Friesentorte für Fortgeschrittene - Tina Wolf - E-Book
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Friesentorte für Fortgeschrittene E-Book

Tina Wolf

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Beschreibung

Ein Urlaub auf Föhr mit überraschender Wendung, ein Fotoalbum voller Erinnerungen und Herzklopfen am Strand

Obwohl Mo nichts mehr liebt als ihren Job, lässt sie sich von ihrer Mutter zu einem Kurzurlaub auf Föhr überreden. Doch kaum sind sie auf der Fähre, verschwindet ihre Mutter. Anstelle ihres Laptops und Handys findet Mo nur das alte Familienalbum voller Kindheitserinnerungen an Föhr, verbunden mit einer Aufgabe: Sie soll die Orte und Menschen auf den Fotos aufsuchen. Zwar lässt sich Mo zunächst nur widerwillig darauf ein, aber schon bald erinnert sie sich daran, dass das wahre Glück nach salziger Luft und Friesentorte schmeckt. Oder liegt es an dem attraktiven Architekten Janne, dass sie sich zwischen Reetdachhäusern und Wattenmeer immer wohler fühlt?

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Seitenzahl: 364

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Das Buch

Mo muss dringend mal abschalten von ihrem stressigen Karrierealltag. Davon ist jedenfalls ihre Mutter Hilde überzeugt und lädt sie zu einem Kurzurlaub auf Föhr ein. Dabei ahnt Mo nicht, dass dies kein gewöhnlicher Urlaub werden wird. Noch bevor die Fähre ablegt, macht sich Hilde aus dem Staub und lässt ihre Tochter mit Promenadenmischung Liebling, einem Brief und einem Album mit Fotos aus ihrer Kindheit allein zurück. Bei der Ankunft auf Föhr dann gleich der nächste Schock: Mo soll in einem Heuhotel übernachten! Und das ist nur die erste von vielen Aufgaben, die Hilde ihr stellt. Am liebsten würde Mo die Insel gleich wieder verlassen. Wäre da nicht die leckere Friesentorte von Frau Witt und ihr klopfendes Herz, als sie Janne, dem Bruder der Hotelinhaberin, begegnet.

Die Autorin

Tina Wolf absolvierte ein Volontariat beim Fernsehen und stand fünfzehn Jahre für verschiedene Magazine vor und hinter der Kamera. Seit mehr als zehn Jahren schreibt sie erfolgreich Bücher unter verschiedenen Pseudonymen. Tina Wolf lebt mit ihrem Mann, Sohn und Hund in Hamburg. Ihre Freizeit verbringt sie aber am liebsten an der Nordsee.

Lieferbare Titel

Labskaus für Anfänger

Tina Wolf

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 04/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- & Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net

unter Verwendung von Mauritius Images (Marc James / Travel Collection), FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28486-2V001

www.heyne.de

Für dich, Tobias

1.

Die Möwe hatte ihr Attentat mit einem hysterisch lauten Schreien angekündigt, als wäre sie hier das Opfer. Dabei handelte es sich, so viel stand fest, bei ihr nachweislich um den Täter. Oder die Täterin.

Mo hatte das Schreien über sich ignoriert. Vielleicht auch besser so. Hätte sie in diesem Moment ihren Kopf in den Nacken gelegt, ihre Sonnenbrille abgenommen und in den hellblauen, wolkenfreien Himmel am Fähranleger im Hafen von Dagebüll geschaut, hätte das Unheil sie direkt ins Gesicht getroffen. Irgendwo zwischen ihre blassen Sommersprossen, die so ganz und gar nicht zu ihren braunen Haaren passen wollten und die noch nicht mitbekommen hatten, dass Sommer war. Was nicht an dem Wetter in Berlin lag, sondern an ihrer Work-Work-Balance. An ihrer Selbstständigkeit, die sie liebte und die sich ausschließlich in Meetingräumen abspielte. Mo war Coachin mit Leib und Seele. Und auch, wenn sie mit ihren knapp 1,68 Meter nicht unbedingt eine große Frau war, so war sie es doch, die Vorständen und Firmenchefinnen sagte, wo es langging.

»Alles Gute kommt von oben, Moira!«, meinte ihre Mutter, die vor ihr auf einer Bank saß, und lachte so laut auf, dass Liebling, Hildes Hund, vor Schreck von ihrem Schoß sprang und sich sicherheitshalber lieber zu ihren Füßen legte. Moira – so nannten sie nur ihre Hippie-Mutter und hin und wieder der Paketbote. Sonst niemand. Alle anderen sagten einfach Mo. Und tatsächlich wusste auch kaum jemand, dass es hinter dem O noch weiterging.

Hilde strich sich eine der gelockten, hennaroten Strähnen aus dem Gesicht und wühlte in ihrer gehäkelten Umhängetasche. Vermutlich suchte sie nach einem Taschentuch, dachte Mo, während sie ihren Kopf so weit, wie es ging, zur linken Seite drehte und auf den grün-grauen, nassen Klecks hinter ihrer Schulter schielte, der sich langsam, sehr langsam, auf den Weg machte, den Rest des Rückens zu erkunden.

Hilde hatte gefunden, was sie suchte. Ihren Tabak. Sie öffnete die Dose, griff nach dem Zigarettenpapier, schlug die Beine in der gebatikten Leggings, über der sie heute eine selbst gehäkelte grüne Weste trug, übereinander, zog eines der dünnen Blättchen raus und begann sich – weiter lachend, wenn auch nicht mehr ganz so laut – in aller Seelenruhe eine Zigarette zu drehen. Über den – wenn man es denn überhaupt so nennen konnte – Modegeschmack ihrer Mutter konnte man sich streiten. Über andere Dinge noch mehr.

»Hallo? Kannst du mir bitte mal helfen?!«, protestierte Mo, die damit die Blicke der umstehenden Urlauberinnen und Urlauber, die auch auf die Fähre warteten, auf sich zog. Sie deutete, als bedürfe es einer weiteren Erklärung, auf die Stelle auf ihrer weißen, kurzärmligen Bluse, die bis vor wenigen Sekunden noch nach Reinigung gerochen hatte. Und nach Chanel. Sie hatte wirklich nicht viel mit Hilde gemeinsam. Mos Haare waren glatt und Hildes gelockt, außerdem war ihre Mutter sehr viel runder und weiblicher gebaut und steckte zudem in unmöglichen Klamotten.

