Labskaus für Anfänger - Tina Wolf - E-Book
SONDERANGEBOT

Labskaus für Anfänger E-Book

Tina Wolf

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Neustart auf Amrum mit Wind in den Haaren und Sand unter den Füßen

Kaum überschreitet man die Vierzig, gehört man zum alten Eisen, stellt Tilda verbittert fest. Für ihren Job beim Fernsehen steht schon eine Jüngere in den Startlöchern, ihr Freund hat sie verlassen, und da kündigt ihr der Vermieter zu allem Überfluss auch noch die Wohnung. Dann macht Tilda eine unerwartete Erbschaft: Ein Friesenhäuschen auf Amrum. Könnte das die Lösung ihrer Probleme sein? Es gibt nur einen Haken: Tilda, eine echte Großstädterin, muss laut Testament ein ganzes Jahr auf Amrum verbringen, um das Erbe anzutreten. Doch als Tilda nach den ersten turbulenten Tagen dem Rauschen des Meeres lauscht, erscheint ihr der Gedanke an ein Leben auf der Insel immer verlockender …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 308

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Moin Frau Wagner,

Nils Johannsen mein Name. Ich war ein guter Freund von ihrem Onkel Hannes, der leider vor Kurzem von uns gegangen ist. Er hat mich gebeten, Ihnen als sein Testamentsvollstrecker mitzuteilen, dass er Ihnen seine Kate vermacht. Hier auf Amrum. Bitte melden Sie sich bei mir – so schnell wie möglich.

Nils Johannsen

Nur wenige Tage nachdem Tilda den Brief von Nils Johannsen gelesen hat, steht sie auf der Fähre nach Amrum. Am Himmel kreisen die Möwen, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, und ihr altes Leben, in dem es gerade alles andere als gut lief, ist plötzlich ganz weit weg. Ein Ferienhaus auf Amrum – das klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Angekommen auf der Insel, empfängt Nils sie in seiner urigen Fischerklause mit einer Portion Labskaus und der überraschenden Nachricht, dass sie erst ein Jahr hier leben muss, wenn sie das Haus ihres Onkels erben will. So hatte ihr Plan natürlich nicht ausgesehen. Doch schon bald muss Tilda feststellen, dass das Leben auf der Insel voller Überraschungen ist. Und vielleicht wartet hinter den Dünen sogar das ganz große Glück.

Tina Wolf

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 05/2020

Copyright © 2020 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,

München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- & Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25184-0V001www.heyne.de

Prolog

Beim Anblick des Essens auf dem weiß-blauen Porzellanteller, das der leicht mürrisch wirkende Wirt vor ihr auf den Holztisch gestellt hatte, kam Tilda plötzlich der Gedanke, dass es im Grunde ein Spiegelbild ihres eigenen Lebens sei. Das Gericht zum aktuellen Stand sozusagen. Man wusste einfach nicht, was es sein sollte. Ein buntes, formloses Durcheinander – mit Spiegelei. Und selbst bei dem war nicht klar, ob es weich oder hart war. Nichts Halbes und nichts Ganzes, dachte Tilda, während sie das Gericht vor sich betrachtete.

Was auch immer es war, es sah nicht lecker aus.

»Entschuldigung«, rief sie dem Wirt hinterher.

Er blieb stehen, drehte sich langsam um und sah sie fragend an.

»Ähm. Nur eine kurze Frage … Was ist das denn?« Tilda zeigte auf ihren Teller.

»Labskaus für Anfänger«, sagte er, lachte zu ihrer Überraschung tatsächlich kurz und verschwand samt seinem Bierbauch wieder hinter dem alten Holztresen.

Tilda nahm das Besteck und betrachtete erneut mit hochgezogenen Augenbrauen ihr Essen.

»Ach, wissen Sie was? Ich lass mich einfach überraschen«, hatte sie vor einer guten Viertelstunde zu ihm gesagt, einen verwirrten Blick geerntet und die Speise­karte wieder zugeklappt. »Ist ja eh gerade ein großes Thema bei mir. Vielleicht sollte ich einfach so weitermachen. Abwarten, was kommt.«

Entscheidungen waren noch nie ihr Ding gewesen, und jetzt, wo eh’ alles Schlag auf Schlag kam, wie es wollte, konnte ihretwegen auch das Essen in dieser Fischer­klause mitten auf dieser Nordseeinsel eine Überraschung sein. Hauptsache, es war etwas Essbares. Die Luft hier machte sie nicht nur müde, sondern auch hungrig ohne Ende. Wenn das so weiterging, würde sie demnächst ihr letztes Erspartes für einen Personal Trainer ausgeben müssen. Falls es so jemanden auf Amrum überhaupt gab.

Tilda bewegte kurz den Kopf hin und her, als wollte sie die Gedanken abschütteln, und fing an, zu essen.

Gar nicht so schlecht, dachte sie nach dem ersten Bissen, griff nach Salz und Pfeffer und streute beides über das Spiegelei. Vielleicht traf das ja auch auf ihr neues Leben zu, und sie wusste es nur noch nicht? Auch wenn es gerade nicht wirklich danach aussah.

Es sah eben einfach nach einem bunten, formlosen Durcheinander aus. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Ohne Ei.

Während sie weiteraß, sah sie aus dem mit Regentropfen besprenkelten Fenster auf den schier endlosen Strand, dessen Hellgrau in das Mittelgrau des Meeres und das Dunkelgrau des Himmels überging. Eine einzige graue Soße, dachte sie und blickte lieber wieder auf ihren Teller, auf dem es zumindest etwas Farbe gab.

