Herzklopfen im Hühnerhotel - Tina Wolf - E-Book

Herzklopfen im Hühnerhotel E-Book

Tina Wolf

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Beschreibung

Eine folgenreiche Verwechslung, Hühner im Garten und Herzklopfen in den Dünen

Beim Mädels-Urlaub auf Föhr stößt Klara auf das schönste und vermutlich kleinste Friesenhaus, das sie je gesehen hat. Eine Schar von Hühnern im Garten und Rauhaardackel Schröder inklusive. Von einem ihr Unbekannten wird sie für die Erbin dieses magischen Ortes in den Dünen gehalten. Von einer Verwechslung will der ältere Mann nichts wissen, drückt ihr den Schlüssel in die Hand und weg ist er. Widerwillig bleibt Vagabundin Klara über Nacht, schließlich müssen die Tiere gefüttert werden. Doch das charmante Häuschen mit seinen Hühnern lässt ihr Herz schnell höher schlagen: Was wäre wenn? Wenn sie eine Weile dort bleiben, sich um alles kümmern würde? Und gerade als sie feststellt, sie möchte nie wieder woanders sein, steht jemand vor der Haustüre, der ihren Puls höher schlagen lässt. Und das liegt nicht nur an seinem Aussehen …

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Das Buch

»Das meinst du jetzt nicht ernst, oder? Du willst dich um ein wildfremdes Haus, von dem du noch nicht einmal weißt, wem es gehört, irgendwelche Hühner und einen Hund kümmern?« Sophie klemmte sich eine ihrer schulterlangen walnussbraunen Locken hinters Ohr, wo sie nicht lange blieb, weil der Wind, der von der Nordsee kam, in der nächsten Sekunde wieder alle Haare durcheinanderpustete. Sie sah ihre Freundin Klara an, als hätte sie gesagt, sie wolle ihre morgendliche Yogarunde samt aller Sonnengrüße ab jetzt nackt am Strand von Föhr machen. Zwischen all den Urlaubern, die mit Kindern, Hunden, Schaufeln und Drachen ausgestattet die Sonne an diesem schönen Maitag genossen.

Dabei wollte Klara sich nur um einen Haufen herrenloser Hühner kümmern. Ach ja, und einen Dackel, der sie in diesem Moment ansah, als warte er auf eine Entschuldigung, weil sie ihn bei ihrer Überlegung vergessen hatte, obwohl sie ihn sogar auf dem Arm hielt.

Und überhaupt: Es war ja nicht ihre Idee gewesen. Das alles war ihr gerade eben quasi aufgedrängt worden. Von einem Mann, den sie genauso wenig kannte wie den Rest hier …

Die Autorin

Tina Wolf stand fünfzehn Jahre für verschiedene TV-Sender vor und hinter der Kamera. Parallel dazu fing sie an, erfolgreich Bücher zu schreiben. Außerdem ist sie selbstständig mit einem nachhaltigen grünen Business. Tina Wolf lebt mit ihrem Mann, Sohn und Hund in Hamburg. Ihre Freizeit verbringt sie aber am liebsten am Meer.

Tina Wolf

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer

Redaktion: Wiebke Bach

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Huber Images (Christian Bäck), Getty Images (Bill Sykes), Stocksy.com (Melanie DeFazio), FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31670-9V001

www.heyne.de

Für dich, Jane.

Du weißt wofür.

1.

»Das meinst du jetzt nicht ernst, oder? Du willst dich um ein wildfremdes Haus, von dem du noch nicht einmal weißt, wem es gehört, irgendwelche Hühner und einen Hund kümmern?« Sophie klemmte sich eine ihrer schulterlangen walnussbraunen Locken hinters Ohr, wo sie nicht lange blieb, weil der Wind, der von der Nordsee kam, in der nächsten Sekunde wieder alle Haare durcheinanderpustete. Sie sah ihre Freundin Klara an, als hätte sie gesagt, sie wolle ihre morgendliche Yogarunde samt aller Sonnengrüße ab jetzt nackt am Strand von Föhr machen. Zwischen all den Urlaubern, die mit Kindern, Hunden, Schaufeln und Drachen ausgestattet die Sonne an diesem schönen Maitag genossen.

Dabei wollte Klara sich nur um einen Haufen herrenloser Hühner kümmern. Ach ja, und einen Dackel, der sie in diesem Moment ansah, als warte er auf eine Entschuldigung, weil sie ihn bei ihrer Überlegung vergessen hatte, obwohl sie ihn sogar auf dem Arm hielt. Und überhaupt: Es war ja nicht ihre Idee gewesen. Das alles war ihr gerade eben quasi aufgedrängt worden. Von einem Mann, den sie genauso wenig kannte wie den Rest hier.

»Warum denn nicht? Das nenne ich mal ein echtes Abenteuer!«, warf Pirkko ein, die Dritte im Bunde, und sah sich auf dem Grundstück um, das ein Stück hinter den Dünen lag. Das Dünengras, das sich im Wind leicht hin und her bewegte, ging über in einen Rasen, der schon sehr lange nicht mehr gemäht worden war und bis zur Terrasse reichte, die ans Haus grenzte. An der linken Seite befand sich ein komplett verwildertes Beet, welches darauf hindeutete, dass die Person, die hier einmal gelebt hatte, etwas von Gemüseanbau verstanden hatte. Es waren noch die Reihen zu erkennen, in denen wahrscheinlich Kartoffeln, Karotten und andere Gemüsesorten angebaut worden waren. Unkraut hatte sich breitgemacht und ließ nur noch erahnen, wie es hier einmal ausgesehen haben musste. Ordentlich und gepflegt, darauf deuteten auch die kleinen Schilder, die in der Erde steckten und auf denen einmal etwas gestanden haben musste. Inzwischen waren sie zwischen den Gräsern kaum noch zu sehen.