Am liebsten hätte Mo die Bluse ausgezogen, in eine Plastiktüte gestopft, in den Koffer gepackt und sich hier an Ort und Stelle umgezogen. Sie bildete sich ein zu spüren, wie der Möwenschiss ihren Rücken runterlief. Im Nacktschneckentempo. Apropos Tempo. Die Zeit reichte leider nicht, um jetzt noch schnell ein frisch gebügeltes T-Shirt aus ihrem schwarzen Rollkoffer zu ziehen, auf die öffentliche Toilette hier am Anleger zu laufen und sich umzuziehen. Eigentlich hatte sie sich direkt nach dem letzten Coaching für die Vorstände ihres aktuellen Kunden umziehen wollen, denn der Tag war lang und die Berliner Sommerluft an diesem Junitag besonders stickig gewesen. Aber dafür war keine Zeit geblieben. Jetzt stand sie hier in der Abendsonne zwischen lauter gut gelaunten und aufgeregten, kleinen und großen Sandalenträgern wie ein Paradiesvogel in ihrem Business-Look und hatte das Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein. Vermutlich machte sie den Eindruck, als hätte sie auf der Insel einen wichtigen Termin. War ja im Grunde auch so. Ein Termin, der sich über eine Woche hinzog und von dem sie schon eine vage Ahnung hatte, wie er ablaufen würde. Mit ihrer Mutter an ihrer Seite, die vermutlich jeden Morgen um kurz nach sieben Uhr an ihre Hotelzimmertür klopfen und sie fragen würde, wann sie zum Frühstück käme, denn die Wattwanderung würde doch gleich starten. Oder der Krabbenpulkurs. Oder was auch immer.

Das größere Problem war in diesem Moment allerdings: Warum waren ihre feuchten Hygienetücher ausgerechnet jetzt alle? So ein Mist! Sonst hatte sie doch immer mehr als genug griffbereit in ihrer Tasche.

Mo schob ihre Sonnenbrille hoch, um besser sehen zu können, und warf noch einmal einen verzweifelten Blick in ihre Tasche. Aber da war nichts. Zumindest nicht das, was sie jetzt dringend brauchte.

Die Fähre hatte inzwischen angelegt und entließ über die lange Gangway alle, die bereits erholt waren oder auch nicht und trotzdem zurückfahren mussten in den Alltag: junge Pärchen mit kleinen Kindern, vollgepackt mit Dingen, die vermuten ließen, dass sie ein Überlebenstraining auf der Insel absolviert hatten. Ältere Damen, die sich offenbar vor ihrem Urlaub an der Nordsee abgesprochen und gemeinsam beschlossen hatten, dass sie alle hellrosa T-Shirts zu einer passenden Haartönung tragen wollten. Ein ziemlich attraktiver, braun gebrannter Mann Mitte dreißig mit Hund an der Leine und leider einer Frau an der Hand drängelte sich an Mo genauso vorbei wie unzählige Väter und Mütter, die aussahen, als bräuchten sie – nach der gemeinsamen Zeit – erst mal Urlaub.

»Erde an Hilde! Kannst du mir bitte mal ein Taschentuch geben?«, forderte Mo ihre Mutter erneut auf, woraufhin sich gefühlt wieder die gesamte Warteschlange zu ihr umdrehte. Nur nicht Hilde. Die steckte sich die selbst gedrehte Zigarette zwischen ihre roten Lippen, zündete sie an, zog daran und produzierte einen Rauch, als wäre sie eine stinkende Dampflok. Normalerweise kümmern Mütter sich um ihre Kinder, ärgerte Mo sich. Okay, sie war vierunddreißig Jahre alt, ja. Aber konnte man nicht trotzdem etwas tun? Kopfschüttelnd, da Hilde den Ernst der Lage offensichtlich mal wieder nicht erkannte, sah sie zu Liebling runter, der entspannt vor den Füßen ihrer Mutter lag. Nicht, dass sie von ihm irgendetwas erwartet hätte, aber irgendwen musste man in so einer Situation schließlich ansehen.

Hildes Hund, der einen so starken Unterbiss hatte, dass man ihm die Leckerlis problemlos in das Maul stecken konnte, ohne dass er den Kiefer auch nur einen Zentimeter öffnete, blickte vorwurfsvoll zurück. Mo hatte keine Ahnung, warum. Sie war schließlich diejenige, die angekackt worden war. Nicht er. Überhaupt hatte er sowieso keinen Grund, so zu gucken. Eigentlich sollte er zutiefst dankbar und zufrieden aussehen und samt seiner kleinen, schiefen Stummelzähnchen glücklich grinsen, selbst in den tiefsten Tiefschlafphasen. Hilde hatte ihm schließlich das Leben gerettet, wie sie ständig betonte, sobald sich ihr die Gelegenheit bot.

Man hatte ihn irgendwo in Südeuropa im Straßengraben gefunden. Voller Läuse und fast verhungert. Das war vor drei Jahren gewesen. Danach hatte die Promenadenmischung, die vermutlich mehr als dreihundert Hunderassen vereinte, bei einer Pflegefamilie gelebt und auf ein neues Zuhause gewartet. In diesen drei Jahren, da war sich Mo sehr sicher, hatte er ein gutes Leben. Trotzdem betonte Hilde immer, was für ein schweres Schicksal er gehabt hatte, bis er endlich von ihr gerettet worden war.

In Wahrheit war sein einziges schweres Schicksal sein Aussehen. Mo liebte Hunde, aber dieser hier war … anders. Sein Foto war das am wenigsten angeklickte auf der Seite des Tierschutzvereins gewesen. Er war schwer zu vermitteln gewesen. Nicht nur wegen des Unterbisses. Das Problem: Er sah auch nach dem Einweichen in Hundeshampoo, dem guten Essen, der Wurmkur und Entlausung noch so aus wie davor. Da half auch jede Tierliebe nichts. So ein Gesicht konnte nur eine Mutter lieben. Davon abgesehen, hatte er Mundgeruch und schnarchte, sobald er einschlief. Im wachen Zustand war er auch nicht besser zu ertragen. Er pupste. Und er war bockig.

Er liebte sein neues Zuhause. Und zwar so sehr, dass er es nur gegen seinen Willen verließ. Drei Mal am Tag musste Hilde ihn vom Sofa zerren und wie einen Wischmopp durch die Wohnung und das Treppenhaus bis nach unten vor die Haustür schieben. Sowieso war er ein eher untypischer Hund, der weder spielte noch sonst etwas freiwillig tat.

»Ich habe keins«, erklärte ihre Mutter nun trocken, zog noch einmal an der Zigarette, paffte den ganzen Qualm in der nächsten Sekunde wieder aus, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat mit ihrem schwarzen Flip-Flop darauf, woraufhin sie von einer jungen Urlauberin mit drei kleinen Kindern einen vorwurfsvollen Blick erntete.

»Das trocknet gleich ganz schnell, und dann kannst du es einfach abkratzen«, schlug sie vor.

»Du hast ja grünen Nagellack!«, stellte Mo in dem Moment völlig entsetzt fest, während einer der letzten Ex-Urlauber sich samt pinkem XXL-Rollkoffer an ihr vorbeischob.

