Krabbenbrötchen für Kenner - Tina Wolf - E-Book
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Krabbenbrötchen für Kenner E-Book

Tina Wolf

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Beschreibung

An seinem 60. Geburtstag stellt Nikes Vater ihr die Schachtel mit all den Gutscheinen vor die Nase, die sie ihm im Laufe der Jahre geschenkt hat. Plötzlich möchte er sie alle auf einmal einlösen und lädt sie zu einem gemeinsamen Urlaub nach Föhr ein. Nike ist überrascht. Schließlich gab es in seinem Leben bisher immer nur Platz für ihn selbst. Aber schon bald genießt sie die salzige Luft, die leckeren Krabbenbrötchen und die Spaziergänge am Strand. Bei einer Radtour lernt sie den attraktiven Handwerker Basti kennen, der sie vollkommen unerwartet ins Gefühlschaos stürzt. Eine Fernbeziehung kommt für Nike nicht infrage. Doch dann erfährt sie endlich, warum ihr Vater diese besondere Reise organisiert hat, und sie muss sich fragen, ob es nicht Zeit für einen Neuanfang ist.

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Das Buch

An seinem 60. Geburtstag stellt Nikes Vater ihr die Schachtel mit all den Gutscheinen vor die Nase, die sie ihm im Laufe der Jahre geschenkt hat. Plötzlich möchte er sie alle auf einmal einlösen und lädt sie zu einem gemeinsamen Urlaub nach Föhr ein. Nike ist überrascht. Schließlich gab es in seinem Leben bisher immer nur Platz für ihn selbst. Aber schon bald genießt sie die salzige Luft, die leckeren Krabbenbrötchen und die Spaziergänge am Strand. Bei einer Radtour lernt sie den attraktiven Handwerker Basti kennen, der sie vollkommen unerwartet ins Gefühlschaos stürzt. Eine Fernbeziehung kommt für Nike nicht infrage. Doch dann erfährt sie endlich, warum ihr Vater diese besondere Reise organisiert hat, und sie muss sich fragen, ob es nicht Zeit für einen Neuanfang ist.

Die Autorin

Tina Wolf stand fünfzehn Jahre für verschiedene TV-Sender vor und hinter der Kamera. Parallel dazu fing sie an, erfolgreich Bücher zu schreiben. Außerdem ist sie selbständig mit einem nachhaltigen, grünen Business. Tina Wolf lebt mit ihrem Mann, Sohn und Hund in Hamburg. Ihre Freizeit verbringt sie aber am liebsten am Meer.

Tina Wolf

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 03/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Brauer

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- & Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Finepic®, München; Getty Images/Jackyenjoyphotography; Alamy Stock Photo/Panther Media GmbH

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-30159-0V001

www.heyne.de

Für Britta, meine Föhr-Perle

54°43’N 08°30’O 1

1.

Willi sah aus wie ein Zeitreisender, der sich verlaufen hatte. Nike konnte sich in dem Moment, in dem sie ihren Vater zwischen all den anderen Urlaubern am gut gefüllten Fähranleger in Dagebüll entdeckte, ein Grinsen nicht verkneifen.

Vielleicht genoss er es ja auch, überlegte sie, dass ihn hier offenbar niemand kannte. In seiner Heimat Kiel war er bekannt wie ein bunter Hund. Willi, der eigentlich Willem Sturm hieß, war Maler, Künstler, Dozent und beliebter Gast auf allen möglichen Veranstaltungen. Er war bekannt für seine eigenwillige Art und vielleicht gerade deshalb so beliebt. Willi machte, was er wollte. Er passte sich nie an.

So wie jetzt. Er wirkte völlig fehl am Platze zwischen all den Nordseeurlaubern, die sich farbenfroh für jede Wetterlage gerüstet hatten.

Nike ließ sich noch einen Moment Zeit, bevor sie ihn auf sich aufmerksam machen würde.

Sie hatte ihren Wagen auf dem großen Inselparkplatz direkt am Hafen von Dagebüll geparkt und war den Weg zum Fähranleger am Deich entlanggegangen, anstatt den Bus-Shuttle zu nehmen wie die meisten Urlauber. Nach all den Stunden im Auto, auf dem Weg von Hamburg hierher, hatte sie das Bedürfnis gehabt, sich zu bewegen. Die Luft war frisch und klar. Sie hatte sich mit ihrem schwarzen Rollkoffer und der Umhängetasche zwischen all den kleinen und großen Menschen hindurchgekämpft, die alle auf die Fähre warteten, bis sie ihren Vater schließlich entdeckt hatte.

Kein Mensch war wie Willi. Weder hier noch sonst irgendwo auf der Welt. Davon war Nike überzeugt. Seine grauen, gelockten und kinnlangen Haare waren unter dem Strohhut kaum zu sehen. Eine braune Horn-Sonnenbrille verdeckte sein Gesicht an diesem wunderbar sonnigen Tag, der zwar durch die frische Nordseeluft etwas kühler wirkte, ansonsten aber für Mitte Mai überdurchschnittlich warm war. Ihr Vater trug eines seiner hellen Leinenjacketts, das wie alle seine Jacketts maximal locker saß und maximal zerknittert war. Darunter hatte er wie immer einen Kaschmirpullover an. Heute einen dunkelblauen mit V-Ausschnitt. Vermutlich trug er eine passende Leinenhose. Genau sehen konnte sie es zwischen all den kleinen und großen Menschen hier nicht. Neben ihm erkannte sie seinen großen, alten Lederkoffer mit Holzleisten, der aussah, als hätten ihn Bedienstete abgestellt, die gerade auf dem Weg waren, um die restlichen Koffer zu holen.

