Hier im echten Leben - Sara Pennypacker - E-Book

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Sara Pennypacker

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Beschreibung

Kann ein Träumer die Welt verändern? Der einsame Junge Ware trifft Jolene, das Mädchen, das niemand haben will. Eine alte Kirchenruine wird ihnen beiden ein Zuhause. Als dieses bedroht wird, muss Ware sich entscheiden: Entweder er bleibt in seiner Traumwelt – oder er wagt es gemeinsam mit Jolene für das einzustehen, an das er im Leben glaubt. Sara Pennypacker (Autorin von Dein SPIEGEL-Bestseller »Mein Freund Pax«) schildert, wie zwei Kinder, die sich verloren fühlen, über sich hinauswachsen – und erkennen, dass sie mit ihrem Einsatz die Welt zu einem besseren Ort machen können. »Dieses phantasievolle Abenteuer beleuchtet, wie Kinder aus ihrem Inneren Kraft schöpfen und zu Kreativität aufzublühen können – wenn ihnen der Raum gewährt wird.« The New York Times Book Review

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Sara Pennypacker

Hier im echten Leben

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Inhalt

[Widmung]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778

Für Hillary, meine Tochter,

dank derer dieses Buch

hier im echten Leben

geblieben ist.

1

Ware klopfte mit der Hand auf die beiden Ziegelsteine, die er bei seinem morgendlichen Streifzug erbeutet und jetzt am Rand des Schwimmbeckens aufeinandergelegt hatte. Morgen würde er sie in kleine Stücke schlagen, um daraus den Festungswall für seine Burg zu bauen, doch jetzt, am Abend, hatte er etwas anderes damit vor.

Er ließ seine Beine im Wasser kreisen, das im Dämmerlicht türkis schimmerte. Dann, um exakt 7:56 Uhr, setzte er seine Schwimmbrille auf und zog sie stramm. »Der Junge hat mit den Vorbereitungen für das große Ereignis begonnen.« Diesen Kommentar aus dem Off flüsterte er aber nur, für den Fall, dass irgendwelche Leute ihre Fenster offenstehen hatten oder die Zwillingskönige irgendwo in der Nähe lauern sollten.

Die Zwillingskönige waren keine Zwillinge, sondern einfach nur zwei alte Männer, die immer gleich anzogen waren: karierte Shorts und Fischerhüte. Könige waren sie auch nicht, aber sie paradierten wie königliche Tyrannen durch die Seniorenwohnanlage Sunset Palms und machten jedem, dem sie begegneten, das Leben zur Hölle.

Ware hatte sich in der Schule ausgiebig mit dem Mittelalter befasst. Damals waren Könige gütig und weise gewesen oder auch verrückt und grausam. Der Zufall der Geburt entschied über das Los eines Menschen: Leibeigener oder Ritter – man musste es nehmen, wie es kam.

Als Ware den Zwillingskönigen das erste Mal begegnet war, lag er gerade mit dem Gesicht nach unten im Gras und beobachtete eine Ameisenstraße. Geduldig waren die Ameisen erst einen Stein hochgeklettert, dann oben entlang und schließlich auf der anderen Seite wieder hinunter. Wie viel mühsamer wäre doch das Leben der Menschen, hatte Ware gedacht, wenn sie nicht wüssten, dass man um Hindernisse einfach herumlaufen kann. Die Zwillingskönige hatten ihm den Spitznamen »Raumfahrer« verpasst und behauptet, sie müssten immer dreimal rufen, bevor er den Kopf hob.

Seitdem ließen sie, wann immer sie ihn trafen, irgendeinen Spruch los, den sie so lustig fanden, dass sie sich vorbeugen und auf die Schenkel klatschen mussten. Dabei waren ihre Kommentare kein bisschen lustig. Sie waren einfach nur gemein.

Aber das ging schon in Ordnung. Ware war es gewohnt, dass Leute sich über ihn lustig machten, weil er oft in Gedanken abdriftete und nicht mitbekam, was um ihn herum passierte.

Peinlich wurde die Sache erst, wenn Big Deal aus dem Haus kam und die Könige mit einem Blick verjagte. Ein elfeinhalbjähriger Junge, von dem konnte man erwarten, dass er seine Großmutter beschützte, nicht umgekehrt.

