Herzerwachen - Vicky Schnee - E-Book

Herzerwachen E-Book

Vicky Schnee

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Beschreibung

Wenn sich Nelly um Mitternacht aus der Psychiatrie schleicht, betritt sie eine andere Welt. Tagsüber kämpft sie beim Duschen gegen Panikattacken an, nachts steigt sie zu fremden Männern ins Auto. Erst wenn die Stadt in Dunkelheit getaucht ist und sie die Sterne beobachten kann, fühlt sich Nelly frei und lebendig. Bei einem ihrer nächtlichen Streifzüge durch die Stadt trifft sie auf Narvik. Er ist kriminell, aber überraschend feinfühlig, und er versteht sie wie kein anderer. Narvik zeigt ihr wunderschöne Orte, an denen er in Nelly längst totgeglaubte Gefühle weckt und ihr neue Zuversicht schenkt. Aber selbst ihn weiht sie nicht in ihr Leben am Tag ein - bis ihre Geheimnisse sie eines Nachts einholen ...

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Seitenzahl: 337

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Impressum
Vorwort
Kapitel 1 Mo, 01.08.2022
Kapitel 2 Di, 02.08.2022
Kapitel 3 Fr, 05.08.2022
Kapitel 4 Fr, 05.08.2022
Kapitel 5 Sa, 06.08.2022
Kapitel 6 So, 07.08.2022
Kapitel 7 So, 07.08.2022
Kapitel 8 Mo, 08.08.2022
Kapitel 9 Di, 09.08.2022
Kapitel 10 Di, 09.08.2022
Kapitel 11 Sa, 13.08.2022
Kapitel 12 Di, 16.08.2022
Kapitel 13 Di, 16.08.2022
Kapitel 14 Mi, 17.08.2022
Kapitel 15 Do, 18.08.2022
Kapitel 16 Do, 18.08.2022
Kapitel 17 Sa, 20.08.2022
Kapitel 18 So, 21.08.2022
Kapitel 19 Mo, 22.08.2022
Kapitel 20 Mo, 22.08.2022
Kapitel 21 Mi, 24.08.2022
Kapitel 22 Fr, 26.08.2022
Kapitel 23 Fr, 26.08.2022
Kapitel 24 Sa, 27.08.2022
Kapitel 25 Sa, 27.08.2022
Kapitel 26 Di, 30.08.2022
Kapitel 27 Fr, 02.09.2022
Kapitel 28 Fr, 02.09.2022
Nachwort
Content Notes
Hilfe für Betroffene
Danksagung
Charakterillustration

Vicky Schnee

Herzerwachen

Zwischen Tag und Nacht

Band 1

Roman

Impressum

Viktoria Schneeberg

[email protected]

www.bunterschnee.de/buecher

Instagram: vickyschnee

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand, Norderstedt

Coverdesign und Umschlaggestaltung:

Florin Sayer-Gabor

www.100covers4you.com

Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: Watercolor_Concept, netrum78

Grafikdesign Kapitelverzierung, Charakterillustration:

Arianna

Fiverr: ariannaesp

© 2023 Vicky Schnee

ISBN: 9783744819947

Vicky Schnee wurde 1996 in Nordrhein-Westfalen geboren und lebt inzwischen in der Nähe von Stuttgart.

Die Liebe zum Schreiben lebt sie aus, seit sie das Alphabet beherrscht. Insbesondere das Verfassen von Romanen ist für sie nicht nur ein Hobby, sondern eine unbändige Leidenschaft.

Sie liebt es, neue Welten zu gestalten, in sie einzutauchen und sich von ihnen mitreißen zu lassen. Einerseits kann sie im Geschriebenen sich selbst und ihre Erlebnisse einbringen, andererseits kann sie vor ebendiesen fliehen und etwas vollkommen Neues erschaffen.

Für sie ist Schreiben der Schlüssel zu endlosen Möglichkeiten und somit zur Freiheit.

Vorwort

Hallo,

ich freue mich, dass du dich für den ersten Teil meiner »Zwischen Tag und Nacht«-Reihe interessierst.

Bevor du zu lesen beginnst, möchte ich dich darauf hinweisen, dass dieser Roman mehrere potenziell triggernde Elemente enthält. Eine Übersicht findest du unter »Content Notes«. Eine (ggf. aktualisierte) Version befindet sich zudem auf meiner Website unter www.bunterschnee.de/buecher/herzerwachen (Bitte beachte, dass diese Spoiler für das gesamte Buch enthalten!)

Ich wünsche dir viel Vergnügen beim Lesen.

Deine Vicky Schnee

Dieses Buch ist für alle,

die sich jeden Tag aufs Neue ihren Ängsten stellen.

Kapitel 1 Mo, 01.08.2022

Auf leisen Sohlen und mit gespitzten Ohren schleiche ich die Treppe hinab und steuere im Dunkeln zielstrebig auf den schwach beleuchteten Ausgang zu. Niemand sieht oder hört mich. Ich öffne die schwere Glastür und husche hinaus. Routiniert verhindere ich mit dem Fuß, dass die Tür ins Schloss fällt. Mit einer Hand fische ich nach dem kleinen Stein und drapiere ihn so, dass die Glastür zwar so aussieht, als sei sie richtig geschlossen, sich in Wahrheit jedoch wieder aufstoßen lässt.

Zufrieden drehe ich mich um und laufe den gepflasterten Weg entlang, an den ausladenden Bäumen und Büschen vorbei, hinaus auf den Hof. Ich atme tief ein, nehme die frische Nachtluft in mir auf. Zahlreiche Straßenlaternen, Reklametafeln und vereinzelt vorbeifahrende Autos beleuchten die Stadt, aber hier sieht es trotzdem ganz anders aus, als am Tage. Und genau so sollte es sein. Ich ertrage die Stadt tagsüber einfach nicht, doch in der Nacht fühle ich mich hier unfassbar wohl.

Heute habe ich kein bestimmtes Ziel vor Augen. Ich schlendere an der Hauptstraße entlang, biege in eine Seitenstraße ein und komme an einem kleinen, schlicht gehaltenen Spielplatz vorbei. Er liegt im Dunklen, sodass mich die verwaisten Klettergerüste an abstrakte Skelette erinnern. Ich beschließe, mich auf die Schaukel zu setzen, hole Schwung und lächle, während ich durch die Nacht fliege. Meine langen Haare wehen im Wind, und in meinem Bauch kribbelt es beim Vor- und Zurückschaukeln. Ich schließe die Augen. Ein zartes Lächeln huscht auf meine Lippen. Dieses sonderbare Gefühl nehme ich tief in mir auf, koste jede einzelne Empfindung aus. Ich spüre den Luftstrom auf der Haut, höre das Brummen eines Autos ein paar hundert Meter entfernt und das leise Rascheln der Baumkronen im seichten Wind.