Willi wirkte etwas verloren zwischen all den bunten Windjacken und Plastikkoffern, den Rädern, Rucksäcken und kleinen Kindern, die Fußball spielten, während ihre Mütter versuchten, sie davon abzuhalten, da die Fähre sich näherte. Er passte hier einfach überhaupt nicht her. Genauso wenig wie diese spontane Reise zu ihnen beiden passte.

Nike erinnerte sich an den Moment, als sie Willi an seinem sechzigsten Geburtstag in Kiel besucht und er sie mit der Idee überrascht hatte, zusammen zu verreisen. Sie war dreißig Jahre alt – und dies war ihre erste gemeinsame Reise. Da konnte man schon mal überrascht sein. Zumal sie auch sonst durch die frühe Trennung ihrer Eltern kurz nach ihrer Geburt und den Umzug von Kiel nach Hamburg wenig Kontakt hatten.

Willi war ihr Vater. Es fühlte sich nur nicht immer so an. Er war jemand, den man besuchte, das war für Nike ganz normal. Kinder besuchten den Elternteil, der nicht da wohnte, wo sie wohnten, alle paar Wochen mal. Nicht, weil sie immer Lust hatten, sondern weil man es ihnen sagte. Nikes Beziehung zu Willi spiegelte genau das wider. Sie waren bisher immer eine Art Zweckgemeinschaft ohne Zweck gewesen. Weil die emotionale Verbindung fehlte. Weil Nike nicht geplant gewesen war. Weil nichts von alldem wirklich gewollt gewesen war und bereits endete, bevor es überhaupt angefangen hatte. Willi war ein Freigeist. Er war alles Mögliche, aber keiner, der immer schon unbedingt ein Kind hatte haben wollen. Was nicht hieß, dass er sie nicht liebte. Er war damals so alt gewesen wie sie jetzt, und ja, Nike war ihm wichtig, das wusste sie. Aber es war eben anders. Er war nicht der Vater, der sich kümmerte, der sich sorgte, der Interesse zeigte, der sich Gedanken machte. So wie die anderen, die an diesem Fähranleger um ihn rumstanden und jetzt anfingen, die Tickets in ihren Bauchtaschen und Rucksäcken zu suchen, während der eine oder andere Hund versuchte, einem Ball hinterherzujagen, bis ihm wieder einfiel, dass er ja angeleint war. Väter, die sich darum bemühten, ihr Rudel zusammenzuhalten, Mütter, die Brotboxen öffneten, um die selbst geschmierten Sandwiches zu verteilen, und Kinder, die Fangen spielten. Eingespielte Teams. Jeder hatte seine Rolle und Nike fragte sich in diesem Moment, welche ihr zukam. Sie ließ ihren Blick weiterwandern zu den entspannten Dauerurlaubern Ü70, die sich sicher auch auf die Insel freuten, für die das hier aber kein außergewöhnlicher Montagvormittag war, kein Beginn eines vielleicht lange herbeigesehnten Urlaubes, sondern ein weiterer freier Tag. Sie schienen das ganze Treiben belustigt zu beobachten, erinnerten sich vermutlich daran, wie es früher bei ihnen gewesen war, während die Sonne ihnen ins bereits gut gebräunte Gesicht schien und der Wind ihre kurzen, grauen Haare durchwühlte. Und mittendrin, in diesem Trubel, dieser Menschenmenge, in der mit jedem Meter, den sich die Fähre dem Anleger näherte, die Hektik zunahm, stand Willi. Ein Fels in der Brandung. Ein Leuchtturm, den offensichtlich keiner wahrnahm. Bis auf Nike. Alle anderen waren mit sich selbst und ihrem Gepäck, den Kindern und Hunden beschäftigt. Es fehlte eigentlich nur, dass Willi einen schwarzen Regenschirm hochhielt, sich alle zu ihm umdrehten und er etwas über die Geschichte der Nordfriesischen Inseln und ihre Bewohnerinnen und Bewohner erzählte.

Stattdessen riss er nun seinen Arm hoch, als er Nike entdeckte, und rief aus voller Kehle: »Hiiiier!« Er dachte wohl, sie hätte ihn noch nicht entdeckt.

Nike nickte ihm zu, obwohl er das vermutlich gar nicht erkennen konnte, schließlich trennten sie noch mindestens zwanzig kleine und große Allwetterkombinationen. In diesem Moment wurde Nike wieder ihr nicht vorhandenes Talent im Kofferpacken vor Augen gehalten. Sie konnte jetzt schon wetten, dass alles, was sie dabeihatte, nicht zum Einsatz kommen würde und sie das, was sie bräuchte, hundertprozentig nicht eingepackt hatte. Sie trug, wie fast immer, eine Jeans-Latzhose, ein geringeltes T-Shirt und ihre dunkelblaue Wollmütze über dem blonden Pixie-Kurzhaarschnitt. Manch einer dachte vermutlich, sie würde jeden Tag das Gleiche tragen. Dabei hatte sie sowohl eine große Auswahl an Latzhosen als auch an geringelten T-Shirts. Es war und blieb einfach ihre Lieblingskombi. Bequem, lässig und unkompliziert.

Natürlich trug sie auch andere Sachen. Das Wetter war ja auch nicht jeden Tag für dieses Outfit gemacht. Und genau da fingen dann immer ihre Probleme an, wenn eine Reise anstand. Was sollte sie einpacken?