»Durch und durch grün. Weißt du doch«, witzelte Hilde und spielte damit auf ihre Einstellung zu Essen, Politik und überhaupt allem an – vielleicht außer ihrer Angewohnheit, Zigarettenkippen einfach so auf die Straße zu werfen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären sie die Strecke von Berlin hierher mit ihrem alten Tandem oder besser noch mit dem Lastenfahrrad gefahren. Und nicht mit Mos neuem Mini, der jetzt auf dem Parkplatz hinterm Deich stand und noch kein E-Wagen war. Auch kein Hybrid.

Die Ex-Urlauber-Karawane war abgezogen, und der Weg für die Neu-Urlauber, die es alle kaum abwarten konnten, endlich auf die Insel zu kommen, war frei.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Hilde, als die Fußgängerampel für die Fähre auf Grün umgeschaltet hatte. Sie nahm die Leine, die sie neben sich gelegt hatte, weil Liebling sich sowieso nicht freiwillig wegbewegt hätte, und griff nach ihrer Tasche, die nach Mos Auffassung viel zu klein war für eine ganze Woche Föhr, und marschierte los.

Mo strich sich eine Strähne ihres frisch nachgeschnittenen kinnlangen Bobs aus dem Gesicht, zog ihren Koffer hinter sich her und hoffte innerlich, dass Hilde nicht extra wenig eingepackt hatte, weil sie dachte, sie könne sich ja alles bei ihr borgen und müsse dann zu Hause nicht so viel waschen. Fakt war: Das reichte niemals! Außerdem klapperte es aus der Tasche, als hätte ihre Mutter lauter Tabakdosen eingepackt.

Zusammen mit allen anderen Zwei- und Vierbeinern liefen sie den Weg zur Fähre hoch. Vermutlich war Mo die Einzige, die nicht ganz freiwillig hier war. Sie war hin- und hergerissen zwischen der Vorfreude über die Zeit am Meer auf ihrer Insel, die sie so lange nicht gesehen hatte, und der Tatsache, dass sie diese ausgerechnet mit Hilde verbringen würde. Denn es war im Grunde genommen Erpressung. Wenn auch gut gemeinte Erpressung. Falls es so etwas gab.

Hilde hatte die Chance ergriffen und ihr zu ihrem letzten Geburtstag vor zehn Monaten einen Gutschein für Frei-Zeit geschenkt. Da ihr nächster Geburtstag also quasi bereits vor der Tür stand und der Gutschein noch nicht eingelöst war, hatte Hilde sie gedrängt, endlich mit ihr nach Föhr zu fahren. Nicht ein Wochenende, auch kein verlängertes. Nein, eine ganze Woche. Das hieß für Mo: nur das Meer, Mutti und sehr viel Crémant. Ohne war es nicht möglich. Vom Whirlpool, den Saunagängen und der Massage ganz zu schweigen. Man musste es sich ja irgendwie schönreden. Jedenfalls die ein, zwei Tage, die sie das Spielchen mitspielen würde. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Und dann würde – huch! – eine Mail, nein, besser ein Anruf sie aus dieser wundervollen Zweisamkeit reißen, und sie müsste leider, leider zurück nach Berlin. Wie ärgerlich! So hatte sie es sich bereits vor Wochen bis ins kleinste Detail überlegt.

Natürlich war sie neugierig auf das, was sie erwartete. Sie hatte schließlich seit der Einschulung ihre kompletten Ferien auf der Insel verbracht, kannte Föhr wie ihre Westentasche. Aber sie war mit fünfzehn das letzte Mal hier gewesen. Sie platzte vor Neugierde, was sich wohl alles verändert hatte. Oder ob alles noch so aussah wie damals?

Und natürlich liebte sie Hilde, die Frage stellte sich ja gar nicht. Es war schließlich ihre Mutter, auch wenn Mo sich in regelmäßigen Abständen eine andere wünschte oder zumindest eine mit ein paar anderen Eigenschaften. Allerdings beschäftigte sie einfach die Frage, wie sie es schaffen sollte, zwischen Saunagängen und Strandspaziergängen die zehntausend Mails zu beantworten, die sich in ihrem Postfach vermutlich sekündlich verdoppelten. Natürlich gingen die alle auch an ihre Assistentin, aber bei ihren hochkarätigen Kundinnen und Kunden aus Politik, Wirtschaft oder den Medien warf sie doch lieber selbst einen Blick darauf. Mo war selbstständig, und das hieß: selbst und ständig. Und, Hand aufs Herz, sie selbst war ihre beste Mitarbeiterin. Zuverlässig, motiviert, zielorientiert.

Der Fleck auf ihrem linken Schulterblatt ging ihr nicht aus dem Kopf. Es war ihr abgrundtief peinlich. Von wegen trocknen lassen und abkratzen! Auf so eine absurde Idee konnte auch nur Hilde kommen. Der Fleck war definitiv noch feucht und würde es, so groß und dick, wie er war, vermutlich bis heute Abend bleiben. Seeluft hin oder her.

Egal, gleich hatte sie ja genug Zeit, um sich umzuziehen. Die Fähre brauchte eine knappe Stunde bis Wyk.

Mo spürte, wie sich bei diesem Gedanken ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie erinnerte sich, wie sich, wenn sie als Kind mit ihren Eltern auf die Insel gefahren war, diese eine Stunde immer wie eine Ewigkeit angefühlt hatte. Genau wie die Ferien. Es war eine unendlich lange, wunderschöne Zeit gewesen. Wenn das Wetter gut gewesen war, hatte sie mit ihrem Vater oben an Deck gestanden und sich über jede Welle, jeden Meter, den sie sich ihrem Paradies näherten, gefreut. Sie hatten die Arme ausgebreitet und gespielt, sie würden fliegen. Bei schlechtem Wetter hatten sie unten an einem der Tische hinter den nassen Scheiben gesessen und Karten gespielt. Das war so lange her, überlegte Mo, und fühlte sich doch so an, als wäre es gerade erst gewesen. Anders als das Gefühl, das sie hatte, wenn sie sonst an ihren Vater, an Hans dachte. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Seit er vor zehn Jahren Deutschland verlassen hatte und in seiner Wohnung auf Gran Canaria lebte, kamen die üblichen Grüße zum Geburtstag und zu Weihnachten. Mehr nicht. Während sie durch die vom Salzwasser leicht trüben Scheiben der Fußgängerbrücke, über die sie auf die Fähre gingen, aufs Meer sah, versuchte sie sich daran zu erinnern, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber sie kam nicht drauf. Die Trennung, die Stille, die nicht ausgesprochenen Worte, die den Raum gefüllt hatten, als sie sich noch alle paar Wochen mal getroffen hatten, das bedrückende Gefühl – all das war präsent. Nicht aber der Moment, in dem er Tschüss gesagt hatte und sie kurze Zeit später erfuhr, dass er ein neues Leben angefangen hatte, wie er in der WhatsApp schrieb. Es musste bei irgendeinem Italiener in Berlin gewesen sein, zu dem sie gegangen waren.