»Ach, die sind harmlos«, hatte Big Deal erst gestern Abend gesagt. Dabei hatte sie gelacht, und er hatte sich noch mehr geschämt. »Die haben Todesangst vor Keimen, also sag ihnen einfach, du wärst krank. Durchfall, das funktioniert am besten.«

Als hätte er sie mit seinen Gedanken angelockt, kamen die Zwillingskönige um die nächste Ecke gewatschelt, die Hände vor den königlichen Bäuchen gefaltet. »Erde an Raumfahrer!«, gackerte der Kleinere der beiden. »Pass bloß auf, dass dein Luftschlauch nicht irgendwo da unten im Abfluss hängen bleibt!«

Nach einem kurzen Blick hinüber zum Apartment seiner Großmutter sah Ware den beiden ins Gesicht. »Halten Sie besser Abstand. Ich bin krank.« Dann fasste er sich an den Bauch und stöhnte sehr überzeugend. In Windeseile waren die Zwillingskönige um die Ecke verschwunden.

Ware warf wieder einen Blick auf die Uhr. 7:58 Uhr. Wassertretend markierte er die Sekunden. Um 7:59 Uhr griff er nach den Ziegelsteinen. Dann füllte er langsam seine Lungen mit der sonnencremegefüllten Luft – so heiß und süßlich, als würde jemand in der Nähe Kokosnüsse braten – und glitt am tiefen Ende des Beckens ins Wasser. Die Ziegelsteine schienen ihr Gewicht zu verdoppeln und zogen ihn langsam auf den Grund.

Nie zuvor war er so tief getaucht, dank einer gewissen Polsterung, die wie ein eingebauter Schwimmreifen funktionierte. »Babyspeck«, sagte seine Mutter dazu. »Mit der Zeit kriegst du da Muskeln.« Doch seit Ware sich jeden Tag im Spiegel seiner Großmutter in der Badehose betrachtete, fiel ihm auf, dass seine Mutter ein wesentliches Detail ausgelassen hatte: Wie sollten aus dem Speck Muskeln werden? Vermutlich gehörte Sport dazu. Vielleicht morgen …

Ware orientierte sich an den riesigen Dattelpalmen, von denen je eine an den vier Ecken des Pools wuchs. In den Kräuselwellen wankten ihre breiten Stämme wie lebende Wasserspeier.

Um Punkt acht Uhr würden die blinkenden Lichterketten angehen, die um die Stämme gewickelt waren. Heute Abend würde er sie vom Grund des Pools aus sehen. Okay, das große Ereignis war nicht gerade ein atemberaubendes Spektakel, aber Ware hatte entdeckt, dass alles interessanter aussah, wenn man es durch Wasser betrachtete – rätselhaft verzerrt, zugleich aber auch irgendwie klarer. Er konnte inzwischen über eine Minute lang die Luft anhalten, so dass er reichlich Zeit haben würde, das Schauspiel zu genießen.

Fünf Sekunden später dann die Überraschung: Plötzlich blinkten die Palmblätter rot.

Ware verstand sofort: ein Rettungswagen. In den Wochen, seit er hier in Sunset Palms lebte, war er schon dreimal nachts von rotierendem rotem Licht wach geworden. In einer Seniorenresidenz nichts Ungewöhnliches, Ware kannte den Ablauf inzwischen: Am Eingang zur Wohnanlage stellten die Fahrer die Sirene ab – man wollte ja nicht noch weitere Herzanfälle unter den Bewohnern riskieren. Während der Rettungswagen zwischen den Gebäuden parkte, rannte die Besatzung außen herum zur Poolseite, wo die Wohnungen Schiebetüren hatten, was es einfacher machte, mit den Tragen hinein und später mit den Kranken darauf hinaus zu gelangen.

Hab keine Angst telegraphierte Ware durch die Luft der unbekannten Person, die gleich auf der Trage liegen würde. So hatte er es jedes Mal gemacht. Ängstliche Menschen kamen ihm vor wie rohe Eier. Es tat weh, an Menschen zu denken, die Angst ausstanden.

Während er das Blinklicht auf den Blättern der Dattelpalmen betrachtete, dachte er lieber über Glück nach. Darüber, wie das Glück einen ganz unerwartet ereilen konnte, zum Beispiel wenn Eltern einen für die Dauer der Sommerferien zur Großmutter schicken und man schon weiß, dass alles ganz furchtbar wird, und dann stellt es sich als ganz toll heraus, weil man jede Freiheit hat und zum ersten Mal im Leben stundenlang allein ist. Na ja, abgesehen vielleicht von zwei alten Männern, aber die waren harmlos und fürchteten sich vor Krankheitskeimen.

