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Herzklopfen nicht ausgeschlossen E-Book

Julia Hanel

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Beschreibung

Witzig, charmant und gefühlvoll – ein Roman zum Verlieben! Feli hat sich damit abgefunden, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Anstatt Medizin zu studieren, jobbt sie in einem Seniorenheim, um den Pflegeplatz für ihre demente Großmutter zu bezahlen. Dort trifft sie auf Leo, der nach einer wilden Nacht zu Sozialstunden auf ihrer Station verdonnert wurde. Er ist genau die Art Mann, mit der Feli so gar nichts anfangen kann: zwar echt attraktiv, aber auch ziemlich selbstverliebt. Trotzdem schlägt ihr Herz in seiner Nähe wie verrückt. Doch als sie gerade Vertrauen zu ihm fasst, wird sie von Leo bitter enttäuscht … 

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Herzklopfen nicht ausgeschlossen

Die Autorin

Julia Hanel, geboren 1987 in Ansbach, studierte Germanistik in Bamberg und arbeitete danach als Redakteurin in Fulda. Heute lebt und arbeitet sie in Würzburg.Von Julia Hanel sind in unserem Hause bereits erschienen:Dein Bild für immer · Liebe, Zimt und Zucker · Zwei fürs Leben

Das Buch

Nicht alle Träume gehen in Erfüllung, das weiß Feli mittlerweile. Sie wollte eigentlich Ärztin werden und mit ihrem Freund Jannick eine gemeinsame Zukunft planen. Doch anstatt zu studieren, jobbt sie in einem Seniorenheim, um für ihre demente Großmutter Martha zu sorgen. Und Jannick … tja, der wollte lieber in die weite Welt hinausziehen als in eine gemeinsame Wohnung mit ihr. Als wäre das nicht schon schlimm genug, wird Feli auf der Arbeit auch noch gebeten, Leo im Auge zu behalten, der mit Geld nur so um sich wirft und nach einer wilden Nacht zu Sozialstunden auf ihrer Station verdonnert wurde. Nachdem Leo sie mit seinem Porsche fast überfahren hätte, ist eines klar: Diesen Mann kann Feli nicht ausstehen! Wenn er nur nicht so unverschämt attraktiv wäre ...

Julia Hanel

Herzklopfen nicht ausgeschlossen

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, MünchenTitelabbildung: © Ann.and.Pen/shutterstock (Blumen);© Ellegant / shutterstock (Paar)E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2052-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Leo

Vier Wochen später

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Feli

Leo

Leo

Feli

Leo

Leo

Feli

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Feli

Leo

Feli

Leo

Feli

Feli

Leo

Feli

Drei Monate später

Feli

Leo

Danksagung

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Cover

Titelseite

Inhalt

Leo

-Widmung

Für Laura und Lukas

Die schönsten Liebesgeschichtenschreibt das Leben selbst.

Leo

»Das kommt raus, wenn man dich als Anwalt hat«, brummte Leo, als er sich neben seinem Bruder durch die Tür des Gerichtssaals schob und die schwarze Krawatte lockerte, die er an diesem Morgen aus den Tiefen seines Kleiderschranks gezogen hatte. Die ganze Verhandlung über hatte sie ihm die Luft abgeschnürt, und spätestens seit der Urteilsverkündung fühlte sie sich wie ein Strick um seinen Hals an. Leos Gesicht verfinsterte sich, als die Worte der Richterin in seinem Kopf nachhallten. Der Angeklagte Leonard Maywald wird zu hundert Sozialstunden verurteilt, die innerhalb der nächsten …

»Nein, das kommt raus, wenn man mit einem Rollator in ein Polizeiauto kracht.« Alexander nestelte an seiner bodenlangen Robe, unter der blank polierte Anzugschuhe hervorspitzten. »Du kannst froh sein, dass du so glimpflich davongekommen bist.«

»Glimpflich?«, schnaubte Leo, während sie einen gewölbten Korridor entlangliefen. »Hundert Sozialstunden?! Wegen ein bisschen …«

»… Ruhestörung? Sachbeschädigung? Beamtenbeleidigung? Verkehrsgefährdung?«

»Morgens um drei gibt es überhaupt keinen Verkehr.«

»Außer den, den du der Polizeibeamtin angeboten hast …«

Leo grinste. Er hatte einen totalen Filmriss ab dem Moment, in dem er Philips Party verlassen hatte, aber ihr Gesicht hatte er nicht vergessen. Dieser unnahbare, autoritäre Blick war verdammt sexy gewesen.

»Ich geb ja zu, dass das Ganze ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist …«

»Ein bisschen?«, zischte Alexander und senkte sogleich die Stimme, als eine platinblonde Frau mit Bleistiftrock und Bluse vorbeirauschte und ihn mit einem gestressten, aber durchaus charmanten Lächeln grüßte.

»Holla«, pfiff Leo anerkennend in Richtung seines Bruders.

Alexanders Augen wurden schmal.

»Ich bin verheiratet, falls du das vergessen hast.«

»Ja, aber mit Mona.«

Leo zog eine Grimasse und schob seine Hände in die Anzughose. Er würde nie verstehen, warum sein Bruder freiwillig eine Frau geheiratet hatte, die sich dafür bezahlen ließ, Paaren beim Streiten zu helfen. Im Vergleich zu den hundert Sozialstunden, die man ihm gerade aufgebrummt hatte, war Mona eine lebenslange Freiheitsstrafe auf zwei Beinen.

»Ich hab dir schon mal gesagt, du sollst nicht so über meine Frau sprechen.«

»Ich hab dir gesagt, du sollst sie nicht heiraten. Hast du auf mich gehört?«

»Auf jemanden, der glaubt, dass man die große Liebe mit einem Wisch übers Display findet?«, spottete Alexander, während er mit flatterndem Talar die Treppe hinunterhastete und eine Wolke Boss Orange hinter sich herzog.

Leo hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Ihm war nicht entgangen, wie eilig es sein Bruder hatte, seit sie den Verhandlungssaal verlassen hatten. Wie oft seine Augen nach rechts und links schielten. Die Situation war ihm offensichtlich peinlich.

»Hab nie behauptet, dass es um Liebe geht«, murmelte Leo und musterte die Blondine mit dem Bleistiftrock, die am Fuß der Treppe stand und in ihrer Aktentasche kramte. Ein wohlgeformter Hintern zeichnete sich unter dem eng anliegenden Stoff ab.

»Denk nicht mal daran. Die einzigen Frauen, mit denen du in den nächsten Wochen auf Tuchfühlung gehst, tragen Stützstrümpfe und Hörgeräte.«

Unverhohlene Schadenfreude blitzte in den Augen seines Bruders auf. Leo stieß einen frustrierten Laut aus.