Die Fähre war nicht mehr die, mit der sie damals immer gefahren waren. Diese war größer und viel moderner. Durch eine bodentiefe Glasfront konnte man das Meer sowohl am Heck als auch am Bug beobachten. Kein Holz, keine kleinen Fenster, die vom Salzwasser getrübt waren, keine engen Gänge zwischen den Tischen.

Mo, Hilde und Liebling gingen weiter in den Bistro-Bereich, der sich im Grunde über den gesamten mittleren Teil erstreckte, und wählten einen Tisch an der rechten Seite mit Blick auf die Nordsee, die in Wellen gegen die Seite des Schiffes schwappte. Mo sah durch das Fenster zur Sonne über dem Meer, erinnerte sich an einen Moment, der lange her war und in dem sie eine Robbe zwischen den Wellen entdeckt hatte, und versuchte, etwas in der Ferne am Horizont zu erkennen. Sie überlegte, welche Hallig wo lag, und gab schließlich auf. Sie würde es eh nicht mehr zusammenbekommen. Auf alle Fälle würde sie einen traumhaften Sonnenuntergang sehen, dachte sie, und spürte plötzlich doch einen Funken Freude in sich aufkommen. Ihr letzter Urlaub war schon so lange her, dass sie gar nicht mehr wusste, wann genau er gewesen war. Sie sah sich selbst auf dem Balkon ihres Hotelzimmers sitzen mit einem schönen, trockenen Weißwein, dazu ein paar Oliven und dem Sonnenuntergang. Perfekt! So würde sie die Zeit, die sie eigentlich gar nicht hatte, verbringen. Vielleicht sollte sie die ganzen wichtigen Menschen und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einfach mal für eine Woche zum Team Building auf einer Hallig absetzen. Schafe, Wiesen und Wasser. Mehr nicht. Bei der Vorstellung huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Gar keine so schlechte Idee. Selbstversorger für eine Woche. Danach würde es in manch einer Firma sicher glatter laufen.

Noch bevor sie sich gesetzt hatten, stand ein Kellner in weißem Hemd und schwarzer Weste vor ihnen und fragte nach ihren Wünschen.

»Können Sie mir ein Stück Friesentorte einpacken?«, wollte Hilde zu Mos großer Verwunderung wissen, während sie schon wieder in ihrer Tasche wühlte, die sie auf den Tisch gestellt hatte. Klar, Friesentorte gehörte zu Föhr wie der Sand am Strand, aber doch nicht abends! Die würden sie morgen spätestens am Nachmittag eh essen. Und warum überhaupt einpacken?

»Willst du die nachher unter der Decke naschen?«, wollte Mo wissen.

»Ähm, ne, ich dachte, ich nehme es mit und … Ach, egal«, stammelte ihre Mutter und kramte weiter in ihrer Tasche herum.

»Nein, gute Frau, haben wir nicht. Aber«, der Kellner wies zum Tresen, der sich in der Mitte des Raumes befand, »vom warmen Apfelstrudel mit Sahne haben wir noch etwas übrig. Den hatten wir heute im Angebot.«

»Ne, danke, das ist lieb, dann nicht«, murmelte Hilde leicht abwesend, was Mo sehr unangenehm war, da ihre Mutter ihn nicht einmal ansah. Schließlich stand der Mann hier und wollte eine Bestellung aufnehmen.

»Ich hätte gerne einen Cappuccino mit Sojamilch, wenn Sie haben«, sagte Mo, obwohl sie ahnte, dass sie später davon schlecht würde einschlafen können. Es musste schließlich schon zwanzig Uhr sein. Sie sollte vielleicht lieber ein Wasser trinken. Im Hotel würde sie sich einen schönen großen Salat mit gegrillten Knoblauch-Chili-Garnelen bestellen. Sofern die so etwas hatten. Darauf freute sie sich schon jetzt. Bis dahin musste der Cappuccino reichen.

»Nein, sorry, wir haben …«

»Hafermilch?«

»Auch nicht, aber …«

»Mandelmilch?«, hoffte Mo.

»Nein. Lactosefreie Milch, wenn Sie mögen.«

»Ja, gerne. Und den Cappuccino bitte entkoffeiniert.«

»Wird gemacht«, sagte der Mann, tippte alles in seinen Orderman und ging einen Tisch weiter, ohne noch einmal den Kopf zu heben.

Liebling hatte es sich neben Hilde auf der Bank gemütlich gemacht und sah Mo an, als erwarte er sekündlich Serviette und Besteck. Sein Blick hatte, vielleicht auch durch den Unterbiss, etwas Forderndes.

»Ich muss mal eben verschwinden«, erklärte Mo, öffnete einen Spalt ihres Koffers, zog ein T-Shirt raus und vorsichtshalber eine Strickjacke, dann sah sie sich nach dem Hinweisschild für das WC um. Vermutlich eine Etage tiefer, tippte sie, und ging Richtung Treppe, die sich hinter einer Glasschiebetür befand.

»Ich wünsche dir viel Spaß! Das wird klasse«, hörte sie Hilde hinter sich, drehte sich kurz um, sah die beiden Unikate auf der Bank sitzen und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Irgendwie passten die beiden einfach zusammen. Mo ging weiter. Viel Spaß, hallten die Worte von Hilde in ihr nach. Was bitte schön sollte daran Spaß machen, auf eine Toilette an Bord einer Fähre gehen zu müssen, weil man es leider nicht bis zum Wellness-Hotel auf Föhr aushielt? Das wird klasse?! Humor hatte ihre Mutter ja, das musste man ihr lassen.

2.

Als Mo kurze Zeit später in frischem T-Shirt und Strickjacke erleichtert die Toilette verließ und aus einem der vielen Fenster sah, hatte sie das Gefühl, als würden sie gerade ablegen. In der nächsten Sekunde bemerkte sie jedoch, dass sich nicht die Fähre, sondern die Fußgängerbrücke bewegte, die gerade eingezogen wurde. Sie erinnerte sich an ein altes, längst vergessenes Gefühl: das Kribbeln im Bauch, wenn die Fähre ablegte. Die leichte Aufregung, die sie als Kind gespürt hatte, wenn es endlich losging, und sie den Hafen verließen, um auf die Nordsee und zu ihrer Insel rauszufahren. Es war nur eine kurze Strecke über das Wasser, und doch war es für Mo immer ein Abenteuer gewesen.