Während sie all die anderen hochprofessionell ausgestatteten Nordseekenner betrachtete, wurde ihr klar, dass sich ihre Bauchschmerzen, die sich immer sofort einstellten, sobald sie vor ihrem geöffneten Koffer und ihrem Schrank stand, vermutlich wieder einmal nicht gelohnt hatten. Entweder war es wärmer als gedacht, kälter oder nasser.

»Moin, moin, mein Mädel!«, begrüßte Willi sie überschwänglich betont norddeutsch, als sie bei ihm angelangt war, ihren Koffer abgestellt und ihn in den Arm genommen hatte. Nike fragte sich, ob er Korn statt Kaffee zum Frühstück gehabt hatte oder einfach nur lustig sein wollte. So begrüßte er sie sonst nie. Ob die Menschen um sie herum jetzt dachten, sie wäre seine Freundin?

»Hallo, Papa!«, rief Nike deshalb schnell etwas zu laut zurück, damit hier bloß kein falsches Bild entstand. »Na, wie war die Anreise, Papa?!«, hakte sie noch einmal laut nach und strich ihm zur Begrüßung sanft über die Schulter, gefolgt von einem leichten Klopfen, wie man es bei gebrechlichen, älteren Menschen tat. Dabei war Willi alles andere als alt und gebrechlich. Er war ein attraktiver, jung gebliebener Sechzigjähriger, der junge Frauen anzog wie ein Magnet.

»Sag mal, meinst du nicht, du erkältest dich? Hast du noch eine wärmere Jacke eingepackt?«, fragte sie betont besorgt.

»Jaja. Das wird schon.«

»Und hast du gut hergefunden?«, schob sie hinterher und stellte ihre Tasche ab.

Willi sah sie mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen fragend an. Zu Recht. Er war schließlich mit der Bahn gekommen, und die hatte keine zehn Meter von ihnen entfernt gehalten. Direkt neben dem Fähranleger befand sich die Bahnhaltestelle. Man musste nur einmal die Straße überqueren.

»Ja, danke der Nachfrage. Ich bin ja schon groß.«

Nike lachte. »Ach, stimmt. Fast vergessen!«

»Und du?«

»Ich? Ich bin auch schon groß.«

Willi grinste. »Ja, stimmt. Und das ging viel zu schnell. Ich meinte: Bist du gut durchgekommen?«

»Ach so. Ja, danke. Alles easy.«

»Schön.«

Sie sah sich um, er sah aufs Meer.

Da war sie wieder. Die Stille zwischen ihnen, die an manchen Tagen ganze Messehallen füllen konnte – oder auch ganze Fähranleger.

Nike gab sich einen Ruck. »Wie kommen wir denn gleich zu dem Ferienhaus?«, fragte sie. »Mit dem Bus?«

Willis Reservierung für einen Mietwagen war hinfällig geworden, da Nike an dem Tag, an dem ihr Urlaub eigentlich hätte starten sollen, nicht hatte fahren können. Ihrem Chef war leider doch noch etwas eingefallen und noch etwas und noch etwas, bevor sie endlich loskam. Dementsprechend waren sie jetzt zu Fuß auf der Insel unterwegs oder zumindest ohne Auto. Was aber nichts machte, wie ihr Vater fand. »Die Entdeckung der Langsamkeit«, nannte er seinen Vorschlag, Föhr einfach mit dem Rad zu erkunden. Er kannte es ja nicht anders. Zu Hause in Kiel fuhr er ausschließlich Fahrrad. Nicht, weil er kein Auto hatte, sondern weil er Radfahren liebte. Und außerdem gab es eh nicht viele Straßen auf Föhr, hatte Willi noch ergänzt. Ach ja, und die Internetverbindung sei übrigens auch sehr instabil in der Ecke, in der sie unterkommen würden. Aber ansonsten wäre es dort ein Traum, hatte er erklärt, als sie meinte, sie müsse wohl ihren Rechner mitnehmen. Für den Notfall.

Der Notfall hieß Timm und war der Chef der Agentur, in der sie seit einigen Jahren als Mediengestalterin arbeitete. Sollte es also keine Möglichkeit geben, Timms Kosmos, in dem sich alles nur um seine Firma drehte, mal wieder zu retten, indem sie Aufträge fertigstellte, die er verdrömmelt hatte, wäre es die pure Entschleunigung. Oder ihre Kündigung. Was dann auch einer Entschleunigung gleichkäme. Einer endgültigen.

»Es gibt bestimmt einen Bus, aber das dauert mir zu lange. Wir nehmen einfach ein Taxi. Sind nur drei, vier Kilometer vielleicht. Richtig lange Strecken gibt es auf der Insel ja eh nicht.«

»12,5 Kilometer«, meinte Nike und sah an Willi vorbei in Richtung blaue Fußgängerbrücke, die auf die Fähre führte und sich langsam füllte. Der Weg war freigegeben worden und es kam Bewegung in die Menschenmasse.

Willi sah sie erstaunt an. »Das ist die längste Strecke?«

»Nee, die Länge der Insel. 12,5 Kilometer lang. 8,5 breit.«

»Du hast dich ja informiert!«, stellte er begeistert fest, und Nike sah, wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Er griff nach seinem Koffer, hielt dabei kurz seinen Strohhut fest, weil eine Windböe über sie hinwegfegte, zwinkerte ihr auffordernd zu und machte sich auf den Weg Richtung Fußgängerbrücke, als ginge es jetzt auf Safari.