Nur kurz zögere ich, ehe ich mich von der Schaukel abstoße und in die Finsternis hineinspringe. Mein Versuch, mit beiden Füßen auf dem Boden zu landen, misslingt. Ungeschickt stolpere ich ins Gras, fange mich jedoch schnell wieder.

Ich balanciere über einen wackeligen Balken, ehe ich den Spielplatz verlasse. Das Quietschen der Schaukel begleitet mich bis zur anderen Straßenseite. Außer mir ist kaum jemand unterwegs. Auf der sonst so stark befahrenen Straße herrscht Ruhe, die nur gelegentlich durch ein einzelnes Auto durchbrochen wird. Grußlos husche ich an einer jungen Frau und ihrem Welpen vorbei, der neben einem Baum am Straßenrand hockt. Ich liebe diese Anonymität, die einem die Dunkelheit schenkt. Nachts ist alles anders, so viel besser als am Tage.

Meine Beine tragen mich immer weiter, ziellos schlendere ich durch die Straßen. Ich lasse mich von dem friedlichen Gefühl und der nächtlichen Ruhe treiben, bis mich ein lautes Quietschen zusammenzucken lässt. Mit weit aufgerissenen Augen fahre ich herum. Die kreischenden Reifen bereiten mir eine Gänsehaut. Ein Auto am anderen Ende der Straße kann aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit die Kurve nicht mehr richtig nehmen. Die Bremslichter tauchen die Häuserwand in rotes Licht, während das Fahrzeug gegen einen Müllcontainer schlittert. Instinktiv halte ich die Luft an, ehe mich der laute, metallische Knall zusammenzucken lässt. Der Wagen kommt unsanft zum Stehen. Ich keuche und starre reglos das Auto an, dessen Lichter nun ausgehen. Die Straßenlaternen erhellen es noch immer und geben die Sicht auf den schwarzen, sportlich geschnittenen Mercedes frei.

Kaum erstirbt das tiefe Brummen des Motors, herrscht wieder Stille. Ich schlucke schwer. So ein Unfall ist definitiv nichts, was ich regelmäßig während meiner nächtlichen Streifzüge erlebe. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Weit und breit ist niemand zu sehen, aber von dem Krach wurden sicherlich ein paar Anwohner aufgeschreckt. Irgendjemand wird gleich gewiss auf die Straße eilen und nachschauen, was passiert ist.

Die Stimme der Vernunft befiehlt mir, zum Auto zu rennen, um zu kontrollieren, wie es den Insassen geht. Aber die vorsichtige Seite in mir ist stärker. Sie will, dass ich mich von der Unfallstelle fernhalte und aus dem Staub mache, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich fühle mich wie ein verdammter Egoist, während ich wie ferngesteuert ein paar Schritte rückwärts gehe. Meine Augen sind noch immer auf den zerbeulten Sportwagen mit den abgedunkelten Scheiben gerichtet, aus dem nun eine schwarze Gestalt steigt, die Autotür schwungvoll zuwirft und zu rennen beginnt.

Ich erstarre, als mir klar wird, dass sie in meine Richtung eilt. Nein, das stimmt nicht ganz: Die Person rennt direkt auf mich zu. Ich stehe so weit weg von den Straßenlaternen, dass ich im Dunkeln kaum zu sehen bin. Trotzdem beschleunigt sich mein Herzschlag. Ich will nicht entdeckt werden. Ich will nicht zu den Gaffern gehören, die alle Welt hasst. Andererseits ist es auch nicht richtig, sich als Fahrer von der Unfallstelle zu entfernen. So wie es aussieht, lässt dieser aber gerade sein zerbeultes Auto hinter sich zurück und rennt so schnell wie möglich davon.

Die Person hat es so eilig, dass sie mich übersieht und unsere Schultern schwungvoll aufeinandertreffen. Ich kann ein leises Stöhnen nicht unterdrücken.

»Fuck«, flucht der schwarzgekleidete Fahrer und gerät ins Stolpern. Er wirbelt zu mir herum, und trotz der Dunkelheit erkenne ich das aufgebrachte Funkeln seiner Augen. Na, toll. So viel dazu, dass ich unsichtbar und unscheinbar bleiben will. »Versteckst du dich hier, oder was?«, zischt er.

Ich weiß nicht, was ich erwidern soll, reibe mir die schmerzende Schulter und weiche seinem Blick aus. Stumm sehe ich zu dem kaputten Auto herüber. Ein paar Lichter in den umliegenden Häusern erhellen mittlerweile die Straße, neugierige Menschen recken ihre Köpfe aus den Fenstern. Ihnen wird normalerweise ebenso wenig wie mir solch ein nächtliches Spektakel geboten.

»Seit wann stehst du hier?«, will der Fremde wissen. Seine Stimme bebt und mir dämmert, dass er Angst hat, ich könnte zu viel gesehen haben. Habe ich ja auch. Wahrscheinlich befürchtet er, dass ich ihn verpfeife, sonst wäre er schon längst verschwunden.

»Lauf weiter und versteck du dich lieber«, erwidere ich daher bloß. Ich bin überrascht, wie selbstbewusst und ruhig ich klinge, obwohl mein Herz rast und meine Atmung viel zu schnell geht. Der Unfall und die Fahrerflucht haben mich aufgeweckt. Dieses ungeplante Abenteuer stellt eine willkommene Abwechslung zu den üblichen eintönigen Nächten dar.

Dem Mann ist trotz der Dunkelheit seine Unsicherheit deutlich anzusehen. Unruhig springen seine Augen zwischen mir und dem demolierten Fahrzeug hin und her. Plötzlich packt er mein Handgelenk und zieht mich hinter sich her. »Komm«, befiehlt er mir. Sein Griff ist fest, sein Tonfall ernst.

Ich beschließe, mich zumindest vorerst nicht zu wehren, und renne mit ihm die Straße entlang. Der Kerl biegt in eine Seitenstraße ein, die in Finsternis getaucht ist. Mit mir im Schlepptau rennt er durch eine schmale Gasse und lässt mein Handgelenk auch dann nicht los, als er auf ein mehrstöckiges Haus zuläuft. Ich habe keine Ahnung, was das hier wird und wo genau er überhaupt hin will, aber vermutlich werde ich das zeitnah erfahren.