»Warum muss es unbedingt ein Altenheim sein? Til Schweiger durfte auch in einen Kindergarten.«

»Dann hättest du vielleicht ein Dreirad zu Schrott fahren sollen«, kam es ungerührt aus dem Mund seines Bruders. »Sogar du solltest eine gewisse Logik in dieser Entscheidung erkennen.« Bedeutungsvoll hob er die Brauen. »Außerdem herrscht in Deutschland Pflegenotstand. Es fehlen über 100.000 Pflegekräfte.«

»Und jetzt nur noch 99.999?«

»Sieh es doch einfach als einen Beitrag für die Gesellschaft.«

»Was ist deiner? Mona von ihr fernzuhalten?«

»Leo!«

Alexanders Stimme hallte durch das alte Gemäuer und brachte ihnen ungewollte Aufmerksamkeit ein. Verlegen räusperte er sich und hastete die letzten Stufen nach unten.

»War ein Witz.«

»Genau das wird auf deinem Grabstein stehen, wenn du so weitermachst.«

Sie verließen das Gerichtsgebäude und traten ins Freie. Es roch nach Frühling, und im Bistro auf der anderen Straßenseite saßen die ersten Sonnenanbeter und schlürften Espresso. Alexander schlüpfte aus seinem Talar und strich über sein perfekt gegeltes Haar, mit dem er aussah, als wäre er einem Wahlplakat der FDP entsprungen. Leo wollte ihn gerade deswegen aufziehen, als etwas Hartes von hinten gegen sein Bein stieß und ein kurzer, aber heftiger Schmerz in seinen Knöchel schoss.

»Ah«, stöhnte er und blickte in das griesgrämige Gesicht einer Oma mit Dutt, die ihren Rollator ohne Rücksicht auf Verluste über den Gehweg schob. Ungläubig sah er dem gebückten Rücken nach.

»Vielleicht hätte ich ihren Rollator zu Schrott fahren sollen«, brummte er und rieb sich den Knöchel.

»Das ist der Charme des Alters. Gewöhn dich schon mal dran.«

Leo fand, dass sein Bruder eine Spur zu zufrieden klang.

»Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du der Richterin am liebsten das Bundesverdienstkreuz verleihen würdest, weil sie mich zu Sozialstunden verdonnert hat? Müsstest du nicht wenigstens ein bisschen an deiner Kompetenz zweifeln? Deine Niederlage beweinen?«

Alexander zuckte gelassen mit den Achseln.

»Ich bewundere lediglich ihren Scharfsinn, zu durchschauen, dass dir eine Geldstrafe nicht einmal ansatzweise wehgetan hätte.«

Leo stieß ein verächtliches Lachen aus.

»Dazu braucht man keinen Scharfsinn. Nur Google.«

»Es ist an der Zeit, dass dich jemand auf den Boden der Tatsachen zurückholt«, überging Alexander seine Bemerkung. »Und wenn das ein paar bettlägerige Senioren sind, umso besser.«

Da die Stimmung am Kippen war, deutete Leo auf das Bistro.

»Wie wär’s mit einem Gin Tonic? Ich lade dich ein. Zur«, er setzte Anführungszeichen in die Luft, »Feier des Tages?«

Sein Bruder hob die Brauen.

»Es ist zehn Uhr morgens, Leo. Außerdem habe ich in 20 Minuten den nächsten Termin. Manche Menschen müssen für ihr Geld arbeiten.«

Vier Wochen später

Feli

Es war 5 Uhr 20, als sie aus dem Schlaf schreckte und sich den Kopf anstieß. Auch ohne den Schmerz war sie sofort hellwach. Wie immer, wenn ihr Handy zu Uhrzeiten klingelte, die ausschließlich schlechten Nachrichten vorbehalten waren. Schließlich rief niemand mitten in der Nacht an, um einem mitzuteilen, dass man mehr Datenvolumen bekam, eine Karibikreise gewonnen oder den neuen Job in der Tasche hatte. Hektisch tastete sie den Nachttisch nach ihrem Handy ab. Als sie die Nummer auf dem Display erkannte, schoss ihr Puls in die Höhe. 

»Ist was mit Martha?«

»Keine Sorge, deine Großmutter liegt friedlich in ihrem Bett. Und Kristin wahrscheinlich auch. Die hat sich nämlich schon wieder krankgemeldet.« 

Natalja ließ einen Schwall polnischer Schimpfwörter folgen. Wie immer, wenn es um Kristin ging, die mehr Fehltage ansammelte als ihre Kollegen Überstunden und die Atteste von so ziemlich jeder Sorte Facharzt einreichte. Feli rechnete fest damit, dass sie irgendwann noch ihre Fußpflegerin heranziehen würde, um von der Arbeit befreit zu werden. 

»Kannst du einspringen? Ich weiß, du hast heute frei, aber es gibt niemanden, den ich noch fragen könnte.«

»Bin schon unterwegs«, gähnte Feli ins Telefon und schwang die Beine aus dem Bett.

Weil Nataljas verzweifelter Ton selbst einen Stein erweicht hätte. Aber vor allem, weil es ihrer Großmutter gut ging. Mehr zählte nicht. Zumindest bis sie unter der Dusche stand und eiskaltes Wasser aus den alten Leitungen schoss. Dieser verfluchte Boiler. Sie hatte ihn erst letzte Woche reparieren lassen. Der Heizungstechniker würde wohl ein zweites Mal kommen müssen. Noch eine Rechnung, seufzte sie in sich hinein. Nachdem sie ihm eine Nachricht auf der Mobilbox hinterlassen hatte – und ihrer Mitbewohnerin eine Notiz auf dem Küchentisch –, verließ sie das Haus. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen und vertrieb den letzten Rest Müdigkeit. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hoch, setzte ihren Fahrradhelm auf und fuhr los. Inzwischen schaffte sie die acht Kilometer nach Starnberg in unter 30 Minuten, auch wenn sie danach nicht mehr ganz taufrisch aussah. Aber abgesehen davon, dass der Bus nur einmal pro Stunde fuhr und an jedem Heuhaufen hielt, wollte sie sich das Geld für die Monatskarte sparen.

Das Seniorenheim ragte wie ein Scherenschnitt im Halbdunkel vor ihr auf, als sie durch das schmiedeeiserne Tor fuhr. Äußerlich lag es noch im Tiefschlaf, aber Feli wusste, dass der morgendliche Trubel bereits in vollem Gang war. Pflegewagen ratterten über die Flure, Lämpchen blinkten und Klingeln summten, Türen wurden geöffnet, Fenster geschlossen und Bettdecken aufgeschüttelt. Nachdem sie ihr Rad abgeschlossen hatte, steuerte sie die Umkleide an, schlüpfte in Pflegekittel und Stoffhose und band ihr langes, lockiges Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Mit erstaunlich viel Tatendrang machte sie sich auf den Weg ins Schwesternzimmer, das sich der geschlechtergerechten Umbenennung in Stationszimmer einfach nicht beugen wollte.