Sie trottete Willi, der die Tickets hatte, wie ein Hund hinterher und stellte fest, wie abhängig sie in diesem Moment von ihm war. Er hatte alle Informationen, alle Unterlagen, für die Überfahrt, das Ferienhaus, alles, was diese Reise betraf. Das war deshalb außergewöhnlich, weil es bisher nie so gewesen war. Nie so, dass er sich aktiv gekümmert hätte. Dass sie ihm blind folgen und sich über nichts Gedanken machen musste. Bisher war es genau andersherum gewesen. Sie war diejenige, die sich all die Jahre, in denen sie ihren Vater – in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen – besuchte, überlegen musste, was man an einem Wochenende in Kiel mit ihm und bei ihm unternehmen konnte. Welche Ausstellung wann und wo lief und wer dort was ausstellte, das wusste er als Künstler. Aber was man mit einer Tochter, die nur zwei Tage alle paar Wochenenden mal kam, unternehmen konnte, das wusste er nicht. Weder als sie noch ganz klein gewesen war, noch später im Teenageralter. Sie kannte ihren Vater nur von diesen Wochenenden. Erinnerungen an eine Zeit zu dritt, mit ihrer Mutter, gab es nicht. Die beiden waren nie ein richtiges Paar gewesen und als Nikes Mutter versehentlich schwanger wurde, war das das Ende der Affäre und der Anfang ihres Lebens mit ihrer Mutter.

Um an den Wochenenden bei Willi nicht vor Eintönigkeit einzugehen, kümmerte sie sich ab einem gewissen Alter selbst darum, was man unternehmen konnte – davon abgesehen, dass sie ihm zusah, wie er in seinem Atelier malte, an seinen Statuen arbeitete oder am Klavier saß.

Ein Rollentausch, der ihr viele Jahre nicht bewusst gewesen war; sie war da einfach hineingewachsen. Sie machte Ausflüge mit ihm, anstatt dass die Initiative dazu von ihm ausgegangen wäre. Mal gingen sie ins Kino, weil Nike unbedingt einen bestimmten Film sehen wollte, den ihre Mutter ihr noch nicht erlaubt hatte. Mal begleitete sie ihn zu einer Ausstellungseröffnung und versuchte sich mit Saft und Salzstangen die Zeit zu vertreiben. Und natürlich fand sie es cool, dass ihr Vater sie abends mit auf Partys und auf Vernissagen nahm. Willi bestellte ihr schon Wein und Champagner, als ihre Freundinnen noch heimlich auf Partys gingen und die Sektflaschen an ihren Eltern vorbeischmuggelten.

»Hier?«, wollte Willi wissen, dem sie gedankenverloren hinterhergelaufen war und der sie jetzt fragend ansah.

Nike blickte auf einen Tisch an der linken Seite der Fähre und sah aus den bodentiefen Fenstern auf die Nordsee. Auf den weichen Wellen spiegelte sich die Sonne.

»Ja, klar. Warum nicht«, antworte sie, legte ihre Tasche auf die Sitzbank, stellte den Koffer ab und sah sich in dem Innenraum um, der sich langsam füllte. In der Mitte der Fähre befand sich ein Bordbistro, das bereits von den ersten Urlaubern angesteuert wurde.

»Möchtest du auch etwas?«, fragte Willi und deutete auf den Tresen, vor dem sich jetzt eine Schlange bildete.

»Ein Wasser wäre gut. Danke!«

»Wird gemacht!«, sagte Willi und ging los.

Nike schob ihre Tasche ein Stück weiter, setzte sich und sah aus dem Fenster auf das offene Meer.

Sie überlegte, wann sie das letzte Mal auf einer Fähre gewesen war, und konnte sich nicht daran erinnern. Vermutlich während ihrer Schulzeit, als sie mit ihrer Klasse eine Woche auf der Hallig Langeneß verbracht hatte.

»Einmal Meersalzkartoffeln mit Matjesfilet, roten Zwiebeln und Sour Cream für Tisch drei«, riss ihr Vater sie aus ihren Gedanken und stellte im gleichen Augenblick ein Tablett auf dem Tisch ab. »Und Wasser für die Dame. Bitte schön!«, sagte er in einem Ton, der nicht seiner war.

»Danke.« Nike zog das Glas und die kleine Flasche an sich heran.

»Ich dachte mir, so eine kleine Stärkung tut doch ganz gut.« Er nahm den Teller vom Tablett, stellte ihn in die Mitte des Tisches und legte zwei Gabeln und Servietten dazu. »Falls du mal probieren möchtest.«

Ihr Vater wusste, wie sehr sie die kleinen Pellkartoffeln liebte – und dann auch noch so wunderbar salzige! Mit Pellkartoffeln oder Käse konnte man sie immer aus der Reserve locken. Auch, wenn es gerade erst kurz vor elf Uhr war.

»Hier, noch etwas Inselbrot mit Butter«, bot Willi an, stellte sein eigenes Wasser auf den Tisch und setzte sich. »Herrlich!«, sagte er zufrieden und hielt sein Wasser hoch. »Prost, meen Deern. Auf unsere Reise in die Weiten des Meeres«, verkündete er wie ein alter Seebär, der an Deck seines alten Holzschiffes stand und darauf wartete, dass der Anker gelichtet wurde.

Nike schüttelte lächelnd den Kopf und hob ihr Glas zum Prost.

Ihr Handy kündigte eine Nachricht an. Kurz danach eine zweite und dritte.