Durch das Donnern in meiner Brust und das Rauschen in meinen Ohren fühle ich mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Ich liebe es. Liebe das Gefühl, wach zu sein. Nicht durch Watte zu staksen. Nicht bloß ein Zuschauer meines eigenen Lebens zu sein. Das ist auch der Grund, warum ich mich nicht aus dem Griff des Fremden winde, sondern ihm zur Rückseite des Wohnblocks folge.

Vor einer Kellertür des Mehrfamilienhauses bleibt er stehen, lässt endlich mein Handgelenk los und dreht sich zu mir um. Hier ist es so dunkel, dass wir die Konturen des anderen nur erahnen können. Wahrscheinlich wäre jetzt der richtige Moment zu flüchten oder um Hilfe zu schreien, stattdessen bleibe ich stehen und warte ab. Ich bin angespannt, jedoch weitaus weniger ängstlich, als ich vermutlich sein sollte. Unter normalen Umständen hätte ich sicherlich große Angst vor diesem Kerl, aber was ist schon normal? Meine Empfindungen sind es jedenfalls nicht, doch das ist keine neue Erkenntnis.

Er keucht ein wenig, als er eindringlich fragt: »Was hast du gesehen?«

Ich sollte lügen und von hier verschwinden, doch ich antworte leichthin: »Genug.«

Ich weiß, dass das dumm von mir ist. Ich weiß, dass vor mir ein vermeintlich krimineller Kerl steht, der zu allem fähig sein könnte. Doch dieses Wissen berührt mich nicht. Ich habe keine Angst, nicht einmal ein bisschen. Wenn es Enno noch gäbe, wenn damals alles anders gekommen wäre, dann wäre ich jetzt nicht so lebensmüde. Aber Enno ist nicht mehr da, also sorge ich mich nicht um mein Wohlergehen, sondern heiße den Nervenkitzel mit weit ausgebreiteten Armen willkommen.

»Fuck«, zischt er erneut und rauft sich die Haare. Ich glaube, dass sie ziemlich lang sind. Sie scheinen mindestens bis zu seinen Schultern zu reichen.

Er wirkt unschlüssig, packt dann erneut mein Handgelenk und zieht mich die schmale Treppe hinab, die offenbar in den Keller des Wohnblocks führt. Die metallische Tür ist zu meiner Verwunderung nicht verschlossen, sodass wir ungehindert eintreten können. Er schließt die Tür hinter mir und leitet mich durch die Finsternis. Es riecht seltsam: nach einer Mischung aus altem Zigarettenrauch und feuchtem Beton. Ich glaube, dass ich in einem Film gelandet bin, denn im echten Leben passiert so etwas nicht, oder?

Obwohl wir in der Dunkelheit unterwegs sind, weiß er genau, vor welcher Tür er stehen bleiben muss. Er lässt mich los und kramt nach etwas in seiner Hosentasche. Meine Augen haben sich an die Finsternis noch nicht vollends gewöhnt, aber das Klimpern verrät mir, dass er einen Schlüsselbund hervorholt. Mit einem leisen Klacken öffnet sich das Schloss. Er stößt die Tür auf und will erneut meinen Arm packen, doch ich bin schneller und husche in den dahinterliegenden Raum.

Erst nachdem er die Tür geschlossen hat, betätigt der Fremde einen Lichtschalter. Das grelle Licht, das sogleich aufflackert, schmerzt in meinen Augen. Ich kneife sie sofort zusammen und sehe weg, blinzle jedoch gegen die plötzliche Helligkeit an und befehle meinen Pupillen, zu schrumpfen. Nachdem ich mich halbwegs an das Licht gewöhnt habe, erhalte ich erstmals die Gelegenheit, mein Gegenüber zu mustern. Bis jetzt hätte ich ihn unmöglich beschreiben können, doch nun erkenne ich die hellen Locken, die schlichte schwarze Kleidung und den durchdringenden Blick, mit dem er mich kritisch betrachtet. Ich deute auf seine rechte Stirnseite und sage: »Die solltest du verarzten lassen.«

Er legt seine Stirn in Falten, greift nach der Stelle an seinem Kopf und verzieht vor Schmerz das Gesicht, kaum berühren seine Finger die Platzwunde. Er zieht seine Hand wieder zurück und betrachtet einen Moment lang das frische Blut an seinen Fingerkuppen, dann lässt er sie sinken und sieht mich erneut an. Er sagt kein Wort, und ich schweige ebenfalls.

Er ist jünger, als ich erwartet habe, wahrscheinlich unter dreißig. Seine Augen sind gerötet, sein Bart ist stoppelig, und ein Teil seines Gesichts ist blutverschmiert. Auch seine Unterlippe ist aufgesprungen, aber die Wunde blutet im Vergleich zur Kopfverletzung kaum.

Der Mann wendet sich von mir ab, um die Tür abzuschließen. Dann öffnet er eine angrenzende Holztür und schaltet auch in diesem Raum das Licht an. Dahinter verbirgt sich ein fensterloses, enges Badezimmer.

Ich sehe mich in dem winzigen Flur um. Der geflieste Boden ist schon lange nicht mehr gewischt worden, die einst weiße Tapete wirkt vergilbt und löst sich an manchen Stellen von der Wand ab. Eine nackte Glühbirne hängt von der Zimmerdecke. Ob das seine Bude ist? Aber wieso sollte er nach einer Straftat eine Augenzeugin in seine Wohnung bringen? Wieso hat er mich nicht einfach auf der Straße stehen lassen? Ich hätte nicht viel gegen den Fremden in der Hand gehabt, aber allmählich weiß ich immer mehr über ihn. Ich könnte dieses Wissen gegen ihn verwenden und es mit der Polizei teilen. Wieso nimmt er das in Kauf? Darf ich diese Wohnung sowieso nicht mehr lebend verlassen, oder was geht in ihm vor?

Ich sehe ratlos zu, wie der seltsame Typ mit einem Lappen am Waschbecken steht und sein Gesicht von dem Blut befreit. Als er damit fertig ist, tupft er es mit einem Handtuch trocken, das bestimmt vor einer Ewigkeit zuletzt gewaschen wurde. Ich rümpfe angewidert die Nase. Hygienisch ist das nicht gerade. Er legt das Tuch beiseite, zieht aus dem Waschbeckenunterschrank einen roten Beutel hervor und durchwühlt den Inhalt. Ich beobachte im Spiegel, wie er sein Gesicht verzieht, nachdem er Desinfektionsmittel auf seine Wunde gesprüht hat. Er steckt das Spray wieder zurück und zückt ein kleines Pflaster, das jedoch in Sekundenschnelle blutgetränkt sein wird.