Ein Reiher, so weiß und so glatt wie aus Seife geschnitzt, glitt durch den sich langsam violett verfärbenden Himmel. In Filmen wusste man, was so ein einzelner fliegender Vogel zu bedeuten hatte: nämlich, dass die Hauptperson sich auf eine Reise begibt. Wie immer, wenn er etwas so Wunderbares sah, wünschte sich Ware, er könnte dieses Erlebnis mit irgendjemandem teilen. Siehst du das? Wahnsinn. Aber außer seiner Großmutter kannte er hier niemanden, und die hatte sich heute nicht so gut gefühlt, war kaum herausgekommen aus ihrem –

Ware ließ die Ziegelsteine fallen, schoss an die Oberfläche, riss sich die Schwimmbrille vom Kopf und sah: Big Deals Schiebetüren standen sperrangelweit offen, innen beugten sich zwei Sanitäter über eine Trage.

Eine Sanitäterin schaute suchend zum Pool herüber, ihr weißer Kittel schimmerte rosa im Schein des Blinklichts, als ob ihr Herz neonfarben blinkte. Hinter ihr lauerte mit angespannter Miene Mrs. Sauer von Apartment 4 und hielt sich ihren Bademantel mit einer Hand zu. Jetzt hob sie einen ihrer knochigen Arme wie ein Gewehr und richtete einen Finger direkt auf Ware. Der preschte hinüber zur Leiter, schüttelte sich dabei das Wasser erst aus dem linken Ohr, dann dem rechten, und während er aus dem Becken stolperte, hörte er: »Das ist ihr Enkel. Lebt ganz in seiner eigenen Welt.«

Um Punkt acht begannen die Lichterketten zu blinken.

2

Ware wachte auf und hatte im ersten Moment Mühe, sich zu orientieren. Wieso lag er in seinem eigenen Bett anstatt auf der kratzigen Couch seiner Großmutter? Mit einem Mal war die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht wieder da – die bedrückende, wortlose Fahrt in Mrs. Sauers altem Buick zum Krankenhaus, immer hinter dem Rettungswagen her; der klimatisierte Warteraum, in dem er vor Angst und Nässe gezittert hatte, bis eine Krankenschwester kam und ihm eine Decke um die Schultern legte; seine Mutter, die wenige Stunden später mit versteinerter Miene hereinstürmte.

Ware schlug die Bettdecke zurück und stand auf.

Auf halber Treppe hörte er die Stimmen seiner Eltern, die sich in der Küche unterhielten.

»Das ist aber nicht das, was du eigentlich wolltest«, hörte er seinen Vater sagen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte seine Mutter. »Ich wünschte nur …«

Schnell lief Ware die restlichen Stufen hinunter. »Was wünschst du dir, Mom? Geht’s Big Deal wieder gut?«

Sein Vater rutschte vom Küchentresen.

»Alles in Ordnung mit dir? War sicher schwierig für dich, die letzte Nacht.«

»Mom – wie geht es Big Deal?«

»Sie ist bei Bewusstsein«, antwortete seine Mutter und starrte dabei in ihren Kaffee. »Die kommt schon wieder auf die Beine.«

»Gut! Wann kann ich zurück?«

»Zurück?«

In diesem Moment läutete das Handy seiner Mutter. Während sie danach griff, hielt sie sich mit der anderen Hand die Stirn, so als hätte sie Angst, ihr Kopf könnte auseinanderbrechen. Sie ging ins Schlafzimmer.

Sein Vater sah ihr mit besorgter Miene nach.

Andererseits – besorgt sein, das war bei seinem Vater der Normalzustand. »Das kommt von meinem Job«, sagte er oft, und immer klang Stolz in seinen Worten mit. Als Einwinker Flugzeuge über das Flugfeld zu lotsen, das bedeutete, ständig jede mögliche Katastrophe mitzubedenken.

Doch nun machte sich auch Ware Sorgen. Seine Mutter war die Leiterin des städtischen Krisenzentrums. Sie jonglierte mit den Einsatzplänen von zwanzig Ehrenamtlichen, redete so lange auf Leute ein, bis die vom Brückengeländer wieder herunterkamen, und half Babys zur Welt zu bringen, deren Mütter es nicht mehr rechtzeitig in die Klinik schafften. Sie übernahm die Kontrolle, so als wäre die ein Paket, das mit ihrem Namen darauf vor der Haustür stand. So jemand hielt sich nicht den Kopf, als könnte der auseinanderbrechen.