»Willst du das nicht mal ausmachen?« Willi runzelte die Stirn und nahm einen weiteren Schluck.

Nike griff in ihre Tasche, zog ihr Telefon raus und stellte fest, dass ihr Chef sie offenbar jetzt schon vermisste. Egal. Sie stellte das Telefon auf stumm, legte es zurück in die Tasche und nahm sich eine der Meersalzkartoffeln. Warum nicht einfach mal abschalten, dachte sie und genoss den Blick aus dem vom Salzwasser leicht matten Fenster. Die Fähre hatte abgelegt und fuhr kaum merklich auf das offene Meer hinaus Richtung Föhr.

Nike saß mit dem Rücken zum Festland, den Blick links aus dem Fenster auf den Horizont gerichtet und fragte sich, welche Inseln sie sah. War das nicht Langeneß? Gott, wie peinlich … Sie schämte sich für ihr mangelndes Wissen. Ja, das musste Langeneß sein, aber auch die Halligen, tippte sie, hatte aber keinen blassen Schimmer, wie die einzelnen Inseln hießen.

Auf dem Bildschirm an der Wand ihr gegenüber befand sich ein Flachbildschirm, der auf den Urlaub einstimmte: Bilder vom Meer, dem Strand, Drohnenfahrten über Dünen und alte Reetdachhäuser, Fischerboote, eine Kirche und ein Leuchtturm, der ihr bekannt vorkam, obwohl sie noch nie auf Föhr oder Amrum gewesen war. Vielleicht ähnelte er ja auch einfach einem Leuchtturm aus der Werbung, überlegte sie und trank noch einen Schluck, während ihr Blick wieder zu Willi wanderte, der seine letzten Kartoffeln aß.

Was hatte es nur mit dieser Reise auf sich? War es am Ende vielleicht doch mehr als nur eine simple Midlife-Krise, die Nike ihrem Vater heimlich unterstellte und die sich hinter dieser Idee, nach Föhr zu reisen, verbarg? War es seine letzte LAG – Nike hatte diese Abkürzung für den Begriff Lebensabschnittsgefährtin ins Leben gerufen –, die er nicht mehr so um den Finger hatte wickeln können, wie er es sonst immer geschafft hatte? Und die ihn zu seiner großen Überraschung verlassen hatte? Oder steckte die Kunstszene dahinter, die sich in letzter Zeit weniger als sonst für ihn interessiert hatte? Natürlich war er eine Institution, die Frage stellte sich nicht, aber er hatte doch hin und wieder seinen Unmut über nachlassendes Interesse geäußert. Nike hatte das gar nicht glauben können, ihr kam es ganz und gar nicht so vor, aber vielleicht lag das auch einfach daran, dass sie nicht mehr so oft in Kiel gewesen war wie früher. Was wusste sie schon von den aktuellen Ausstellungen? Von der Nachfrage nach seiner Person? Von Medienberichten? Nicht viel, musste sie sich selbst eingestehen. Vielleicht nagte das alles doch mehr an ihm, als er zugeben mochte.

Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde. Es gab wohl auch eine Schnellverbindung von einer halben Stunde mit dem Katamaran Adler Rüm Hart, aber nicht zu dieser Zeit, hatte Willi ihr erzählt.

Er nahm seine Zeitung aus der Ledertasche und fing an zu lesen. Gut so, dachte Nike und lehnte sich entspannt zurück. Dann musste sie wenigstens keine Themen erfinden, über die sie sich hätten unterhalten können.

»Ich geh mal an Deck«, erklärte sie, griff nach ihrer Umhängetasche und machte sich auf den Weg. Vorbei an den anderen Tischen und Bänken, die alle besetzt waren, bis zu der Glasschiebetür, die sich automatisch öffnete.

Sofort schlug ihr ein frischer Wind entgegen. Nike trat raus, ging die weiße Metalltreppe hoch aufs Deck und sah sich um. Unter dem strahlend blauen Himmel saßen verliebte Pärchen, Familien mit Kindern, ältere Menschen, einzelne Personen auf den weißen Bänken, denen man die Vorfreude auf die Zeit auf den Inseln ansah. Die Fähre fuhr, nach dem Stopp in Wyk, weiter nach Amrum. Zu der kleinen Schwester von Föhr, wie die Insulaner sagten. Das hatte Nike bei einem Gespräch, dem sie am Anleger gelauscht hatte, aufgeschnappt.

Sie suchte sich einen Platz am Ende einer Bank. Über ihnen zogen Möwen ihre Runden und begleiteten sie übers Meer. Die Fähre fuhr langsam über die Nordsee, so als hätten sie alle ewig Zeit. Nike kam es nach ihrer rasanten Fahrt über die Autobahn vor, als hätte jemand für sie einen Gang runtergeschaltet. Als wäre es Absicht, um alle aus ihrem Alltagsstress rauszuholen und auf die Zeit auf der Insel einzuschwingen. Der erste Teil eines Erholungsprogramms, das man praktisch automatisch unbewusst mitgebucht hatte. Wie ein Fingerzeig, dass man alles, jedes Ziel, auch erreiche, wenn man den Fuß vom Gas nahm.

Sie beobachtete die älteren Damen in ihren hellen beigen, dünnen Jacken, die über etwas lachten, die Kinder, die aufgeregt zwischen den Bänken hin- und herliefen, die Hände, die einander hielten, und die Köpfe, die sich an Schultern lehnten, die Arme, die umeinandergeschlungen waren.

