moment?“

„Ich sitze hier auf der K-Wache in Gelsenkirchen und bin KvD.“

„Redet ihr jetzt in einer Geheimsprache?“, fragt Anna, die zufällig mitgehört hat.

„Nein, Anna, das heißt einfach nur, dass Max in dieser Nacht in Gelsenkirchen auf der K-Wache – Klartext, der Kriminalwache - der Kommissar vom Dienst ist.“

„Und kannenweise Kaffee trinkt, weil die Schlitzohren, nach denen wir fahnden, sich heute gut versteckt haben“, fügt Max hinzu.

„Das ist doch eine gute Nachricht. Ich vermisse dich und freue mich auf morgen. Gute Nacht, Max.“

„Gute Nacht, Elisa.“

Das Versteck

Ich fühle deine Hände im Haus,

Sie gehen wie Blut durch die Wände

Und teilen ihre Wärme aus.

Maximilian A. Dauthenday

Dunkle Wolken überlagern jetzt, zwei Stunden nach Mitternacht, die Mondsichel.

Zweige knacken, ein Käuzchen ruft und die kahlen Äste knorriger Weiden wiegen sich im eisigen Wind.

Ein Mann bahnt sich einen Weg zu seinem Versteck. Er ist noch nicht am Ziel, und erleichtert, dass fast alles wie am Schnürchen geklappt hat.

Es stört ihn nicht, sich in dieser saukalten Winternacht durch Gestrüpp und Dickicht zu kämpfen.

Nein, ich muss mich vor nichts fürchten. Andere sollen sich fürchten, und zwar vor mir, denkt er selbstverliebt.

Er kennt sich hier aus, kriecht, nach allen Seiten spähend, das letzte Stück auf sein Ziel zu. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, hört er seine Großmama sagen und ein Grinsen huscht über sein kantiges Gesicht.

Ja, die Großmutter! Sie war ein Unikum, furchtlos und stark. Im letzten Kriegsjahr, 1945, vertrieb sie einen Trupp russischer, bis an die Nase bewaffneter Soldaten, die Berlin erobert hatten, plünderten, raubten und schändeten.

Nein, sie kannten seine Großmutter nicht. Mit der Macht ihrer Stimme, in den Hüften gestemmten Fäusten und dem Jagdgewehr ihres gefallenen Mannes Ottokar machte Großmama Olga den Soldaten den Garaus. Sie rettete die Ehre der Frauen des alten Berliner Mietshauses und die letzte Habe der Familie.

So die Legende, die immer wieder erzählt und, im Vertrauen gesagt, ein klein wenig ergänzt wurde.

Begebenheiten aus der Vergangenheit torpedieren sein Gehirn, bis dass er sein Ziel erreicht hat. Er muss aufpassen. Um ein Haar wäre sein letzter Coup am Abend schief, so richtig in die Hose gegangen. Aufruhr am Rastplatz Aggertal. Ein Tumult, dem er so gerade noch entkam.

Dann die Autopanne. Unangenehm.

Es ist möglich, dass sich der ein oder andere Camper auf dem Platz eingenistet hat, den ich gerade anstrebe. Eventuell ist mein Versteck schon entdeckt worden. Einige Campingwagen und Ferienhäuschen an der Agger sind auch im Winter beliebt, besonders bei den hartgesottenen Campingfans, denkt er und legt noch einen Schritt zu.

Das kleine Ferienhaus aus den Sechzigern, auf das er jetzt zusteuert, liegt isoliert, einige hundert Meter weg von dem eigentlichen Campingplatz. Es ist von einem Gartenzaun aus morschen Brettern umzäunt.

Hier kennt er sich aus. Es gab sogar Zeiten, in denen er diese Pfade jeden Tag gegangen ist.

Vom Ferienhäuschen zum Bäcker, Metzger oder nur, um mit Bertha ein Tässchen Kaffee und eine Bergische Waffel mit Sahne und Kirschen zu genießen, und zwar im Camping Kiosk oder in der besten Bäckerei des Ortes.

Ja, Bertha hieß sie. Eine Seele von Mensch. Ehrlich gesagt, nur in den ersten vier Wochen.

Er hatte Bertha auf einer Super-Single-Wochenend-tour kennengelernt. Eine Witwe in den goldigen Fünfzigern, mit einer molligen Figur, blondierten Haaren und Grübchen in den Wangen und … hungrig an Anlehnung und Liebe, stets mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen.

Er gerät mit einem Mal so ins Schwärmen, dass er fast gestolpert und über eine Astgabel, die aus dem Boden ragt, gefallen wäre.

Er verliebte sich nur ein wenig in sie. Es reichte für seine Zwecke. Doch als er von Berthas Häuschen und ihrem Kontostand erfuhr, war er geradezu vor Liebe entbrannt.