»Feli, hast du kurz einen Moment?«

Überrascht stellte sie fest, dass ihre Chefin bereits in ihrem Büro saß. Normalerweise kam Barbara nicht vor acht Uhr – und normalerweise wusste sie, dass ihre Mitarbeiter um diese Zeit nicht einmal den Bruchteil eines Moments hatten. Vor allem wenn der Wohnbereich vollkommen unterbesetzt war. Erst hatte eine Grippewelle das Seniorenheim im Griff gehabt, dann der Norovirus. Noch dazu gab es die Dauerseuche Kristin. Mit einer Spur Nervosität betrat Feli das Büro. Als ihr Barbara mit einer Geste zu verstehen gab, die Tür zu schließen, wurde ihr endgültig flau im Magen.

»Es ist mir wirklich unangenehm, aber … unsere Buchhaltung hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass … du mit den Zahlungen im Rückstand bist.«

Feli erstarrte.

»Was?«

»Die Miete für das Apartment deiner Großmutter konnte nicht fristgerecht abgebucht werden. Vielleicht handelt es sich auch nur um einen Fehler. Am besten rufst du mal bei deiner Bank an.«

Feli nickte, obwohl sie wusste, dass sie sich die Mühe sparen konnte. Wie wahrscheinlich war es, dass ihre Bank einen Fehler gemacht hatte – und wie wahrscheinlich, dass ihr Kontostand nach der Stromnachzahlung und dem kaputten Boiler weit unter dem Meeresspiegel lag? Barbara schien in der Zwischenzeit zum selben Ergebnis gekommen zu sein.

»Wenn es dir hilft, könnten wir vorübergehend ein paar Serviceleistungen zurückfahren. Die Vollverpflegung zum Beispiel.«

In Felis Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass ihre Großmutter sich wieder selbst an den Herd stellte. Nicht nur dass sie beim letzten Mal einen Feuerwehreinsatz ausgelöst hatte. Es war wichtig, dass sie in Gesellschaft war und soziale Kontakte pflegte. Das hatte der Neurologe immer wieder betont. 

»Danke, aber das ist nicht nötig. In letzter Zeit sind ein paar Reparaturen angefallen. Du weißt ja, wie das ist. In so einem Haus geht immer alles gleichzeitig kaputt.«

Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber es fühlte sich eher wie eine Grimasse an. Hinter ihren Schläfen begann es zu pochen.

»Weißt du denn schon, was du damit machst?«

Erst mit zweisekündiger Verspätung begriff Feli, dass Barbara das Haus meinte, das ihre Großmutter ihr überschrieben hatte, als sie ins Seniorenheim gezogen war. Das Haus, in dem Feli aufgewachsen war und nun wieder wohnte. Das Haus, das alles war, was ihr von ihrer Familie geblieben war. Eine Familie, die schon immer nur aus ihren Großeltern bestanden hatte.

»Willst du es verkaufen? So ein Bauplatz ist sehr gefragt.«

Bauplatz, hallte es in Felis Kopf nach. Genau das würde aus dem Haus werden, wenn sie sich dazu entschloss, es zu verkaufen. Eine Freifläche für einen weiteren Glasbunker mit Swimmingpool, den irgendwelche Superreichen aus München zu ihrem Drittwohnsitz machen würden. Allein die Vorstellung verursachte ihr Übelkeit. Noch dazu fragte sie sich, wo sie dann wohnen sollte. Die Mietpreise in der Gegend waren unverschämt hoch, und es gab kaum freie Wohnungen. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie wollte den Anrufer gerade wegdrücken, als sie die Nummer erkannte.

»Das ist der Heizungstechniker«, entschuldigte sie sich. »Der Boiler ist schon wieder kaputt.«

Barbara signalisierte Zustimmung und wandte sich ihrem Computer zu. Erleichtert nahm Feli den Anruf entgegen und schilderte ihr Problem. Der Mann am Telefon bot ihr einen Termin für nächste Woche an.

»Nächste Woche?« Mit Grauen dachte Feli an die eiskalte Dusche von heute Morgen zurück und legte all ihre Verzweiflung in ihre Stimme. »Wie sollen wir es so lange ohne warmes Wasser aushalten?«

Er schien Mitleid zu haben, checkte noch einmal seinen Kalender und gab vor, eine Lücke entdeckt zu haben.

»In einer Stunde schon?«

Sie warf Barbara einen unschlüssigen bis verzweifelten Blick zu. Die sah kurz von ihrem Computer auf und nickte. Feli bestätigte den Termin.

»Ich beeile mich. Versprochen.«

Barbara stieß ein Seufzen aus.

»Du hast heute eigentlich frei. Außerdem kann ich es mir nicht leisten, wenn du auch noch krank wirst.« Sie lächelte träge. »Eine Bitte hätte ich allerdings. Leo Maywald hat heute seinen ersten Tag bei uns.«

Leo Maywald. Der Name sagte ihr nichts.

»Die Sozialstunden«, half Barbara ihr auf die Sprünge.

Richtig. Jetzt erinnerte sie sich wieder. Bei der letzten Teamsitzung war der Name kurz gefallen. Das Seniorenheim arbeitete eng mit der Jugendgerichtshilfe in München zusammen und bot jungen Menschen die Möglichkeit, gemeinnützige Arbeitsstunden abzuleisten, um einer Haftstrafe zu entgehen. Meistens übernahmen sie einfache Hausmeistertätigkeiten, unterstützten den Gärtner oder halfen in der Wäscherei.

»Könntest du dich um ihn kümmern, bis Kristin wieder da ist? Die Auflagen sehen neuerdings vor, dass es eine feste Betreuungsperson in der Einsatzstelle gibt.« Barbara verdrehte die Augen. »Als ob es nicht großzügig genug ist, dass wir diese Plätze anbieten.«

»Klar«, erwiderte Feli, obwohl sie auf nichts weniger Lust hatte, als einen weiteren gelangweilten Teenager davon abzuhalten, pausenlos mit seinem Handy zu spielen oder Hashtags wie #altenheimchiller zu kreieren. »Was hat er denn angestellt? Seinen Ausweis gefälscht? Den Schulserver gehackt?«

Kurz wirkte Barbara irritiert. Dann begann sie zu verstehen.

»Eigentlich ist Herr Maywald schon …« Ihr Telefon klingelte. »Oh, da muss ich ran«, sagte sie mit Blick aufs Display. »Wir reden später noch mal, ja?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm Barbara den Hörer ab. Feli verabschiedete sich wortlos und verließ das Büro. Im Flur lief ihr eine gestresst wirkende Natalja in die Arme, die einen Pflegewagen hinter sich herzog.

»Dzięki Bogu«, seufzte sie erleichtert. »Ich dachte, du liegst im Straßengraben!«

Aus ihren Augen sprach die Sorge, aber ihr polnischer Akzent ließ jedes Wort wie einen Vorwurf klingen.

»Barbara wollte mich kurz sprechen.«

»Ist was mit Martha?«

Natalja streifte sich ihre Latexhandschuhe ab und entsorgte sie.

»Nein, nein, alles okay«, log Feli und brachte ein schwaches Lächeln zustande.