Sie hatte den Eindruck mit dem Auspusten der Kerzen an ihrem 40. Geburtstag alles, was ihr Leben bis zu diesem Zeitpunkt ausgemacht hatte, ausgepustet zu haben. Das klang dramatisch, war es im Grunde auch. Schließlich war inzwischen nichts mehr so wie vor diesem Moment, als sie vor der großen Torte mit den 40 brennenden Kerzen gestanden hatte, die Ingo, ihre beste »Freundin«, ihr gebacken hatte.

Dabei war das gerade mal ein paar Tage her.

 

1.

Eine Woche zuvor

»Bibel und Leuchtturm habe ich schon«, ratterte Tilda ihren Standardspruch runter, als es zum x-ten Mal an der Wohnungstür klingelte. Sie sah auf die Uhr neben der Garderobe. 10:23 Uhr. Für den Postboten und die Müllabfuhr war es eigentlich zu spät. Es konnte sich also nur um die Zeugen Jehovas, Spendensammler oder Werbung handeln. Oder einen Klingelstreich. Und weil sie sich an ihrem freien Samstag mehr vorgenommen hatte als den Weg zur Tür, war sie kurz davor, den Hörer der Gegensprechanlage einfach wieder zurückzuhängen und die Klingel auf stumm zu schalten. Die letzte Nacht war defi­nitiv zu kurz gewesen. Sie hätte einfach nach dem letzten Prosecco am Elbstrand gehen sollen, statt mit den anderen noch weiterzuziehen.

»Frau Wagner? Einschreiben für Sie«, hörte sie eine männliche Stimme aus dem Hörer rufen.

Oh. Doch der Postbote, stellte Tilda überrascht fest und fragte sich, was das sein konnte. Vielleicht ein verspäteter Geburtstagsgruß. Aber per Einschreiben? Und eine Woche zu spät? Neugierig drückte sie auf den Türsummer, hängte den Hörer wieder ein, öffnete die Wohnungstür und sah über das alte gusseiserne Treppengeländer nach unten in den Hausflur, wo im gleichen Moment ein junger Mann in gelbem T-Shirt erschien und zu ihr hochblickte.

»Moment!«, rief sie runter, gab der Fußmatte sicherheitshalber einen kräftigen Schubs, sodass die Wohnungstür nicht zufallen konnte, und lief auf Strümpfen die Treppe runter.

»Hier, bitte«, sagte der Postbote, als sie im Erdgeschoss angekommen war, und hielt ihr einen Plastikstift und den Scanner entgegen. Tilda versuchte, auf dem Display ihren Namen zu schreiben. Das Ergebnis erinnerte an die Schreibübungen einer Erstklässlerin, aber das interessierte ihn nicht. Ohne genau hinzusehen, nahm der Mann ihr den Stift wieder ab, sagte knapp »Tschüss« und verschwand.

Tilda sah auf den Umschlag in ihren Händen. Er war aus Umweltpapier und sah so aus, als hätte er schon Ewigkeiten in irgendeiner Schublade gelegen. Neugierig öffnete sie ihn und überflog, während sie die Stufen langsam wieder hochging, den Text.

Moin Frau Wagner,

Nils Johannsen mein Name. Ich war ein guter Freund von ihrem Onkel Hannes, der leider vor Kurzem von uns gegangen ist. Er hat mich gebeten, Ihnen als sein Testamentsvollstrecker mitzuteilen, dass er Ihnen seine Kate vermacht. Hier auf Amrum. Bitte melden Sie sich bei mir – so schnell wie möglich.

Nils Johannsen

Tilda blieb an ihrer Wohnungstür stehen. Bitte? Was für ein Quatsch. Da musste sich jemand einen dummen Scherz erlaubt haben. Sie sollte Besitzerin einer Kate auf Amrum sein? Und von welchem Onkel war da zum Teufel die Rede?! Tilda ging das kurze Schreiben noch mal Wort für Wort durch.

Das Ergebnis blieb das gleiche. Sie sollte angeblich Erbin einer Kate auf der Nordseeinsel sein, sofern das, was hier stand, stimmte. Nur wieso, das wusste sie nicht.

Inge, ihre Mutter, hatte keine Geschwister und ihr Vater … doch, stimmte ja. Horst hatte einen Halbbruder, zu dem sie alle seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatten, nachdem es einen fürchterlichen Streit gegeben hatte. Den hatte sie ja völlig vergessen! War sie mal bei ihm auf Amrum gewesen? Tilda dachte angestrengt nach. Ja, da war mal etwas. Sie erinnerte sich an einen unfassbar breiten Strand, an eine riesige Düne, in der sie gespielt hatte und die sie liegend runtergerollt war. Fast konnte sie nun den weichen Sand spüren. War das auf Amrum gewesen? Hatte sie ihn mit ihren Eltern dort besucht oder verwechselte sie das gerade mit ihren Urlauben in Dänemark?

Noch einmal sah sie auf den Namen in dem Schreiben. Hannes. War das der Name des Halbbruders ihres Vaters? Sie war sich nicht mehr sicher.

Tilda schob die Fußmatte zurück, ging in ihre Wohnung, drückte die Tür mit dem Po wieder zu, ging in die Küche und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Ihr Blick fiel auf die Flaschensammlung links in der Ecke neben dem Mülleimer. Reste eines rauschenden Festes, hatte Ingo gemeint. So rauschend, dass sie drei Tage lang Kopfschmerzen gehabt hatte. Neuer Rekord. Aber er hatte recht. Es war wirklich ein toller Abend gewesen! Und das, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, auf keinen Fall zu feiern. Aber das musste man mal jemandem erzählen, der das Feiern erfunden hat! Ingo hatte klammheimlich alle, die ihr wichtig waren und die sie mochte, eingeladen. Und das waren ziemlich viele. Statt also mit Ingo zu zweit ins Restaurant zu gehen, wie sie es geplant hatte, hatten abends knapp 20 Leute vor ihrer Tür gestanden. Mit Partyhütchen auf dem Kopf und Essen, Getränken und Heißluftballons in Form einer Vierzig in den Händen. Tilda war völlig baff gewesen! Damit hatte sie absolut nicht gerechnet.