Welche schönen Stunden verbrachten sie, untermalt vom Gluckern der Aggerwellen, in Berthas gemütlichem Feriendomizil. In seiner Tasche lag wohlverwahrt ihre Bank Card. Die PIN speicherte er verschlüsselt in seinem Laptop.

Doch ist das Glück jemals vollständig? Nein, immer ist da ein Haken, den man schlucken muss oder …

Als sie anfing, ihn zu ihrem Schoßhündchen zu machen, erregte sie seinen Groll. Zunächst verschloss er ihren Mund noch zärtlich mit Marshmallows, so wie seine Mutter es früher bei ihm zu tun pflegte.

Als sie immer mehr an ihm herumpusselte und zubbelte, seine Haare, mit denen er sehr eigen war, kämmte oder im Bett verwuschelte, kochte er vor Zorn.

Sie brutzelte sein Lieblingsessen, so häufig, bis dass er kotzen musste. Brabbelnd rückte sie ihm zu nah, viel zu nah!

Sie wurde lästig, und ihn erfasste eine mörderische Wut.

Die Monster-Mutter

Hast du eine Mutter,

hast du immer Butter im Schrank …

Helge Schneider, Kabarettist

Die gärende Erinnerung an seine Mutter kam in der Zeit, die er mit Bertha verbrachte, wieder hoch, so als ob es gestern gewesen wäre.

Seine Mutter hatte ihn, ihren Sohn und einzigen ‘Männi‘ - so nannte sie ihn - mit ihrer Liebe erdrückt.

Den Vater kannte er nicht, der war irgendwo in der Fremdenlegion verschollen. Angeblich.

Sein bräunlich verblichenes Foto, ein gestandenes Mannsbild in verwegener Uniform zeigend, hing zu Hause über dem Buffet im Stil des Gelsenkirchener Barocks. Ein Bild, das nur noch ab und zu verschwommen in seiner Erinnerung auftaucht.

Darunter lag ein von der Mama handgehäkeltes, unter vielen Tränen gefertigtes Spitzendeckchen, mit ebenso vielen Luftmaschen. ‚Für jede Träne eine Luftmasche‘, erklärte ihm die Mutter.

Sie hatte nach dem Verschwinden des Vaters nur noch ihn, ihren kleinen Männi, ließ ihn kaum aus den Augen. Um seine Lockenpracht zu zähmen, steckte sie ihm Klämmerchen in die Haare. Das war das Letzte!

„Mamakind“, riefen die anderen Kinder im Haus und in der Schule, und in ihm staute sich erstmalig kalte Wut an.

Als er zwölf Jahre alt war, und natürlich nicht mehr Struwwelpeter lesen wollte, erzählte ihm die Mutter abends immer noch unentwegt Märchen zum Einschlafen.

Wenn er schreiend aus dem Schlafzimmer rannte: „Ich will die blöden Märchen nicht mehr hören!“, brachte sie ihm Betthupferl, stets und unerschütterlich klebrige Marshmallows ans Bett. Dann kuschelte sie mit ihm, und zwang ihm die süßen Dinger in den Mund. Angeblich, damit er groß und stark würde.

Störrisch, innerlich vor Zorn kochend, schob er sie von sich, konnte nicht abwarten, dass sie endlich verschwand, ihre albernen Shows glotze, und er endlich sein Jerry Cotton Heft unter dem Bett hervorziehen konnte.

Inzwischen nannte er sie heimlich ‘Monster-Mutter‘. Er hasste es immer mehr, wenn sie mit Ihren Händen durch seine frisch mit reichlich Haar Gel versehene Elvis-Locke fuhr und schluchzend jammerte, dass er nicht so wie sein Vater werden solle, und sich innig an seine schmächtige Jungenbrust warf.

Als er vierzehn war, und eines Morgens nicht in seine gestärkten, mit eingepressten Bügelfalten versehenen Jeans passte, und das von Mama mit Bügelfix gestärkte T-Shirt unter den Achseln kratze, erfasste ihn mörderische Wut:

„Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, wirst du das bereuen!“, schrie er, schmiss die Haustür zu, lief zur nächsten Tanke und soff sich voll. Das erste Mal.

Diese Wut war ab da wie Treibstoff in seinem Leben. Hart und zerstörerisch.

Das nächste Mal stahl er eine Lederweste mit Nieten in einem Kaufhaus. Die Polizei brachte ihn mit der grünen Minna nach Hause.

Als die Mutter zeternd mit einer geöffneten Tüte Marshmallows in sein Zimmer kam und jammerte, dass sie ihn trotz allem lieb habe, als sich ihr Mund mit dem Marshmallow Geruch dem seinen näherte, stieß er sie, von Ekel ergriffen, so heftig zurück, dass sie bis zur Türschwelle stolperte, sich nicht mehr fangen oder festhalten konnte.

„Hau ab, du mit deinen Marshmallow-Betthupferln, ich hasse sie und dich!“, schrie er ihr hinterher.

