Liebe, Zimt und Zucker - Julia Hanel - E-Book
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Liebe, Zimt und Zucker E-Book

Julia Hanel

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Beschreibung

Wenn das Leben dir nur schwarzen Kaffee gibt, frag nach Zimt und Zucker! Marit zieht für ihre große Liebe extra von Hamburg in die Kleinstadt. Doch dann verlässt Tobias sie von einem Tag auf den anderen, und Marit steht vor dem Nichts. Spontan nimmt sie einen Job im Coffeeshop an, was eigentlich so gar nicht ihr Ding ist. Und während sie sich mit ihrem dauerentspannten Kollegen Moritz und den anderen skurrilen Kleinstadtbewohnern herumschlägt, tritt plötzlich ein ganz neuer Mann in ihr Leben. Als sie im Coffeeshop einen USB-Stick findet, macht sie sich auf die Suche nach dessen Besitzer. Mit Julian hat sie zunächst nur per E-Mail Kontakt, doch Marit merkt, dass sie mehr möchte. Von Julian, vom Leben.

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Das Buch

Für ihre große Liebe zieht Marit von Hamburg in die Kleinstadt. Doch dann wird sie von einem Tag auf den anderen sitzengelassen. Zähneknirschend nimmt Marit einen Job im Coffeeshop an, wo sie sich mit ihrem dauerentspannten Kollegen Moritz und den anderen skurrilen Kleinstadtbewohnern herumschlagen muss. Als sie im Coffeeshop einen USB-Stick findet, macht sie sich auf die Suche nach dessen Besitzer. Julian ist nicht nur sehr charmant, sondern hat auch noch Sinn für Humor. Aus einer E-Mail werden viele, und Marit merkt, dass sie mehr möchte. Von Julian, vom Leben. Aber kann das Knistern zwischen den Zeilen auch im wirklichen Leben bestehen?

Die Autorin

Julia Hanel, geboren 1987 in Ansbach, studierte Germanistik in Bamberg und arbeitete danach als Redakteurin in Fulda. Heute lebt und arbeitet sie in Würzburg.

Julia Hanel

Liebe, Zimt und Zucker

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1285-9

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016

Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, München

Titelabbildung: © avian/shutterstock (Kaffeebecher); © whiteisthecolor/shutterstock (Mann auf dem Becher); © Lyolya/shutterstock (Frau auf dem Becher)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Harald, Petra, Laura, Nina und Lucas.Weil ihr da seid, wenn das Leben mal nur schwarzen Kaffee bietet.

Prolog

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo J. A.,

ich habe etwas, das Ihnen gehört. Und bevor Sie jetzt in einem Anflug von Panik die Polizei rufen: Das ist keine anonyme Erpressermail, sondern die Folge von zwei sehr vollen Gläsern Weißwein und einer seit Jahrzehnten andauernden Vorliebe für Tatort. Jetzt, wo ich diesen Satz endlich mal aussprechen konnte, verrate ich Ihnen, warum ich Ihnen wirklich schreibe:

Ich habe heute einen USB-Stick im Coffeeshop gefunden und vermute, dass er Ihnen gehört. Da ich noch nie in meinem ganzen Leben ein exklusiveres Exemplar gesehen habe (Edelstahl! Gravur!) und er einige Ordner mit persönlichen Dokumenten enthält, gehe ich davon aus, dass Sie ihn wiederhaben möchten. (Spätestens jetzt können Sie sicher sein, dass ich kein Erpresser bin, denn ich erwähne keine Gegenleistung.) Sie können ihn morgen zwischen 8 und 16 Uhr im Coffeeshop abholen.

Übrigens: Die Fotos, die Sie in Prag gemacht haben, gefallen mir sehr gut. Ich würde Ihnen allerdings raten, das nächste Mal eine kürzere Belichtungszeit zu nehmen, wenn die Sonne scheint (das wäre bei Ihren Toskana-Fotos auch klug gewesen).

Mit freundlichen Grüßen

M. J. (Ich kann das auch )

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo Frau Jansen,

ich muss Sie leider enttäuschen: Sie können das nicht (Ihre Mailadresse ist, was Ihren Namen anbelangt, ein kleines bisschen aussagekräftiger als meine. Einen guten Erpresser würden Sie also eher nicht abgeben). Aber ich verstehe, was Sie meinen. Irgendwann möchte ich auch mal in ein Taxi steigen und »Folgen Sie diesem Wagen« schreien.

Vielen Dank, dass Sie meinen USB-Stick gefunden und aufbewahrt haben – auch wenn ich mich gerade frage, woher Sie meine Mailadresse haben. Ich habe ihn bereits schmerzlich vermisst, weil ich darauf einige sehr wichtige persönliche und berufliche Dokumente abgespeichert habe – und Ihnen gerade wahrscheinlich einen Anlass gebe, meine Ordner noch ein wenig akribischer zu durchforsten.

Wenn Sie mir noch kurz sagen, in welchem Coffeeshop Sie ihn gefunden haben, hole ich ihn morgen dort ab. Es ist schon eine Weile her, dass ich ihn verloren habe, insofern kommen da einige in Frage.

Mit freundlichen Grüßen

J. A.

PS: Vielen Dank für die fachmännische Einschätzung meiner Urlaubsfotos. Was hält Ihr geschultes Auge von der Holzskulptur, die ich in Kapstadt gekauft habe? (Ordner: »Südafrika 2015«) Zwei sehr volle Gläser Wein – ROTWEIN – und ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie tatsächlich einen Elefanten darstellt.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo J. A.,

es ist eindeutig KEIN Elefant (Dazu brauchen Sie zwei Gläser Wein?). Ich finde das NASHORN trotzdem sehr hübsch. Wobei ich mich eher für die Giraffe entschieden hätte, die Ihre Freundin in den Händen hält. Geben Sie es zu, Sie haben sie zum Elefanten-Nashorn überredet und zweifeln jetzt an Ihrer Entscheidung! Ihre Mailadresse stand übrigens auf der Abholbestätigung für Ihre Urlaubsfotos, die Sie ebenfalls abgespeichert haben – wahrscheinlich, um sie vor Dienstende noch schnell im Büro auszudrucken. Zumindest würde ich das so machen.

Viele Grüße

Marit Jansen

PS: Es ist der Coffeeshop in Altberg. Gibt nur einen.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo Frau Jansen,

an diesen Coffeeshop erinnere ich mich gut. Leider ist er nicht gerade um die Ecke. Würde es Ihnen etwas ausmachen, noch ein paar Tage länger auf meinen Stick aufzupassen? Vielleicht bis Freitag? Da wäre ich beruflich in der Gegend und könnte vorbeikommen …

VG

J. A.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo J. A.,

Freitag ist kein Problem, es gibt ja noch genügend Ordner zu erkunden! Zwischen 8 und 16 Uhr bin ich da.

Viele Grüße

Marit Jansen

PS: Ist Ihnen bewusst, dass Ihr Name etwas sehr Positives an sich hat – vor allem, wenn man die Punkte weglässt?

Von: [email protected]

An: [email protected]

Hallo Frau Jansen,

wohnen Sie in diesem Coffeeshop, oder trinken Sie nur sehr oft sehr gerne und sehr lange Kaffee? Ich werde um die Mittagszeit vorbeikommen, sobald mein Termin zu Ende ist.

Übrigens ist das nicht meine Freundin auf den Fotos, sondern lediglich eine sehr gute (und zufälligerweise sehr attraktive) Sandkastenfreundin, von der ich lange Zeit gehofft habe, sie würde irgendwann einmal als Frau an meiner Seite enden. Aber diesmal habe ich es mir scheinbar mit einer Nashorn-Skulptur versaut. Mal sehen, was der nächste Urlaub bringt.