Mo schlenderte weiter an Tischen und Taschen vorbei zu ihrem Platz, den sie schneller erkannte, als ihr lieb war: Liebling stand auf der Tischplatte neben Salz- und Pfefferstreuer und leckte an etwas, an das er ganz sicher nicht lecken sollte. Mo beschleunigte ihren Gang, blieb schließlich abrupt vor dem Tisch stehen, griff nach Liebling wie nach einem Paket und setzte ihn auf den Boden. »Hallo? Was machst du denn da? Wer hat das erlaubt?!«, schimpfte sie mit ihm, schämte sich in Grund und Boden und setzte sich schnell, um nicht noch länger von allen angestarrt zu werden. »Wo ist denn dein Frauchen?«, zischte sie in einem Ton unter die Tischplatte, als wäre ihre Mutter eine Fremde. Sie wollte dem näheren Umfeld von mindestens drei bis sechs Tischen signalisieren, dass dies nicht ihr Hund war, und sie daher auch nicht für die nicht vorhandene Erziehung verantwortlich war.

Und überhaupt: Wo war Hilde? Warum war sie nicht hier und passte auf die Taschen und diesen frechen Hund auf? War sie auch auf der Toilette? Konnte ja eigentlich nicht sein. Dann hätte sie ihr ja auf dem Weg begegnen müssen. Ihre Mutter konnte sicher nicht weit sein, sonst hätte sie die Taschen und vor allem Mos Handtasche, in der sich alles befand, was für ihren Job existenziell war, hier nicht allein stehen lassen. Obwohl? Mo sah sich um. War sie vielleicht am Tresen? Doch noch ein Stück Kuchen zum Abendbrot bestellen? Oder war sie etwa schon wieder rauchen? Bei all ihrem Grün-und-Gesund-leben-Wahn war das etwas, das absolut nicht ins Konzept passte.

Mo sah sich um. Keine Hilde weit und breit. Nun denn. Sie griff in ihre nagelneue, cognacfarbene Ledertasche, um ihr Handy herauszuholen. Sie wühlte und wühlte, während sie sich weiter nach Hilde umsah, bis sie schließlich etwas aus der Tasche zog.

Es war ein Umschlag. Und es stand ihr Name darauf. Handschriftlich von ihrer Mutter, mit einem Kugelschreiber ins Papier gedrückt. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Mo aus, das sekündlich an Tempo zunahm. Sie riss den grau-beigen Umschlag auf und zog ein DIN-A4-Umweltpapier raus, das sie sofort auseinanderfaltete.

Mo überflog den Text in Windeseile, während sie ihre Tasche auf ihren Schoß stellte, parallel hektisch darin kramte und immer wieder kurz hineinsah, um ihr Handy rauszuziehen. Wieder hoch zum Text, wieder runter. Irgendwo musste ihr Handy doch sein! Kalender, Stifte, Schminktasche, Buch, Stift, noch ein Stift, Parktickets, die sie unbedingt im Steuerordner abheften musste, lauter andere Dinge. Aber kein Handy. So ein Mist!

Mo holte tief Luft und überflog noch einmal hastig den Brief.

Mein Schatz,

du weißt ja, wie es ist. Seien wir ehrlich. Mit mir erholst du dich nicht. Deshalb fahre ich zurück und hole euch in einer Woche wieder ab.

Euch? Was?!

Mo schaute unter den Tisch, wo Liebling mit schrägem Kopf und einem Blick, als hätte er den Brief höchstpersönlich geschrieben, genau da saß, wo sie ihn gerade hingesetzt hatte. Das durfte doch nicht wahr sein! War ihre Mutter jetzt wirklich von allen guten Geistern verlassen?

Mo sah wieder hoch und las weiter.

Liebling ist deine Frischluftgarantie auf vier Pfoten. Er wird dafür sorgen, dass du regelmäßig rauskommst und dich erholst!

Klar. Ausgerechnet dieser komische Hund, für den jede Bewegung lästiger war als veganes Hundefutter.

Mo ließ alles stehen und liegen, stand von der Bank auf, sah sich hektisch um und realisierte in der gleichen Sekunde, dass sie bereits fuhren. Sie lief den Gang zwischen den Tischen entlang, an Kellnern mit vollen Tabletts und spielenden Kindern vorbei, bis zum gläsernen Heck und sah, was sie sowieso schon gewusst hatte: dass die Türen natürlich längst geschlossen waren und sie sich langsam auf das offene Meer hinausbewegten.

Sie lief, so schnell es zwischen all den kleinen und großen Zweibeinern ging, weiter bis zu der großen Glasscheibe im Heck der Fähre und sah hektisch hinaus. Lange musste ihr Blick nicht suchen. Ihre Mutter stand dort als schnell kleiner werdender Punkt am Anleger, von dem sie gerade erst abgelegt hatten, und wedelte mit einem triumphierenden Lächeln, das sicherlich ihr ganzes Sommersprossengesicht einnahm und das Mo bis hierher meinte erkennen zu können, mit etwas, das vermutlich Mos Handy war.

»Scheiße!«, schimpfte sie voller Inbrunst und stampfte wie ein bockiges Kleinkind mit dem Fuß auf den Boden. »Scheiße, Scheiße, Scheiße! So eine verdammte …!«

»Das sagt man nicht«, stellte eine circa Fünfjährige mit runder Brille neben ihr fest und sah streng zu ihr hoch.

»Doch. Das sagt man. Vor allem, wenn einem die eigene Mutter das Handy geklaut hat!«, erwiderte Mo genervt.

»Deine Mutter klaut?!«, hakte die Kleine entsetzt nach.

»Ja!«

»Oh! Das gibt bestimmt Ärger.«

»Nicht nur das! Ich bringe sie um!«, murmelte Mo und spürte, wie ihr Herz vor Wut pochte.

»Das ist aber auch verboten«, gab das Mädchen zu bedenken.

»Ja, leider«, stöhnte Mo, drehte sich um und ging zurück, vorbei an all den tiefenentspannten Menschen, die sich auf ihre schöne, freie Zeit auf Föhr freuten.

Was hatte sich Hilde nur dabei gedacht? Glaubte sie wirklich, sie würde sich auf Föhr erholen, wenn sie nicht an ihre Mails, ihr Handy, ihren Rechner, ihr Büro kam? So ein Schwachsinn! Sie würde sofort die nächste Fähre zurück nehmen. So viel stand fest.

Wusste ihre Mutter eigentlich auch nur im Ansatz, was es hieß, selbstständig zu sein? Selbstständig und nicht erreichbar?

»Ich glaube das echt nicht. Sag mir, dass es nicht wahr ist«, meinte Mo kopfschüttelnd zu dem Cappuccino, der inzwischen auf dem Tisch stand.