In Gedanken bei der Party haftete ihr Blick immer noch an den leeren Flaschen. Die ganze Woche über hatte sie es nicht geschafft, das Altglas und die Pfandflaschen wegzubringen, und jetzt war sie einfach zu faul, um alles ins Erdgeschoss und von dort ins Auto zu schleppen. Dabei war ihr Ordnung sonst immer extrem wichtig. Aber vielleicht hatte sich ja auch das über Nacht geändert. So wie alles. Ihr feiger Ex hatte sich ja auch passend zu ihrem nahenden runden Geburtstag spontan entschlossen, sie zu verlassen. So hatte es sich zumindest in seiner schriftlichen Stellungnahme – um es mal in seinem Beamtendeutsch auszudrücken – angehört, das er einfach vor vier Wochen unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben hatte. Keine WhatsApp, keine Mail, kein Gespräch. Nein. Ein Zettel. Unter ihrer Tür. Dieses blöde, feige, unverschämte Arschloch.

Tilda versuchte, ihr Gedankenkarussell zu stoppen. Dieser Mistkerl hatte ihr schon genug Zeit und Energie geraubt. Damit musste jetzt endlich Schluss sein.

Bei all dem Chaos im Kopf war Ordnung ihr Halt, ihre Struktur, das Gerüst, das sie brauchte. So etwas in der Art hatte Ingo mal gesagt, als sie wieder einen ihrer Aufräumanfälle gehabt und er dabei zugesehen hatte. Und der musste es ja wissen.

Im Grunde war es nichts anderes als eine Möglichkeit, nicht nachdenken zu müssen, fand Tilda. Aber nun gut.

Während sie die Champagnerflaschen in die großen Papiereinkaufstüten vom Supermarkt stellte und die Bierflaschen in die leere Kiste, die unter dem Küchentisch stand, fragte sie sich, ob es so etwas wirklich gab: Dass zeitgleich – und zwar auf die Minute genau um Mitternacht – mit einem bestimmten Datum, das zufälligerweise ihr 40. Geburtstag war, ein neuer Lebensabschnitt startete. Davon mal abgesehen, dass sie hätte schwören können, dass sich ihr Hautbild über Nacht verändert hatte, als hätte es »klick« gemacht. Wie bei einem Lichtschalter. An, aus. Ohne Dimmer. Frisch – verbraucht. Fertig.

Um es auf den Punkt zu bringen: Es passierten einfach seitdem ausschließlich Dinge, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellten. Nicht, dass ihr Leben vorher langweilig gewesen war. Das auf keinen Fall. Aber es war einfach immer sehr gut gelaufen. Sie war Moderatorin beim Fernsehen. Nicht bei irgendeinem Regionalsender, sondern bei DEM Sender mit den höchsten Einschaltquoten. Trotz Netflix und Co. Das machte ihr so schnell keiner nach. Ihre Sendung gehörte seit Jahren zu den erfolgreichsten des Senders. Es war sozusagen die GALA für alle, die zu faul waren, selbst die Seiten umzublättern. Wer war mit wem zusammen, wer ging mit wem parallel fremd, und trug man die Haare jetzt so oder war das ein Versehen?

Bisher war alles tipptopp gewesen. Und plötzlich, über Nacht, war ihr gesamtes Leben ein einziges Versehen! Auf einmal geschahen lauter Dinge, die die Welt einfach nicht brauchte. So wie die Kündigung ihres Vermieters, das Schreiben ihres Ex-Freundes und die mehr als merkwürdigen Anwandlungen ihres Chefs.

Tilda kam sich in diesem Moment, hier in der Küche zwischen all den leeren Flaschen, vor wie einer der Promis aus ihren Beiträgen und überlegte, wie man den Bericht über ihr aktuelles Leben anmoderieren könnte. Vielleicht so etwas in der Art: »Guten Abend! Schön, dass Sie wieder dabei sind! Es ist Samstagabend, und das heißt natürlich: Wir schauen auf die Ereignisse der Woche zurück. Dabei richten wir unseren Fokus heute vor allem auf eine Person: die Fernsehmoderatorin Tilda Wagner. Für sie verlief die Woche – lassen Sie es mich so sagen – nicht ganz so glücklich, wie sie es bisher gewohnt war. Aber das Leben ist schließlich kein Ponyhof. Und außerdem – so viel sei schon einmal verraten – wird sie sich daran sowieso gewöhnen müssen, denn ab jetzt haben wir leider nur noch Mist für sie im Angebot. Aber macht ja nichts. Was soll schließlich noch kommen? Sie ist ja eh schon vierzig.«

Das erste Bild eines jeden TV-Beitrags, egal ob Reportage, Porträt oder einfache Berichterstattung, sollte immer das stärkste sein. Tilda blätterte in Gedanken alle Situationen der letzten sieben Tage durch und entschied sich spontan für das Auspusten der kleinen pinken Kerzen auf der Torte, die Ingo ihr gebacken hatte. Im Grunde genommen stand das sinnbildlich für das Auspusten ihres bisherigen schönen Lebens. Vegane Sachertorte übrigens. Und sie hatte tatsächlich noch besser geschmeckt, als ihr lieb war!

Schnitt. Dann ein Zeitsprung. Der nächste Tag. Neue Szene: Tilda steht am Briefkasten, mit Ringen unter den Augen und Falten im Gesicht, die da vorher definitiv nicht waren. Kameraschwenk auf den Brief in ihrer Hand. Ein Schreiben ihres Vermieters, der ihr mitteilt, dass er Eigenbedarf anmeldet und sie daher freundlich bittet, sich um eine neue Bleibe zu kümmern. Zeitnah! Tildas geschockter, ungläubiger Blick in Nahaufnahme. Große Augen.