»Dad! Big Deal geht’s gut. Das hat Mom doch gesagt. Wann kommt sie wieder raus?«

»Also, so weit geht’s ihr gut, sie hat gestern nur nicht auf ihren Blutzucker geachtet, der war zu niedrig. Bei ihrer Krankheit ist das nicht gut. Sie müssen ihr –«

»Bei ihrer Krankheit? Big Deal ist krank?«

»Na ja. Es ist … Sie ist nicht mehr die Jüngste. Aber sie ist gefallen und …«

»Ist Altsein eine Krankheit?«

»Sie ist gestürzt, das ist das Problem. Sie müssen sie durchchecken.«

»Ach so, okay. Was ist jetzt mit dem Plan?«

»Dem Plan?«

»Dass ich den Sommer über bei ihr bin, damit ihr Doppelschichten arbeiten könnt, Mom und du, um dieses Haus zu kaufen. Das war doch der Plan.«

»Ach so, ja. Stimmt, das war Plan A«, gab sein Vater ihm recht. Dann nahm er eine Broschüre über das Sommerlager der Stadt vom Tresen. »Plan B könnte ein bisschen anders aussehen.«

3

Ware stand an der Tür, die von der Küche in den Garten führte, und presste die Stirn ans Mückengitter. Dabei legte er sich seine Argumente zurecht.

Er könne gut allein zu Hause bleiben, er müsse ganz bestimmt nicht wieder am Sommerlager teilnehmen, wenn es das war, woran sie dachten. Dieses Sommerlager war nichts anderes als eine Art Kinderhort. Hitzepickel und Demütigungen gab’s als kostenlose Dreingabe. Das erste Mal hatte er im Sommer nach der ersten Klasse an dem Programm teilgenommen, und die Erinnerung daran tat noch immer weh. »Los, mach doch mit«, hatte einer der jugendlichen Betreuer ihn gedrängt.

»Ich mach ja mit«, hatte er verwirrt geantwortet.

»Aber nicht in der Gruppe, das meinte ich. Du stehst am Rand, außerhalb.«

Ware hatte die Situation genau betrachtet, hatte versucht zu sehen, was der Betreuer sah. Er selbst sah etwas anderes. Er sah einen großen Platz, über den sich jede Menge Kinder verteilten. »Bei Menschen ist außen ein Teil von innen«, hatte er versucht zu erklären. Dann war ihm die Hitze ins Gesicht gestiegen, als er sah, wie der Betreuer mit einem anderen tuschelte und lachte.

Genau in dem Moment hatte Ware begriffen, dass der Ort, an dem er sich immer so wohl gefühlt hatte – in ausreichend großem Abstand zu einer Situation, so dass er sie beobachten konnte –, auf seinem Wachturm, wie er später dachte, der falsche Ort war.

Anschließend hatte Ware versucht, die peinliche Episode zu vergessen. Aber dabei hatte er eine Lektion über die Widersprüchlichkeit des Gedächtnisses gelernt: Es war durchaus möglich, Dinge zu vergessen – Ware selbst, mit seinen damals sechs Jahren, vergaß regelmäßig, sich die Haare zu kämmen oder seine Lunchbox aus der Schule mit nach Hause zu bringen –, aber je mehr man sich anstrengte, etwas aus dem Gedächtnis auszuradieren, desto tiefer grub es sich hinein.

Doch auch die anderen Kinder hatten nichts vergessen. Das Außerhalb-Etikett blieb an ihm kleben, Sommer um Sommer, unsichtbar, aber nicht zu leugnen, wie ein schlechter Geruch, und da ließen sie ihn auch, außerhalb.

Für ihn war das ganz in Ordnung, auch wenn er von da an, wenn Erwachsene zuschauten, darauf achtete, dass es so aussah, als wäre er ein Teil der Gruppe. Das war gar nicht so schwer – für Erwachsene war Mitmachen einfach nur eine Sache der Geographie. Ein paar Schritte in die eine oder andere Richtung, das reichte schon.

Ausgeschlossen. Er würde nicht noch einmal hingehen. Nicht einmal für die Zeit, bis er nach Sunset Palms zurückkehren konnte, eine oder zwei Wochen.

Dort war er wirklich glücklich gewesen. Das Wasser im Schwimmbecken ging ihm nur bis knapp über den Kopf, und das Becken war so schmal, dass er beide Wände gleichzeitig berühren konnte. Aber wann immer er sich ins Wasser fallen ließ, hatte er sich gut gefühlt. Richtig gut. Irgendetwas daran hatte sich wie Dünger auf seine Phantasie ausgewirkt. Während er sich im Wasser treiben ließ, hatte er Dutzende guter Einfälle gehabt. Hunderte.