Viele Grüße und bis Freitag

J. A., es ist mir aufgefallen (das ist witzig, oder?).

1.

Eine Woche zuvor

»Cappuccino und Expresso, bitte.«

Wer in einem Coffeeshop arbeitet, lernt fürs Leben: 86,9 Prozent aller Menschen können kein Italienisch.

»Für hier oder zum Mitnehmen?«

»Zum hier«, antwortet der Mann auf der anderen Seite des Tresens.

86,9 Prozent können weder Italienisch noch Deutsch.

»Klein, mittel oder groß?«

»Normal.«

»Also klein?«, hake ich nach.

»Na, normal.«

Er sieht mich verständnislos an, und ich zwinge mich zu einem freundlichen Lächeln, einem, bei dem man sogar meine Zähne sieht. Routiniert schiebe ich eine kleine weiße Tasse unter den Vollautomaten, der wuchtig vor mir thront. So routiniert, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht. Als wäre es meine Berufung, kleine weiße Tassen unter Vollautomaten zu stellen.

»Das ist doch aber der kleine«, bemerkt der Kunde grimmig, während sein wurstiger Zeigefinger auf die brummende Maschine deutet, aus der gerade ein brauner dünner Strahl in die Tasse schießt und kleine Dampfwolken dabei erzeugt. Er ist groß und kräftig und sieht in seinem neongelben T-Shirt aus, als hätte er eine ganze Packung Textmarker zum Frühstück vertilgt.

»Ja, Sie haben normal gesagt.«

»Ich will aber den in der größeren Tasse, den mittleren!«

Er bläst die Backen wie ein Hamster auf, während auf seiner Stirn eine feine Ader hervortritt.

»Normalist immer klein«, erkläre ich geduldig – zum gefühlten dreiundvierzigsten Mal in dieser Woche und füge ein gemurmeltes »zumindest bei uns« hinzu, weil mir diese Regel selbst nicht ganz einleuchtet. Aber wer längere Zeit in einem Coffeeshop arbeitet, lernt schnell, dass der Ausdruck normal so ziemlich alles heißen kann.

»Bei mir heißt normal aber mittel.«

»Tut mir leid, aber bei uns bedeutet normal immer klein.«

»Dann müssen Sie das schon hinschreiben«, wettert er.

Ich kämpfe gegen den Drang an, »Expresso« zu sagen, dass es keinen Sinn macht, unsere Kunden darauf aufmerksam zu machen, dass normal bei uns klein bedeutet, denn dann müsste ich ihm auch gleich erklären, dass normal nicht einmal auf unserer Karte steht, und dann würde er mir womöglich empfehlen, normal in die Karte aufzunehmen, und ich müsste diesen Vorschlag respektvoll ablehnen und wieder mein Zahnpasta-Lächeln aufsetzen, das mir erschreckenderweise von Tag zu Tag leichter fällt.

»Das gebe ich gern an meine Chefin weiter.«

So gern, wie Menschen Marder unter ihren Autos hervorspringen sehen.

»Expresso« scheint für den Augenblick besänftigt, legt den passenden Betrag an Münzen auf den Tresen und balanciert die beiden Tassen ungelenk an Tisch drei, wo seine Frau geradezu ekstatisch mit dem Zuckerstreuer über ihren Cappuccino herfällt. Wahrscheinlich wünscht er sich in diesem Moment, sie würde sich nur einmal in ihrem Leben so auf ihn stürzen.

Ich kehre den beiden den Rücken zu und räume das Geschirr in die Spülmaschine, das mein Kollege Moritz zu so instabilen Türmchen gestapelt hat, dass ein einziger falscher Handgriff alles zum Einsturz bringen könnte. Ein bisschen wie beim »Jenga«-Spielen. Und wenn’s schiefgeht, wie bei einem Polterabend.

»Da fehlt noch Ma-ze-do-nia.«

Ich weiß schon, bevor ich mich umdrehe, wer am Tresen steht und die Silben dieses Wortes so lange dehnt, als bestünden sie aus extra elastischem Kaugummi. Als ich nicht reagiere und fieberhaft überlege, was ein Balkanstaat mit Cappuccino zu tun haben könnte, bringt »Expresso« wieder den Wurstfinger ins Spiel und deutet auf die Coffee-Flavour-Flaschen, die in allen erdenklichen Farbtönen in einer akkuraten Reihe hinter mir auf einem Regal stehen.

»Das da«, murrt er ungeduldig.

»Meinen Sie die Flavours?«

Als mir das Wort »Flavours« über die Lippen kommt, rümpft er verdrießlich die Nase, als hätte er eine Allergie gegen die englische Sprache.

»Ja, meine Frau will dieses Mazedonia in ihren Cappuccino.«

Mein Blick wandert zu der Ansammlung von Flaschen, vorbei an Vanille, Haselnuss, Amaretto, Karamell, Irish Cream, Tiramisu und … Macadamia.

»Meinen Sie Macadamia?«

»Hab ich doch gesagt.«

Nein, haben Sie nicht, möchte ich ihm ins Gesicht schreien. Stattdessen antworte ich mit ruhiger Stimme, dass das einen Aufpreis von 20 Cent macht, während das Lächeln auf meinem Gesicht so anstrengend wird, dass ich darüber nachdenke, mir in Zukunft eine Heath-Ledger-Gedächtnisfratze um die Mundwinkel zu malen und als Joker aufzutreten. Seine wurstigen Finger schieben wieder Münzen über den Tresen, bevor er mit Argusaugen beobachtet, wie ich zweimal auf den Spender drücke und ein goldbrauner Strahl Macadamia-Flavour in die Tasse seiner Frau schießt. Das Aroma steigt mir angenehm in die Nase und lässt mich an frisch gebackenen Nusskuchen denken. Er brummt etwas, das wie »Danke« klingt, und trägt seine Tasse davon.

»Einmal das Angebot der Woche. Diesen Cappuccino Tiramisu.«

Eine ältere Dame mit grauer Föhnwelle lächelt mich höflich an und erinnert mich dabei ein wenig an meine Großmutter aus Husum, die ich nur von Fotos kenne, weil sie vor meiner Geburt an Einsamkeit gestorben ist. So erzählte mir jedenfalls mein Vater die Geschichte, als ich ein kleines Mädchen war, aber ich glaube, es lag eher am Alkohol, den sie während der Einsamkeit getrunken hat.

Ich habe die Dame mit der Föhnwelle noch nie zuvor gesehen, was nicht allzu ungewöhnlich ist, da gerade einmal zwei Wochen vergangen sind, seit ich zum ersten Mal Milch hinter diesem Tresen geschäumt habe – seit ich Kafka gegen Kaffee getauscht habe. Dennoch habe ich mich bereits an viele Gesichter der Menschen gewöhnt, die hier täglich ein und aus gehen. Der Anzugträger, der ein großes Glas Wasser zum Espresso bestellt, es dann aber nie anrührt, die langhalsige Frau, die immer viermal auf den Süßstoffspender drückt, die Schüler, die verlegen kichern, wenn sie Amaretto-Flavour ordern, weil sie denken, er enthalte Alkohol, die Dame im Hosenanzug, die immer schwarzen Kaffee bestellt und ihn heimlich mit Schnaps aus ihrem Flachmann streckt.

»Macht dann bitte 2,20.«

»Das ist aber günstig«, murmelt die alte Dame überrascht und kramt mit zartrosa lackierten Nägeln in einer altmodischen Geldbörse aus Krokodilleder, die größer ist als die Mehrheit meiner Handtaschen. Nachdem sie gefühlte fünf Minuten gekramt hat, drückt sie mir zwinkernd drei Euro in die Hand und murmelt etwas, das wie »Trinkgeld« klingt und wohl auch so viel bedeuten soll.