Schnitt. Tilda sitzt an ihrem Schreibtisch im Newsroom. Auf den Bildschirmen an der Wand sieht sie, dass im Studio ein Casting stattfindet. Eine Blondine, höchstens Mitte zwanzig, steht dort, wo sie selbst sonst jeden Abend steht – hinter dem Newsdesk. Udo, der Tontechniker, befestigt gerade das Ansteckmikro an ihrem hellblauen, viel zu engen Jackett.

Schnitt. Wieder ihr Blick, dieses Mal fragend. Wozu ein Casting? Sie moderiert die Sendung seit acht Jahren. Und wenn sie krank ist oder im Urlaub, übernimmt ­Sarah die Moderation.

Schnitt. Tilda holt sich einen Cappuccino, die Kamera folgt ihr den Flur entlang bis in die Redaktionsküche. Die Maschine funktioniert nicht. Warum sollte sie auch an so einem Tag? Moritz, einer der Volontäre, kommt rein. Er erklärt ihr erst, was mit der Cappuccino-Maschine los ist, dann was im Studio: Es wird – das ist die offizielle Version – eine Vertretung für sie gesucht. Wieder: Tildas irritierter Blick, sozusagen der rote Faden durch den Beitrag, Augen groß, jetzt auch Falten zwischen den Augen­brauen. Schwenk auf den schlauen Moritz, der alles kann, nur nicht gut schauspielern. Ende.

Tilda schloss die Augen, fuhr sich mit den Handflächen ein paarmal über das Gesicht, bis sie das Gefühl hatte, alle schlechten Gedanken damit weggewischt zu haben. Atmen nicht vergessen, hörte sie die Stimme ihres Yoga-Lehrers. Einatmen, ausatmen und unauffällig weiterleben. Sie öffnete die Augen wieder.

Berufskrankheit, dachte sie. Ich muss damit aufhören, ständig alles in Beiträgen oder Filmen zu sehen. Das HIER war kein Film. Es war ihr Leben! Und das ließ sich leider nicht umschneiden.

Tilda stand auf, holte ihr Handy vom Sideboard im Flur und drückte auf die Nummer ihrer Mutter. Heute war Samstag. Also gab es eine reelle Chance, sie zu erreichen. Wenn sie sich richtig erinnerte, war das der Tag, an dem weder Senioren-Speed-Dating stattfand noch Flohmärkte für Frühchen oder Häkelkurse für Obdachlose.

Inge hatte Freizeitstress. Anders konnte man es nicht nennen. Während sie sich früher in regelmäßigen Abständen beschwert hatte, dass ihre Tochter sich ja nie melden würde, außer an Weihnachten und zum Geburtstag, war es heute genau andersrum. Ohne Termin ging gar nichts mehr, und wenn man endlich einen bekam, konnte man nur hoffen, dass Inge ihn nicht doch noch spontan absagte, weil sie im Zentrum für verlassene, traumatisierte Männer aushelfen musste. Es gab offenbar mehr Vereine für und gegen irgendetwas, als es Menschen in dieser Stadt gab. Seit Tildas Vater vor vier Jahren gestorben war, blühte ihre Mutter regelrecht auf. Was die beiden für eine Ehe geführt hatten, war für die Tochter bis zum Ende ein großes Rätsel geblieben. Sie hatte ihre Eltern nie Arm in Arm geschweige denn sich küssen gesehen. Es war, aus ihrer Sicht, eine Freundschaft gewesen. Nicht mehr und nicht weniger. Eine gut funktionierende Zweckgemeinschaft. Man hatte einander gebraucht – irgendwie.

Nun brauchte Tildas Mutter ganz offensichtlich etwas anderes. Und zwar all das, was sie in den Jahren an der Seite ihres Mannes nicht gehabt hatte. Ihr Nachholbedürfnis war immens. Erst war es nur ein Sambakurs, doch schnell wurde aus der neu gewonnenen Freizeit ein einziger Ich-muss-die-Welt-retten-Plan. Tilda blickte da schon lange nicht mehr durch. Ihre Mutter konnte liebend gern retten, wen sie wollte, aber hin und wieder wäre es einfach schön, auch mal gefragt zu werden, wie es ihr ging.

Es klingelte.

»Wagner«, hörte Tilda die laute Stimme ihrer Mutter am anderen Ende der Leitung, obwohl völlig klar war, dass sie es war, die anrief. Es stand schließlich »Lieblingstochter« auf dem Display. Inge hatte es – nachdem sie verstanden hatte, was alles mit so einem Smartphone möglich war – eingetippt. Und obwohl Tilda keine Geschwister hatte, war es eine süße Geste. Weniger süß war das, was auf dem Display stand, wenn andere anriefen. Inge hatte nämlich bei fast jedem Kontakt statt des Namens eine Bemerkung gespeichert. »Nicht rangehen!«, war eine Nachbarin, »Laut sprechen!«, Oma und »Little Secrets«, Manfred, der Samba-Lehrer.

»Ich bin’s«, meldete Tilda sich.

»Ja, das sehe ich«, sagte ihre Mutter.

So verliefen die meisten Gespräche mit Inge. Ein einziges Kommunikationsproblem. Seit 40 Jahren.

»Warum meldest du dich dann immer mit Wagner?«, fragte Tilda und bekam umgehend die Antwort:

»Warum denn nicht? So heiße ich doch.«

Tilda holte tief Luft.

»Ich bin gleich wieder da … es ist nur meine Tochter«, hörte sie ihre Mutter zu jemandem sagen.

Nur! Tilda versuchte, sich nicht aufzuregen. Es hatte keinen Sinn. Einatmen. Ausatmen.