Die Mutter, immer noch taumelnd, stolperte über eine Fußmatte und fiel vier Stufen hinunter, begleitet von den zarten Ploplauten der kollernden, verhassten, rosa Betthupferl.

Leblos lag sie da. Vier Stufen tiefer, verrenkt wie eine große Puppe, auf dem Treppenabsatz.

Da wurden ihm doch die Knie weich. Nach einigem Überlegen rief er die 112 und gab sich reumütig.

Das Bewusstsein erlangte seine Mutter nicht mehr.

Sie starb zwei Wochen nach ihrem Halswirbelbruch. Ihr ‚Männi‘ kam in ein Erziehungscamp und lernte immer mehr, wie man sich im Leben sprichwörtlich ‘durchschlagen‘ konnte.

Weil ihm seine Jugendsünden nicht immer alle Ehre machten, lernte Männi die Kunst der Verstellung und zeigte schauspielerisches Talent.

Er war inzwischen groß, gut aussehend, gepflegt und achtete auf seine Kleidung. Äußerlich befolgte er alle Benimm-Regeln, die seine Mutter noch im Grab erfreut hätten. Er wandelte sich in Aussehen, Gebaren und Auftreten mit den Jahren äußerlich zu einem feinen Pinkel.

Durch Beziehungen von guten Kumpeln aus seinen diversen kurzen Aufenthalten in Polizeigewahrsamen kam er leicht an mehrere und unterschiedliche Identitäten. So trat er mal als August von Kaltenburg, Thomas von Berge auf, ließ bei der Vorstellung mal eben so das ‘von‘ einfließen. Als Heribert von Baronsky kam er auch sehr gut über die Runden.

„Alter, ostpreußischer Adel, wie!“, donnerte bei einem exquisiten Empfang ein würdig aussehender Siebziger, nahm Haltung an und stieß die Hacken aneinander.

Baronsky, Kaltenburg, von Berge, Müller oder Schmidt, wie auch immer er hieß, er hatte sich nicht nur einmal mit einem falschen Namen Eintritt ergaunert.

Stets hielt er Ausschau nach liebebedürftigen Damen, solchen, die nicht unbedingt schön aussahen, aber durch Diamantenstaub verführerisch glitzerten.

Eindruck schindende Namen flossen so geläufig über seine Zunge wie der beste französische Champagner.

Im Rollentausch war er Profi.

Wenn es passte, und die Dame gut situiert war, schlüpfte er auch schon mal in die Rolle des soliden Beamten oder Kleinunternehmers. Er brachte folgsam den Müll herunter und das Häuschen der jeweils Geliebten, in stummer Aufopferung, in Ordnung. Nur solange, bis ihm der Kragen platzte und er sich einer hübschen Geldsumme sicher war.

Berthas Häuschen

Trautes Heim, Glück allein

Alte Volksweisheit

In dieser Nacht, kurz vor seinem Ziel, kommt er zu dem Schluss: Ich war und bin ein Schauspieler, ein Lebenskünstler von der dunkelsten Sorte. A man of the darkest kind.

Er grinst. Diese Bezeichnung hat er einmal in einem Thriller aufgeschnappt. Er findet sie toll und klopft sich in Tarzan-Manier an die Brust.

Zufrieden summend, ist er an dem kleinen Ferienhäuschen angekommen. Die erste Station seiner Flucht.

Ein eisiger Windstoß fegt durch Büsche und Bäume. Die Mondsichel verteilt spärliches Licht auf dem Metallziegeldach der Ferienhütte.

Der Mann, nennen wir ihn Männi, so wie seine Mutter es tat, schüttelt den Raureif wie Sternenstaub von seiner Kleidung und streckt sich.

Es ist 2:55 Uhr, Samstag, der 27. November 2004. Der Tag ist noch nicht erwacht.

Völlig erschöpft freut er sich auf eine warme Stube, doch diese Wärme muss er erst einmal schaffen.

Der Haustürschlüssel ist nicht da, wo man ihn vermutet, unter dem Blumentopf, sondern … Der Lebenskünstler verrät es nicht. Er weiß es einfach.

Die mit bunten Glasbausteinen versehene Tür springt auf. Muffiger Geruch schlägt ihm entgegen. Er war zu lange nicht mehr hier. Einige Briefumschläge liegen auf den toskanischen Fliesen im Hauseingang. Reklame? Er wird sich später darum kümmern. Niemand weiß von dem Häuschen. Bertha hatte keine Verwandten.

Der Schein seiner Taschenlampe gleitet über die Wände. Zunächst verdunkelt er die Fenster, lugt noch einmal hinaus und zündet erst jetzt eine Stehlampe an.

Bald brennt ein kleines Elektroöfchen und spendet behagliche Wärme.

Bertha lächelt ihm von der Wand zu. Ein Foto, das er gemacht hat. Selbst lässt er sich nicht ablichten. Er hasst es, fotografiert zu werden und wird dann fuchsteufelswild.