Im selben Moment leuchteten über den Türen mehrere Lämpchen gleichzeitig auf. Natalja schnalzte mit der Zunge.

»Ich Frau Müller, du Herrn von Stetten?«

Ehe Feli etwas erwidern konnte, war Natalja schon davongeeilt. Kurz darauf klopfte sie an die Tür von Richard von Stetten und vernahm ein gedämpftes »Herein«.

»Guten Morgen«, sagte Feli, als sie das Zimmer betrat.

Richard von Stetten saß mit dem Rücken zu ihr an seinem Biedermeier-Sekretär und sortierte Blätter, stieß sie kurz auf die Tischplatte, bis sie bündig waren und drehte sich zu Feli um. Sein weißes Haar war wie immer ordentlich zurückgekämmt, und er trug Hemd und Pullunder zu einer Hose mit tadellosen Bügelfalten. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass er früher ein Münchner Textilunternehmen geleitet hatte.

»Könnten Sie sich bitte erkundigen, wo meine Schreibmaschine bleibt? Ich kann so wirklich nicht arbeiten.« Wieder griff er nach dem Stoß Papier. »Ach ja, und wenn Sie das hier bitte noch in die Buchhaltung bringen könnten?« Er hielt ihr den aktuellen Speiseplan hin. »Ich weiß nicht, warum so was immer auf meinem Schreibtisch landet.«

Feli betrachtete die knochigen Finger mit den kurz geschnittenen Nägeln und nahm den Speiseplan entgegen.

»Das wäre dann alles«, sagte Herr von Stetten und wandte sich wieder seinen Dokumenten zu, die, wie Feli nun sah, aus der Fernsehzeitung, dem Gemeindeblatt und einem Lidl-Prospekt bestanden.

»Ach, und Fräulein …?«

Abwartend sah er sie an.

»Friedmann.«

»Fräulein Friedmann«, fuhr er fort. »Sorgen Sie bitte dafür, dass mich in der nächsten Stunde niemand stört. Hier kommt man ja zu gar nichts.«

»Selbstverständlich, Herr von Stetten.«

Wie immer lächelte sie. In ihren ersten Wochen war es ein unsicheres, unbehagliches Lächeln gewesen, inzwischen war sie daran gewöhnt, dass sein Geist zuweilen auf Zeitreisen ging.

»Gut.« Er musterte sie intensiv. »Sind Sie neu bei uns? Ich habe Sie noch nie gesehen.«

»Ich arbeite seit drei Monaten hier«, antwortete Feli.

Drei Monate und elf Tage, korrigierte der kleine Mathematiker in ihrem Kopf.

»Dann hoffe ich, es gefällt Ihnen bei uns, Fräulein … Fräulein …«

»Friedmann.«

Sie lächelte, und er nickte, wandte sich um und griff nach dem nächsten Stapel. Feli trat hinaus in den Flur und stellte fest, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. Und dass sie noch immer den Speiseplan in der Hand hielt. Montag: Wurzelgemüse-Kartoffel-Eintopf. Sie verzog das Gesicht. Nein, heute war kein guter Tag.

Leo

Noch 100 Stunden

»Wo bist du?«

»Wo ich um diese Zeit immer bin. In meinem Bett«, antwortete Leo und gähnte übertrieben laut.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, hallte es mindestens zwei Oktaven höher aus seinem iPhone. »Du hast heute deinen ersten …«

»War ein Witz«, unterbrach Leo seinen Bruder, der klang, als stünde er kurz vorm Herzinfarkt.

»Das ist nicht witzig!«

»Deswegen lacht ja auch keiner.«

Leo ging aufs Gas. Röhrend schoss sein Porsche an dem Traktor vorbei, der seit mindestens zwei Kilometern eine Spur aus Kuhscheiße hinter sich herzog. Er war spät dran, weil er sich erst durch den Münchner Berufsverkehr gequält hatte, um dann in einen Stau zu geraten und eine halbe Ewigkeit auf den Arsch eines Haflingers zu stieren. So langsam war er sich nicht mehr sicher, was die größere Strafe war. Dass er die nächsten Wochen unter Scheintoten verbringen sollte oder dass er dafür jeden Tag sechzig Kilometer nach Starnberg hin und zurück fahren musste, eine Stadt, die er im Gegensatz zum Rest von Deutschland nicht mit einem idyllischen See, sondern mit steifen Sonntagsessen bei seinen Eltern verband.

»Als ob es nicht auch ein Altenheim in München gegeben hätte«, murrte Leo, während er das Ortsschild passierte.

»Keins, das dich haben wollte. Dass du im Seeblick untergekommen bist, verdankst du nur der Tatsache, dass Vater letztes Jahr die Terrassenmöbel gespendet hat.«

Leo verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn sein Bruder Vater sagte. Als wären sie in einem Heimatfilm. Oder im Neuen Testament. Auf der anderen Seite musste er zugeben, dass Professor Dr. Friedrich Maywald aka Vater auch nicht gerade jemand war, den man Papa nennen wollte. Wenn er den Raum betrat, setzte in Leos Kopf der imperiale Marsch von Darth Vader ein, und Unterhaltungen mit ihm fühlten sich immer eher wie Vorstellungsgespräche an – bei einer Firma, für die man nicht arbeiten wollte, für einen Job, auf den man keine Chance hatte.

»Apropos: Mutter hat mich angerufen. Sie erreicht dich nicht.«

»Ich fahre ja auch Auto.«

»Seit gestern? Ruf sie bitte zurück.«

»Telefonieren am Steuer ist gesetzlich verboten. Solltest du eigentlich wissen. Paragraf … 21 der Straßen-Verkehrs-Ordnung.«

»23. Aber schön, dass von deinen zwei Semestern Jura wenigstens irgendwas hängen geblieben ist.«

Drei, korrigierte Leo in Gedanken. Wobei er bereits nach zwei Semestern keine Vorlesungen mehr besucht hatte.

»Sie möchte dich für heute zum Essen einladen. Es gibt Rinderrouladen.«

Leo blies die Backen auf. Diesmal wollte sie ihn also mit seinem Lieblingsessen ködern.

»Du könntest dich wirklich mal wieder bei ihnen blicken lassen, Leo. Wann warst du das letzte Mal dort? Vor zwei Monaten?«

Drei, dachte er und erinnerte sich mit Grauen an ein Abendessen, das noch vor dem Gurkensalat ein jähes Ende gefunden hatte, als sein Vater und er wieder einmal in Streit geraten waren. Sie gerieten so oft in Streit, dass er nicht einmal mehr wusste, worum es gegangen war.