»Was möchtest du denn, Schätzchen?«, wollte ihre Mutter jetzt gehetzt wissen.

»Ich hab nur kurz eine Frage …«

»Ja, genau. Draußen nur Kännchen … nein, der Kuchen ist nicht aus Dinkel, aber wenn Sie mögen, kann ich Ihnen diesen hier … ach so. Ja, natürlich, gern. Nein, nein, setzen Sie sich. Ich bringe es Ihnen gleich! … Was wolltest du denn nun? Ich hab gerade echt total viel zu tun.«

»Das hört man. Hast ein Café eröffnet?«

»Nein«, lachte Inge. »So weit ist es noch nicht. Aber eigentlich ein ganz schöner Gedanke.«

»Wo steckst du denn?«

»In Uschis Teestübchen!«

»Wer ist Uschi?«

»Uschi ist die Frau mit dem Mann, der auf Mallorca im Gefängnis sitzt, weil man am Flughafen Haschkekse in seinem Handgepäck gefunden hat, und jetzt muss sie hier alles allein machen!«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Der mit den Heilmantras, oder?«

»Ja, genau. Was wolltest du denn eigentlich? Versteh mich nicht falsch, aber …«

»Ähm, ach so, ja. Ich hab ein Schreiben bekommen. Sag mal, wie heißt Paps Halbbruder noch? Beziehungsweise hieß? Der, mit dem ihr keinen Kontakt hattet.«

»Wieso hieß? Wie kommst du denn jetzt auf Hannes? Ist was mit ihm?«

»Hannes? Ach! Dann ist er es wirklich. Das gibt’s ja gar nicht. Ich werd’ verrückt!«

»Die Leute warten. Meld dich, wenn du mal Zeit hast, ja? Tschüss, Schätzchen!«

Aufgelegt.

Wenn ich mal Zeit habe, dachte Tilda, sah aus dem Fenster über das Dach der gegenüberliegenden Gebäude in einen hellblauen Himmel und versuchte, ein Gesicht aus ihrem Gedächtnis zu kramen. Es gelang ihr nicht. Sie nahm ihr Handy, stand auf und ging über das alte Parkett durch den Flur, vorbei an Klamottenhaufen, die darauf warteten, zur Waschmaschine getragen zu werden, in ihr großes helles Wohnzimmer, dessen schmaler Balkon nach vorn rausging. Unten, von der Straße, drang die ­übliche Geräuschkulisse zu ihr hoch. An die Autos hatte sie sich schnell gewöhnt. Selbst wenn die Flügeltür zum Balkon offen stand, konnte sie den Lärmpegel nach all den Jahren, die sie schon hier lebte, fast völlig ausblenden.

Die alten Fotoalben, die sie mitgenommen hatte, als ihre Mutter sich vor vier Jahren entschieden hatte, das Haus aufzulösen und in eine kleinere Wohnung zu ziehen, standen ganz unten in dem Bücherregal. Tilda kniete sich hin und zog sie raus.

Es waren drei Stück. Eins war mit rotem, gewebtem Stoff eingeschlagen, eins mit einem braunen Plastik­um­schlag und ein dunkelblaues. Mit Abstand betrachtet unfassbar hässlich. Aber in diesen drei Alben waren alle ihre Kindheitserinnerungen festgehalten. Auf vergilbtem Fotopapier.

Tilda setzte sich auf ihren gewebten bunten Teppich auf den Boden, blätterte eins nach dem anderen durch und überlegte, wann sie das zum letzten Mal getan hatte. Im Grunde kannte sie alle Fotos, hatte aber doch die Hoffnung, auf einer der alten Familienaufnahmen aus den Siebziger- oder Achtzigerjahren vielleicht Hannes zu entdecken. Irgendwo zwischen den anderen Freunden ihres Vaters mit Vollbärten, Schnauzern, Jeans-Schlag­hosen, engen, geringelten Pullovern und dunklen Hornbrillen.

Tilda zog mit den Alben und einer Wolldecke vom Teppich um auf ihr neues Sofa mit dem Holzgestell und dem dunkelgrauen Stoffbezug von Fin Juhl, das sie sich gerade auf einem Vintagemarkt gekauft und selbst zum Geburtstag geschenkt hatte. Seit Jahren liebte sie alles, was aus Skandinavien kam. Egal welche Bücher über Designer und Einrichtungen herauskamen, sie hatte sie alle. Sie lagen gestapelt neben dem Sofa.

Am liebsten würde sie sowieso nach Kopenhagen ziehen. Dieser Wunsch scheiterte allerdings an ihren mageren Dänischkenntnissen. Und an der Tatsache, dass sie hier – in Hamburg – einen Job hatte, den sie dort nicht haben würde. Zumindest nicht mit ihrem gebrochenen Dänisch. Sie konnte sich gerade mal einen Kaffee und ein Stück Kuchen bestellen. Aber sicher nicht über die aktuellen Nachrichten des Tages sprechen. Also mussten die Wochenenden und der Urlaub reichen.

Sie machte es sich gemütlich, blätterte weiter in den Seiten der alten Alben und suchte nach Hannes. Und gerade als sie dachte, sie würde ihn nicht finden, fiel ihr Blick auf ein altes, quadratisches Foto. Sie erkannte sich selbst, höchstens fünf, sechs Jahre alt. Sie trug eine rote Sommerhose, die kurz unter ihrem Po endete, eine kurzärmlige weiße Bluse und ein rotes Dreieckskopftuch mit weißen Punkten. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr, wenn sie am Meer waren, immer solche Stofftücher um den Kopf gebunden hatte, damit ihr die Haare nicht die ganze Zeit ins Gesicht wehten. Ein junger, schüchtern wirkender Mann, der ihrem Vater verdammt ähnlich sah, hielt sie an der Hand und zeigte zum Himmel, an dem ein bunter Drachen an einer Schnur flog. Im Hintergrund tobte die Nordsee. War das Hannes? Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich an den Moment damals am Strand zu erinnern. Es kamen Bilder, nicht vom Strand, aber von einer Wiese, einem Lager­feuer und jungen Leuten, die darumsaßen. Jemand spielte Gitarre. Es war der Mann vom Strand, der ihrem Vater ähnelte.