Nike ließ ihren Blick wieder über das Meer schweifen, und ihre Gedanken zogen weiter zu ihrem Exfreund, mit dem sie zu lange zusammen gewesen war. Wieder einmal fragte sie sich, warum eigentlich. Warum hing sie so sehr an jemandem, der ihr nicht gutgetan hatte? Warum hatte sie zwei Jahre gebraucht, um sich von ihm zu trennen, obwohl nach zwei Tagen schon abzusehen gewesen war, dass sie nicht zusammenpassten? Ein knappes Jahr war diese Trennung jetzt her, und es fühlte sich immer noch an, als wäre es gerade erst gewesen. Sie hatte die Kneipen gemieden, in die er ging, wenn er seine Freunde mal in Hamburg besuchte, aus Angst, ihm mit einer neuen Freundin zu begegnen. Sie war in eine andere Gegend gezogen, hatte das Fitnessstudio gewechselt, die Restaurants und teilweise auch die Freunde. Und trotzdem erinnerte alles an ihn und ihre gemeinsame Zeit. Nike holte tief Luft, machte kurz die Augen zu, genoss die Nordseeluft, öffnete die Augen wieder und stand auf, um zurückzugehen. Vielleicht kam diese spontane Reise ja doch im richtigen Moment. Einfach mal raus aus dem alten Trott.

Während sie zurück zu Willi an den Tisch ging, hörte sie die Durchsage des Kapitäns, der die Ankunft in Wyk ankündigte und sich von den Gästen verabschiedete.

Ihr Vater hatte seine Zeitung wieder eingepackt und war aufgestanden. »Na, dann wollen wir mal!«, sagte er, griff nach seinen Sachen und marschierte los.

Das Taxi fuhr sie vom Hafen in Wyk durch die kleine Stadt, von der sie kaum etwas sah, eine Landstraße entlang, vorbei an einem Flugplatz und einem Golfplatz. An Nikes Fenster zogen satte, grüne Wiesen vorbei, auf denen sie zu ihrer Überraschung einen Fasan, Hasen und auch Pferde entdeckte und kurz danach Rebstöcke. Oder hatte sie sich verguckt?

»Wird hier Wein angebaut?«, fragte sie den Taxifahrer, der ihr bestätigte, dass es einen eigenen Föhr-Wein gab, direkt vom Weingut Waalem. Das war das einzige Weingut an der Nordseeküste. Insgesamt, erklärte der Taxifahrer, der extrem gut informiert war, machten die Föhrer Reben zwanzig Prozent des Schleswig-Holsteinischen Weinanbaugebietes aus. Der Anbau funktioniert vor allem durch den Klimawandel.

Nike schüttelte fasziniert den Kopf. Wein von der Nordsee. Man lernte einfach nicht aus! Verrückt.

»Die Frage hätte ich in einer Quizshow definitiv falsch beantwortet«, meinte sie.

»Da sind Sie sicher nicht allein!«, stimmte der Fahrer ihr zu. »Seit 2009 wird hier schon Wein angebaut. 20.000 Rebstöcke stehen auf fast fünf Hektar. Im ersten Jahr gab es 800 Flaschen, 2020 wurden knapp 15.000 abgefüllt. Falls Sie doch mal in einer Quizshow sitzen«, erklärte er augenzwinkernd, setzte den Blinker und bog ab.

»Der Schlüsselbund liegt unter der Fußmatte, hat die Frau von der Vermietung gesagt«, rief Willi Nike zu, die sich samt Gepäck bereits auf den Weg über das Grundstück zu dem Reetdachhaus gemacht hatte, während er dem Taxifahrer das passende Kleingeld gab.

Die Straße befand sich in einer Sackgasse, die an den Strand führte.

Nike war beeindruckt. Das große Reetdachhaus lag wirklich direkt am Meer. Der sattgrüne Rasen ging am Ende des Grundstückes in wilde Strandgräser über. Das Gras reichte bis zur Deichkrone, über die in diesem Moment mehrere Möwen flogen. Dahinter musste der Strand sein, den man von hier nicht sehen konnte, aber vom oberen Stockwerk aus. Das hatte Willi ihr zwischendurch begeistert erzählt. Und noch viel mehr.

Das Haus hatte einen Haupteingang in der Mitte, der zu der größeren Ferienwohnung auf der linken Seite führte, die ungefähr zwei Drittel des Hauses ausmachte, und einen seitlichen Eingang, der zu dem von Willi gemieteten Teil gehörte. Es war ein großes, altes Friesenhaus, ganz so, wie man es sich vorstellte. Roter Backstein, weiße Sprossenfenster, das Reetdach, eine weiße Friesenbank auf der angrenzenden Terrasse und ein weißer Strandkorb mit blau-weiß gestreiftem Innenstoff. Wie im Bilderbuch, dachte Nike und sah sich nach den Schlüsseln um.

»Das glaube ich jetzt nicht«, stellte sie fest und bückte sich.

»Was ist denn?«, wollte Willi wissen, der seinen schweren Koffer den Weg entlangschleppte, während der Taxifahrer seinen Wagen wendete.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Nike, hob die Fußmatte an – ein Gitter mit Holzumrandung, durch das man die Schlüssel wunderbar erkennen konnte – und zog das Schlüsselbund raus.

»Nee, nee, geht schon«, stöhnte Willi merklich angestrengt und ließ den Koffer neben ihr stehen.

»Ich glaube, ich muss doch mal anfangen, Sport zu treiben«, stellte er schnaufend fest.

»Dafür ist es ja bekanntlich nie zu spät«, meinte Nike und hielt die Schlüssel wie eine Trophäe hoch.