Ich kann nicht länger dabei zusehen, wie er unbeholfen versucht, seine Verletzung zu verarzten. Daher setze ich mich in Bewegung, folge ihm ins Bad und nehme ihm den roten Beutel ab. Er sieht mich mit großen Augen an, sagt aber nichts. Ich reiße eine Kompresse auf und drücke sie auf die noch immer blutende Wunde.

»Halt das«, ordne ich an, was er sogar tut. Ich suche in dem Beutel nach Strips, finde aber keine, sodass ich stattdessen ein Heftpflaster in Streifen schneide. Ich schiebe seine Hand wieder beiseite, um die Wunde mit dem Klammerpflaster zu kitten. Eigentlich müsste sie genäht werden, aber das wird der Typ sicherlich nicht machen lassen. Ich nehme ihm die Wundkompresse ab, falte sie und fixiere sie mit Heftpflastern über seiner klaffenden Wunde.

»So.« Ich ziehe den Reißverschluss des Beutels wieder zu. »Das sollte fürs Erste genügen.«

»Danke«, sagt der Fremde zögerlich und betrachtet mich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Ich halte seinem argwöhnischen Blick stand und sehe zu, wie seine leuchtend blauen Augen mich von oben bis unten scannen, ehe er mir wieder ins Gesicht sieht. Ich glaube, dass er nicht oft Augenzeugen mit nach Hause bringt. Jetzt scheint er nicht zu wissen, was er mit mir machen soll.

Er wirft den Beutel zurück ins Schränkchen, dann streckt er mir seine Hand entgegen und stellt sich mir als Narvik vor. Diese vollkommen normale Geste verwirrt mich, denn sie erscheint mir hier völlig fehl am Platz zu sein.

Trotzdem ergreife ich zögerlich seine Hand und erwidere: »Nelly.«

Er lächelt zaghaft, wodurch ein süßes Grübchen in seinem Mundwinkel entsteht. Ich könnte mir für diesen Gedanken eine klatschen. Echt jetzt? Süßes Grübchen? An das denke ich, wenn ich einen Mann betrachte, der mich im Grunde gewaltsam verschleppt hat? Ich rufe mir ins Gedächtnis, dass er vorhin ein Sportauto zu Schrott gefahren hat und daraufhin abgehauen ist. Dieser Narvik ist garantiert kriminell, und ich finde sein Grübchen süß. So weit ist es also schon gekommen.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich jetzt machen soll«, gibt Narvik langsam zu. Seine überraschende Aufrichtigkeit amüsiert mich. Ich finde ihn sympathisch, obwohl mir klar ist, dass ich das nicht tun sollte. Er gehört mit Sicherheit nicht zu den Menschen, die man guten Gewissens mögen kann.

Ich zucke mit den Achseln. Er hat mich hierhergeschleppt, also muss er auch entscheiden, wie es weitergeht. Narvik rauft sich sein dunkelblondes, lockiges Haar, das ihm bis zu den Schultern reicht. Seine rechte Augenbraue sowie die Unterlippe sind gepierct, Hals und Hände sind mit Tattoos übersät. Die dunkle Jeans ist zerschlissen, die schwarze Kapuzenjacke wirkt ebenfalls schon älter und seine Schuhe sind abgenutzt. Seinen roten Augen nach zu urteilen würde ich behaupten, dass er vor kurzer Zeit gekifft hat. Ja, dieser Typ passt zweifellos in das klischeehafte Bild eines Kleinkriminellen.

»Das war nicht dein eigenes Auto, oder?«, frage ich geradeheraus.

Narviks Augen werden groß. Mit dieser Frage hat er nicht gerechnet. Zu meiner Verwunderung antwortet er nach nur kurzem Zögern: »Nein, war es nicht.«

Erneut frage ich mich, warum er so ehrlich zu mir ist. Ihm wird klar sein, dass ich dieses Wissen gegen ihn verwenden könnte. Ich hake hinterher: »War es geklaut?«

Er nickt, ohne mich anzusehen.

»Klaust du öfters Autos?«

Narvik zieht eine halb amüsierte, halb gequälte Grimasse, ehe er zugibt: »Ja, ab und zu.«

Ich denke über seine Worte nach. Er hat diese Nacht einen teuren Mercedes geklaut, damit einen Unfall gebaut und muss nun hoffen, dafür nicht bestraft zu werden. Wir wissen beide, dass ich ihn verpfeifen könnte. Warum zum Teufel hat er das zugelassen? Er hätte mich doch genauso gut auf der Straße stehen lassen können, dann hätte ich deutlich weniger Informationen für die Polizei. Doch dafür ist es längst zu spät, jetzt stehe ich bereits in dieser schäbigen Kellerwohnung und führe eine seltsame Unterhaltung, während wir so tun, als sei dies vollkommen normal.

Ich seufze. »Tja, für den wirst du wohl keinen Cent mehr kriegen.«

»Sehe ich auch so«, stimmt Narvik mir zu. Ein Schmunzeln stiehlt sich auf seine Lippen, doch dann sieht er mich ernst an und sagt: »Tut mir leid, dass ich dich hinter mir hergezogen habe. Ich hätte einfach ohne dich weiterrennen sollen.«

Ich nicke bloß. Ja, das hätte er. Das wäre klüger gewesen. Das hier ist eine verdammt blöde Situation, in die er sich unnötigerweise gebracht hat.

Narvik grinst unsicher. »Irgendwie scheint dir all das nichts auszumachen … Warum?«

Ich zucke mal wieder mit den Schultern. »Es ist dein Leben, nicht meins. Du kannst dein Ding machen, und ich mach mein eigenes. Ich misch mich da nicht ein.«

Er legt seinen Kopf ein wenig schief und sieht mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. »Was ist dein Ding?«

Ich überlege, was ich antworten soll. Schließlich entscheide ich mich dazu, das Offensichtliche auszusprechen. »Ich geh halt gern nachts spazieren.«

Meine Aussage amüsiert Narvik sichtlich. »Okay, gut, dabei wollte ich dich eigentlich auch nicht stören. Aber du weißt jetzt ziemlich viel über mich, das du nicht nach draußen tragen solltest. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich dich jetzt einfach wieder laufen lasse.«

Was will er denn sonst machen? Mich hier auf immer und ewig festhalten? Das wird nicht funktionieren, und Narvik scheint mir nicht der richtige Typ für einen Mord zu sein.