»Sie verdienen ja sicher auch nicht die Welt«, fügt sie mit dem gutmütigen Zwinkern älterer Damen hinzu und verstaut ihre Riesengeldbörse in einer Tasche mit goldener Schnalle.

Acht Euro fünfzig die Stunde, und wenn’s gut läuft Trinkgeld. Aber das sage ich nicht. Stattdessen kippe ich den Rest der Milch in das kleine Metallkännchen und drehe die Düse voll auf. Ich mag das Zischen, das sich wenige Sekunden später einstellt und die Milch heiß und cremig werden lässt. Es ist eine Wissenschaft für sich, den perfekten Schaum zu kreieren. Einen Schaum, der so fest ist, dass er wie geschlagene Sahne aussieht. Wie frisch gefallener Schnee.

»Ist das eigentlich ein Beruf, was Sie da machen?«, fragt die ältere Dame skeptisch, während ich den Schaum auf ihren Cappuccino gieße. Ich nicke bestätigend, doch das scheint sie nicht zu befriedigen.

»Dann machen Sie den ganzen Tag Kaffee? Von morgens bis abends?«

Ihre Skepsis hat sich in Fassungslosigkeit verwandelt. Ich nicke ein zweites Mal und hoffe, die entwürdigende Fragestunde zur Trostlosigkeit meines Daseins auf diese Weise beenden zu können.

»Sie haben wohl keinen Schulabschluss?«, fragt sie mit bedauernder Stimme, während sich echtes Mitleid in ihren von tiefen Falten umgebenen Augen spiegelt.

»Doch, doch, ich habe einen Schulabschluss«, erkläre ich ihr mit hochroten Wangen. »Sogar einen Hochschulabschluss«, füge ich kleinlaut hinzu und zerstöre ihr Weltbild nun endgültig.

»Und warum arbeiten Sie dann in diesem … Kaffeegeschäft?«

Gute Frage. Warum arbeite ich, Marit Jansen, 28 Jahre, frischgebackene Diplom-Literaturwissenschaftlerin mit einem Master in Anglistik, in einem »Kaffeegeschäft« in der Provinz? Warum sitze ich in diesem Moment nicht vor einem Stapel Bücher in der Bibliothek meiner Hamburger Universität und schreibe an den ersten Seiten meiner Promotion über die Darstellung der Liebe in Kafkas Romanen? Lange Geschichte. Sie beginnt mit Zimtschnecken und endet mit einer Tür, die sich vor meiner Nase schließt.

»Na ja, es macht mir einfach Spaß.«

Genauso viel wie Fensterputzen, Impfungen und Anträge ausfüllen.

Immerhin lässt sie mich in Ruhe und greift nach ihrem Cappuccino.

»Und das Tiramisu?«

»Das ist im Cappuccino.«

Ihre dünnen Augenbrauen heben sich fast bis zum Haaransatz. Sie starrt erst mich, dann die Tasse an.

»Sie haben das Tiramisu in meinen Cappuccino … gekippt?«

»Äh, ja«, erwidere ich verständnislos, während ihr die Freundlichkeit wie eine Maske vom Gesicht zu rutschen scheint.

»Und wie soll ich es jetzt essen?«

Ich erkläre ihr geduldig, dass mit dem Tiramisu ein Flavour für den Cappuccino gemeint ist – und was ein Flavour ist –, und sie erklärt mir im Gegenzug, dass sie dachte, es handle sich um ein richtiges Stück Tiramisu und das nun sehr enttäuschend für sie sei. Dabei rümpft sie genauso verdrießlich die Nase wie der Mann mit den Wurstfingern.

»Das müssten Sie wenigstens hinschreiben«, bemerkt sie eingeschnappt, bevor sie mir den Rücken kehrt, wahrscheinlich auf Lebenszeit. Immer alles hinschreiben.

2.

Mein Leben war nicht immer so, würde es in einem kitschigen Spielfilm heißen. Und dann wäre da eine Frau, die einen sehnsuchtsvollen Blick aufsetzen und sich ihre Jugendjahre in Sepia vor Augen führen würde. Dazu würden sie »Mit 17 hat man noch Träume« von Peggy March spielen und eine Nahaufnahme von meinem Gesicht zeigen. Dabei bin ich nicht mal 17. Ich kenne nur keinen Song, in dem jemand 28 ist. 28 ist nicht gerade das Alter, über das man Songs schreibt. Zu nah an der 30, zu weit weg von der 20. Irgendwie unbedeutend.

So unbedeutend wie mein Job im einzigen Coffeeshop, den die Kleinstadt Altberg zu bieten hat. Eine Stadt, die so aufregend ist wie ihr Name, in der es noch Metzgereien gibt, die »Metzgerei« heißen, und Bäckereien, auf deren Hausfassaden »Bäckerei« steht. Und wenn darüber gesprochen wird, was in der Zeitung steht, weiß jeder, in welcher, denn es gibt nun mal nur eine.

Eine Stadt, die sich als Kulisse für Hollywoodfilme anbieten würde, in denen versnobte Großstadtmädchen auf der Suche nach dem nächsten Starbucks mit Highheels unbeholfen über das Kopfsteinpflaster stolpern und sich anschließend in den Dorf-Cowboy verlieben, nebenbei noch ihr Leben hinterfragen und sich von ihrem Großstadt-Verlobten trennen, weil sie erkennen, was im Leben wirklich zählt.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Leben so ein Film ist – bis mir einfällt, dass ich, abgesehen davon, dass ich ebenfalls aus einer Großstadt stamme, nichts mit diesen Mädchen gemeinsam habe. Keine Highheels, kein Dorf-Cowboy, kein Großstadt-Verlobter. Und schon gar keine Erkenntnis, was im Leben wirklich zählt.

In dieser Stadt hat meine Chefin Heike vor über zehn Jahren einen kleinen Coffeeshop eröffnet und ihn in einem sehr originellen Moment Coffeeshop getauft. Er liegt mitten in der Altberger Innenstadt, in einem hübschen alten Fachwerkhaus mit kohlschwarzen Balken, direkt am Marktplatz, und ist in etwa so groß wie eine öffentliche Toilette. Wer von außen durch die deckenhohen Schaufenster hineinsieht, entdeckt fünf kleine Holztische, um die sich Stühle und Sessel in den verschiedensten Größen, Formen und Farben gruppieren, die aussehen, als hätte man sie aus sämtlichen Flohmärkten der Region zusammengetragen. Schnörkelige pastellfarbene Rosen blühen auf einer Tapete, die zum Set einer Jane-Austen-Verfilmung gehören könnte. Ein Einrichtungsstil, der das große Glück hat, inzwischen als retro-hip zu gelten, und nur darauf hoffen kann, dass dieser Trend niemals endet.

Ausgefallene Kaffeekreationen oder Modegetränke, die »Soja«, »Chai« oder »Matcha« im Namen tragen, sucht man im Coffeeshop in Altberg vergebens. Das Angebot ist überschaubar und »den örtlichen Ansprüchen angepasst«, wie Heike es formuliert hat, als sie mich an meinem ersten Tag angelernt hat. Mit den Abläufen war ich schnell vertraut, denn Heikes Laden ist nicht der erste Coffeeshop, in dem ich arbeite – nur der erste, in dem ich nicht ganz freiwillig gelandet bin.