»Das Handy nimmt sie mir weg, und dich lässt sie hier sitzen?! Na prima«, sagte sie mit Blick auf Liebling, der nach wie vor unter dem Tisch saß und sie immer noch ansah, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Dieser Hund bewegte sich niemals ohne Grund. Und selbst dann nur gegen seinen Willen. Was also sollte sie mit ihm auf Föhr? Man konnte ihn genauso gut zum Pinkeln über die Balkonbrüstung halten.

»Das kann ja was werden. Vermutlich muss ich dich raustragen«, schimpfte sie und spürte förmlich die Blicke der anderen Reisenden, die auf ihr lasteten. »Aber das kannst du knicken. Das kann dein Frauchen übernehmen. Wir fahren sofort wieder zurück!«

Mo nahm einen Schluck aus der bauchigen Tasse und sah sich nach einem der Kellner um, die hier unentwegt hin und her wuselten. Ihre Mutter hatte ja schon immer lustige Einfälle, aber das hier sprengte komplett den Rahmen. Es war definitiv die neue Nummer eins auf der Liste der schlimmsten Einfälle von Hilde. Bis gerade eben war das noch die peinliche Rikschafahrt quer durch die Hamburger Innenstadt gewesen, die sie Mo zu ihrem dreißigsten Geburtstag anlässlich eines gemeinsamen Wochenend-Trips geschenkt hatte. Nichts gegen den armen Rikschafahrer und sein buntes Rad. Es war nur leider kein E-Bike gewesen und daher viel zu anstrengend für den armen Mann. Und für Mo. Zumindest für ihre Psyche. Sie wäre am liebsten tausend Tode gestorben. Das Verkehrschaos, das sie mit ihrer Fahrt auf einer der meistbefahrenen Straßen Hamburgs verursacht hatten, würde Mo ihr Lebtag nicht vergessen.

Sie griff erneut nach der Tasse, nahm einen Schluck, stellte sie etwas unsanft wieder ab, stand auf und ging zu dem Tresen in der Mitte des Raumes. »Entschuldigung, wäre es vielleicht möglich, dass ich Ihr Telefon mal benutze?«, fragte sie den Mitarbeiter dahinter. »Ich zahle natürlich auch. Mein Handy ist leider gerade weg. Und ich muss sehr dringend meine Mutter anrufen. Es ist echt ein Notfall!«, erklärte Mo laut und holte dann tief Luft, in der Hoffnung, Atmung und Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen.

»Soll ich einen Arzt rufen? Ist etwas mit Ihrem Vater?«, wollte der Mann, der gerade ein Glas abgetrocknet hatte und in der Bewegung innegehalten hatte, mit weit aufgerissenen Augen wissen. Er stellte das Glas samt Handtuch darin auf die Arbeitsfläche vor sich und griff nach dem Telefon, jede Sekunde bereit, den Notruf abzusetzen.

»Nein, nein«, beeilte Mo sich zu sagen. »Danke. Mit meinem Vater ist nichts. Er ist wahrscheinlich der Einzige, dem es gerade so richtig gut geht auf Gran Canaria«, überlegte Mo laut. »Ein Arzt hilft da nicht. Es sei denn, er weist meine Mutter irgendwo ein … Ich muss sie wirklich sehr dringend anrufen. Sie hat nur leider mein Handy bei sich und ist«, sie sah kurz über ihre Schulter wehmütig Richtung Festland, »nicht an Bord.«

»O nein! Hat sie die Fähre verpasst?«

»Nicht wirklich. Sie war drauf und ist dann wieder runter … lange Geschichte. Kann ich kurz telefonieren? Bitte. Es ist wirklich wichtig!«

»Natürlich«, sagte der Mann und reichte ihr das schnurlose Telefon.

Mo bedankte sich und wählte Hildes Handynummer, die sie, dem Himmel sei Dank, auswendig kannte.

Es klingelte. Und klingelte. Schließlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter auf der Mailbox.

»Mama! Ruf mich bitte zurück!«, forderte sie und erinnerte sich im gleichen Moment, dass das im Grunde gar nicht möglich war. »Mist, das geht ja gar nicht. Dann bleib da, wo du bist! Bitte! Ich nehme die nächste Fähre zurück! Warte auf mich!«

Dann drückte sie auf das Symbol mit dem kleinen roten Hörer und gab das Telefon dem Mann zurück, der inzwischen weiter die Gläser polierte.

Er sah sie quasi um Entschuldigung bittend an. »Ich mag es Ihnen ja gar nicht sagen, aber das hier ist die letzte Fähre.«

»Wie? Die letzte?«

»Sie können die Runde von Föhr weiter nach Amrum und dann wieder zurück mitfahren, aber dann würden Sie so oder so auf Föhr bleiben. Nach dieser Fähre legt keine mehr ab. Erst morgen früh«, erklärte er kleinlaut.

Zum Festland, dachte Mo, wo ihre Mutter bis dahin schon lange nicht mehr war.

»Haben Sie Sekt?«

»Ähm, ja.«

»Eine Flasche, bitte!«

Mo ließ den irritiert wirkenden Mann stehen und marschierte zurück zu ihrem Tisch. Sie fühlte sich, als hätte sie ein One-Way-Ticket ins All gekauft. Dabei war ihr Ziel nachweislich eine Nordseeinsel. Nicht mal eine Hochseeinsel. Nein, es war eine ganz stinknormale Insel in der Nordsee.

Als sie sich setzte, fiel ihr Blick auf die viel zu kleine Reisetasche ihrer Mutter. Natürlich brauchte sie keine Sachen, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte ja von vornherein gewusst, dass sie nicht bleiben würde. Aber was war dann in der Tasche und hatte so merkwürdig geklappert?

Mo öffnete mit einem Handgriff die Tasche und blickte auf eine bunte Mischung Hundefutterdosen. Na prima. Was sollte sie denn jetzt machen? Auf Föhr bleiben? Ohne Handy, was einem Besuch im Schweigekloster gleichkam? Oder zurückfahren aufs Festland, wo ihre Mutter hundertprozentig nicht mehr war und auf sie wartete?

Mo sprang auf, ging auf die andere Seite des Tisches, zog ihre Tasche an sich und suchte vergeblich nach ihrem Autoschlüssel. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Es blieb dabei, egal, wie lange sie suchte. Er war nicht da. Jetzt hatte Hilde auch noch ihren Mini-Schlüssel entwendet. Was wäre eigentlich gewesen, wenn diese blöde Möwe sie nicht angeschissen und sie sich nicht auf der Toilette umgezogen hätte? War das alles geplant? Steckten die Möwe und ihre Mutter unter einer Decke? Was hätte Hilde denn gemacht, wenn Mo es sich hier einfach auf der Bank gemütlich gemacht hätte? Dann hätte sie vermutlich gesagt, sie müsse mal eine rauchen gehen, und wäre verschwunden. Irgendetwas wäre ihr sicherlich eingefallen.