»Ich verrate dich schon nicht«, sage ich daher. »Davon habe ich doch eh nichts.« Das ist die Wahrheit. Ich habe definitiv nicht vor, jetzt zur Polizei zu rennen und ihn zu verpfeifen. Ich bin doch selbst froh, wenn ich meine Ruhe habe.

Narvik betrachtet mich mit gerunzelter Stirn, ehe er erwidert: »Darauf kann ich mich aber nicht verlassen.«

Ich seufze und erkläre: »Ich bin aus der Klapse abgehauen. Glaubst du echt, dass ich so blöd bin, freiwillig zur Polizei zu gehen? Ich will nicht, dass jemand von diesem Ausflug erfährt.«

Narviks Augen sind plötzlich erstaunlich groß und sein überraschter Blick spricht Bände. »Echt jetzt? Soll das ein Witz sein?« Er scheint nicht genau zu wissen, ob er mir glauben kann.

Ich bestätige nickend: »Ja, das mache ich fast jede Nacht. Also, hiermit sind wir quitt. Ich habe was gegen dich in der Hand und du gegen mich.«

Narvik scheint einen Moment über meine Worte nachzudenken. »Wieso haust du nachts ab? Und warum zum Teufel ist das anscheinend problemlos möglich?«

»Weil es keine geschlossene Anstalt ist. Natürlich ist das Abhauen trotzdem verboten, aber die Nachtschicht achtet kaum darauf, ob die Betten wirklich alle belegt sind.«

»Okay, aber wieso nutzt du das so oft aus?« Einerseits scheint er noch immer den Wahrheitsgehalt meiner Erklärung in Frage zu stellen, andererseits hat ihn die Neugierde gepackt.

»Ich mag eben die Stadt bei Nacht und muss zwischendurch aus diesem beschissenen Gebäude raus. Also …« Ich deute auf die Wohnungstür. »Darf ich gehen? Wie gesagt, ich erzähle garantiert niemandem etwas.«

Narvik wirkt so, als würde er noch etwas fragen oder sagen wollen, doch dann nickt er bloß und dreht den Schlüssel seiner Wohnungstür um. »Findest du den Weg oder soll ich dich ein Stück begleiten?«

»Ich finde den Weg«, lüge ich.

Narvik glaubt mir und meint: »Okay. Es war … interessant, dich kennenzulernen. Du bist irgendwie … seltsam … aber cool.« Er grinst unsicher. »Na, wie auch immer. Gehen wir heim.«

Er öffnet die Tür, löscht das Flurlicht und tritt hinaus in den dunklen Keller. Ich sehe ihn verwirrt an. »Bist du hier nicht zuhause?«

Er lacht leise. »Oh, Gott bewahre, nein. Das ist eher so eine Art … Büro.«

Ich runzle die Stirn, hake aber nicht nach. Ich bin ohnehin schon viel zu neugierig gewesen, ich werde ihn nicht erneut mit unangemessenen Fragen bombardieren. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser dreckigen Bude ein richtiges Büro gibt. Wobei der Arbeitsplatz eines Kleinkriminellen vermutlich selten modern, hell und aufgeräumt ist. Große Fensterfronten dürfte man dort ebenfalls vergebens suchen.

Narvik schließt die Tür ab, steckt die Schlüssel wieder in seine Hosentasche und läuft voraus zur Kellertür, durch die wir zurück nach draußen gelangen. Er hält mir die Tür auf, sodass ich zuerst hindurch husche. Es ist herrlich, endlich wieder klare, frische Nachtluft zu atmen. Narvik deutet in die entgegengesetzte Richtung, die ich einschlagen wollte. »Ich muss da lang. Also, Nelly, mach’s gut.«

»Du auch.« Ich wende mich von ihm ab und laufe zielstrebig davon, obwohl ich nicht genau weiß, wo ich gerade bin. Egal, früher oder später werde ich gewiss an einer vertrauten Stelle vorbeikommen und von dort aus zurück in die Psychiatrie finden.

Die letzten Minuten sind mit Abstand die spannendsten und seltsamsten seit Langem gewesen, sodass ich mich erneut frage, ob das alles nicht bloß ein Film ist. Aber ich fühle mich so lebendig, so wach, dass ich die Realität nicht leugnen kann. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, während ich darüber nachdenke, wer von uns beiden verrückter ist: Narvik oder ich. Wir haben uns gegenseitig vertraut, was komisch und witzig zugleich ist. Er wird mich nicht verraten, davon bin ich überzeugt. Und er verlässt sich darauf, dass ich ebenfalls schweigen werde. Warum? Ist er naiv? Ist seine Menschenkenntnis so überragend gut? Was soll’s? Ich habe nicht gelogen, ich werde ihn wirklich nicht verpfeifen. Ich fand ihn irgendwie nett. Mir ist klar, dass Narvik Illegales treibt, doch es stört mich nicht. Er war mir trotzdem sympathisch.

Das ist krank, oder? Na ja, aber genau deswegen bin ich ja in einer Psychiatrie: Ich ticke nicht mehr ganz sauber.

Kapitel 2 Di, 02.08.2022

Während mich die Therapeuten zutexten, spiele ich abwechselnd gelangweilt mit meinen Piercings und knibble an den Fingernägeln. Mir ist schon klar, dass ihre Worte helfen sollten, aber das schaffen sie nicht. Sie prallen an mir ab wie Wassertropfen an einer Lotuspflanze. Ich verstehe, was die Leute um mich herum sagen, kann ihre gutgemeinten Ratschläge jedoch unmöglich in die Tat umsetzen. All die tiefgründigen, klugen Worte ändern gar nichts an mir, an meinem Innenleben, an meiner kaputten Psyche. Ich höre ihnen zu, Tag für Tag, aber das ist das Einzige, was passiert.