Während meines Studiums in Hamburg habe ich sechs Jahre lang montags und mittwochs in der Kaffeebohne gejobbt, einem kleinen Café im Schanzenviertel mit windschiefen Holztischen und löchrigen Ohrensesseln, das vor allem Studenten angelockt hat, weil man dort im Gegensatz zu Starbucks keinen Kredit aufnehmen musste, um sich einen großen Frappuccino mit Sahne und Schokostreuseln leisten zu können. Außerdem gab es in der Kaffeebohne die besten Zimtschnecken der ganzen Stadt. Als wäre es gestern gewesen, sehe ich mich Bleche voller buttrig-weicher Zimtschnecken aus dem alten rostigen Backofen ziehen, die einen geradezu himmlischen Duft aus Zimt und Zucker verströmen und ein wohliges Lächeln auf jedes Gesicht zaubern, das durch die Tür kommt. Eines dieser Gesichter war das von Toby.

Es war ein Tag im April, einer, der dem schlechten Ruf dieses Monats alle Ehre machte und ein Wechselbad aus Sonne, Hagel, Blitz und Donner bot. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er sich klatschnass durch die Tür schob, den Regen aus den kurzen, blonden Haaren schüttelte und an seinem hellen Hemd zog, das sich wie eine zweite Haut um seinen Körper gelegt hatte. Mir war sofort klar, dass er nicht aus Hamburg kommen konnte, denn um diese Jahreszeit ohne Schirm und Jacke in der Hansestadt unterwegs zu sein, war, als würde man den Wettergott herausfordern. Fröstelnd rieb er sich die Hände, und ich hätte fast so etwas wie Mitleid empfunden, wären da nicht diese riesigen Wasserlachen gewesen, die sich um seine Füße ausbreiteten. Während er die Getränkekarte betrachtete, sah ich mich nach Feierabend den Boden wischen. Aber als er dann schließlich an der Reihe war und mir ein kurzes, freundliches Lächeln schenkte, während ihm der Regen aus den Haaren lief, entlang der Stirn, seitlich am Auge vorbei, über die Wange und den Hals hinab, hätte ich den Boden plötzlich gern für ihn gewischt, für diese stahlblauen Augen, das starke Kinn und die kleine Narbe unter der Lippe. Es schien, als würde die Zeit für einen Moment stillstehen. Einen magischen Moment lang.

Er bestellte zwei der noch warmen Zimtschnecken, die ich Minuten zuvor aus dem Ofen gezogen hatte, und schenkte mir dabei ein flüchtiges Lächeln, das ich am liebsten fotografiert hätte. Aber es war so schnell wieder verschwunden, dass ich nicht einmal Zeit gehabt hätte, auf den Auslöser zu drücken.

»Ich störe deinen Schönheitsschlaf ja nur ungern, aber vielleicht könntest du ihn auf heute Nacht verschieben? Frau Bogner hätte ihren Cappuccino gern heute noch.«

Ertappt zucke ich zusammen. Moritz wirft mir einen Blick zu, der Thermalquellen gefrieren lassen würde – und die Erinnerungen an meine erste Begegnung mit Toby wie mit einem Schwamm wegwischt. Als ich nicht reagiere, deutet er wortlos auf eine Frau mit blonder Föhnwelle, die so stark geschminkt ist, dass sie aussieht, als hätte man Wachsmalkreiden auf ihrem Gesicht getestet. Sie dankt es ihm mit einem zustimmenden Blick – und straft mich mit einem abschätzigen Lächeln, das ihr Gesicht noch maskenhafter erscheinen lässt. Betreten schnappe ich mir das kleine Metallkännchen und fülle es zur Hälfte mit Milch.

»Klein, medium oder groß?«

»Wie immer«, antwortet sie übertrieben süßlich und sucht Moritz’ Blick, der hinter meinem Rücken Geschirr in die Spülmaschine einräumt. Auch wenn sie mindestens 25 Jahre älter sein muss als er, kommt es mir vor, als würde sie in diesem Moment ihr Revier markieren, und ich muss mich zwingen, nicht spöttisch aufzulachen.

»Und … was trinken Sie immer?«, frage ich geduldig, obwohl ich ihr am liebsten ins Gesicht schreien würde, dass sie den Titel »Treueste Kundin der Welt« gerne geschenkt haben kann, wenn sie mir nur sagt, in welcher Größe sie ihre verdammte Brühe trinken will.

»Medium«, höre ich Moritz hinter mir. »Frau Bogner trinkt ihren Cappuccino immer medium.«

Seine Stimme hat einen genervten Unterton, und ich bin mir sicher, dass er in diesem Moment seine Brauen übertrieben weit hochzieht – die gleiche Reaktion, die er gezeigt hat, als ich vor fast genau einer Woche zum ersten Mal vor ihm stand und dem misstrauischen Blick dieser dunklen Augen ausgesetzt war. Augen, die einen wie Pfeile durchbohren können und einem dabei das ungute Gefühl geben, eine lebendige Dartscheibe zu sein. Heike stellte mich ihm als neue Aushilfe vor, und ich konnte in seinem Gesicht lesen, dass sie mich keineswegs angekündigt hatte. Ich erinnere mich an das lautlose Pingpong ihrer Blicke, sein stummes »Was soll das?«, ihr beschwichtigendes »Ich erklär’s dir später«. Ich weiß nicht, ob »später« je stattgefunden und wie diese Erklärung am Ende ausgesehen hat. Ob Heike ihm erzählt hat, dass ich vor ihr Auto gelaufen bin, einen Koffer in der rechten, einen in der linken Hand, das Gesicht tränenüberströmt. Ob sie Moritz gesagt hat, was ich bei einer Tasse Tee in ihrem Wohnzimmer nur stockend hervorgebracht habe. Dass sich mein Freund, für den ich in diese Stadt ziehen wollte, plötzlich nicht mehr sicher ist, ob er mich noch liebt – dass ihm das scheinbar erst aufgefallen ist, als ich mit zwei Koffern vor seiner Tür stand. Dass ich nicht weiß, was ich machen soll und nicht einmal genug Geld habe, um mir ein Zugticket nach Hause zu kaufen.

»Genau so ist es«, holt mich Frau Bogners Stimme zurück ins Jetzt. »Medium. Wie ein gutes Rindersteak. Ihr Kollege weiß das.«

»Sie ist neu.«

Seine Worte sind weder versöhnlich noch verständnisvoll und fühlen sich wie eine verbale Ohrfeige an. Mit einem Grummeln im Bauch beobachte ich, wie Moritz ihr einen entschuldigenden Blick zuwirft, als wäre ich eine 16-jährige Praktikantin, die ihren ersten Tag hat.

Während ich den cremigen Milchschaum in die Tasse gieße, plaudert sie mit Moritz über das herrliche Herbstwetter und lacht immer wieder affektiert auf, wie die Hauptfigur einer Sitcom, die alle 30 Sekunden ihren Einsatz hat. Als ich ihr schließlich die Tasse über den Tresen schiebe, zieht sie eine Schnute und fragt pikiert, wo denn das Herz sei, der Kollege mache doch immer so ein hübsches Kakao-Herz in den Milchschaum. Ich spüre erneut Moritz’ Blick auf mir und male mir das abschätzige Lächeln aus, das in diesem Moment um seine Lippen spielt. Ein wenig spöttisch erwidere ich, dass ich über diese außergewöhnlichen Fertigkeiten leider nicht verfüge, woraufhin sie die gepuderte Nase rümpft und ihren Cappuccino gemeinsam mit ihrem unsichtbaren Pfauengefieder zu einem freien Tisch trägt.

»Das war ziemlich … herzlos«, bemerkt Moritz und schüttelt mit gespielter Entrüstung den Kopf, während ich mir vorstelle, wie es wäre, ihm eine Ladung aufgeschäumte Milch überzukippen und anschließend Kakaopulver auf seinem Kopf zu streuen – natürlich in Herzform.