»Mega Versteck! Unter dem Gitter«, sagte sie grinsend und öffnete die weiße Holztür, die, wie sie jetzt sah, aus zwei Teilen bestand. Man konnte den oberen Teil öffnen und den unteren geschlossen lassen, wenn man wollte. Wie in einer Pferdebox, dachte Nike begeistert.

»Ich habe übrigens einen Golfkurs gebucht«, sagte Willi in einem Tonfall, mit dem er auch »Der Himmel ist blau« oder »Wasser ist nass« hätte sagen können. Aber doch nicht so eine Sensation!

»Wie bitte?«, platzte es ungläubig aus Nike heraus. Schlagartig bekam sie das Gefühl, als wäre sie versehentlich mit einem Fremden verreist, aber sicherlich nicht mit ihrem Vater, der noch nie in seinem Leben etwas getan hatte, worauf er keine Lust hatte. Und Bewegung gehörte definitiv dazu. Zumindest jede Bewegung, die man als Sport bezeichnen könnte. Willi fuhr so langsam Rad, dass man befürchten konnte, dass er jeden Moment zur Seite kippen würde. Okay, Golf war noch lange kein Marathon, aber trotzdem – während sie selbst es nicht lange auf einem Stuhl aushielt und spätestens nach einer halben Stunde aufsprang, war er der bewegungsfaulste Mensch, den sie kannte. Vor allem, wenn es darum ging, sich draußen zu bewegen. Und jetzt Golf.

»Wie konnte es so weit kommen?«, fragte Nike irritiert. »Habe ich etwas verpasst? Geht’s dir nicht gut? Oder hast du keinen Sex mehr?«, neckte sie ihn.

Willi ging wortlos an ihr vorbei ins Haus und ließ sie verwundert vor der Tür stehen. Nike griff nach dem Haken, der sich hinter der Haustür befand, und befestigte ihn an der Backsteinwand des Hauses, damit sie bei der nächsten Windböe nicht gleich wieder zuflog. Der Wind kam aktuell direkt vom Meer, und das recht kräftig.

»Danke der Nachfrage. Meinem Liebesleben geht es hervorragend. Ich vermisse nichts!«, hörte sie Willi nun aus dem Flur.

»1:0 für dich. Und warum willst du dann golfen?«, fragte sie und folgte ihm ins Innere des Hauses.

»Man ist an der frischen Luft«, meinte er.

»Hat dich bisher nie interessiert, es sei denn, es war die Luft am Krabbenbrötchenstand.«

»Man bewegt sich. Das soll ja, wie man hört, ganz gut sein«, versuchte er es noch einmal.

Nike machte mit der Hand eine abwinkende Bewegung. »Weiter«, forderte sie ihn auf.

»Das machen gerade alle! Keiner hat mehr Zeit. Alle stehen auf dem Golfplatz.«

»Dann machst du so etwas normalerweise erst recht nicht«, sagte sie.

»Man muss mit niemandem reden, hat seine Ruhe und es soll angeblich sogar Spaß machen – wenn man es denn erst einmal kann. Fördert die Konzentration und den Bewegungsapparat.«

»Wo hast du das denn gelesen? In der Apotheken Umschau?« Nike lachte kurz, dann stockte sie. »Ha! Ich hab’s! Du warst beim Arzt! Lass mich raten. Du warst bei Horst in der Praxis. Das muss es sein.« Sie dachte laut nach, während sie versuchte, das große Ganze zu erkennen. »Du warst bei ihm«, schlussfolgerte sie, »weil es dir nicht gut geht. Vermutlich hast du dir eingebildet, irgendetwas zu haben, weil es irgendwo geziept hat. Dein alter Freund Horst hat dir was verschrieben und dir gesagt, Bewegung täte dir auch mal gut. Dann bist du in die Apotheke und die grundgute Apothekerin hat dir gleich zu dem Schmerzgel für den Rücken noch die Umschau mit in die Tüte gelegt, in der ein Artikel über Golf stand. War es so?«, wollte sie wissen und sah ihren Vater auffordernd an.

»Der Golfplatz ist direkt hier um die Ecke. Ich kann zu Fuß hingehen. Und stell dir vor! Auf Föhr wird bereits seit fast hundert Jahren Golf gespielt, nämlich seit 1925. Da wurde der Klub gegründet. Hättest du das gedacht?«, versuchte er es erneut und zeigte in Richtung Straße, hinter der – in der Verlängerung – der Golfplatz sein musste.

»Du lenkst ab.«

Ihr Vater hob die Achseln. »Meine Güte. Was spricht dagegen, noch mal etwas Neues auszuprobieren? Ist das denn so ungewöhnlich?«

»Ja«, bestätigte Nike knapp und sah sich weiter neugierig im Haus um. »Das ist ja putzig«, stellte sie fest und betrachtete den Raum, der als Wohnzimmer, Esszimmer und offene Küche diente und sie ein wenig an ein Puppenhaus erinnerte. Eine große Sprossen-Glastür führte auf die Terrasse, von der aus man in den Garten kam. Lange hellgraue Vorhänge hingen rechts und links bis auf den Boden, der in dem gesamten Raum aus quadratischen matten Natursteinen bestand. Es gab ein graues Zweiersofa auf der linken Seite neben dem Kachelofen, einen runden Couchtisch, der vermutlich antik und im Shabbylook war, davor zwei Sessel, die zum Sofa passten. Links von ihr befand sich die Küchenzeile mit zwei Sprossenfenstern, vor denen weiße Vorhänge hingen, die rechts und links zur Seite gebunden waren. Auf der Arbeitsfläche, neben dem Waschbecken, entdeckte sie eine Kiste, in der sich zu ihrer Überraschung frische Lebensmittel befanden. Ein Lieferservice, vermutete Nike, die in diesem Moment ahnte, dass Willi sich mehr Gedanken gemacht hatte, als sie bisher angenommen hatte.