Ich bin froh, dass endlich die Maltherapie beginnt, in der wir mit Wachsmalstiften malen können, wonach auch immer uns ist. Obwohl ich mich an den heutigen Gesprächen mit keinem einzigen Wort beteiligt habe, sind mir die Themen trotzdem nicht entgangen. Ich kann nicht anders, als passend zu dem Thema »Wünsche« eine bunte Zeichnung anzufertigen. Ich denke gar nicht groß darüber nach, sondern weiß einfach sofort, was ich malen will. Wie von selbst fliegt meine Hand über das DIN-A3-Papier vor mir und lässt dort meinen Wunsch entstehen, von dem ich weiß, dass er niemals wahr werden wird. Nicht mehr. Aber damals habe ich mir das genau so vorgestellt: Ich stehe am Herd und rühre mit einem Holzlöffel in einem großen Suppentopf, während Silas im Anzug und mit bereits gelockerter Krawatte durch die Tür tritt. Mein Bauch weist eine unverkennbare Wölbung auf, die nicht von zu viel Essen kommen kann. Neben mir auf dem Fußboden sitzt ein kleiner Junge und baut aus bunten Holzklötzen einen wackeligen Turm.

Ja, ich weiß, das ist das Rollenklischee einer typischen Bilderbuchfamilie schlechthin, aber genau so habe ich mir das vorgestellt. Ich habe mir gewünscht, dass ich mich um den Haushalt und die bezaubernden Kinder kümmere, während mein geliebter Mann das Geld nach Hause bringt. Bescheuert, oder? Immerhin leben wir im 21. Jahrhundert und ich bin erst fünfundzwanzig Jahre alt. Vielleicht ist das der Grund, warum daraus nie etwas geworden ist.

Ich glaube mittlerweile, dass es nie wahr werden wird. Ich habe mir eindeutig das Falsche gewünscht. Dieses alberne, kitschige Zukunftsbild war zu viel des Guten. Jetzt sehe ich ja, was ich davon habe. Mir ist rein gar nichts geblieben. Ich habe keine eigene, kleine, glückliche Familie. Auf dem Herd steht niemals selbstgekochtes, leckeres Essen. Und mein Mann … Ach, was soll’s. Es spielt keine Rolle mehr. Es wird Zeit, mir etwas Neues zu wünschen. Etwas, das realistischer ist. Etwas, das wahr werden darf. Ich habe nur leider keine Ahnung, was das sein könnte.

Nach dem Abendessen kämpfe ich ungefähr eine halbe Stunde lang mit mir selbst, bis ich mir endlich einen Ruck gebe und mein silbernes Armband gegen den Duschschlauch eintausche.

Ich betrete mit dem Teil wieder mein Zimmer. Meine Mitbewohnerin Lilith wirft mir einen mitfühlenden, aufmunternden Blick zu. Sie weiß, wie sehr ich das Duschen hasse, aber darauf kann ich unmöglich verzichten. Ich dusche ja schon so selten wie möglich, doch von Zeit zu Zeit muss ich mich von Schweiß und Schmutz befreien. Ich erwidere mühsam ihr nettes Lächeln, ehe ich mich im Bad einschließe und den Duschschlauch montiere. Es ist ein bisschen albern, dass diese aus Sicherheitsgründen nicht in den Zimmern bleiben dürfen, während Schnürsenkel und Gürtel erlaubt sind.

Mein Atem geht viel zu schnell und viel zu flach. Mit zittrigen Händen ziehe ich das T-Shirt über den Kopf und schlüpfe aus meiner Jogginghose. Meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding, aber mittlerweile weiß ich, dass sie mich trotzdem halten werden. Sie wirken bloß immer weicher, als sie tatsächlich sind.

Ich steige aus meinem Slip, öffne den BH und hole tief Luft, ehe ich einen Schritt nach vorn wage. Mein ganzer Körper bebt, dennoch greife ich nach dem Duschkopf. Ich richte den Strahl auf die Fliesen, öffne die Armatur und kämpfe gegen die sogleich aufkeimende Panik an. Das kalte Wasser umspielt meine Zehen und fließt an den Füßen entlang, ehe es im Abfluss verschwindet. Mein Herz rast, meine Brust fühlt sich zu eng an. Ich rufe mir all die Übungen ins Gedächtnis, die ich gelernt habe, um den Panikattacken zu entfliehen. Also zähle ich langsam rückwärts, halte zwischenzeitlich meine Luft an, gewöhne mich allmählich an das Plätschern.

Als ich mich wieder halbwegs beruhigt habe und das Wasser eine angenehm warme Temperatur erreicht hat, richte ich den Strahl auf meine Beine. Das ist okay. Ich hasse es, von Wasser umgeben zu sein, aber solange das Wasser nur an meinem Unterkörper ist, komme ich damit so gerade eben zurecht. Je höher ich den Wasserstrahl wandern lasse, desto angespannter werde ich. Die Angst klettert ebenfalls immer weiter hinauf und nimmt nach und nach jede Zelle meines Körpers ein. Meine Muskeln spannen sich unter der Berührung des Wassers an. Viele Menschen finden lange, warme Duschen entspannend, doch ich verkrampfe mich darunter nur.

Ich schlucke mühsam den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, während unzählige Tropfen am Bauch hinabgleiten. Ich beobachte, wie sie an meiner Brust abperlen, hinabfließen und letztlich abtauchen. Kann ich mich nicht mal wie jeder normale Mensch waschen? Kann ich nicht endlich wieder unter diese verdammte Dusche steigen, ohne dabei durchzudrehen?

Ich spüre das Brennen von Tränen in meinen Augen, die ich gar nicht weinen will. Mein Atem geht rasselnd, mein Körper bebt. Es ist immer derselbe Scheiß. Seit über einem Jahr hat sich in diesem Punkt einfach nichts verändert. Wasser ist und bleibt mein Feind, und diese scheinbar harmlose Dusche ändert nichts daran. Ich rufe mir mein Mantra ins Gedächtnis, das ziemlich albern klingt, aber halbwegs effizient ist: »Dieses Wasser ist ungefährlich. Ich bin in Sicherheit. Mir kann nichts passieren.«

Ich halte die Luft an und kneife die Augen zusammen, ehe ich die Brause direkt über den Kopf halte. Ich keuche auf. Das Wasser ist überall. Ein leises Wimmern entweicht meinem Mund. Ich versuche, mich auf diese bescheuerte Atemübung zu konzentrieren, die meine Panik zumindest ein bisschen in Zaum halten kann. Aber das Wasser hüllt mich ein, umschließt mich, gibt mich nicht mehr frei. Bilder blitzen vor meinem geistigen Auge auf. Erinnerungen, die ich jetzt unmöglich verkrafte. Ich reiße die Augen wieder auf, starre die weißen Fliesen direkt vor mir an, verbanne diese schrecklichen Bilder aus meinem Kopf. Ich ertrage das nicht länger, knalle meine Hand gegen die Armatur und mache dieses verdammte Wasser aus.