Auch nach einer Woche gibt sich Moritz nicht gerade Mühe zu verbergen, was er davon hält, dass mich Heike ohne sein Wissen als Aushilfe eingestellt hat, und ich habe es aufgegeben, die merkwürdige Stimmung zwischen uns durch banalen Small Talk auflockern zu wollen. Dass wir uns täglich gefühlt einen Quadratmeter hinter einer Theke teilen müssen, uns dabei regelmäßig anrempeln oder auf die Füße treten, macht die Situation allerdings nicht angenehmer.

»Ich hätte gerne zwei Smooooti zum Mitnehmen«, sagt eine blondgelockte Frau mit einem pummeligen Jungen auf dem Arm, was einem Kunden hinter ihr ein schwaches Seufzen entlockt, weil er zu ahnen scheint, dass die Zubereitung von Smoothies mehr Zeit in Anspruch nimmt, als er eingeplant hat.

»Erdbeere oder Pfirsich?«, zählt Moritz unsere beiden Sorten auf, während er hinter meinem Rücken bereits Eiswürfel in den Mixer schaufelt.

»Magst du deinen Smooooti mit Erdbeere oder Pfirsich?«, fragt sie das Moppelchen auf ihrem Arm geduldig. Der Kleine beginnt, seelenruhig zu überlegen, während der Kunde hinter seiner Mutter ein zweites Mal, diesmal lauter, seufzt und zu begreifen scheint, dass es nicht darauf ankommt, wie lang eine Schlange ist, sondern wer in dieser Schlange vor einem steht.

»Zweimal Pfirsich«, entscheidet die Frau und zwinkert mir zu, als würden wir in einer Art Geheimsprache kommunizieren.

»Zwei Pfirsich-Smoothies zum Mitnehmen«, wiederhole ich für Moritz in der Hoffnung, unserer Kundin auf diese Weise subtil zu vermitteln, wie dieses Wort ausgesprochen wird. Doch ich kann es ihr nicht einmal verübeln, weil »Smoothie« mit Abstand das dämlichste Wort ist, das ich kenne – neben Eidotter und Rhododendron.

Während ich einen Augenblick darüber nachdenke, womit sich die Liste der dämlichsten Wörter der Welt ergänzen ließe, kümmert sich Moritz um die Zubereitung der Smoothies. Vor ein paar Tagen musste ich noch auf einem Spickzettel nachlesen, was in welcher Menge in den Mixer kommt, inzwischen habe ich es im Kopf – genauso wie die Geburtsdaten von Thomas und Heinrich Mann, die Unterepochen der Romantik, die Prinzipien der Poststrukturalisten und die Entwicklung des deutschen Buchhandels zwischen 1900 und 1945. Aber zu wissen, wie man einen Smoothie macht, bringt einen im Leben auch weiter. Hoffe ich zumindest.

Der Mixer zermalmt das Eis geräuschvoll, während ich mit einem Schmunzeln vier Euro kassiere. In Hamburg würde mir niemand glauben, dass es noch Coffeeshops gibt, in denen man einen Smoothie für zwei Euro bekommt. Dafür kriegt man dort vielleicht einen Becher.

»Da kommt er, unser Smooooti«, sagt die Kundin in einer für Mütter von Kleinkindern charakteristischen Tonlage. Ich muss einsehen, dass ich als Lehrerin auf ganzer Linie versagt habe. Wieder dieser grässlich langgezogene Vokal, der sich wie ein Fingernagel auf einer Schiefertafel in meinen Ohren anhört.

»Der ist ja gelb«, murrt der Junge und verzieht das Gesicht. »Ich wollte einen roten.« Die Frau grinst beschämt, drückt ihrem Sohn den Becher in die Hand und tritt zur Seite, so dass ich in ein rundes, rotwangiges Gesicht blicke.

Es gibt wenige Kunden, die ich nicht ausstehen kann, aber Titten-Toni ist einer von ihnen. Sein richtiger Name lautet Anton; Moritz und Heike haben ihm allerdings einen Spitznamen gegeben, der besser zu ihm passt, weil er jeder Frau in den Ausschnitt starrt und mit Vorliebe anzügliche Witze macht, über die er dann selbst am meisten lacht. Allein seine Anwesenheit löst in mir das Bedürfnis aus, mich zu verschleiern und knielange Rollkragenpullover herbeizusehnen.

»Hallo, Kaffeeböhnchen«, begrüßt er mich, als würde uns eine lebenslange Freundschaft verbinden, und seine Augen wandern wie gewohnt südlich. Er trägt ein graues Hemd, das früher einmal weiß war, und sich wie eine Plane über seinen Bierbauch spannt, der deutlich über seinem Hosenbund hängt. Auf seinem Kopf kleben pomadige schwarz-graue Strähnen, und zwischen dunklen Brusthaaren lugt ein Goldkettchen mit Kreuzanhänger hervor.

»Hast du was Heißes für mich?«

Ich zähle ihm auf, was wir im Angebot haben, wenngleich er es in- und auswendig kennt, weil er seit über zehn Jahren fast jeden Tag im Coffeeshop vorbeikommt und unser Angebot so beständig ist wie Stahl und Eisen. Toni entscheidet sich für einen doppelten Espresso, weil er, wie er sagt, eher auf die harten Sachen steht. Das findet er so lustig, dass er sich fast verschluckt und zu husten beginnt. Als er seinen Espresso bezahlt, bin ich fasziniert, dass er es schafft, gleichzeitig auf meine Brüste und in seinen Geldbeutel zu sehen. Er legt ein 50-Cent-Stück auf den Tresen und zwinkert mir zu.

Es sind genau diese Momente, die es mir am schwersten machen, mein Leben, so wie es gerade ist, zu akzeptieren. Momente, in denen ich in Versuchung gerate, raushängen zu lassen, dass ich es nicht nötig habe, mich von notgeilen alten Säcken angaffen zu lassen. Dass ich ein Diplom in Literaturwissenschaft und einen Master in Anglistik habe und auf seine schmierigen 50 Cent scheiße.

Doch das wäre gelogen, denn abgesehen davon, dass mein Kontostand nach zehn Semestern Studium unter dem Meeresspiegel liegt, sind ein Diplom und ein Master in Altberg überhaupt nichts wert. Es gibt dort keinen Lehrstuhl für Literatur, keine renommierten Medienhäuser oder Fachverlage, keine Firmen, die sich dafür interessieren, ob man Alliterationen von Anaphern unterscheiden kann, geschweige denn, diese rhetorischen Mittel überhaupt kennt. Literarisch ausgedrückt ist Altberg eine einzige Themaverfehlung – und ausgerechnet ich habe mir dieses Thema ausgesucht. Denn die bittere Wahrheit ist, dass ich keinen Moment lang gezögert habe, als Toby mir damals vorgeschlagen hat, ihn in seine Heimatstadt Altberg zu begleiten, Hamburg zu verlassen und dort ein gemeinsames Leben zu beginnen. Keinen Moment darüber nachgedacht habe, wie dieser Schritt mein Leben verändern würde. Dass ich meine Wohnung kündigen, meine Freunde verlassen und meine Karrierepläne umschmeißen müsste.