»Es liegt doch sowieso auf deinem Heimweg.«

»Ich muss jetzt Schluss machen«, verabschiedete er sich und brachte Alexander zum Verstummen. Stattdessen meldete sich eine andere Stimme zu Wort: »In zweihundert Metern haben Sie das Ziel erreicht. Das Ziel liegt links.«Wieder begann sein Handy zu klingeln. Er schielte aufs Display und spürte das wohlbekannte Unbehagen in sich aufsteigen, als er die Festnetznummer seiner Eltern erkannte. »Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt links.«Er stieß ein unzufriedenes Brummen aus, setzte den Blinker, lenkte sein Auto durch das schmiedeeiserne Tor und drückte den Anruf weg. Er sah noch etwas Gelbes aufleuchten, aber da war es bereits zu spät. Bremsen quietschten, Kies wirbelte auf, und ein Radfahrer landete unsanft auf dem Grünstreifen neben der Einfahrt, während das Fahrrad über das Kiesbett schlingerte.

»Fuck!«, fluchte Leo, stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Wo war der denn auf einmal hergekommen? Zu Leos Erleichterung saß er schon wieder aufrecht und klopfte sich die Jacke ab. Erst jetzt bemerkte er, dass der Fahrradfahrer in Wirklichkeit eine Frau war. Kupferfarbene Locken spitzten zu beiden Seiten unter ihrem Fahrradhelm hervor. »Alles okay?«

Ihr Kopf schoss hoch. Grüne Augen funkelten ihn wütend an. Und wie grün die waren.

»Sind Sie vollkommen wahnsinnig? Das ist ein Seniorenheim, nicht der verdammte Nürburgring!«

Leo blinzelte überrascht. Weil der raue Ton nicht zu ihrem Gesicht passte und weil sie ihn siezte. Dabei musste sie ungefähr in seinem Alter sein. Mitte, Ende zwanzig schätzte er. Genau konnte er es nicht sagen, weil er zu sehr von der Bowlingkugel auf ihrem Kopf abgelenkt war. Einen Moment lang bewunderte er sie für ihr Selbstbewusstsein. Die Frauen, die er kannte, hätten wohl eher einen Schädelbruch riskiert, als ihre Frisuren mit einem Fahrradhelm zu ruinieren.

»Sorry, ich hab dich nicht gesehen.«

»Wie auch? Dafür hätte ich ja auf deinem Display aufblinken müssen«, blaffte sie ihn an. Offensichtlich hatte sie es bereits wieder aufgegeben, ihn zu siezen. Leo schielte zu ihrem Fahrrad, das quer über der Einfahrt lag.

»Oder dein Licht anmachen.«

Er hatte das Gefühl, dass aus ihren Augen gleich Dolche geflogen kamen, und schob ein Grinsen hinterher, um seiner Aussage die Schärfe zu nehmen. Vergeblich.

»Ich wusste nicht, dass das eine Autobahnauffahrt ist.«

Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. Mit zusammengekniffenen Augen rieb sie sich das Bein. Plötzlich nagte sein Gewissen an ihm. Vielleicht hatte sie sich doch verletzt.

»Schlimm?«

»Geht mit Zitrone raus.«

Erst verstand er nicht, was sie meinte, dann bemerkte er die Grasflecken auf ihrer Jeans. Sie stemmte sich vom Boden hoch und klopfte ihre gelbe Jacke ab, mit der sie besser auf einen Nordseekutter als in die Einfahrt eines Seniorenheims gepasst hätte. Nein, diese Frau war definitiv nicht eitel. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, richtete sie ihr Fahrrad auf und musterte Reifen und Speichen.

»Oh nein!«, seufzte sie mit einer Verzweiflung in der Stimme, die ihn fast auflachen ließ.

Wollte sie ihn verarschen? Das Ding sah aus, als wäre Moses damit durch Ägypten gefahren. Die Kette war ausgeleiert, das Blech rostig und der blaue Lack an mehreren Stellen abgesplittert. Und das war garantiert auch schon vor zehn Minuten so gewesen. Aber klar, sie hatte seinen Porsche gesehen und würde ihn vermutlich jeden Moment für sämtliche Kratzer und Beulen der letzten Jahre verantwortlich machen. Die altbekannte Masche. Ungeduldig schielte er auf seine Uhr. Er war wirklich spät dran.

»Na schön«, murmelte er und zog sein Portemonnaie aus der Jackentasche. »100 Euro, okay? Nicht, dass die Rostkiste das noch wert wäre, aber ich hab’s eilig. Investier sie bitte in ein neues Rad! Das hier verursacht ja schon beim Hinsehen Tetanus.«

Sie war kurz zusammengezuckt, als er Rostkiste gesagt hatte, und starrte auf den Schein, den er ihr in die Hand gedrückt hatte. Dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Wie ein totes Insekt nahm sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt ihn vor seine Nase und ließ ihn fallen. In Zeitlupe segelte er zu Boden, direkt vor seine Füße.

»Ich will dein Geld nicht. Pass in Zukunft einfach auf, wo du hinfährst.«

Ihre Stimme strotzte vor Verachtung. Oder war es Stolz? Ehe er sich darüber im Klaren war, strafte sie ihn mit einem letzten feindseligen Blick und schleifte ihr Rad über den knirschenden Kies. Ungläubig sah er ihr nach, bis sie um die Ecke gebogen war. Dann setzten die Kirchturmglocken ein.

»Shit!«

Er hob die 100 Euro vom Boden auf und hastete zu seinem Wagen, fuhr die letzten Meter zum Besucherparkplatz und stellte seinen Porsche neben einen Opel Corsa. Auch wenn ihm kaum Zeit blieb, unterzog er das Haus einer kurzen Musterung. Mit seinem zartgelben Anstrich, den bepflanzten Balkonen und den gepflegten Grünflächen entsprach es nicht im Geringsten dem Bild des 70er-Jahre-Betonklotzes, den er vor Augen gehabt hatte. Auf einer Gartenbank saßen zwei ältere Damen und strickten, und eine Pflegerin im roten Kittel schob einen Mann im Rollstuhl durch die Tür, vor der ein Schild mit der Aufschrift SeniorenresidenzSeeblick angebracht war. Leo fragte sich, ob es einen Unterschied zwischen einer Seniorenresidenz und einem Seniorenheim gab, und vermutete, dass es sich um einen geschickten Euphemismus handelte. Seniorenresidenz klang nach Sissi und Franz, Seniorenheim nach Uschi und Hans. Die Tür schwang zu beiden Seiten auf und führte in ein helles, lichtdurchflutetes Foyer. Herzlich willkommen prangte in hübsch geschwungenen Buchstaben auf einem Banner mit lächelnden Senioren und gut gelaunten Pflegerinnen, die den Daumen nach oben streckten. Leo sah sich um. Zu seiner Rechten entdeckte er eine verwaiste Rezeption, die durch eine Glasscheibe mit einem Büro verbunden war, zu seiner Linken eine Sitzecke mit einem gut gefüllten Zeitschriftenständer. Ein älterer Herr in Stoffhose und Pullunder saß auf dem Sofa und blickte konzentriert zur Tür, die Hand fest am Griff eines Lederkoffers. Leo schielte auf die Uhr. Er hatte noch exakt dreißig Sekunden, wenn er rechtzeitig zu seinem Termin mit der Einrichtungsleiterin erscheinen wollte. Nur hatte er keinen blassen Schimmer, wohin er überhaupt musste.