Doch sie erinnerte sich auch noch an etwas anderes: Ihr Vater hatte sich damals fürchterlich über irgendetwas aufgeregt. Es hatte einen Streit gegeben. Danach hatten sie keinen Kontakt mehr zu dem netten Mann gehabt, der ihr das Drachensteigen beigebracht hatte. Tilda hatte das tieftraurig gemacht, das fiel ihr jetzt schlagartig wieder ein. Sie wollte zurück, zu dem bunten Drachen, dem unfassbar großen Strand, von dem sie nicht mehr sicher sagen konnte, wo er sich befand. Sie wusste noch, wie irritiert sie als Kind gewesen war. Wenn sie mit Manu, ihrer besten Freundin, Ärger gehabt hatte, hatte sie nachts nicht schlafen können. Und es hatte nie lange gedauert, bis sich eine von den beiden wieder gemeldet hatte und alles vergessen gewesen war. Dass es bei den Erwachsenen so ganz und gar anders und für immer und ewig sein sollte, wenn sie sich stritten, hatte ihr damals Angst gemacht und sie hatte sich vorgenommen, niemals so zu werden. Komme, was wolle. Bei dem Gedanken bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie wusste gar nicht, was Manu inzwischen machte. Nachdem sie mit ihren Eltern und den beiden älteren Brüdern weggezogen war, hatten sie sich nur noch ein paarmal geschrieben. »Schau nach vorn, nicht zurück, in der Zukunft liegt das Glück«, hatte sie ihr zum Abschied in das rosa Poesie­album geschrieben.

Manu hatte genau das getan. Nicht zurückgeschaut. Zumindest nicht lange.

Über diesen Gedanken döste sie ein. Als sie die Augen wieder aufschlug, fiel ihr Blick auf ihren Laptop am Ende des Sofas.

Sie schob die Wolldecke beiseite, setzte sich, klappte den Laptop auf, ging auf den Routenplaner und gab Amrum ein. 3 Stunden 31 Minuten. Alternative Route 3 Stunden und 36 oder 58 Minuten. Diese drei Möglichkeiten gab es. Halleluja, dachte sie und sah sich die Strecke quer durch Schleswig-Holstein an. Obwohl sie natürlich wusste, wo die Insel lag, hatte sie nicht mit einer so langen Anreise gerechnet. »Auf dieser Route gibt es eine Fährstrecke« stand über der Karte. Ach nee!, dachte Tilda, schloss den Routenplaner und suchte im Internet nach Bildern von der Insel.

Auch damit hatte sie nicht gerechnet. Zwischen traumhaften Strandbildern, kitschigen Sonnenuntergängen, putzigen Reetdachhäusern und Fotos eines Leuchtturmes, die an eine Bierwerbung erinnerten, befand sich eine Luftaufnahme der Insel: Ein kilometerlanger, breiter heller Strand legte sich wie ein riesiges, breites U um die Insel, deren Grünfläche dagegen klein wirkte.

Sie scrollte die Bilder auf dem Laptop runter und sah sich alles in Ruhe an. Vielleicht war das hier ja die Wende, überlegte sie. Der Punkt in ihrem ganz persönlichen Fernsehbeitrag, an dem sich alles ändern und wieder so sein würde wie vor einer Woche. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Vermieter seinen Eigenbedarf zurückzog und man im Sender keinen Ersatz für sie suchte, der ihre Tochter hätte sein können, wollte sie sich lieber nicht ausrechnen. Mit Sicherheit war die Chance nicht hoch, aber man wusste ja nie. Verrückte Sachen gehörten zu ihrem Alltag, das war eine Tatsache. Warum sollte sie also nicht eine alte Kate auf Amrum erben, und alles wurde wieder gut?

»Nils Johannsen Amrum« ergab vier Treffer. Immer­hin schien es eine Person mit diesem Namen zu geben, die auf Amrum lebte. Die Chance auf eine Wende stieg. Tilda klickte auf das erste Suchergebnis und überflog den Text. So wie es aussah, war dieser Nils Johannsen Besitzer eines kleinen Fischrestaurants auf Amrum. Oder eher einer Bude mit Sitzgelegenheit. Eine Homepage gab es nicht, allerdings fand sie unter »Bilder« ein paar Aufnahmen. Vermutlich von Touristen. »Fischerklause« stand in großen Holzlettern über der Eingangstür des kleinen Reetdachhauses, das sich offensichtlich direkt an einer Düne befand und neben dessen Eingangsbereich ein altes Fischernetz hing. Und falls der Mann in dem blauen Fischerhemd mit dem tätowierten Anker und der barbusigen Frau auf dem Unterarm Nils Johannsen sein sollte, dann hatte sie jetzt schon mal eine Idee davon, wer ihr den Brief geschrieben hatte. Je mehr Bilder sie sah, desto mehr Lust bekam sie, jetzt am Strand zu sitzen und aufs Meer zu schauen.

Tilda beschloss, die Telefonnummer zu wählen, die in dem Brief stand.

Es klingelte nur einmal, bevor eine tiefe Stimme verkündete, wer am Apparat war. »Johannsen«, brummte es in ihr Ohr.

»Ah, guten Morgen! Tilda Wagner, ich …«

»Ich weiß, wer du bist«, unterbrach der Mann sie.