Das kleine alte Friesenhaus mit dem vermoosten Reetdach, den weißen Hauswänden und blauen Fensterrahmen lag geschützt zwischen einer Gruppe windschiefer Kiefern, als schliefe es. Direkt daneben befand sich der Hühnerstall mit seinen dunkelroten Holzwänden, weißen Fensterrahmen und seinem eingezäunten Außengelände, der zu Sophies Belustigung an den Hühnerstall aus dem Lieblingsbuch ihrer Kinder Pettersson und Findus erinnerte, wie sie begeistert erzählte. Weder Pirkko noch Klara hatten Kinder, aber die Idee, einen Hühnerstall wie ein Haus einzurichten, mit Gardinen und kleinen Möbeln, fanden sie beide lustig. Das Einzige, was sie hier nicht erkennen konnten, waren die Perlenketten an den Hälsen der Hühner, von denen Sophie erzählt hatte. Doch wer weiß? Vielleicht versteckten die sich nur unter den Federn.

»Apropos Kinderbücher! Denkt daran, was Pippi Langstrumpf gesagt hat«, erklärte Pirkko mit gespielt ernster Miene und hob den Finger.

Synchron antworteten Sophie und Klara, als hätten sie sich abgesprochen:

»Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe!« Sie kannten die Zitate von Pippi Langstrumpf auswendig. Pippi war Pirkkos Heldin seit Kindertagen, und daran hatte sich nichts geändert. Sie hatte sich ihr Idol sogar auf den Arm tätowiert. Neben vielen anderen Dingen. Im Grunde war Pirkko eine erwachsene Frau Langstrumpf. Sie war zwar, wie sie alle, schon Ende dreißig, hatte aber nie aufgehört, sich selbst treu zu bleiben. Und dazu gehörte auch, dass sie stets machte, worauf sie Lust hatte. Oder anders ausgedrückt: Sie machte die Welt, wie sie ihr gefiel. Das war immer schon so gewesen. Damals in Kiel, als sie zusammen zur Schule gingen, in ihren gemeinsamen Urlauben, während des Studiums oder auch später, als sie alle in unterschiedliche Städte zogen und anfingen zu arbeiten. Pirkko war in ihrem Herzen das wilde kleine Mädchen geblieben, das sich nichts sagen ließ. Inzwischen lebte sie in Berlin. Mal mit einem Mann. Mal mit einer Frau, mal mit beiden.

Dass Sophie sofort Bedenken äußerte und nicht glauben konnte, was Klara vorhatte, war genauso vorhersehbar gewesen wie Pirkkos Begeisterung. Klara kannte ihre Freundinnen. Kein Wunder, denn sie waren schon seit dem Kindergarten befreundet. Und das, obwohl sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Sophie war alles andere als abenteuerlustig. Sie war der Gegenpol zu Pirkko. Bodenständig, Mutter zweier kleiner Kinder, für die sie ihr berufliches Leben an den Nagel gehängt hatte. Von außen betrachtet, gab sie das perfekte Bild einer gut situierten Frau ab, die in Köln lebte. Und obwohl sie dieses Leben gewollt hatte und liebte, wusste Klara, dass Sophie im Grunde nicht so spießig war, wie sie von außen wirkte, und dass sie manchmal gerne ein klitzekleines bisschen ausbrechen würde. Sie hatte – nach dem einen oder anderen Glas Champagner – angedeutet, wie langweilig ihr Leben war und wie sehr sie sich nach etwas sehnte, was sie selbst nicht in Worte fassen konnte, weil sie eigentlich alles hatte. Oder auch nicht. Sich um einsame Hühner und einen Dackel zu kümmern, den offensichtlich keiner wollte, war dann aber doch nicht das, was sie suchte, und vielleicht auch etwas zu verrückt für sie.

Und damit hatte schließlich keine von ihnen gerechnet, als sie sich in Dagebüll an der Fähre nach Föhr getroffen hatten, um ihr Mädelswochenende am Meer zu verbringen. Strandhotel, Spa und Spaß sollten auf dem Programm stehen. Von Hühnern und einem Hund war nie die Rede gewesen.

2.

Ein paar Stunden zuvor

»Hi! Da seid ihr ja!«, freute sich Klara, nachdem sie aus ihrem VW-Kastenwagen – den sie vor vielen Jahren zu einem Van umgebaut und Otto getauft hatte – gehüpft war und ihren Freundinnen bei strahlendem Sonnenschein am Fähranleger von Dagebüll entgegenlief. Die Wartespuren für Autos, Wohnmobile und andere Fahrzeuge waren schon gefüllt. Alle warteten auf das Zeichen, dass sie ihren Motor starten und auf die Fähre fahren durften – dem Urlaub entgegen. Der Himmel war bilderbuchmäßig hellblau, die frische Brise angenehm, und die schreienden Möwen verliehen dem Nordsee-Urlaubsfeeling das i-Tüpfelchen.

»Wie cool! Jetzt kann es losgehen!«, rief Pirkko, ließ ihre Tasche fallen und fiel Klara um den Hals. Auf dem Rücken trug sie ihren grünen Rucksack, den sie sich vor vielen Jahren gekauft und mit dem sie schon die halbe Welt bereist hatte. Er war eine Konstante in ihrem Leben. Eine der wenigen. In etwa so wie Otto, mit dem Klara die längste Beziehung ihres Lebens hatte. Im Gegensatz zu Sophie waren sie beide immer noch auf der Suche. Manchmal wusste Klara selbst nicht wonach.

»O mein Gott, ist unser letztes Treffen schon wieder lange her!«, stellte Klara fest, schob ihre Sonnenbrille hoch und betrachtete Pirkko kurz, nachdem sie sie wieder losgelassen hatte.

»Stimmt! Eine gefühlte Ewigkeit«, bestätigte Pirkko, während Klara Sophie in den Arm nahm, die sie anstrahlte. Wie ein Engel, dachte Klara jedes Mal, wenn sie ihre Freundin ansah. Ein Engel mit braunen Korkenzieherlocken. Fehlte nur der Heiligenschein.

»Na, du Liebe! Wie schön, dich wiederzusehen!«, freute sich auch Sophie. Die beiden gaben sich rechts und links Küsse auf die Wangen, dann wandte Klara sich wieder Pirkko zu.

»Auf alle Fälle war es vor dem Pony«, erklärte sie und deutete auf den sehr kurzen, gerade geschnittenen Pony, der – wie sie fand – extrem gut zu ihr und der blondierten Kurzhaarfrisur passte – und »vor der Palme« setzte sie hinzu, sie hatte gerade eben erst eine kleine feine Tätowierung auf der Hand ihrer Freundin entdeckt.