All das schien für mich keine Rolle zu spielen, als wir im Dämmerlicht dicht nebeneinanderlagen, nackt und aufgeheizt von all den Küssen und Berührungen. Es gab in diesem Augenblick nichts Schöneres für mich als die Aussicht, für immer mit diesem Menschen zusammen zu sein. Vielleicht lag es am Nachglühen des Hormonfeuerwerks, dass ich sofort eingewilligt habe, vielleicht an der Angst vor der immer näher rückenden Trennung. Denn Toby war nur für sein Masterstudium nach Hamburg gezogen. Ich wusste, dass Hamburg keine Option für ihn war. Zu Hause in Altberg wartete ein großes Familienunternehmen auf ihn. »Du könntest in ein paar Monaten nachkommen, wenn du mit deinem Studium fertig bist«, hat Toby mir in jener Nacht ins Ohr geflüstert, und es war der schönste Vorschlag, den mir je jemand gemacht hat.

Wenige Wochen später mussten wir uns am Bahnhof in Hamburg voneinander verabschieden, umringt von zwei Koffern, in die Toby unsere gemeinsame Zeit gepackt hatte.

»Du wirst sehen, die Zeit geht schnell vorbei«, hat er mir beruhigend zugeflüstert, während mir dicke Tränen aus den Augen kullerten. Als hätte ich gewusst, dass unsere Liebe nur vier Jahreszeiten andauern würde, dass es unser letzter Kuss sein würde, unsere letzte Umarmung. Dann stieg er mit seinen zwei Koffern in den ICE und fuhr davon. Und ich stand auf Gleis sechs wie Elsa in »Casablanca«. Nur dass Elsa keine Diplomprüfungen vor sich hatte.

3.

»Liebe Grüße aus Dubai«. »Liebe Grüße aus Bangkok«. »Liebe Grüße aus Kuala Lumpur«. Seit Wochen erhalte ich Postkarten von meiner besten Freundin Caro, die mich schmerzhaft daran erinnern, dass ihre Weltreise auch meine gewesen wäre. Auf der Aussichtsplattform des Burj Khalifa hätte auch ich stehen können, die Affen am Wat Tham Pla Tempel hätte auch ich fotografieren können, und die gigantische Aussicht von den Petronas Towers hätte ich ebenfalls genießen können. Wir hatten die Reise zusammen geplant, die Route gemeinsam festgesteckt, Reiseführer gewälzt und uns in Reisebüros informiert. Drei Monate lang sollte es nur uns beide geben, nur uns und das Abenteuer, nur endlos lange Nächte voller Wein und guter Gespräche. In den Flieger gestiegen ist Caro am Ende allein, denn ich habe entschieden, dass mich meine Weltreise nur nach Altberg führen soll, dass ich, statt die Welt zu entdecken, lieber ein kuscheliges Nest für mich und Toby einrichten möchte.

Geknickt falte ich die Postkarte, die ich an diesem Morgen aus dem Briefkasten gezogen habe, zusammen und lasse sie in der Hosentasche verschwinden. Mein Blick fällt auf die hölzerne Wanduhr, deren Pendel mit schier endloser Ausdauer von rechts nach links und wieder zurückschwingt. In etwas mehr als zwölf Minuten werde ich das Licht ausmachen, abschließen, auf mein Rad steigen und nach Hause fahren – eine Aussicht, die nicht gerade Begeisterungsstürme bei mir auslöst. Mein »Zuhause« in Altberg sind 15 Quadratmeter in Heikes Keller, die so gar nichts mit dem Liebesnest gemeinsam haben, das ich mir erträumt habe. Es ist ein fensterloser Raum mit kahlen weißen Wänden, ein paar alten Möbelstücken aus Eiche rustikal und einem Bett, neben dem noch immer nahezu unangetastet meine beiden Koffer stehen. Ich sträube mich dagegen, sie auszupacken, weigere mich, das von mir mühsam erschaffene Bild einer Übergangslösung zu zerstören. Denn genau daran soll mich dieses Zimmer permanent erinnern, dass es eine Übergangslösung ist. Bis Toby zu mir zurückkommt und mir wieder ein Lächeln schenkt, das ich fotografieren möchte.

Die Tür öffnet sich und lässt einen Schwall kühler Oktoberluft hinein. Eine junge Frau in engen ausgeblichenen Jeans, roten Chucks und einer schwarzen abgetragenen Lederjacke steht in der Tür und wirft zögernd einen Blick auf ihre Armbanduhr – eine Geste, die nicht zu ihrer Erscheinung passt. Sie fragt sich, ob man es um diese Uhrzeit noch wagen darf, einen Kaffee zu bestellen, ob sie zu den Menschen zählen will, die alles auf den letzten Drücker machen. Ich kann ihre Gedanken förmlich hören, weil sie jedes Mal durch meinen Kopf gehen, wenn ich kurz vor Ladenschluss einen Supermarkt betrete.

»Einen Cappuccino zum Mitnehmen«, sagt sie schließlich mit einem vorsichtigen Lächeln, und es klingt eher wie eine Frage. Sie trägt roten Lippenstift und eine wilde Lockenmähne in Kastanienbraun, die sie zu einem lockeren Dutt gebunden hat, so dass ein tätowiertes Fragezeichen hinter ihrem Ohr aufblitzt. In Kombination mit ihrer großen schwarzen Brille fällt sie in einer Stadt wie Altberg auf. Sie ist jemand, an den sich die Menschen erinnern, was bei mir höchstens an meinem Vornamen liegt, den ich meiner schwedischen Urgroßmutter zu verdanken habe. Außer ihrem Namen hat sie mir allerdings nichts vermacht. Zumindest sehe ich mit meinen langen dunklen Haaren und den rehbraunen Augen nicht gerade typisch schwedisch aus – und bin mit überschaubaren 1,66 Metern auch keine außergewöhnliche Erscheinung.

Als ich sie frage, ob sie einen kleinen, mittleren oder großen Cappuccino möchte, fällt mir auf, wie erschreckend roboterhaft mir diese Frage über die Lippen kommt.

»Groß. Ich habe eine Nachtschicht vor mir.« Sie lächelt entschuldigend. Vielleicht glaubt sie, ein großer Cappuccino sei um 18 Uhr 48 noch unhöflicher als ein kleiner. »Ich arbeite im Ludwig. An der Bar.«

Das Ludwig ist eine Kneipe in der Innenstadt, nicht weit vom Coffeeshop entfernt. Ich fahre jeden Abend mit dem Fahrrad daran vorbei und stelle mir manchmal vor, wie Toby zur selben Zeit an einem der Tische sitzt, wie sein Bein zum Takt der Musik wippt. Dabei weiß ich nicht einmal, ob das Ludwig zu den Kneipen zählt, die er besucht. Ob er jemals dort war. Ich weiß so wenig über Tobys anderes Leben. Das Leben, von dem er nie erzählt hat. Das Leben, in das ich zu früh geplatzt bin. In quälenden Flashbacks kommt die Erinnerung an unsere letzte Begegnung zurück.

»Was machst du denn hier?«, kam es schockiert aus seinem Mund, als ich mit zwei Koffern vor seiner Wohnungstür in Altberg stand, bereit, meinen Namen auf sein Klingelschild zu setzen und alles mit ihm zu teilen, was mir wichtig war. Er wirkte überrumpelt, fast bestürzt, und all das, worauf ich gehofft hatte, was ich mir im Zug ausgemalt hatte, die Freude, die Überraschung, die Sehnsucht, suchte ich vergeblich in seinem Gesicht.

»Überraschung«, krächzte ich unsicher, auf der Suche nach einem erlösenden Lächeln.

Stattdessen musste ich zusehen, wie sich ein betretener Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete, wie sein Körper zunehmend steifer wurde.

»Du wolltest doch erst in drei Wochen kommen.«

Der vorwurfsvolle Klang in seiner Stimme bestätigte, was ich längst befürchtet hatte. Dass hier etwas gar nicht nach Plan lief. Dass ich in Zeitlupe von einem Hochhaus stürzte und der Aufprall unmittelbar bevorstand.