Der Kellner kam mit einer kleinen Piccolo-Flasche Sekt auf einem Tablett an ihren Tisch und stellte sie zusammen mit einem Glas, das größer war als die Flasche, vor ihr ab.

Normalerweise griff Mo in Momenten, in denen sie einfach nicht weiterwusste, nach ihrem Handy, sah sich kurz ein paar neue Einträge bei Twitter an, überflog die aktuellen Schlagzeilen, checkte die Mails und legte es wieder weg. Besser als jede Meditation. Aber jetzt?

Sie nahm das Glas, das der Kellner inzwischen gefüllt hatte, dankte ihm kurz und trank einen großen Schluck. Dann stellte sie das leere Glas zurück auf den Tisch. Langsam lehnte sie sich zurück und versuchte sich zu konzentrieren, während ihr Blick aufs Meer hinausschweifte. Wie wäre es, wenn sie sich in Wyk einfach ein neues Handy kaufen würde? Dann einfach einloggen in ihren Mail-Account, und ihre Mutter konnte sie mal! Falls es auf Föhr Handys gab, aber davon ging sie einfach mal aus. Es war ja keine Hallig. Oder sie setzte sich in die Hotellobby, da gab es doch sicher auch öffentlich zugängliche Computer für Gäste. Mo verschränkte die Arme vor der Brust und schob die Unterlippe vor. Hotellobby statt Doppelbett. So etwas Bescheuertes.

Da kam ihr ein Gedanke: Sie hatte ja noch ihren Laptop! Sie stand abrupt auf, nahm sich den schwarzen Trolley, legte ihn vor sich auf den Boden, öffnete den Reißverschluss und wühlte entgegen ihrer Gewohnheit alles fein säuberlich Gefaltete durch. Unter den T-Shirts, Blusen, Shorts, ihrer Kulturtasche und allem anderen fand sie etwas, das definitiv nicht ihr Laptop war und das sie nicht eingepackt hatte, aber sofort wiedererkannte.

Das alte rote Fotoalbum ihrer Mutter, in dem sich ihre gesamte Kindheit befand. Festgehalten auf leicht vergilbten, matten, quadratischen und rechteckigen Fotos.

Von ihrem Rechner keine Spur. Wäre ja auch zu schön gewesen.

Schnaufend setzte sie sich wieder auf die Bank. Normalerweise befanden sich Handy, Laptop oder alternativ auch mal das iPad immer, Tag und Nacht, innerhalb eines Radius von maximal zwei Metern, egal, wo sie war: Toilette oder Meeting. Alles andere verursachte körperliche Entzugserscheinungen bei ihr. Dori, ihre beste Freundin, zog sie regelmäßig damit auf. Mo verteidigte sich mit ihrer Position als Geschäftsführerin und der Tatsache, dass Kunden nun einmal ungern auf Antworten warteten. Dass sie ihre Firma nicht allein führte und es noch zwei andere in ihrem Team gab, die in der Lage waren, Mails zu beantworten, überhörte sie. Selbst dann, wenn Dori sie in der Sauna mal wieder darauf hinwies, dass das Mitbringen von elektronischen Geräten erstens verboten, zweitens schlecht fürs Handy und drittens schlecht für sie war. Sie müsse mal abschalten. Sich und das Ding in der wasserfesten Hülle neben sich auf dem Handtuch.

Dori war das Gegenteil von ihr. Abschalten und Loslassen waren ihre Königsdisziplinen. Seit ihrer Scheidung vor drei Jahren war sie im Dauer-Abschalt-Modus. Jetzt, genau in diesem Moment, wäre sie eine große Hilfe gewesen, und am liebsten hätte Mo sie sofort angerufen. Dori wäre sofort gekommen und hätte ihr welche von ihren Bachblüten-Rescue-Tropfen verabreicht. Eventuell die ganze Flasche.

Mo schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Einatmen, ausatmen und unauffällig weiterleben.

Es ging nicht. Sie riss die Augen wieder auf und dachte angestrengt an diese eine spezielle Atmung, die Dori ihr für Notfälle gezeigt hatte. Diese Atmung, die dafür sorgen konnte, dass sich der Herzschlag normalisierte und alles wieder gut werden würde. Aber ihr fiel diese bescheuerte Übung einfach nicht ein! Wie gerne hätte sie jetzt danach gegoogelt. Es war zum Verzweifeln.

Sie nahm den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag, und las weiter.

Ich wünsche dir eine Reise zu dir selbst. Zu der Mo, die du einmal warst …

Kopfschüttelnd sah Mo aus dem Fenster, bis zum Horizont, der Wasser und Himmel trennte. Die Mo, die sie einmal war. Mein Gott! Wie das klang. So pathetisch. Als wenn sie nicht mehr sie selbst war. Hilde hatte aber auch immer einen Hang zum Übertreiben, ärgerte sie sich. Wer sagte denn, dass Veränderung etwas Schlechtes war?

Mo dachte nach. Sie ließ die letzten Jahre Revue passieren, überflog in Gedanken ihre Stationen; das Studium, ihre erste Festanstellung, die Entscheidung, sich selbstständig zu machen, ihre ersten Aufträge als Coachin kleinerer Firmen und ihrer aktuellen Kundinnen und Kunden, die zur ersten Liga der Wirtschaft zählten. Ihre Laufbahn, ihre Ziele und Erfolge. Sie sah sich selbst vor einem der Flipcharts stehen, an denen sie während ihrer Coachings gerne mit dicken Edding-Stiften festhielt und unterstrich, was sie sagte. Sie stellte sich vor, eine Pro- und Kontra-Liste darauf zu erstellen, eine dialektische Argumentation. Und kam nur zu einem Ergebnis: Sie hatte sich zu einer erfolgreichen Karrierefrau entwickelt. Und daran war schließlich nichts falsch.

Sie sah wieder runter auf den Brief.

Diese Reise habe ich ein wenig vorbereitet. Zum Schluss, wenn du allen Hinweisen nachgegangen bist, bekommst du dein Handy und alles andere wieder.

Hinweise? Das meinte Hilde nicht ernst! Sollte sie etwa Aufgaben erledigen, um ihr Handy zurückzubekommen? Wo waren wir denn jetzt gelandet, ärgerte sie sich. Hatte ihre Mutter versehentlich die falschen Pilze im Wald gepflückt und gegessen? Oder war das eine pädagogische Erziehungsmaßnahme? Für eine Vierunddreißigjährige?! Hilde benahm sich, als hätte Mo ihre Medienzeit in den letzten Wochen überzogen und würde zur Strafe auf eine Nordseeinsel verbannt.

Was hatte ihre Mutter sich noch alles für sie überlegt? Mit Unbehagen las sie hastig weiter.