»Stimmt! Die kennst du noch gar nicht.«

»Von denen wirst du auf Föhr übrigens nicht allzu viele sehen«, erklärte Klara und machte eine auffordernde Handbewegung Richtung VW-Bus.

»Da hast du recht. Deshalb trage ich sie jetzt immer bei mir. Damit ich nie vergesse, wofür mein Herz schlägt!«

»Für Kokosnüsse?«, witzelte Sophie und griff nach ihrem schwarzen Trolley, den sie neben sich abgestellt hatte.

»Auch das!«, bestätigte Pirkko und nahm ihre Umhängetasche wieder hoch. »Hauptsache Meer und Sonne. Und vielleicht kommt noch ein Seehund dazu. Wer weiß!«

»Bei dir weiß man nie!«, meinte Sophie schmunzelnd und zwinkerte ihr zu.

»Stimmt!«

»Irgendwann siehst du aus wie das Ausmalbuch von Emma«, neckte Sophie sie, legte ihre Hand als Sonnenschutz an die Stirn und sah in den Himmel, wo sich zwei Möwen lautstark stritten.

»Prima! Das ist mein Ziel! Ich kann sie ja anrufen, wenn es so weit ist, und dann kommt sie zum Ausmalen vorbei.«

Sophie schüttelte lachend den Kopf.

»Ihr Quatschnasen! Kommt, Otto wartet schon! Ich glaube, es geht gleich los«, forderte Klara die beiden auf und sah dabei auf ihre Armbanduhr. Die Möwen zogen schreiend über ihnen aufs offene Meer Richtung Nordfriesische Inseln. Dorthin, wo sie dieses verlängerte Wochenende – weit weg von Alltag, Job, Kindern, Männern, Frauen und was auch immer – genießen wollten. Ihr Mädelswochenende, auf das sich alle drei schon so lange gefreut hatten. Endlich waren sie wieder zusammen.

Sophie war aus Köln und Pirkko aus Berlin mit dem Zug bis nach Dagebüll gereist. Klara war mit Otto aus Kiel gekommen, wo sie noch ihre Mutter besucht hatte.

»Hast du an den Champagner gedacht?«, wollte Pirkko wissen, nachdem sie ihren Rucksack vor der erhöhten Liegefläche, die als Bett diente, abgestellt hatte.

»Natürlich! Was denkst du? Ich habe den Supermarkt leer gekauft, bevor ich an meine Zahnbürste gedacht habe!«

»Dann bin ich ja beruhigt«, meinte Pirkko schmunzelnd und sah sich in dem Bus um, der Klaras zweite Heimat war. Manchmal auch die erste. Wenn sie wieder vor den Dauerregenmonaten aus Hamburg floh und den Winter im Süden verbrachte. Auf Sardinien, in Griechenland oder wo es sie gerade hinzog. Hauptsache in die Sonne. Das machte sie seit Jahren, und manches Mal hatte sie schon daran gedacht, dort für immer zu bleiben. Doch irgendwann hatte es sie wieder zurückgezogen – in ihren Heimathafen. Allerdings hatte sie davon so viele, dass sie sich immer wieder fragte, welches der wirkliche, echte Heimathafen war. Kiel? Hamburg? Oder einer der kleinen Fischerorte am Mittelmeer, die sie so liebte?

Otto war ihr Rückzugsort, und durch die Möglichkeit, jederzeit losfahren zu können, bedeutete er für sie zugleich die immer präsente Freiheit. Schon seit vielen Jahren war er Teil ihres Lebens. Lange bevor all die anderen während des Lockdowns auf die Idee gekommen waren, ihr Bett und ihr Dach einfach dahin mitzunehmen, wohin auch immer sie wollten, war sie schon mit Otto unterwegs gewesen – am Strand von St. Peter-Ording, irgendwo in Dänemark, Österreich oder eben auch Südeuropa – denn sie war frei. Und sie fühlte sich hier mehr zu Hause als in ihrem WG-Zimmer in Hamburg. Die Frage, warum sie sich dort, wo sie niemanden kannte, wohler fühlte, sich selbst immer näher war als dort, wo sie die Menschen zu kennen meinte, warum sie immer dann weiterfuhr, wenn sie das Gefühl hatte, alles gesehen und aufgesogen zu haben, konnte sie sich nicht beantworten. Es war ein innerer Motor, der sie trieb. Auf ihrem Instagram-Account, auf dem sie irgendwann angefangen hatte, zu zeigen, wo sie gerade war, folgten ihr Tausende. Sie alle sahen, wo sie morgens ihre Yogamatte ausrollte, was sie sah, wenn sie Ottos Gardinen beiseiteschob oder die Heckklappe öffnete. Berge, klare Seen, den Tau auf den Blättern, die Wellen der Meere, die Einsamkeit der Wälder. Den Duft der frischen, kalten Luft am frühen Morgen, der Kiefern, des Kaffees, den sie in der Hand hielt. All das meinte man riechen zu können, wenn man sich ihre Bilder, Storys und Reals ansah. Man war Teil ihres Lebens, man gehörte dazu. Genau das liebten ihre Follower. Ein Stück der Freiheit mitatmen zu können. Klara lebte das Leben, das sich viele wünschten. Die gefangen waren in ihrem Hamsterrad. Die sich nicht trauten auszubrechen. Von ihrer inneren Unruhe, ihrer Suche wusste niemand etwas, der in ihre digitale Parallelwelt eintauchte und ihr Herzen schickte.

»Das sieht hier immer noch genauso aus, wie … immer«, stellte Pirkko fest und sah sich in dem Van um, den Klara mit viel Liebe ausgebaut und eingerichtet hatte. Das gemütliche Bett am Ende des Busses, die kleine Küchenzeile mit der schmalen Holzarbeitsplatte, die Regale, in denen Becher und Teller so standen, dass sie in der nächsten Kurve nicht rausflogen, die kleine Sitzecke, die für zwei reichte, in der sie aber meistens allein saß.

»Nicht ganz«, erklärte Klara, ging an ihr vorbei und öffnete die Tür, hinter der sich ihr Minibad befand, das jetzt eher an eine Minibar erinnerte.

»Tadaaa!«

Die beiden anderen machten lange Hälse und versuchten, an ihr vorbei einen Blick in das winzige Bad zu werfen. Auf dem Boden standen mehrere Flaschen Champagner in einem Karton.