»Entschuldigung?« Er schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Wissen Sie vielleicht, wo das Büro von Frau Simminger ist?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf, wobei sein grauer Trachtenhut ins Wanken geriet.

»Ich war hier nur auf Kur.« Er fasste sich an den Rücken. »Die Bandscheibe.«

Leo runzelte die Stirn. Hier gab es Kurgäste?

»Was ist es bei Ihnen? Der Meniskus?« Wässrige Augen richteten sich auf ihn. »Sie sehen aus wie ein Fußballer. Spielen Sie Fußball?«

»Äh …«

»Herr Schäfer«, hallte eine freundliche Stimme durch das Foyer. Sie gehörte zu einer dunkelhaarigen Frau, die sich im Stechschritt näherte. »Wir vermissen Sie schon beim Frühstück.«

»Oh, ich darf doch heute nach Hause. Hedwig müsste gleich da sein.« Leicht nervös sah er aus dem Fenster. »Ich weiß auch nicht, wo sie bleibt. Vielleicht ist wieder was mit dem Baby. Der Kleine lässt uns momentan keine Nacht durchschlafen.«

Baby? Stutzig betrachtete Leo den alten Mann.

»Wie wär’s, wenn Sie im Frühstücksraum auf Ihre Frau warten? Das ist doch viel gemütlicher, und Sie können in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken.«

Er zögerte.

»Sobald sie da ist, geben wir Ihnen Bescheid.«

Sie deutete auf den Empfangstresen, hinter dem inzwischen eine zierliche Frau mit Brille und Blümchenbluse Platz genommen hatte. Der alte Mann schien zwar nicht überzeugt, erhob sich aber ächzend vom Sofa und griff nach seinem Koffer. Adern dick wie Regenwürmer zogen sich über seinen blassen Handrücken.

»Angenehmen Aufenthalt«, sagte er zu Leo, nickte ihm zu und ging davon. Schwerfällig, aber aufrecht.

»Herr Maywald? Mein Name ist Barbara Simminger. Ich bin die Leiterin dieser Einrichtung.«

Sie streckte ihm eine schmale Hand entgegen. Kurz geschnittene Fingernägel, kein Schmuck. Leo war nicht nur überrascht, wie fest ihr Händedruck war. Er hatte sich die Leiterin eines Seniorenheims auch ganz anders vorgestellt. Sie trug weder Kittel noch Stethoskop und sah mit ihrer sportlichen Bluse, der Jeans und den Sneakers aus, als würde sie gleich zum Elternabend ihrer Kinder gehen. »Folgen Sie mir doch bitte kurz in mein Büro.«

Ihr Ton war freundlich, aber bestimmt. Sie führte ihn in ein zweckmäßig möbliertes Zimmer, in dem es dezent nach Kaffee duftete, und nahm hinter einem aufgeräumten Schreibtisch Platz. Mit einer stummen Geste verwies sie auf den Stuhl gegenüber. Einen Moment lang fühlte er sich wie bei einem Vorstellungsgespräch – obwohl er noch nie eines gehabt hatte. Für das einzige Praktikum, das er jemals gemacht hatte, war sein Nachname Qualifikation genug gewesen.

»Herr Maywald«, begann sie langsam und faltete ihre Hände. Dann richtete sie ihren Blick auf ihn. »Sie müssen also Ihre Sozialstunden bei uns ableisten.«

Dass sie müssen statt wollen sagte, machte sie sympathisch. Überhaupt wirkte sie wie eine Frau, die nicht lange um den heißen Brei herumredete. Ob das gut oder schlecht war, würde sich noch zeigen. »Für gewöhnlich bieten wir diese Plätze nur Jugendlichen an. In Ihrem Fall habe ich eine Ausnahme gemacht.«

Terrassenmöbel, trällerte eine Stimme in Leos Kopf. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Lassen Sie mich das bitte nicht bereuen.«

Leo ahnte, dass das der Moment war, in dem er Dankbarkeit heucheln musste.

»Ich werde mein Bestes geben.«

Abwägend betrachtete sie ihn, als wäre sie noch unschlüssig, ob sie ihn für ausreichend oder ungenügend befand.

»Mir ist bewusst, dass Sie nicht freiwillig hier sind, Herr Maywald. Trotzdem kann ich Ihnen nur ans Herz legen, die Zeit bei uns als Chance zu sehen, nicht als Strafe. Denn es ist ganz bestimmt keine Strafe, anderen Menschen zu helfen.«

Doch. Wenn man dafür zu unmenschlichen Zeiten aufstehen und sich in vaterverseuchtes Terrain begeben musste, kam das seinem Verständnis von Strafe schon sehr nahe.

»Sie wären nicht der Erste, der dieses Haus mit einem anderen Blick auf das Leben verlässt, als er es betreten hat. Wer weiß, vielleicht finden Sie hier sogar Ihre wahre Berufung.«

Leo musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Gegoogelt hatte sie ihn scheinbar nicht. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er das in einer Welt, in der Leute sogar potenzielle Sexualpartner googelten, naiv oder ehrenwert fand.

»Ich muss an dieser Stelle aber auch klarstellen, dass das Wohl unserer Senioren für mich an erster Stelle steht. Sollte ich also mitbekommen, dass Sie in irgendeiner Weise für Unruhe sorgen oder die Abläufe in unserem Haus stören, werde ich nicht zögern, zum Hörer zu greifen und dieses Verhältnis aufzulösen. Sie wissen selbst, was das für Sie bedeuten würde.«

Er nickte demütig, obwohl er es streng genommen nicht wusste. Wahrscheinlich würde er noch einmal vor dieser griesgrämigen Richterin erscheinen müssen.

»Gut«, sagte sie mehr zu sich selbst und warf einen Blick auf die Uhr. »Sie fangen heute im Garten an. In unseren Beeten hat sich Unkraut angesammelt, seit Anton, unser Gärtner, im Krankenstand ist. Außerdem muss die Terrasse mal wieder gefegt werden.« Sie musterte ihn. »Haben Sie Arbeitskleidung dabei?«

Leo schüttelte den Kopf. Er hatte sich darauf eingestellt, Mensch ärgere dich nicht mit tattrigen Omis zu spielen und Rollis durch die Flure zu schieben. Aber scheinbar war der Pflegenotstand doch nicht so groß.

»Sie können mal in der Wäscherei nachfragen. Es gibt sicher noch etwas in Ihrer Größe.«

Mit Grauen dachte er an die roten Kittel, in denen hier jeder herumlief, und schüttelte den Kopf.

»Danke, das geht schon.«

Gemeinsam liefen sie einen gespenstisch leeren, lindgrün gestrichenen Flur entlang, an dessen Wänden Handläufe aus Holz angebracht waren. Unter seinen Schuhen quietschte der Linoleumboden, und es roch nach Pfefferminztee, Kaffee und Krankenhaus.