»Ich wollte dich überraschen. Bewerbungen schreiben kann ich ja auch von hier aus. Da dachte ich, ich komme einfach früher.«

Meinen erwartungsvollen, noch immer hoffnungsvollen Blick quittierte Toby mit eisernem Schweigen. Endlos langem Schweigen.

»Marit … Ich muss dir … Wir müssen reden.«

Die Worte und Sätze, die daraufhin aus Tobys Mund kamen, existieren nur noch bruchstückhaft in meinem Gedächtnis. Vielleicht, weil ich sie vor lauter Ohnmachtsgefühl gar nicht aufgenommen, vielleicht, weil ich sie verdrängt habe. »Ich bin mir nicht mehr sicher«, »Meine Gefühle haben sich verändert«, »Es tut mir leid«.

Ich erinnere mich an den bitteren Geschmack in meinem Mund, den Würgereiz, die Tränen, an blaue Augen, die mich mitfühlend ansehen. Ich erinnere mich an meine verzweifelten Versuche, ihn zu überzeugen, dass er sich irrte. Du bist verwirrt. Du brauchst Zeit. Nimm dir Zeit. Zeit. Zeit. Zeit. Immer wieder Zeit. Als wäre Zeit das Problem und gleichzeitig seine Lösung.

»Äh, Entschuldigung«, zerrt mich eine Frauenstimme zurück ins Jetzt. Mein Blick fällt auf ihre ausgestreckte Hand, in der ein paar Euromünzen liegen.

»Tut mir leid«, stammle ich verlegen.

Sie zuckt unbekümmert mit den Schultern und schickt ein Lächeln hinterher.

Nachdem sie gegangen ist, mache ich mich daran, die Spuren des Coffeeshop-Alltags zu beseitigen. Es fühlt sich an, als würde ich den Laden auf den Werkszustand zurücksetzen, wenn ich abends über die Tische wische, die Zuckerstreuer und den Kakaospender auffülle, die Kaffeemaschine reinige und den übervollen Müllsack aus dem Eimer ziehe.

Während ich an dem gelben Sack zerre, der sich im Mülleimer verkantet hat, werfe ich einen abwesenden Blick aus dem Fenster und stoße einen erstickten Schrei aus, als ich in ein blasses Gesicht mit weit aufgerissenen Augen sehe. Vor lauter Schreck taumle ich nach hinten und reiße im Fallen den Müllsack mit mir, der aufplatzt und seinen Inhalt über mich und den Boden verteilt. Und als wäre es nicht schmerzhaft genug, auf dem Hosenboden zu landen und Kaffeesatz, Asche und Zucker in den Haaren zu haben, starren mich Tobys Augen plötzlich kaleidoskopartig von allen Seiten an. Sein Gesicht ist auf sämtlichen Wurstverpackungen abgebildet und strahlt unter dem signalroten Schriftzug »Schindler – Fleischspezialitäten seit 1906«.

Ich erinnere mich noch an den Abend, an dem ich zum ersten Mal Tobys Kühlschrank in seiner Hamburger WG geöffnet habe und sein Gesicht mit einem irritierten bis entsetzten Ausdruck auf der Wurstverpackung entdeckt habe. Zuerst hielt ich es für einen Scherz. Man konnte heutzutage schließlich alles personifizieren, von Tassen über Schokolade bis hin zu Müslis und Bierflaschen. Aber als ich Tobys verlegenes Lächeln bemerkte, wusste ich, dass sein Gesicht nicht zufällig auf einer Wurstpackung gelandet war. Er erzählte mir von der Firma seiner Familie, einem Traditionsunternehmen in vierter Generation, das sich auf Fleischproduktion spezialisiert und sein Gesicht zur Marke gemacht hatte.

»Dann bist du wie das Kind auf der Kinderschokolade?«, fragte ich ihn mit großen Augen, und er lachte.

»Ja, so in etwa. Nur, dass mein Gesicht altert. Ich war schon als Baby drauf.«

Dann lachten wir beide.

Inzwischen weiß ich, dass Toby maßlos untertrieben hat, denn seine Familie hat keine Fleischfabrik, sondern ein Fleisch-Imperium. Altberg und die gesamte Region sind förmlich überflutet von Schindler-Metzgereien und Bratwurstbuden, und der rote Schriftzug ziert sämtliche Litfaßsäulen, Fußballbanden, Heißluftballons und Busse. Nahezu jeder in dieser Stadt scheint den Namen »Schindler« und die dazugehörigen Produkte zu kennen.

Seufzend stütze ich mich vom Boden ab und befreie mich von leeren Milchtüten, Plastikresten und Kaffeesatz, während sich mein Herzschlag langsam wieder normalisiert. Das Gesicht vor der Fensterscheibe ist nur noch vor meinem geistigen Auge vorhanden, trotzdem überkommt mich ein mulmiges Gefühl, als ich aus dem Fenster in die dunkle Nacht hinausblicke. Mach dich nicht lächerlich, ermahne ich mich. Sogar nachts ist Altberg so gefährlich wie ein Hamster. Die größte Gefahr für Frauen geht von den Fugen des historischen Kopfsteinpflasters aus, aber da mir meine Pumps im Coffeeshop nur wunde Füße verursachen würden, muss ich mir keine Sorgen machen.

Auch an diesem Abend fahre ich mit dem Rad am Ludwig vorbei, höre den Bass, der nach außen dringt, das Gelächter fremder Menschen. Für einen Augenblick spiele ich mit dem verrückten Gedanken, abzusteigen und hineinzugehen, doch mein Körper schreit zu laut nach Seife. Der Geruch von Kaffee hängt hartnäckig in meinen Haaren, die Halbmonde unter meinen Nägeln sind braun, und auf meiner Hose befinden sich Milchflecken, die wie Sperma aussehen. Allein die Vorstellung, Toby in diesem Aufzug zu begegnen, lässt mich meinen spontanen Einfall sofort verwerfen. Toby, dem großen Wurstkönig. Toby, der einfach so den Faden zu seinem Königreich durchgeschnitten hat und mich ins Bodenlose stürzen ließ.

Als ich nach Hause komme, liegt eine Postkarte vor meiner Zimmertür. »Greetings from Singapur«.

4.

Obwohl es sich frustrierend anfühlt, mit 28 Jahren und zwei Studienabschlüssen von Montag bis Freitag für den Mindestlohn in einem Coffeeshop zu jobben, erwache ich am Samstagmorgen mit einer quälenden Sehnsucht nach Arbeit. Vielleicht ist es auch die Sehnsucht nach einem Grund, das Bett zu verlassen und nicht weiter der unheimlichen Stille dieses Raums ausgesetzt zu sein, der einem dank fehlendem Tageslicht erstaunlich schnell das Gefühl gibt, eine Figur aus »Twilight« zu sein.

Im Dunkeln taste ich nach meinem Laptop, den ich am Abend zuvor neben mein Bett gelegt habe, und suche nach der Taste, die ihn zum Leben erweckt. Weder in meinem Posteingang noch auf Facebook warten Mails auf mich, so dass ich mich eine Weile gelangweilt durch ein paar Nachrichtenseiten klicke und schließlich wieder bei Facebook lande. Zwei lachende Gesichter grinsen mir von meinem Profilbild entgegen. Ein spontanes Selfie von Toby und mir in einem Strandkorb an der Nordsee. Ein bisschen schief, ein bisschen verwackelt und irgendwie perfekt. Minutenlang starre ich auf dieses Bild, genauso wie am vergangenen Abend und am Abend davor. Ich will nicht glauben, dass dieser Schnappschuss zur Lüge geworden ist, dass er ein Leben zeigt, das ich nicht mehr lebe: ein glückliches Leben mit Toby an meiner Seite.