Du wirst Briefe von mir finden und Hinweise. Gehe ihnen nach. Wir sehen uns am Ende dieser Reise wieder. Genieß die Zeit. Sie gehört dir. Hilde

»Genieß die Zeit. Ts! Sie ist verrückt geworden! Anders lässt es sich nicht erklären. Komplett verrückt«, regte Mo sich auf und stellte fest, dass sie es nicht gedacht, sondern laut und deutlich gesagt hatte. Die Dame am Nebentisch in einem blau-weiß geringelten Langarmshirt und mit blondem Zopf drehte sich irritiert zu ihr um.

Schnell sah sie unter den Tisch, als hätte sie mit Liebling gesprochen, den es offensichtlich nicht kümmerte, was hier gerade passierte oder wo seine Lebensretterin war. Er war inzwischen eingeschlafen und schnarchte.

Mo sah wieder aus dem Fenster.

Eigentlich war es ja ganz schön hier. Das Meer, die Insel, Urlaub ohne ihre Mutter. Aber warum ohne jegliche Verbindung in die Welt? Sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das gegen seinen Willen auf Kur an die See geschickt wurde und das sein Lieblingsspielzeug nicht mitnehmen durfte.

Früher hatte sie immer ihren dicken braunen Brummbären, jede Menge Bücher und manchmal auch ihr kleines Zelt mitgenommen. Das hatte sie dann bei Frau Witt im Garten aufgeschlagen, darin gespielt, und manchmal hatte sie sogar darin geschlafen. Ihre gesamten Ferienerinnerungen, die an den Sommer, an den stürmischen Herbst und auch an den nassen Frühling, spielten auf Föhr. Wenn sie an die Ferien ihrer Kindheit dachte, dann dachte sie an diese Nordseeinsel, an der für sie alles schön war. An die kleine Wohnung unter dem Dach von Frau Witt. An die schrägen, holzvertäfelten Wände. An die stickige Luft im Sommer und an ihren Vater, der immer als Erstes, nachdem sie angekommen waren, die schrägen Dachfenster geöffnet hatte. Ihre Mutter, die die Betten bezogen hatte und dann mit dem Rad einkaufen gefahren war. Es war eine heile Welt gewesen, damals auf Föhr. Bis sich ihre Eltern getrennt hatten und sie nicht mehr hinfuhren.

Mo fragte sich, was sich verändert hatte und ob sie die Wege, die Häuser, ihre alten Verstecke in den Knicken zwischen den Feldern noch wiederfinden würde. Und was das mit ihr machen würde. Mit ihr und ihrer Erinnerung. Sie spürte, dass sie tatsächlich ein wenig aufgeregt war.

Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn zurück in den Umschlag, was nicht funktionieren wollte. Irgendetwas passte nicht. Sie sah in den Umschlag und entdeckte ein altes, quadratisches und vergilbtes Foto.

Sie musste ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Das Haar noch hellblond. Mit den Jahren war es dunkelblond geworden, bis sie beschlossen hatte, es nussbraun zu färben. Sie saß am Strand von Wyk, was sie an der Seebrücke erkannte. Einen roten Sonnenhut auf dem Kopf, die Schaufel in der Hand, das sommersprossengeflutete, ovale Gesicht leicht schräg gelegt, blinzelte sie mit schmalen Augen in die Kamera, hinter der ihr Vater stand, der immer alles festgehalten hatte: ihre ganze Kindheit, jeden Urlaubstag, jeden Moment, jeden Stein am Strand. So war es ihr damals vorgekommen. Wenn sie an ihren Vater dachte, an sein Gesicht, dann sah sie nicht den braunen Vollbart und das volle Haar, die grünen Augen. Dieses entspannte, smarte, stille Gesicht sah sie nicht. Sie sah in ihrer Erinnerung in ein Objektiv. In ein dunkles, rundes Loch. Dahinter jemand, der ihr keine Antworten hatte geben wollen auf ihre Fragen.

Intuitiv drehte sie das Bild um und entdeckte die Handschrift ihrer Mutter.

Meine erste Frage an dich lautet:

Auf wen hast du dich immer am meisten gefreut, wenn wir nach Föhr gefahren sind? Fahre hin, und du wirst schon sehen …

Frau Witt, schoss es ihr durch den Kopf. Frau Witt war jahrelang wie eine Ersatzoma für sie gewesen. Eine Oma, die sie nicht wirklich gehabt hatte. Hildes Mutter hatte zu weit weg gelebt, und Mo hatte sie meist nur Weihnachten gesehen. Die Mutter ihres Vaters war schon vor Mos Geburt gestorben.

Frau Witt würde sich vor Freude wahrscheinlich gar nicht mehr einkriegen, wenn Mo plötzlich vor der Tür ihres Friesenhäuschens stünde, in dem sie ihre Ferien verbracht hatten. Oben, in einer der Ferienwohnungen. Warum hatte sie nicht schon vorher an diese entzückende, liebe und inzwischen sicher auch sehr alte Dame gedacht? Wenn Mo die Augen schloss, sah sie Frau Witt in einer ihrer geblümten Küchenschürzen am Herd stehen und etwas einkochen. Der Duft in ihrer Küche, im Haus, im Garten, wenn der Flieder blühte, die Rosen, der Lavendel, die Waffeln, die warme Kirschsoße. Diese Gerüche waren mit ihrer Erinnerung verbunden und kamen jetzt Stück für Stück zurück. Und der Duft nach dem allerbesten Pflaumenmus weit und breit. Nie wieder hatte sie solch ein Pflaumenmus gegessen. Sie musste unbedingt zu Frau Witt und fragen, ob sie eines ihrer Gläser entbehren konnte. Und vielleicht hatte sie ja auch ein Stück Friesentorte für Mo. Die beste Friesentorte der Welt.

Während Mo an diese unbekümmerte Zeit dachte, wurde die Fähre merklich langsamer. Mo drehte sich um und erkannte durch die gegenüberliegende Fensterfront den Hafen von Wyk, an dem sie ein paar Taxen, Menschen, Busse und zu ihrer Verwunderung auch einen roten Trecker sah.

Sie wusste, sie würde aussteigen. Ihre Mutter war eh über alle Berge, und ein Ersatzhandy oder irgendeinen Rechner würde sie im Hotel schon finden. Außerdem hatte sie ja sowieso alles für ihre Abwesenheit im Vorfeld durchorganisiert. Und trotzdem machte es sie nervös, die Kontrolle abgeben zu müssen. Beziehungsweise aus der Hand gerissen zu bekommen.

Langsam stand sie auf und begann, ihre Sachen zusammenzupacken. Trolley, Umhängetasche, die Tasche ihrer Mutter. Ach, und der Hund! Herrje.

3.