»Ach, dann sind Sie …«

»Jo.«

»Gut. Ja … ähm … ich habe Ihren Brief gerade erhalten und wollte mich mal melden. So eine Nachricht bekommt man ja nicht jeden Tag. Und da ich …«

»Wann kommst du?«

»Wann ich …? Ach so. Keine Ahnung. Ich muss mal schauen. Es ist nicht gerade um die Ecke, und ich muss ja auch arbeiten.«

»Es gibt da noch was, was du wissen musst.«

»Ja, mit Sicherheit. Da fällt mir auf Anhieb ein ganzer Haufen Sachen ein. Ich weiß ja im Grunde gar nichts. Oder geht es um etwas Konkretes?«

»Jo.«

»Ah. Okay, und was wäre das?«

»Ich hab den Schlüssel von Hannes’ Haus. Ist gleich nebenan. Komm rum.«

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber können Sie mir das Ganze nicht kurz erläutern? Also: Warum?«

»Hannes hat mich vor ein paar Wochen gefragt, ob ich sein Testamentsvollstrecker sein kann. Keine Ahnung, warum er da plötzlich draufkam. Er hat wohl irgendwie geahnt, dass es bald zu Ende geht.« Tilda hörte, wie die Nase hochgezogen wurde, und hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg.

»Er wollte es jedenfalls alles geregelt haben. Und da erzählte er von dir.«

»Von mir?«, fragte Tilda erstaunt.

»Jo. Er meinte du wärst aus einem anderen Holz geschnitzt als der Rest der Bande.«

Tilda hatte ein Déjà-vu. Genau diese Worte hatte sie schon einmal gehört – irgendwann vor langer Zeit. Hatte ihr Onkel es vielleicht schon einmal zu ihr gesagt? Damals, am Strand?

»Aha … aber er hat mich das letzte Mal gesehen, als ich ein Kind war. Das wundert mich jetzt ein bisschen.«

»Holz ist Holz. Einmal Buche, immer Buche. Da wird kein Zierholz mehr draus. Das ist wie mit den Fischen.«

Tilda fragte sich, was genau er meinte, wagte aber nicht nachzufragen. Ihr Wissen über Fische reichte definitiv nicht für eine Unterhaltung mit einem Fischer. Oder was auch immer er war.

»Was hatte er denn? Ich meine, mein Onkel? Woran ist er gestorben?« Und wie alt war er überhaupt, fragte sie sich. Es war ihr zu peinlich nachzufragen. Ihrer Meinung nach war ihr Vater der Jüngere. Hannes stammte aus einer vorherigen Beziehung. Er musste also auf alle Fälle um die 70 Jahre alt gewesen sein. Was aber im Grunde auch kein Alter war, wenn sie an ihre Oma dachte, die mit 85 noch dreimal die Woche ins Fitnesscenter lief. Schwimmen und Sauna. Ohne ging’s nicht, erklärte sie immer.

Am anderen Ende war es etwas zu lange still.

»Hallo?«

»Hannes hatte Krebs. Aber er wollte wohl nicht, dass es jemand weiß. Ich hab’s erst nach seinem Tod gehört.«

»Von wem haben Sie es denn … gehört?«

»Ach, so was spricht sich hier schnell rum. Kennt man einen, kennt man alle. Wir leben ja auf einer Insel. Da bleibt nix lange geheim.«

Es sei denn, es ist Krebs, dachte Tilda und fragte nach der Beerdigung.

Nils Johannsen erzählte von Hannes Wunsch, verbrannt zu werden und auf dem Meer seine letzte Ruhe zu finden.

»Und wann?«, hakte sie nach, denn von allein kam ja aus diesem Mann nichts raus.

»Dienstag. Übernächste Woche. Wir haben hier ja kein Krematorium. Dat dürt.«

Tilda überlegte, ob sie einfach nach der nächsten Fähre gucken sollte, aber heute hin und heute zurück wäre verrückt, und zum Übernachten brauchte man ein Zimmer. Ob sie in der Kate schlafen konnte? In dem Bett ihres verstorbenen Onkels? Nein. Auf keinen Fall.

»Ich könnte nächstes Wochenende kommen. Vielleicht am besten gleich Freitagabend. Wissen Sie vielleicht, wann da die letzte …«

»20 Uhr geht die letzte Fähre von Dagebüll«, fiel er ihr erneut ins Wort.

Kein Mann der großen Worte, aber der direkten, dachte sie und fragte sich, ob sie überhaupt Lust hatte, ihn zu treffen. Aber ihr blieb wohl nichts anderes übrig.

»Oh, schade. Das wird knapp beziehungsweise nichts. Ich muss bis 18:30 Uhr arbeiten. Dann komme ich einfach Samstag, gleich früh.«

»Jo, mach das. Du weißt ja, wo ich bin.«

Tilda überlegte, was sie sagen sollte, doch bevor ihr eine passende Antwort einfiel, hörte sie den Ton, der signa­li­sierte, dass er aufgelegt hatte. Sie sah auf ihr Handy. Die Verbindung war beendet worden.

»Tja, dann. Schönen Tag noch und bis nächste Woche. Ich kann ja kurz vorher noch mal durchklingeln, wenn ich weiß, welche Fähre ich nehme. Tschüüüss!«, sagte sie mit Blick auf ihr Telefon. Dann legte sie es kopfschüttelnd weg.

Das kann ja was werden, dachte sie, stand auf und ging ins Bad. Manchmal half nur eine kalte Dusche.

Und Ingo anrufen. Sie musste ihm unbedingt davon erzählen!

2.

»Du siehst ja aus wie Puck, die Stubenfliege«, begrüßte Ingo sie charmant wie immer, beugte sich leicht vor und gab ihr, so gut es mit der riesigen Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht abdeckte, ging, einen Kuss auf den Mund. Das hatte zwar schon mehr als einmal für Verwirrung gesorgt, war aber Tradition, seit sie sich kannten. Und das waren jetzt immerhin schon knapp 20 Jahre.