»Die meisten Senioren sind noch beim Frühstück«, sagte Barbara Simminger, als sie an einem Raum vorbeikamen, aus dem gedämpftes Gemurmel und das Klappern von Geschirr drang. Eine junge Pflegerin schob eine Frau im Rollstuhl durch die Tür. Ihr Mund stand offen, ihr Blick war starr. Leo lief ein Schauer über den Rücken.

»Guten Morgen, Frau Baumann«, sagte Barbara Simminger laut und deutlich und legte ihr liebevoll die Hand auf die Schulter, die sich spitz und knochig unter einem dünnen Strickjäckchen abzeichnete.

Die Frau im Rollstuhl antwortete nicht, blickte nur apathisch vor sich hin. Er fragte sich, ob hinter diesen leblosen Augen noch jemand da war oder ob die Pflegerin eine leere Hülle durch die Gegend schob.

»Frau Baumann ist unsere älteste Bewohnerin.« Mit energischen Schritten lief sie weiter. »Sie wird 100 im August. Ihre Angehörigen planen gerade eine große Party in unserem Garten.«

Leo hatte Schwierigkeiten, sich das Gespenst im Rollstuhl auf einer Party vorzustellen.

»Wir haben in unserem Haus pflegebedürftige Bewohner wie Frau Baumann, aber auch rüstige Senioren, die in eigenen Apartments wohnen und sich größtenteils selbst versorgen«, erklärte sie. »Diese Wohnungen befinden sich im obersten Stock.«

Leo nickte, weil er keine Ahnung hatte, was er sonst machen sollte. Immerhin ging diese kleine Hausführung von seiner Zeit ab. Noch 99 Stunden und 45 Minuten, spottete eine sarkastische Stimme in seinem Kopf.

»Stationszimmer, Umkleide«, sagte sie mit vagen Handbewegungen nach rechts und links, »und der Pausenraum. Dort gibt es einen Kaffeeautomaten und einen Kühlschrank für die Mitarbeiter. Wenn Sie länger als sechs Stunden arbeiten, steht Ihnen eine halbstündige Pause zu. Die wird Ihnen natürlich nicht angerechnet.«

Im Stechschritt lief sie weiter, vorbei an Türen, an denen Namensschilder und Blumenmotive prangten. Leo musste sich beeilen, um hinterherzukommen.

»Hier wohnt übrigens Herr Schäfer, der Herr, den Sie vorhin kennengelernt haben. Er ist mit sechzehn Jahren am längsten bei uns.«

Leo stutzte.

»Ich dachte, er ist hier auf Kur?«

Ein fast mitleidiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Herr Schäfer hat Demenz. Er packt jeden Tag seinen Koffer und wartet auf seine Frau. Die ist aber schon vor über zehn Jahren gestorben.«

»Aber Sie haben doch zu ihm gesagt …«

»… dass er im Speisesaal warten soll, bis sie ihn abholt?« Barbara Simminger nickte. »Das ist leider die einzige Möglichkeit, ihn von dort wegzubekommen. Er sitzt sonst bis heute Abend dort.«

»Also lügen Sie ihn an.«

Sie blieb stehen und musterte ihn, ohne eine Miene zu verziehen.

»Schließen Sie die Augen.«

»Was?«

»Schließen Sie die Augen«, wiederholte sie. Widerwillig kam er ihrer Forderung nach. »Und jetzt öffnen Sie sie wieder, und stellen Sie sich vor, dass Sie nicht wissen, wo Sie sind. Sie wissen nicht, wer ich bin, Sie wissen nicht, wer Sie sind. Sie haben Angst, fühlen sich verloren. Und jetzt sagt Ihnen jemand – den Sie ebenfalls nicht kennen – dass das hier Ihr Zuhause ist. Dass Sie hier leben. Dass Sie nirgendwo anders hinkönnen. Und dass alles, was Sie zu wissen glauben, Quatsch ist.« Sie machte eine kurze Pause. »Wie würden Sie sich fühlen, Herr Maywald?«

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

»Wir lassen Herrn Schäfer die Wahrheit, in der er sich wohlfühlt.«

Die Wahrheit, in der er sich wohlfühlt. Vielleicht war Gartenarbeit am Ende doch das kleinere Übel, dachte Leo und trat spürbar erleichtert ins Freie.

Feli

Der Boiler funktionierte wieder. Dafür hatte sie jetzt ein quietschendes Rad, das, zusammen mit ihrem geprellten Steißbein, dafür sorgte, dass die Wut auf diesen Vollpfosten auch zwei Stunden später nicht abgeebbt war. Rostkiste hatte er ihr Fahrrad genannt. Rostkiste! Und dann hatte er ihr 100 Euro in die Hand gedrückt, als wäre sie eine Straßenhure. Ohne ihre Jacke hätte er ihr das Geld wahrscheinlich in den Ausschnitt gestopft. Angewidert verzog sie das Gesicht und schob ihr Rad in den Ständer. Es war eine Rostkiste, keine Frage. Aber es war Großvaters Rostkiste. Das Rad, das jahrzehntelang unter seinem Gewicht geächzt hatte, mit dem er sonntags frische Brezen geholt und sie als Kind um den Starnberger See gefahren hatte. Sie liebte jeden Kratzer daran, jede Delle, jeden Lackschaden. Mit einem wehmütigen Lächeln tätschelte sie den Sattel, während ihr Blick über den Parkplatz schweifte und sich schlagartig verfinsterte. Da stand er, der schwarze Porsche, glänzte wie ein frisch gestriegelter Hengst in der Sonne. Es kam häufiger vor, dass protzige Autos auf dem Parkplatz standen. Starnberg war eine reiche Gegend, und das Haus lockte nicht nur mit einem tadellosen Ruf, sondern auch mit der perfekten Lage. Zum Seeufer war es zu Fuß nur eine Viertelstunde, und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichte man in 30 Minuten den Münchner Hauptbahnhof. Ob er der Enkel von Frau Stammheim war? Der Fußballprofi, von dem sie manchmal erzählte? Mit seiner riesigen Sonnenbrille, dem 1000-Watt-Lächeln und dieser perfekt unperfekten Frisur hatte er ein wenig so ausgesehen. Ganz zu schweigen von der Aura der Arroganz, die ihn umgeben hatte. Begegnet war sie dem Kerl jedenfalls noch nie, aber das hatte nichts zu bedeuten. Es gab Senioren, die täglich Besuch bekamen, die regelmäßig zu Familienfeiern und Ausflügen abgeholt wurden, und es gab andere, die mit viel Glück gelegentlich einen Anruf oder eine Postkarte erhielten, weil ihre Angehörigen weit weg wohnten, kein Interesse hatten oder nicht in den Spiegel blicken wollten. Der Spiegel, der ihnen zeigte, was auch sie einmal sein würden. Alt, grau, tattrig, verwirrt. Vergesslich. Vergessen. Manchmal fragte Feli sich, wer sie später einmal besuchen würde, wenn ihre Beine sie nicht mehr trugen, wenn ihr Gehirn kratergroße Löcher hatte und ihre Finger zu steif waren, um ein Glas zu halten. Wer ihren Rollstuhl durch den Garten schieben, ihr die Zeitung vorlesen würde. Wer ihr zuflüstern würde, dass es ein schöner Tag sei, auch wenn es nicht stimmte. Heute hätte sie so jemanden definitiv gut gebrauchen können. Zum zweiten Mal an diesem Morgen schlüpfte sie in die weiße Hose und den roten Pflegekittel, band ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz und verließ die Umkleide. Auf dem Flur war es ruhig. Die meisten Senioren nahmen um diese Zeit am Gedächtnistraining teil. Feli musste ihre Großmutter jedes Mal überreden, hinzugehen. Martha konnte noch immer ganze Gedichte auswendig und war regelrecht beleidigt, wenn man sie aufforderte, Sprichwörter zu vervollständigen oder grüne Gemüsesorten aufzuzählen.