In diesem Moment wünsche ich mir noch sehnlicher, er hätte auch einen Facebook-Account. Um weiterhin an seinem Leben teilhaben, um nach Erklärungen und Antworten suchen zu können. Um herauszufinden, was passiert ist zwischen unserem Abschied in Hamburg und unserem Wiedersehen in Altberg, das so anders verlaufen ist, als ich es mir ausgemalt hatte. Womöglich käme ich mir nicht so ausgesperrt vor, wenn seine Beiträge auf meinem Newsfeed erscheinen würden. Aber Toby lehnt soziale Netzwerke ab, weil er keinen Sinn darin sieht, sein Leben öffentlich zu machen. Womöglich, weil es von Geburt an öffentlich war – zumindest sein Gesicht.

Reiß dich zusammen, ermahne ich mich. Hör auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen. Steh auf, und mach etwas aus deinem Tag. Mein Appell an mich selbst zeigt Wirkung.

Eine halbe Stunde später sitze ich bereits auf meinem Rad und genieße die morgendlichen Sonnenstrahlen, die meine Nase kitzeln, während der kühle Fahrtwind mir angenehm ins Gesicht bläst. Mit seinen gepflegten Fachwerkhäusern, dem historischen Marktplatz und dem kleinen Fluss, der sich durch die Innenstadt zieht, ist Altberg ein idyllisches Fleckchen Erde mit viel Lebensqualität – wenn man bereit ist, auf Sushi, drei Balken auf dem Handy und Hotspots zu verzichten.

»Du arbeitest heute nicht«, bemerkt Moritz nüchtern, als ich vor ihm stehe und unschlüssig die Getränkekarte auf der Wandtafel mit den Augen abfahre. »Heute ist Samstag, mein einziger Tag ohne dich«, brummt er und betont dabei jede Silbe, als würde er diesen Dialog mit einer Austauschstudentin aus Guatemala führen.

Ich lasse meine Augen durch den Coffeeshop wandern und entdecke nur einen einzigen Gast, einen älteren Herrn, der an Tisch eins die Altberger Zeitung durchblättert.

»Ich will einfach nur einen Kaffee trinken.«

Moritz runzelt die Stirn und mustert mich so eindringlich, dass ich meinen Blick von ihm abwende und vorgebe, mich mit der Karte zu beschäftigen, die ich längst auswendig kenne. Im Grunde könnte ich mir meinen Kaffee sogar selbst machen, doch etwas in mir sehnt sich nach dem Gefühl, wie eine ganz normale Kundin behandelt zu werden, die samstags einen Coffeeshop besucht.

»Mit wem denn?«

Seine Stimme hat einen herausfordernden Ton angenommen.

»Allein. Mir … war einfach nach einer guten … Tasse Cappuccino«, antworte ich und ärgere mich über meine steife Wortwahl und die Unsicherheit, die Moritz in mir auslöst. »Ist das verboten?«

»Nein, aber ich habe dich samstags noch nie hier gesehen.«

»Wo ich schon so viele Jahre hier lebe …«, bemerke ich zynisch.

Ein schwaches Lächeln huscht über sein Gesicht, und einen Moment lang bin ich irritiert.

»Wenn dir nach einer guten Tasse Cappuccino war, warum studierst du dann die Karte, Fischköpfchen?«

Ich beschließe, sowohl seine Frage als auch diesen albernen Spitznamen zu ignorieren, den er mir verpasst hat, als mein schwach ausgeprägter hanseatischer Dialekt verraten hat, aus welcher Region Deutschlands ich stamme.

»Möchtest du einen kleinen, mittleren oder großen Cappuccino?«, fragt Moritz übertrieben geduldig und legt den Kopf schief.

Etwas in mir hat genug von diesem Schmierentheater.

»Ich will gar keinen Cappuccino«, seufze ich genervt und marschiere, ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, zum Kühlschrank hinter der Theke. Mit Moritz’ Blick im Rücken öffne ich die Tür und ziehe übereilt eine dunkle Flasche heraus, auf der ich das Wort »Cola« lese. Dass es sich um ein Colabier handelt, bemerke ich erst, als die Flasche geöffnet ist und süßlicher Malzgeruch an meine Nase dringt. Angewidert verziehe ich das Gesicht, während Erinnerungen an die ersten Trinkerfahrungen einer 14-jährigen Marit mit Zahnspange lebendig werden. Irgendwie amüsiert es mich, dass man in diesem Coffeeshop scheinbar leichter an Bierfusel als an einen Frappuccino kommt.

Weil ich Moritz’ amüsierten Blick spüre, lasse ich mich resignierend in den alten Ohrensessel fallen und nehme tapfer einen ersten Schluck, was dazu führt, dass ich bereits morgens um zehn Uhr meinen Tagestiefpunkt erreicht habe. Colabier aus der Flasche, auf nüchternen Magen – nur weil mein Stolz die Größe von Russland hat. Was macht dieser Ort nur aus mir?

Der ältere Herr am Tisch neben mir hat seinen Espresso inzwischen ausgetrunken und den Coffeeshop verlassen. Sein Geschirr hat er nicht zurückgebracht. Auch die Altberger Zeitung liegt zerfleddert auf dem Bistrotisch. Selbstbedienung bedeutet für die meisten Kunden, sich etwas zu holen, ohne es zurückzubringen, weil sie entweder zu faul sind – das ist die Mehrheit – oder mit dem Satz »Ich habe ja schließlich auch für etwas bezahlt« argumentieren. Wer für etwas bezahlt, muss sein Geschirr nicht zurückbringen.

Ich schnappe mir die Zeitung vom Nachbartisch und blättere sie lustlos durch – eine gute Entscheidung. Sonst wären mir wesentliche Schlagzeilen des Tages entgangen, etwa dass Beagle Cherry bei der Europasiegerausstellung für Rassehunde in Kaiserslautern zum drittbesten Hund der Schau gewählt wurde, dass die Theatergruppe des Obst- und Gartenbauvereins mit der heiteren Komödie »Hexenschuss« in die Theatersaison startet und der Schachklub fünfzehn neue Bretter für seine Jugendabteilung stiftet. Und als wäre der Morgen nicht schon schlimm genug, grinst mir Toby von Seite drei entgegen. »Wurst auf Rädern – Schindler beliefert Haushalte mit Fleisch-Mobil« steht in fetten Lettern über dem Artikel, der eine halbe Seite einnimmt. Darunter ein Foto in Schwarzweiß, auf dem vier grinsende Menschen affektiert ihren Daumen nach oben halten, während sie vor einem Lieferwagen posieren, auf dem Tobys Kopf in XXL prangt. Von links: der Wurst-König himself, der Wurst-König Senior, eine Pressesprecherin namens Therese Auth und der Auszubildende Konstantin Steinmüller. Es ist das erste Mal, dass ich Tobys Vater sehe. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Sohn ist verblüffend. Die gleiche Statur, das gleiche starke Kinn, der gleiche entschlossene Blick. Trübselig greife ich nach der Flasche und nehme einen weiteren Schluck, doch der Geschmack hat sich in den vergangenen Minuten erwartungsgemäß nicht verbessert.

»Sicher, dass du nicht was Stärkeres brauchst?«, fragt Moritz, als er das Geschirr vom Tisch neben mir abräumt und dabei einen Blick auf den Artikel wirft. Ich schlage die Zeitung demonstrativ zu, was mir nur ein unbekümmertes Schulterzucken einbringt.

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