»Danke. Wie lieb von dir! Ich bin mir sicher, du guckst lieber Puck in die Augen als mir.«

»Was ist los? Nicht geschlafen?«, wollte Ingo wissen und setzte sich wieder.

Tilda fand, es war eine bodenlose Frechheit, dass Ingo feiern konnte, wie er wollte, und trotzdem immer aussah, als wäre er gerade mit dem Bügeleisen über sein Gesicht gefahren. Warum reichten bei ihr schon ein, zwei Stunden weniger Schlaf – ohne Party wohlbemerkt –, und sie wurde nicht mehr von ihren eigenen Nachbarn gegrüßt?

Die Sonne schien seit drei Wochen ununterbrochen, und die Temperaturen erinnerten eher an Mallorca als an Hamburg. Tilda setzte sich auf den freien Stuhl, der im Schatten stand. Dem Himmel sei Dank wehte an der Alster ein laues Lüftchen. Sonst wäre es nicht auszuhalten gewesen. Nichts gegen gutes Wetter, über die Sonne freute sie sich wirklich von Herzen, aber alles über 27 Grad war nicht für sie gemacht. Kein Deo der Welt hielt dieser Hitze stand. Sie war ein Nordlicht und keine Kaktee.

»Ich konnte nicht einschlafen. Mein Schlafzimmer hat die Temperatur einer Biosauna. Dabei ziehe ich die Vorhänge schon gar nicht mehr auf.«

»Das klingt nach einem echten Problem«, stellte Ingo fest und zwinkerte ihr zu. »Und sonst so?«

»Frag nicht«, entgegnete Tilda, machte eine abwehrende Handbewegung und griff nach der Getränkekarte.

»So schlimm?«

»Schlimmer. Mein Vermieter hat Eigenbedarf angemeldet. Ich vermute mal, dass er die Wohnung für seinen Sohn haben will. Oder er hat sich von seiner 86-jährigen Frau getrennt und zieht aus dem gemeinsamen Appartement im Servicestützpunkt für Senioren aus«, meinte Tilda und schob hinterher, »was ich mir allerdings nicht wirklich vorstellen kann.«

Ingo sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist nicht wahr!«

»Doch. Leider.« Tilda blätterte in der Karte, dann legte sie sie wieder weg. »Wollen wir uns vielleicht eine große Flasche Wasser teilen? Mir ist bei der Hitze gerade nach nichts anderem.«

»Klar«, meinte Ingo, schlug seine dünnen Beine unter dem Holztisch übereinander, winkte der Kellnerin, drehte sich dann wieder zu Tilda und sah sie mit seinem Dackelblick mitleidig an. »Ich kann es nicht fassen. So ein Mist! Sie ist so schön!«, stellte Ingo fest.

»Ja, allerdings. Ich kann mir gar nicht vorstellen auszuziehen. Vor allem nicht, wohin!« Tilda seufzte so laut, dass sich das Paar am Nachbartisch zu ihnen umdrehte. »Na ja, irgendetwas wird mir schon einfallen. Notfalls zelte ich. Ist ja gerade so schön warm.«

»Du und zelten … Vorher verliebe ich mich in eine Frau!«, meinte Ingo lachend.

»Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich schon mal gezeltet!«

»Lass mich raten. Du warst sieben Jahre alt, und das Zelt stand im Garten deiner Eltern?«

»Woher weißt du das?« Tilda nahm ihre Brille ab und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Langsam bekomme ich Angst vor dir!«

»Ich kenne dich halt«, erklärte Ingo lachend.

»Außerdem war ich neun«, schob Tilda nach und setzte ihre Sonnenbrille wieder auf.

»Ich hör mich im Salon mal um, vielleicht hat ja jemand vor, demnächst umzuziehen. Aktuell findet man ja höchstens noch etwas durch Mundpropaganda. Alles andere kannst du knicken. Es sei denn, man möchte zweitausend Euro kalt ausgeben, aber das weißt du ja selbst«, stellte Ingo kopfschüttelnd fest. »Das kann man sich echt gar nicht mehr vorstellen, dass ich damals … warte mal, wie lange ist das her? Na ja, auch schon fünfzehn, sechzehn Jahre … auf alle Fälle war ich einer von vielleicht zehn Interessenten für meine Wohnung in St. Georg! Wenn heute so eine Anzeige in der Zeitung stünde, würde die Schlange der Leute, die die Wohnung besichtigen wollen, vermutlich einmal quer durch die Innen­stadt gehen.«

»Mindestens!«, murmelte Tilda und mochte gar nicht daran denken, was alles noch auf sie zukam.

Er hatte recht. Es war aussichtslos. Der Wohnungsmarkt in Hamburg war nur noch etwas für Menschen, die nicht mehr wussten, wohin mit ihrem Geld. Auch außerhalb der beliebten Stadtviertel fand man nichts. Selbst der Stadtrand war inzwischen kein Geheimtipp mehr. Davon abgesehen, dass sie da auch gar nicht hinwollte. Aber das, was sie wollte, war komplett utopisch. Denn das wollten alle.

»Ich mag es ja gar nicht laut sagen, aber du siehst so aus, als wäre das nicht alles«, vermutete Ingo und sah sie an, als habe er Angst vor dem, was noch kommen könnte. Zu Recht.

Das war immer so. Sie musste gar nichts sagen, er sah sowieso, was mit ihr los war. Ingo hatte eine Menge Menschenkenntnis oder besser: Tildakenntnis. Was aber auch nicht wirklich schwer war, denn ihre aktuelle Gefühlslage war nicht mehr zu verbergen. Dafür reichte ihr schauspielerisches Talent nicht aus. Und wozu sollte es auch?