Nike drehte sich zu dem runden Tisch mit den vier alten Stühlen, der das Zentrum des Raumes bildete. In seiner Mitte lag allerhand Informationsmaterial über die Insel und das Haus. Offenbar als Begrüßungsgeschenk standen liebevoll drapiert eine Flasche Wein und Pralinen daneben. Nike durchquerte den Raum, öffnete die Terrassentür und sah in den Himmel, an dem eine riesige Seemöwe das Bild der idyllischen Nordsee-Atmosphäre vervollständigte. In den Schutz der hohen Gräser auf der Düne flüchteten gerade ein paar kleine Hasen.

Es war wirklich schön hier. Die Einrichtung bestand aus einer Mischung aus Antiquitäten und neuen Möbeln, die sich wunderbar dem Interieur anpassten. Der weiße, alte, halbrunde Kachelofen, neben dem Willis viel zu großer Koffer stand, deutete darauf hin, dass man es sich hier auch bei Regen und Sturm gemütlich machen konnte. Wobei es danach aktuell ganz und gar nicht aussah.

»Hast du eigentlich die Schachtel mit den Gutscheinen mitgenommen?«, fragte Nike, während sie zurück in den Flur ging.

»Ja, klar! Ich bin bestens vorbereitet!«, rief ihr Vater, der sich bereits die Zimmer im ersten Stock ansah, von oben herunter.

Er meinte es wirklich ernst, dachte Nike. Na, dann würden sie sich wenigstens nicht langweilen.

2.

Ein paar Wochen zuvor

»Hallooo?!«, rief Nike, nachdem sie die alte Eingangstür zu der Stadtvilla ihres Vaters, die er so gut wie nie abschloss, geöffnet hatte und in den kühlen Flur mit den hohen Decken getreten war.

Egal, wie warm es draußen war, hier im Haus war es immer frisch. Sie sah an dem riesigen Gemälde, das, seit sie denken konnte, im Eingangsbereich hing, vorbei durch den Flur ins angrenzende Wohnzimmer. Es war das Bild einer nackten Frau, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Hocker saß, sich mit einer Hand auf der Sitzfläche abstützte und von dem Betrachter wegsah. Ihr Blick wanderte die Holztreppe mit dem geschwungenen, gusseisernen Treppengeländer in den ersten Stock hoch, wo sich auch ihr Zimmer befand. Ihr Gästezimmer. Anders konnte man es nicht nennen, so selten, wie sie in den letzten Jahren hier geschlafen hatte.

»Papaaa?!«, versuchte Nike es erneut, ging weiter in sein Arbeitszimmer, das rechts vom Flur abging, sah alles Mögliche in dem Chaos, aber nicht ihren Vater. Sie lief geradeaus weiter ins Wohnzimmer. Hier befand sich das große Ledersofa, davor der Couchtisch, und links von ihr reichte das riesige Bücherregal über die gesamte Wand bis zur Decke an den Stuck. Im Erker stand das Klavier und eine der Statuen ihres Vaters.

»Nike?«, hörte sie Willi rufen, der offenbar gerade durch die Terrassentür in die Küche gekommen war. Sie drehte sich um und lief durch den Flur in die Küche, von der aus man in den Garten gelangte. Willi stand in der offenen Tür, legte seine Zeitschrift, die er vermutlich draußen auf der Bank gelesen hatte, auf den langen Esstisch und kam ihr entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch, Papa!«, sagte Nike und nahm ihren Vater in den Arm. »Alles Liebe und Gute zum Sechzigsten«, schob sie nach, löste sich aus der Umarmung und sah ihn an: seine hellblauen Augen, das sonnengebräunte Gesicht, die grauen, kinnlangen Locken, die er immer hinter die Ohren strich, seine hohe Stirn, den wachen Blick.

»Schön, dass du da bist! Bist du gut durchgekommen? Diese grässliche Baustelle nimmt kein Ende«, meinte Willi und betrachtete sie, als hätte sie die Strecke von Hamburg nach Kiel gerade mit dem Fahrrad hinter sich gebracht. Dabei war sie, wie immer, mit Helga, ihrem Mini, gekommen und hatte die Fahrt genossen. Die Zeit, die sie während der Woche in der Agentur nie hatte, nutzte sie meist für einen Podcast oder ein Hörbuch. Dadurch war eine Baustelle weniger eine lästige Sache als vielmehr eine Möglichkeit, länger dem zu lauschen, was sie interessierte.

»Ach, alles bestens!«, erklärte sie deshalb und überreichte Willi ihr Geschenk. Um den Umschlag hatte sie eine blaue, dicke Schleife gebunden, um ihn etwas aufzupeppen.

Er nahm ihn entgegen und betrachtete den Umschlag nachdenklich.

Nike fragte sich in dem Moment, ob sie ihm vielleicht doch etwas anderes hätte schenken sollen. Aber nun war es zu spät.

»Vielen Dank. Das ist lieb. Da bin ich ja gespannt, was du dir dieses Mal hast einfallen lassen«, sagte er und zwinkerte ihr zu.