»Erwarten wir Gäste?«, wollte Sophie wissen und sah Klara mit großen Augen an.

»Man kann ja nie wissen«, gab diese zurück, schloss die Tür wieder und ging mit geducktem Kopf nach vorn zu ihrem Fahrersitz.

»Und außerdem wird der bekanntlich nicht schlecht«, schob sie hinterher.

»Die Gefahr besteht definitiv nicht! Ich bin ja Gott sei Dank dabei«, meinte Pirkko, und alle drei mussten lachen. Pirkko war ihre Partyqueen und hatte in den vergangenen Jahren, nein, Jahrzehnten konnte man inzwischen schon sagen, für manch bleibende Erinnerung gesorgt. Keine war so gut darin, das Leben zu feiern wie sie. Mit oder ohne Champagner.

»So, Ladys. Dann wollen wir mal«, erklärte Klara, nachdem die Mitarbeiterin der Wyker Dampfschiffs-Reederei ihre Fahrkarten am runtergelassenen Fenster kontrolliert hatte. »Los geht’s!«

»Und eine von den Inseln da ist Föhr?«, wollte Sophie wissen, nachdem sie auf dem Deck angekommen waren und sie sich die Sonnenbrille aufgesetzt hatte. Sie machte einen langen Hals, als könne sie dadurch das, was sich da am Horizont links von ihnen abbildete, besser erkennen. Mit der einen Hand versuchte sie, zu verhindern, dass ihre braunen Locken sich vor ihre Brillengläser legten, mit der anderen hielt sie sich ihre blaue Steppjacke zu.

Pirkko zog sich ihre Teddyfelljacke über und den Reißverschluss hoch. An Deck war es frisch, musste auch Klara feststellen und überlegte, ob sie nicht den anderen dicken Pulli unten aus dem Van holen sollte, um ihn unter ihrem gelben Friesennerz anzuziehen. Ihre Jacke war zu dünn oder sie zu optimistisch gewesen, was die Temperaturen betraf.

»Nein«, erklärte Klara jetzt und drehte den Oberkörper ihrer Freundin, die direkt neben ihr am Geländer stand, in die andere Richtung.

»Das ist Föhr!«

»Ach!«, staunte Sophie, als hätte sie nicht mit der Größe der Insel gerechnet. Sie lebte nicht nur seit Jahren in Köln, Klara kam es auch in regelmäßigen Abständen so vor, als hätte ihre Freundin jegliche Liebe zum Meer, obwohl ja auch sie aus Kiel kam, irgendwo zwischen Modeboutiquen und Bergen verloren, in die sie in jedem Urlaub fuhr. Sie hatte mehr Dirndl im Schrank als jede gebürtige Münchnerin.

Natürlich musste niemand – egal, ob er, so wie sie drei, ein Küstenkind war – jede nordfriesische Insel kennen. Föhr war allerdings wirklich alles andere als eine Hallig, auf die Sophie eben gerade gezeigt hatte. Die Insel hatte eine Fläche von 82,82 Quadratkilometern. Das hatte Klara in ihrem Reiseführer gelesen und sich sofort gemerkt.

»Das ist ja echt nicht weit«, stellte Pirkko fest.

»Gut dreizehn Kilometer. Um genau zu sein zweiundfünfzig Minuten Fahrt.«

»Du Leseratte! Hast du wieder heimlich alle Bücher über Föhr und die Nordsee verschlungen?«

»Quatsch«, stritt Klara alles ab, obwohl sie sich sehr wohl informiert hatte. Sie konnte gar nicht anders. Wenn sie irgendwohin fuhr, egal wohin, las sie alles, was ihr darüber in die Finger kam.

»Ach, komm, du wusstest immer schon alles. Gott sei Dank! Sonst hätte ich meine Matheklausuren alle versemmelt«, erinnerte Pirkko sich.

»Gern geschehen«, meinte Klara lächelnd. »In Wahrheit weiß ich auch nicht mehr als das, was in dem Reiseführer steht«, gestand sie und zog das Buch aus ihrer Tasche.

»Du hast dir nicht wirklich einen Reiseführer für unseren Wochenendtrip gekauft?«, fragte Pirkko belustigt.

»Ich wollte mich nur etwas vorbereiten.«

»Worauf? Wir werden entweder in unseren Zimmern oder in der Sauna liegen, im Restaurant sitzen, im Pool abhängen und zwischendurch die Nase in den Wind halten. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es keine Rolle spielen wird, wie lang der Strand ist oder wie viele Einwohner die Insel hat.«

»Etwas mehr als achttausend.«

Alle drei prusteten los vor Lachen.

»Sophie, wenn du mich magst, dann nimm ihr bitte das Buch weg. Falls Klara immer noch nachts im Schlaf redet, so wie früher, möchte ich alles hören, nur bitte keine Zahlen. Das belebt mein altes Schultrauma sonst wieder, und ich sehe Herrn Wegener vor mir.«

»Das ist ein Argument!«, erklärte Sophie und deutete aus Spaß an, dass Klara ihr das Buch geben sollte.

»Warte!«, meinte Klara mit erhobener Hand. »Etwas habe ich noch!«

Sophie und Pirkko sahen sie erwartungsvoll an.

»Wann gungt de damper?«, fragte Klara und erntete statt einer Antwort schallendes Lachen.

»Wann gungt was?«, wollte Sophie wissen, als sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

»De damper«, wiederholte Klara.

»Plattdeutsch hast du also parallel auch noch gelernt?«, wollte Pirkko wissen.

»Nicht Platt!«, erklärte Klara kopfschüttelnd. »Fering.«

»Bitte?!« Pirkko sah sie mit großen Augen an.

»Das ist die Sprache auf der Insel.«

»Na, das kann ja was werden. Ich hoffe, wir kommen zurecht. Am besten, du weichst nicht von unserer Seite, sonst sind wir hoffnungslos verloren«, unkte Pirkko.

»Keine Angst. Ich dolmetsche für euch, aber jetzt hole ich uns erst mal Kaffee!«, wich diese aus und sah ihre Freundinnen an. »Wie immer?«

»Gerne!«

»Ja, ich auch! Aber was hieß das denn gerade?«

»Wann kommt das Schiff«, übersetzte Klara und ging die Treppe runter unter Deck.