»Ah, du bist zurück«, sagte Barbara, als Feli an ihrem Büro vorbeikam, das einen Spalt offen stand. »Hat alles geklappt?«

»Ja, der Boiler funktioniert wieder. Danke noch mal.«

Barbara machte eine wegwerfende Handbewegung und blickte seufzend auf die Dienstpläne. »Ich frage mich gerade wirklich, wie wir die nächsten Wochen überstehen sollen. Claudia fällt noch den gesamten April aus, und Kristin bekommt die Weisheitszähne raus.«

»Schon wieder? Wie viele hat sie? Zwölf?«

Barbara ließ sich nicht zu einem Lächeln hinreißen, aber es war immer wieder erstaunlich, wie viel ein Mund sagen konnte, wenn er nichts sagte.

»Leo Maywald habe ich übrigens in den Garten geschickt. Da ist er erst einmal beschäftigt. Vielleicht siehst du später mal nach ihm.«

Das hatte sie ganz vergessen. Aber es passte irgendwie zu diesem Tag, dass sie sich nun auch noch mit einem aufsässigen Teenager herumschlagen musste.

»Ach, und gib ihm bitte das hier.« Sie reichte ihr ein Blatt Papier. »Das ist sein Stundenkontrollblatt. Er muss es von dir abzeichnen lassen, wenn er morgens kommt, und natürlich auch, wenn er wieder geht.«

Feli schielte auf die leere Tabelle.

»Und was ist, wenn ich Spätschicht habe?«

»Die nächsten zwei Wochen würde ich dich einfach für die Frühschicht einteilen, wenn das okay ist. Danach ist Kristin wieder da und kann übernehmen.«

Feli war einverstanden. Im Gegensatz zu ihren Kollegen mochte sie die Frühschicht sowieso am liebsten. Es fiel ihr zwar nicht leicht, morgens um fünf Uhr aus dem Bett zu kriechen, aber auf diese Weise hatte sie die Nachmittage frei und konnte mehr Zeit mit ihrer Großmutter verbringen. Martha hatte sich gut eingelebt, seit sie vor drei Monaten ihr Apartment im Seeblick bezogen hatte, aber Feli wusste, dass sie ihr altes Leben vermisste. Die wöchentlichen Besuche auf dem Münchner Viktualienmarkt, die Spaziergänge am Starnberger See, die Ausflüge mit dem Fahrrad. Sie vermisste ihr Haus mit den grünen Fensterläden, den Magnolienbaum im Garten, die Gemüsebeete und die schiefe Holzbank vor der Tür. Und mehr als alles andere vermisste sie Felis Großvater, der vor zwei Jahren ganz plötzlich gestorben war. »Je älter man wird, umso mehr sind die schönsten Erinnerungen auch gleichzeitig die traurigsten«, hatte sie einmal zu ihr gesagt.

Leo

Noch 98 Stunden

»Was machen Sie denn da?«

Leo schob sich die Kopfhörer von den Ohren und blinzelte gegen die Sonne an. Eine alte Dame hatte sich in sein Blickfeld geschoben und musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis. Sie hatte silbrig weißes Haar, und ihr zierlicher Körper steckte in einem Jogginganzug aus dunkelblauem Frottee.

»Bitte?«

»Was Sie da machen?«

»Unkraut jäten«, stöhnte Leo und wischte sich einen lästigen Schweißtropfen vom Lid. Es war ein kühler, aber sonniger Apriltag, und sein Longsleeve klebte ihm wie eine zweite Haut auf dem Körper, nachdem er die Terrasse gefegt hatte. So viel geschwitzt hatte er das letzte Mal beim Crossfit, und er befürchtete, dass ihm ein ähnlich schmerzhafter Muskelkater bevorstand. Seine Arme waren jetzt schon schwer wie Blei, und sein Rücken fühlte sich an wie eine Betonwand. »Warum reißen Sie dann den Rhabarber raus?«

Leo runzelte die Stirn, und ihr knorriger Zeigefinger deutete auf das Häufchen Gartenabfälle zu seinen Füßen.

»Das ist … kein Unkraut?«

Statt einer Antwort schenkte sie ihm einen mitleidigen Blick. Leo rechnete fest damit, dass sie jeden Moment einen Satz nachschieben würde, der ein geseufztes »Junge« enthielt. So wie seine Großmutter früher. Was hast du dir nur wieder dabei gedacht, Junge …

»Pflanzen Sie sie schnell wieder ein«, holte ihn die alte Dame zurück ins Jetzt. »Ich passe so lange auf!« Irritiert stellte er fest, dass sie in eine Art Agentenmodus fiel und ihren Kopf wie ein Radar in alle Richtungen bewegte. »Na, machen Sie schon!«

Stirnrunzelnd bückte er sich, um die Stauden einzusammeln. Seine Hände waren voller Erde, und er konnte sich nicht vorstellen, dass die Halbmonde unter seinen Nägeln jemals wieder weiß sein würden. Ganz zu schweigen von seinem Shirt. Freudlos betrachtete er die braunen Schlieren, die ein scheußliches Batikmuster ergaben. Er sah aus wie eine Sepia-Version der Milka-Kuh. Vielleicht hätte er sich doch einen dieser Kittel leihen sollen.

»Versuchen Sie es mit Zitrone. Das hilft immer.«

»Danke für den Tipp.«

Den ich an diesem Tag schon zum zweiten Mal höre. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte das Gesicht der Radfahrerin vor seinen Augen auf. Es wurmte ihn immer noch, dass sie das letzte Wort behalten hatte. Ich will dein Geld nicht. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Vor allem keine Frau.

»Was haben Sie ausgefressen?«

Die alte Dame hatte es sich auf einer Gartenbank bequem gemacht und beobachtete ihn von dort aus mit unverhohlener Neugier. Sie trug Filzhausschuhe mit Fellkragen, aus denen blasse Knöchel ragten.

»Wer sagt, dass ich was ausgefressen habe?«

»Na, der neue Gärtner sind Sie ganz bestimmt nicht«, drang es leicht spöttisch aus ihrem Mund, während sie das armselige Häufchen Rhabarberstauden musterte.