Salzige Tränen mischen sich unter das Süßwasser auf meiner Wange. Toll. Auch heute ist das ein elendiger Akt, von Fortschritten keine Spur. Wütend und verzweifelt shampooniere ich meine langen, feuerroten Haare ein. Ich seife meinen Körper so grob ein, als könne er irgendetwas dafür, dass ich auf dieses bescheuerte Wasser auf meiner Haut so übertrieben reagiere. Ich weiß, dass mein Körper nichts dafürkann. Tief in mir drin sitzt das wahre Problem, und dennoch hasse ich alles und jeden für diese kaum kontrollierbare Angst.

Ich befreie meine Haut wieder von dem Schaum, muss dafür erneut mit aller Kraft gegen die wachsende Panik ankämpfen.

Schwer atmend stelle ich das Wasser endlich wieder aus. Ich bin vollkommen erschöpft. Meine Augen brennen aufgrund der salzigen Tränen. Mein Nacken schmerzt, weil ich mich viel zu lang verkrampft habe. Ich sehne mich nach einer warmen Decke, einem weichen Bett und einer Tasse Tee. Oder von mir aus auch nach einer Zigarette. Oder einer kleinen, bunten Pille. Ach, ich würde jetzt alles nehmen, was mich von diesem inneren Chaos ablenkt. Hauptsache, dieser fürchterliche, diffuse Schmerz verschwindet endlich wieder.

Die Nachwehen der Dusche haben mich durch den gesamten restlichen Abend begleitet. Immerhin habe ich es geschafft, zwei oder drei Stunden zu schlafen, ehe ich wieder aus dem Bett geklettert und in meine Barfußschuhe geschlüpft bin.

Nun laufe ich zielstrebig an den grünen Bäumen und Büschen vorbei, lasse zahlreiche am Straßenrand parkende Autos hinter mir und richte den Blick stur geradeaus. Wie üblich ist außer mir kaum jemand unterwegs, und diese vollkommen andersartige Atmosphäre beruhigt mich augenblicklich. In meinem kleinen Zimmer habe ich das Gefühl, von den immer näherrückenden Wänden erdrückt zu werden. Doch hier draußen kann ich mich mit großen Schritten fortbewegen und so tief Luft holen, wie ich will. Hier gibt es keine Grenzen, keine Regeln, keine Mauern. Hier draußen bin ich frei, unabhängig und nicht mehr in einem erdrückenden Wattebausch gefangen.

Die Nächte, die ich hier draußen verbringe, sind die einzigen, in denen ich wenigstens ein ganz kleines bisschen lebe. Ich liebe die bunten Lichter, die das Schwarz der Nacht durchbrechen. Ich mag den Klang meiner Schritte auf dem Asphalt. Ich genieße jedes einzelne Geräusch, das die nächtliche Stille füllt, ohne dabei aufdringlich zu sein. Hier herrscht ein Leben, mit dem ich mich anfreunden kann. Die Stadt ist zwar nicht wie ausgestorben, aber auch nicht mehr so überfüllt wie am Tag. Das Verhältnis aus Abwechslung und Ruhe ist atemberaubend und so kostbar, dass ich inständig hoffe, es noch ewig genießen zu dürfen.

Ich nehme eine Abkürzung über den Supermarktparkplatz, klettere über einen Maschendrahtzaun und husche durch eine Absperrung hindurch, ehe ich den geschotterten Weg erreiche. In dem Park gibt es keine Straßenlaternen, nur ein paar kleine Lichtsäulen, die zur Orientierung vollkommen genügen. Bei jedem meiner Schritte knistert und knarzt es leise. Ich liebe dieses Geräusch. Ich könnte stundenlang auf einem Kiesweg auf und ab laufen, nur um diesem Klang zu lauschen. Ehe ich mein endgültiges Ziel erreicht habe, erkenne ich, dass eine kleine Gruppe dunkler Gestalten auf einer Bank am Weg hockt. Sie sitzen seit einiger Zeit fast jede Nacht dort und gehören für mich mittlerweile zum Park dazu. Die Qualmwolken über ihnen verraten mir, dass sie – wie so oft – rauchen. Ich kann ihre tiefen Stimmen hören, aber ich verstehe keine einzelnen Wörter.

Das Adrenalin in meinem Körper steigt langsam an, als ich mich den Männern nähere. Ich weiß längst, wie sie ticken. Wenn ich klug wäre, würde ich die Kerle meiden. Doch meine Angst ist nicht so groß, wie sie sein sollte. Das hier sind irgendwelche Typen, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, als nachts im Park zu rauchen, zu reden und vorbeilaufende Frauen zu belästigen. Ich habe keine Ahnung, wie weit sie gehen. Bislang ist es bei ein paar blöden Sprüchen geblieben, aber möglicherweise ändert sich das eines Tages. Es gibt sicherlich Männer, die gefährlicher sind als diese drei, wobei zumindest einer von ihnen alles andere als harmlos ist. Dennoch ist da keine Scheu, die mich davon abhält, nachts immer wieder und wieder an ihnen vorbeizulaufen. Ich fürchte mich nicht vor den Kerlen. Ich werde aufmerksamer in ihrer Gegenwart, mache mich auf alles gefasst, aber Angst verspüre ich nicht.

Mein Tempo beibehaltend schaue ich weiterhin stur geradeaus, während ich an der belegten Bank vorbeikomme. Ich habe sie noch nicht hinter mir gelassen, als einer der Typen anzüglich pfeift. Innerlich verdrehe ich die Augen, ignoriere es aber. Von mir aus kann der Idiot es bei diesem einen Pfiff belassen.

»Hey, bleib doch mal stehen, Süße! Was macht denn eine Schnecke wie du nachts allein im Park? Das hast du uns noch immer nicht verraten!«, ruft einer lallend und lacht. Es ist stets derselbe, der mich anspricht. Er hat langes, dunkles Haar und immerzu ein schmieriges Grinsen in seinem kantigen Gesicht.

Ich drehe mich langsam zu ihm um und fixiere die halbvolle Whiskeyflasche in seiner Hand. Mehrere Dosen Bier stehen neben der Bank. Einer der Männer, ein hochgewachsener Typ mit rasiertem Schädel, nippt gerade an seinem Getränk, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Das hier scheint ihn nichts anzugehen. Das ist die Show seines Kumpels, nicht seine eigene. Manchmal, wenn es ihm zu bunt wird, mahnt er den schmierigen Typen zu Vernunft, aber meistens ignoriert er uns.