Mit drei Bechern Kaffee kam sie nach einer Ewigkeit wieder zurück. Im Bordbistro war eine Menschenschlange gewesen, die offensichtlich Angst hatte, auf dem Weg von Dagebüll nach Wyk zu verhungern oder zu verdursten. Klara fand es faszinierend, wie die Menschen sich, sobald es auf Reisen ging, mit dem Thema Essen beschäftigten beziehungsweise aßen. Im Zug – kaum, dass man einen Platz ergattert hatte –, im Flugzeug, im Bus, auf der Fähre. Einfach überall. Reisen und essen standen in engem Zusammenhang, so schien es.

»Sorry, Mädels, ging nicht schneller. Da bin ich!«

»Danke, den kann ich jetzt gut gebrauchen!«, meinte Pirkko und nahm ihr einen Becher ab. »Die letzte Nacht war eher eine Verlängerung des Tages mit nahtlosem Übergang.«

»Ups«, meinte Klara und reichte Sophie den anderen Becher. »Wie kommt’s?«

»Ich hatte den Spaß meines Lebens. Und kaum Schlaf«, erklärte sie.

Sophie und Klara sahen sie neugierig an.

»Ich war auf einer Vernissage in einem der Lofts bei uns im Hinterhof und wurde von einem ziemlich attraktiven Typen mit der Besitzerin der Galerie verwechselt, was im Grunde kaum möglich ist, weil sie einfach das komplette Gegenstück zu mir ist. Jedenfalls habe ich mir einen Spaß daraus gemacht und das Spielchen mitgespielt. Er hat es natürlich irgendwann gerafft, aber es war trotzdem lustig.«

»Und endete bei dir im Bett«, tippte Klara mit einem verschmitzten Lächeln, weil sie ahnte, wie Pirkkos Nacht ausgesehen hatte.

Pirkko hob den Becher. »Yes!«

Sophie und Klara schüttelten lachend den Kopf.

»Auf uns!«

»Auf uns!«, sagten Klara und Sophie zeitgleich mit erhobenen Bechern.

»Moment!«, meinte Pirkko, holte ihre Polaroidkamera aus der Tasche und hielt sie hoch in den Fahrtwind, um ein Selfie von ihnen zu machen. »Bitte recht freundlich«, sagte sie und legte ihren Kopf leicht schräg gegen Klaras.

Pirkko war unglaublich kreativ. Sie fotografierte, malte, tätowierte, und manchmal legte sie auch als DJ auf.

Das graue Bild nahm langsam Form und Farbe an, während die drei die Entwicklung des Fotos gespannt beobachteten.

»Wie guckst du denn?!«, prustete sie los und stützte sich bei Sophie ab, um vor Lachen nicht umzukippen.

»Wieso?« wollte diese wissen, nahm ihrer Freundin das Foto aus der Hand und musste im nächsten Moment auch loslachen.

»Wirf das weg! Bitte!«

»Auf keinen Fall! Das Bild ist legendär!«, entgegnete Pirkko und riss es ihr aus der Hand.

»Zeig mal her«, bat Klara, nahm einen Schluck Kaffee und betrachtete das Bild, das ihr entgegengehalten wurde.

»Okay, das ist wirklich … Lass es mich so sagen: Es verzerrt die Realität«, versuchte Klara sich diplomatisch auszudrücken, obwohl dieses Foto de facto eine Vollkatastrophe war und dringend entsorgt werden musste.

»Du solltest doch anfangen, mit dem Handy Fotos zu machen. Da gibt es so wunderbare Filter, und wenn auch die nicht helfen, gibt es dieses Symbol mit dem kleinen Mülleimer, auf den man klicken kann. Und schwupps, weg!«

»Ne, ne. Das überlasse ich dir«, erklärte Pirkko und spielte damit auf Klaras Instagram-Account an, auf dem sie allerdings nie Filter nutzte.

»Bei mir gibt es das echte Leben«, sagte sie und zwinkerte ihnen zu.

»Das da ist ganz sicher nicht das echte Leben!«, protestierte Sophie und versuchte, sich das Polaroid zu schnappen, was allerdings nicht glückte.

Während Klara – von der Bank aus, auf die sie sich gesetzt hatte – ihre beiden Freundinnen beobachtete, die sich benahmen, als wären sie Teenies, und sich immer noch über diesen Schnappschuss amüsierten, wurde ihr wieder einmal klar, wie gern sie beide hatte, wie froh sie war, dass sie jetzt endlich wieder zusammen waren, und wie unwahrscheinlich es damals, als sie sich in der Schule kennengelernt hatten, gewesen war, dass sie heute hier zusammen auf der Fähre sein würden – als Freundinnen. Niemand hätte das damals wohl für möglich gehalten. Keine Lehrerin, keiner ihrer Eltern, keine der Klassenkameradinnen, einfach niemand. Die laute, wilde Pirkko, die sich nie etwas sagen ließ. Die artige Sophie. Und sie, Klara Himmel, die immer schon ihr eigenes Ding gemacht hatte und alles andere als eine Teamplayerin war. Und doch wurden sie beste Freundinnen und waren es immer noch – auch nach all den Jahren.

»Wenn ich mir meine Familie aussuchen könnte, dann wärt ihr es«, hatte Pirkko mal gesagt. Und damit hatte sie verdammt recht. Denn ihre Freundschaft hielt mehr aus als manche Familie. Das wussten sie alle drei. Vielleicht hielten sie deshalb so zusammen. Keine von ihnen hatte noch Eltern, die zusammenlebten, glücklich waren. Das war der gemeinsame Nenner, so unterschiedlich sie auch waren, äußerlich und in ihren Lebensverhältnissen.

Die Insel wurde immer größer, der Hafen war zu erkennen, Häuser, der Strand, der sich von Wyk aus links um die Insel zog. Zumindest sah es von hier so aus. Dass es nicht so war, wusste Klara. Der Strand endete irgendwann.

Der Kapitän machte eine Durchsage, in der er sich von seinen Fahrgästen verabschiedete und alle bat, zu ihren Fahrzeugen zurückzukehren.

Pirkko hatte ihren leeren Becher auf die Bank gestellt und klatschte begeistert in die Hände.

»Herrlich!«, freute sie sich. »Wollen wir gleich an den Strand? Wir könnten uns einen Drachen kaufen. Es gibt bestimmt ein Geschäft mit solchen Touri-Sachen. Das wird richtig lustig!«

»Gerade eben wolltest du noch in der Sauna oder alternativ im Zimmer liegen«, neckte Klara sie. Pirkko, die Perle aus der Hauptstadt, mitten in der Natur. Ein völlig ungewohntes Bild, dachte Klara und spürte wieder, wie ansteckend deren kindliche Freude und authentische Art waren, die sie nie verloren hatte.

Pirkko wusste immer, wie der beste Club hieß, wo man sich traf, was man trank. Sie wusste es, bevor es irgendwer überhaupt ahnte. Und manchmal hatte Klara den heimlichen Verdacht, ihre Freundin steckte selbst hinter all diesen Trends. Und obwohl sie sich bei Pirkko immer alles vorstellen konnte, fiel es ihr in diesem Moment schwer, sich vorzustellen, wie ihre Freundin am Strand gegen den Wind ankämpfen würde. Gegen den Wind, einen bunten Drachen und ein paar Bänder, die sich vermutlich innerhalb von Sekunden verknoten würden. Die Sportliche, die sich in der Natur am wohlsten fühlte, war sie – Klara. Aber wer weiß? Vielleicht gab es Seiten an Pirkko, die sie noch nicht entdeckt hatte.

»Kommt! Lasst uns mal runter zu Otto«, forderte sie die beiden auf und deutete Richtung Treppe, die nach unten zum Autodeck führte.

Der Traumfänger, der am Spiegel hing, fing an, wild hin und her zu baumeln, als sie über die Schwelle der Fähre auf die Insel fuhren.

»Hartelk welkimen üüb det green eilun!«, verkündete Klara, kurbelte ihr Fenster runter, streckte den Arm raus und holte tief Luft.

»Siri, bitte, übersetze Klaras Kauderwelsch!«, meinte Pirkko, während sie ihr Handy an den Mund hielt.

»Herzlich willkommen auf der grünen Insel!«, sagte Klara in typischer Siri-Tonlage.

»Danke Siri! Hab noch einen schönen Tag!«

»Du auch, Pirkko«, antwortete Klara wieder mit Siri-Stimme.

»Wisst ihr was, Mädels? Jetzt weiß ich, was mir die ganze Zeit fehlte!«, meinte Sophie verträumt, während sie aus dem Fenster sah und die Möwen am strahlend blauen Himmel beobachtete, die sich über dem Hafenparkplatz tummelten und die wetterfest gekleideten Urlauber beobachteten, die sich mit ihren Koffern in Richtung Bushaltestelle oder Hotel aufmachten.

»Was denn?«, wollte Pirkko wissen und sah sie neugierig von der Seite an.

»Ich hatte Heimweh nach uns.«

»Oh, Sophie! Ich auch«, sagte Pirkko, kam ein Stück vor und nahm ihre Freundin in den Arm.

»Ich auch!«, erklärte Klara und hob die Hand wie in der Schule, wenn man etwas sagen wollte.

»Das ist ja schlimmer als in jedem Rosamunde-Pilcher-Film«, stellte sie fest. »Jetzt fehlt nur noch die perfekte Liebe.«

»Ach, nein danke. Ich kann auch ganz gut mal ohne«, murmelte Sophie und erntete in der gleichen Sekunde erstaunte Blicke von ihren Freundinnen. Sie verkörperte hier schließlich das Bild der perfekten, glücklichen Ehefrau.

»Müssen wir uns Sorgen machen?«

»Wenn man an Langeweile eingehen kann, dann ja.«

»Ups. Doch so schlimm?«, wollte Pirkko wissen.

Sophie nickte.

»Das schreit nach einer Flasche Champagner«, meinte Pirkko und sah Sophie aufmunternd an.

»Ne«, erwiderte diese. »Zwei!«

Sophies Ehe, ihr Mann Andreas, die beiden Kinder, das Haus, alles war – von außen betrachtet – das, was sich viele sicher wünschten. Es wirkte immer alles harmonisch, glücklich, erfüllt, authentisch. Umso erstaunter war Klara, dass es offensichtlich nicht so war.

»Bevor wir gleich die Gesprächsrunde eröffnen, kann bitte jemand das Hotel ins Navi eingeben? Das habe ich vor lauter Wiedersehensfreude komplett vergessen. Es muss irgendwo hier langgehen, glaube ich.«

Sophie nahm ihr Handy, tippte etwas ein und reichte es Klara nach vorn.

»Ah, danke! Es ist zwar nicht weit weg, aber wir wollen ja auch nicht vorher noch dreimal um die Insel fahren.«

»Och, meinetwegen können wir das ruhig machen«, meinte Sophie und sah aus dem Fenster, als würde es da draußen ein Highlight nach dem anderen geben. Dabei fuhren sie lediglich an ziemlich gewöhnlichen Gebäuden eines offenbar an den Hafen angrenzenden kleinen Industriegebietes mit noch gewöhnlicheren Supermärkten vorbei. Klara bog links ab, als es gerade etwas grüner wurde. Es folgten Einfamilienhäuser, die mehr und mehr in Friesenhäuser mit Reetdächern übergingen. Alte und neue, die wirklich einladend aussahen, musste Klara feststellen, obwohl sie gar kein Friesenhaus-Typ war. Wenn sie es sich aussuchen könnte, hätte ihr Haus eher weiß getünchte Wände und türkisblaue Fenster und Türen. So türkisblau wie das Meer, auf das man von diesem Haus in ihrer Vorstellung aus sehen könnte.

»Ne, lass uns erst mal was essen und vielleicht noch in die Sauna. Mir knurrt echt der Magen«, meinte Pirkko.

»Dir knurrt immer der Magen!«, entgegnete Sophie.

Klara fuhr etwas langsamer, weil sie sich bereits in der Straße befanden, in der das Strandhotel lag. Es war eine von Bäumen gesäumte Allee mit Kopfsteinpflaster.

»O mein Gott, ist das schön!«, staunte Pirkko, als sie eine halbe Stunde später auf dem Balkon ihres Zimmers standen und über den Strand hinweg auf das ruhige Meer sahen, das sich zurückgezogen hatte und das Watt zeigte, das in der Sonne glänzte.