»Setz dich doch ein Weilchen zu uns!«, stimmt Arschloch Nummer drei mit ein, greift nach einer ungeöffneten Bierdose und streckt sie mir entgegen.

Ich zögere. Nicht, weil ich mich ernsthaft zu diesen schmierigen Kerlen setzen will, sondern weil ich überlege, trotzdem das Bier anzunehmen. Ein paar Schlucke Alkohol könnte ich heute wirklich gut vertragen. Andererseits sollte ich insbesondere von Alkohol meine Finger lassen. Das kann unschön enden, wie ich aus eigener, schmerzhafter Erfahrung weiß.

Der Kerl, der mich »Schnecke« genannt hat, steht auf und wankt auf mich zu. Endlich meldet sich wieder die Vernunft in mir und ich erwidere mit fester Stimme: »Nein, danke.«

Ich drehe mich um und will weiterlaufen, aber so schnell lassen die Kerle nicht locker. »Hey, sei nicht so prüde, wir beißen nicht!«

Ich beantworte seine unverschämte Aussage, indem ich mich halb umdrehe und ihm meinen Mittelfinger entgegenstrecke. Sofort blitzt Wut in seinen Augen auf. »Ey, du Schlampe, das ist doch kein Benehmen!«, brüllt der Kerl und stapft zornig auf mich zu.

Einer seiner Kumpel, der bis dato geschwiegen hat, macht einen Satz nach vorn, packt die Arme des Betrunkenen und zischt: »Reiß dich mal zusammen und lass sie in Ruhe. Es ist ihr gutes Recht, weiterzugehen.«

Im Stillen danke ich ihm für seinen Einsatz und setze meinen Weg fort. Ich höre die Männer hinter mir protestieren und diskutieren, aber niemand folgt mir.

Ich muss über mich selbst den Kopf schütteln. Warum bin ich überhaupt stehen geblieben? Warum habe ich für einen kurzen Moment in Erwägung gezogen, Bier zu trinken? Warum habe ich Streit provoziert? In solchen Situationen erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich springe der Gefahr mit ausgebreiteten Armen entgegen, als sei ich vollkommen lebensmüde. Na ja, vielleicht bin ich das ja auch. Vielleicht brauche ich diese Nervenkitzel, um mich endlich wieder lebendig zu fühlen. Vielleicht sind mir die Konsequenzen meines Handelns zu gleichgültig, um groß über mein Verhalten nachzudenken. Ich führe doch eh schon lange kein richtiges Leben mehr. Ich stecke in einer nichtssagenden Scheinwelt fest. Ich laufe durch Watte. Es passiert nichts mehr. Rein gar nichts. Und das ertrage ich einfach nicht.

Endlich erreiche ich den kleinen Spielplatz, auf dem jetzt überhaupt nichts los ist. Wahrscheinlich ist er tagsüber für Kinder und Eltern ein beliebter Treffpunkt, aber nicht mitten in der Nacht. Ich klettere sofort in die Nestschaukel, zünde die einzige Zigarette an, die ich mitgebracht habe, und ziehe daran. Ich muss husten, weil ich zu selten rauche, um daran gewöhnt zu sein. Ich nehme einen zweiten Zug, diesmal vorsichtiger, sodass mein Hals nicht erneut so unangenehm kratzt. Das Nikotin schlägt sofort zu, lässt meinen Kopf drehen und lockert die Muskeln.

Rücklings lege ich mich ins Nest und schaue zum Himmel empor. Er ist wolkenverhangen, aber ein paar einzelne Sterne blitzen trotzdem hindurch. Ich erkenne auch ein Flugzeug, das mit blinkenden Lichtern über mich hinweg zieht.

Ich rauche in aller Ruhe weiter, lasse mich von dem Nikotin benebeln und genieße diese vollkommene Stille. Na gut, im Hintergrund gibt es zahlreiche Geräusche, aber sie berühren mich nicht. Nicht jetzt. Nicht hier, in dieser wunderschönen Nacht, mit dem endlosen Himmel über mir und dem kleinen Glimmstängel zwischen meinen Fingern. Ich blende dieses Hintergrundrauschen einfach aus, während ich dem Flugzeug über mir gedankenverloren hinterher sehe.

Das Adrenalin, das mir das Aufeinandertreffen mit der Gang beschert hat, ist verflogen. Wirklich lebendig fühle ich mich nicht mehr, aber wenigstens gibt es hier keine erdrückenden Wände. Ich kann befreit durchatmen, muss mich nicht irgendwelchen albernen Regeln beugen oder meinen Mitmenschen zuliebe ein falsches Lächeln aufsetzen. Ich werde nicht mit schlauen Ratschlägen konfrontiert, die ich nicht für mich nutzen kann. Hier draußen muss ich kein schlechtes Gewissen haben. Hier darf ich so sein, wie ich eben bin. Ich darf eintauchen in die Dunkelheit der Nacht, mich in ihr verstecken, tief in sie hineinkriechen. Ich kann hier und jetzt einfach nur sein, und diese beruhigende Gewissheit erfüllt mich mit Frieden.

Kapitel 3 Fr, 05.08.2022

Ich bin zwar am Wochenende aufgrund der vielen Partygänger nicht gern in der Stadt unterwegs, aber ich ertrage es trotzdem nicht, die Nacht in dem engen Zimmer zusammen mit Lilith zu verbringen. Mir fällt die Decke auf den Kopf, wenn ich noch länger hier, in diesem verfluchten Gebäude, bleibe.

Ich weiß, dass die Therapie mir helfen und guttun soll, aber ich glaube nicht an ihren Erfolg. Nicht mehr. Mich drängt sie nur immer weiter nach draußen. Nachts durch die Gegend zu laufen hat etwas Magisches an sich. Es ist, als würde ich dadurch in eine neue, ferne Welt eintauchen. In dieser Welt bin ich frei, kann tief durchatmen und habe vor nichts Angst.

Tagsüber bin ich gefangen, ständig dem Druck von außen ausgesetzt, muss allen möglichen Erwartungen gerecht werden und stärker tun, als ich bin. Nachts bin ich einfach nur ich selbst, oder das, was ich zu sein glaube. Eigentlich bin ich nie, wie ich wirklich bin, dank dieser bescheuerten Tabletten, die ich jeden Tag schlucke. Aber ich weiß, wie ich war, als ich noch keine Medikamente genommen habe. So will ich definitiv nicht wieder ticken. Dann lasse ich mich lieber von diesen blöden Pharmazeutika betäuben. Das ist besser, als sämtlichen Empfindungen ausgesetzt zu sein.