Eine Fähre fuhr durch ein Rinnsal, das geblieben war. Von hier aus wirkte es, stellte Klara fasziniert fest, als stünde die Fähre auf dem Watt. Möwen flogen in diesem Moment über sie hinweg, rissen sie aus ihren Gedanken und segelten mit weit ausgebreiteten Flügeln am Strand entlang, als suchten sie etwas. Große und kleine Menschen standen mit hochgekrempelten Hosen barfuß im Watt, gingen spazieren, joggten, ließen Drachen steigen oder saßen auf den Bänken der Strandpromenade.

Klara stand an dem Geländer, hielt sich mit beiden Händen daran fest, schloss die Augen und genoss die Luft.

»Ein Traum!«, bestätigte sie, öffnete ihre Augen wieder, bemerkte, dass sie inzwischen allein auf dem Balkon war, und ging zu den anderen beiden ins Zimmer.

Das Zimmer, das eigentlich eine Suite war, hatte eine große bodentiefe Glasfront, die direkten Meerblick bot. Der Balkon, der sich über die gesamte Breite des Zimmers zog, war sonnengeflutet.

Der Raum wirkte ruhig und einladend, und die Farben des Strandes und des Wassers fanden sich überall wieder.

Sie hatten sich entschieden, gemeinsam in einem Zimmer zu schlafen, da die Zeit, die sie hier auf Föhr zusammen hatten, sowieso schon begrenzt und das außerdem Tradition war. Früher hatten sie es auch nicht anders gemacht: zu dritt im Zelt, im Hochbett und später auch unterwegs mit Otto.

Während Pirkko begeistert das Badezimmer begutachtete und ihnen zurief, wie krass das sei, Sophie ihren Koffer öffnete und die Sachen ordentlich in den Schrank legte, nahm Klara ihren Rucksack, den sie in die Ecke gestellt hatte und schnallte die Yogamatte ab. Es gab keinen Tag, an dem sie sie nicht ausrollte. Egal, wo sie war. Während des Lockdowns hatte sie damit angefangen, ihre Matte für alle auszurollen, die ihr auf Instagram folgten, was damals nur ein paar Hundert waren und heute ein paar Tausend, um allen, die nicht reisen konnten, das Gefühl von Freiheit, Zusammenhalt, Gemeinschaft zu geben.

Eine frische Brise kam vom Meer, und diese Weite war unbeschreiblich. Am Horizont lagen links die Warften der Hallig Langeness, ein Stück weiter rechts – der Landzipfel – musste Amrum sein und noch ein Stück weiter rechts rum war irgendwo Sylt. Um das sehen zu können, müssten sie wohl eine kleine Inselrundreise machen, überlegte Klara.

»Ich kann mich nicht sattsehen. Obwohl es eigentlich das Langweiligste der Welt ist. Aber ich kriege nie genug davon«, meinte Klara.

»Stimmt«, murmelte Sophie gedankenverloren. »Es gibt nichts Entspannenderes, als aufs Meer zu schauen. Zumindest entspannt das mehr als die Wäscheberge zu Hause.«

»Das glaube ich dir!«, meinte Pirkko. »Mir reicht ja schon meine eigene Wäsche. Aber die für drei andere mitmachen zu müssen … allein der Gedanke! Nein!«

»Vielen Dank für dein Verständnis«, sagte Sophie und lehnte ihren Kopf an das Kissen.

»Gerne«, meinte Pirkko und lächelte sie an.

Wir sind mitten im UNESCO-Weltnaturerbe, dachte Klara, während die anderen beiden weiter über Buntwäsche Witze machten, schmunzelte und behielt diese Information für sich. Sie wollte ihren Freundinnen nicht auf den Nerv gehen, die Wäsche, Spa und Spaß im Kopf hatten. Und essen, natürlich!

Obwohl es lustig wäre, wenn sie die Reiseleiterin spielen würde und das der rote Faden der gemeinsamen Zeit wäre. Es wäre definitiv nicht das erste Mal.

»Wir befinden uns hier übrigens mitten im Weltnaturerbe Wattenmeer«, erklärte sie daher mit leicht verstellter Stimme, um ihrer Rolle als Reiseleiterin mehr Gewicht zu geben.

Zeitgleich drehten sich ihre beiden Freundinnen zu ihr um, die inzwischen zu ihr auf den Balkon gekommen waren, und schüttelten den Kopf, als hätten sie den letzten Funken Hoffnung aufgegeben, dass Klara ihre Informationssucht doch noch eines Tages in den Griff bekommen würde.

»Der Begriff ›Watt‹ entstammt übrigens dem altfriesischen Wort ›wad‹, was so viel heißt wie …«

»Watt?!«, platzte es aus Pirkko, woraufhin Sophie so anfing, zu lachen, dass Klara Angst hatte, sie würde gleich über die Balkonbrüstung fallen.

»Ihr seid unmöglich!«, tat Klara beleidigt, »da will man euch mal ein bisschen Allgemeinbildung mit auf den Weg geben und ihr?«

»Wir machen jetzt erst mal den Champagner auf, danach kannst du uns dein Referat vortragen«, meinte Sophie, ging rein und kam kurz danach mit drei Gläsern und der Flasche unterm Arm wieder raus, stellte alles auf den Tisch und schenkte ein.

»Prost!«

»Prost!«, stimmten die anderen beiden mit ein, die sich schon auf die Balkonmöbel gesetzt hatten, und ließen die Gläser klirren.

»Auf uns!«, stimmten Klara und Pirkko mit ein.

»Und was macht dein Sexleben so?«, wollte Sophie wissen. »Komm, mach mich ein bisschen neidisch. Nur ein klitzekleines bisschen. Erzähl mal, was ich gerade alles verpasse. Ich bin überhaupt nicht up to date. Wie denn auch? Ich habe seit Jahren mit dem gleichen Typ Sex.«

»Wo soll ich anfangen?«, fragte Pirkko gedankenverloren und begann, von ihren Affären zu erzählen.

Sophie und Klara rückten etwas näher zusammen, so wie früher, als sie noch Kinder waren und sich spannende Geschichten erzählt hatten. Und auch später, als Jugendliche, wenn es um die Jungs ging. Die Älteren, aus der zwölften oder der dreizehnten Klasse. Das waren die, die sie interessant fanden.

»Aber wisst ihr was? Egal, mit wem ich flirte oder etwas mehr habe. Es sind immer ihre Geschichten, die es spannend machen, das, was sie wirklich ausmacht, wenn alles andere nicht da ist – alles Äußere. Das zu suchen und vielleicht ein Stück davon zu finden, eine Vorstellung dessen, was sie und wer sie wirklich sind, das finde ich sexy. Nicht den Rest. Das ist dann einfach nice to have.«

»Aber wozu braucht es denn dann das, was du den Rest nennst? Du stehst doch auf diese Menschen, sonst würdest du dich doch gar nicht weiter auf sie einlassen. Oder sie küssen.«

»Klar! Absolut. Aber diese Geschichten machen die Menschen erst attraktiv. Es ist, wie soll ich es erklären«, sie sah auf das Meer, dann wieder auf das Glas in ihrer Hand, »ein Abenteuer, es ist im Grunde eine Reise, zu der verschiedene Etappen gehören, bis man sein Ziel erreicht. Und vielleicht will man das Ziel gar nicht erreichen. Vielleicht geht es um etwas anderes.«

Sophie sah Pirkko fragend an.

»Verstehe ich nicht«, gab sie zu.

Pirkko dachte offensichtlich nach, dann zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie sagen, sie wisse selbst nicht, wie sie es beschreiben solle.

»Man muss es einfach mal machen. Dann verstehst du es vielleicht. Magie beginnt in dem Moment, wo du deine Komfortzone verlässt.«

»Oder im nächsten Leben«, erklärte Sophie und zeigte mit einem Augenzwinkern auf ihren Ehering.

»So lange würde ich auf keinen Fall warten«, gab Pirkko zu bedenken, und alle drei mussten schmunzeln.

»Suchen wir nicht alle irgendetwas?«

Klara und Sophie hielten in der Bewegung inne und sahen Pirkko an, deren Blick irgendwo draußen den Horizont streifte. »Geschichten, Sex, Abwechslung, einen Heimathafen … es dreht sich doch eigentlich alles um eine Suche. Um den Weg und gar nicht das, wovon wir träumen. Denn wenn wir es erreichen, was wäre denn dann?«

Klaras Gedanken blieben an dem Wort »Heimat« haften, die sie vor vielen Jahren verloren hatte, als ihre Eltern sich trennten und das Haus, in dem sie aufgewachsen war, das sie bis in die letzte Ecke unter dem alten Dach kannte, verkauft wurde. Als alles, was sie bis zu diesem Tag als ihr Zuhause, ihre Heimat bezeichnet hatte, weg war. Als sie aus ihrer heilen Welt gerissen wurde und mit ihrer Mutter plötzlich in der kleinen Neubauwohnung saß und auf einen Balkon blickte, statt in ihren Garten mit der Schaukel, dem Gartenhaus, auf dessen Dach sie gerne geklettert war, dem alten Kirschbaum und all dem anderen Bekannten. Als alles anders war. Und als sie beschloss, dass sie es niemals so machen würde wie ihre Eltern. Das mit dem Haus, der Ehe, dem Sichfestlegen und dann Ausbrechen, weil alles zu unfrei, zu starr, zu anders geworden war als das, was sie eigentlich ursprünglich gewollt, aber nie geäußert hatten. Eigentlich ein bisschen so wie bei Sophie, dachte sie in der Sekunde, sagte jedoch nichts.

»Apropos Weg, ich glaube, ich muss mich mal bewegen, sonst schläft mein Po gleich ein. Außerdem knurrt mein Magen«, meinte Sophie und stand auf. »Wie sieht es mit einem Spaziergang aus? Gesessen haben wir heute genug. Oder?«

»Gute Idee«, stimmte Pirkko zu, die sich mit den Händen auf die Oberschenkel klatschte und aufstand.

Klara hing ihren Gedanken noch nach, was oftmals damit endete, dass sie aus dem Grübeln nicht mehr herausfand. Umso besser war es, dass die beiden sie wortwörtlich mitzogen. Sophie hatte ihre Hand genommen und deutete an, ihr zu folgen.

3.

»Boah! Die Luft ist der Wahnsinn!«, rief Pirkko, breitete die Arme aus, als wollte sie losfliegen, und atmete mit geschlossenen Augen tief ein und aus. Sie hatten zwar eben auf dem überdachten Balkon an der frischen Luft gesessen, aber hier unten am Strand war es doch etwas ganz anderes. »Das ist das Einzige, was ich in Berlin manchmal vermisse. Diese frische Luft!«, stellte sie fest, als sie die Augen wieder geöffnet hatte.

»Ja, stimmt. Ich liebe das auch. Kiel und Köln sind lufttechnisch nicht vergleichbar. Da lobe ich mir doch meine Heimat.«

Heimat, dachte Klara ein weiteres Mal, suchte in ihrem Kopf nach Erinnerungen, blätterte Bilder durch, die zu dem Begriff passen könnten, fühlte aber nichts und fand auch keine Antwort. Es war nicht die Wohnung, in der ihre Mutter immer noch lebte. Auch nicht ihr WG-Zimmer in Hamburg. Es war irgendwo zwischen Otto und einem Ort, den sie einmal als Heimat bezeichnet, verloren und nie wiedergefunden hatte.

Sie gingen den Südstrand entlang bis nach Wyk, was nicht weit war. Vorbei an Menschen, die auf alles vorbereitet schienen, was ein Urlaub mitten in der Nordsee wettertechnisch zu bieten hatte: mit Regenjacken, Mützen, Sonnenbrillen, Wanderstiefeln oder auch nackten Füßen liefen sie durch das Watt, während die drei Freundinnen an der Seebrücke vorbei und schließlich den Sandwall mit seinen Cafés, Buchhandlungen und Geschäften entlanggingen. Die kleinen, schmalen Gassen des alten Fischerortes, in denen Friesen- und Kapitänshäuser dicht an dicht standen, und das wohl kleinste Reetdachhaus, das sie jemals gesehen hatten, faszinierten sie.

»Könntet ihr euch das vorstellen? Hier zu leben? Auf einer Insel?«, fragte Sophie, während sie und Klara Pirkko beobachteten, die mit ihrer Polaroidkamera das Licht in einer der verwinkelten, schmalen Gassen einfing, an deren kleinen, dicht an dicht stehenden Häusern Rosen emporrankten.