Und was noch besser war: Als er seiner Großmutter von seinem Referat über die Verteidigung mittelalterlicher Burgen erzählte und von seiner Idee, ein Modell so einer Burg zu bauen, um sich selbst ein Bild vom Leben der Ritter zu machen, war er direkt schockiert gewesen, als sie mit einer Handbewegung zum Esstisch hinüberzeigte und sagte: »Bau so ein Modell doch gleich da drüben auf. Essen können wir auch am Tresen, fertig.«

Wundervolle Tage hatte er danach in Sunset Palms erlebt. Von Streifzügen durch die Nachbarschaft hatte er alles Mögliche mitgebracht, was er für sein Modell brauchen konnte. Nächtelang hatte er an seiner Burg gebaut. Klar, ein bisschen Heimweh hatte er auch gehabt. Aber gleichzeitig hatte sich eine innere Anspannung, die er sein ganzes Leben lang gespürt hatte, gelöst.

Er ging durch den Garten auf der Suche nach etwas, wovon er seine Eltern überzeugen könnte, dass er damit leicht eine Woche oder so beschäftigt wäre. Der Garten schien entschuldigend mit den Achseln zu zucken. »Der Junge nimmt das Ödland in Augenschein«, ließ er die Kommentatorenstimme aus dem Off flüstern.

Ödland – das war vielleicht übertrieben, aber nicht sehr. Der Vermieter, Mr. Shepard, gehörte nicht zu den Hausbesitzern, die Geld in die Pflege eines Gartens investierten, und seine Eltern gehörten nicht zu der Sorte Eltern, die Zeit mit einem Rasen verbrachten, und so kam es, dass der Garten brachlag. Außer einem alten Schuppen mit allem möglichen Schrott, den die Vormieter vor zehn Jahren zurückgelassen hatten, gab es nur ein paar vor sich hin rostende Gartenstühle und einen schiefen Tisch. Alles schien ein letztes Mal nach Luft zu schnappen, bevor es endgültig im Unkraut unterging. »Ödland«, wiederholte Ware.

Aber genau das, so begriff er plötzlich, war doch eigentlich perfekt.

Er sprang von der Stufe. Eine phantastische Idee war ihm da gerade gekommen, und das sogar ohne die phantasiebefördernde Wirkung des Wassers.

Sollten seine Eltern dieses Haus am Ende des Sommers tatsächlich kaufen, dann würde ihnen auch der Garten gehören. Die metallenen Gartenstühle könnte man auseinandernehmen und zu Rüstungen umfunktionieren. Der Schuppen gäbe einen guten Thronsaal ab. Vom Gartentisch musste er nur die Beine absägen, schon hätte er eine Zugbrücke. Den schmalen seitlichen Teil des Gartens konnte er in eine Barbakane verwandeln, eine Burgtoranlage mit tödlichen Hindernissen für Angreifer. Kein kochendes Öl, logisch, aber ein Katapult musste er auf jeden Fall haben. Aus dem Holzzaun könnte er einen Wehrgang machen. Er würde Trittstufen hineinsägen, und mit etwas Anlauf könnte er hinaufspringen. Dieses letzte Bild war so befriedigend, dass er es sich gleich noch einmal vor Augen rief, dieses Mal in klassischer Rittersprache: Kinn hoch, Brust raus und immer kühn voran.

Ware ließ sich neben den Gartentisch fallen und streckte sich aus. Wieder einmal wünschte er sich, er hätte damals gelebt, im Mittelalter. Alles wäre viel einfacher gewesen, zumindest wenn man ein Ritter war. Ritter hatten ein Regelbuch – ihren Ehrenkodex –, das alles abdeckte: Dieses sollst du stets tun. Jenes sollst du stets unterlassen. Wenn man ein Ritter war, stand man immer am richtigen Ort.

Viel zu oft war Ware sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt stand. Manchmal fühlte er sich nämlich, als würde er schweben. Als triebe es ihn hin und her.

Seine Mutter hingegen, so wie damals die Ritter, funktionierte nach einem klaren Kodex, den sie jederzeit bereit war, mit ihm zu teilen. »Wenn du nicht drei Schritte vorausdenkst«, war eine ihrer Regeln, »bist du schon vier Schritte zurückgefallen.« Das Problem war nur – Ware hatte nicht die mindeste Ahnung, wie er ihr Puzzle aus guten Ratschlägen zusammensetzen sollte.

Sein Vater lebte ebenfalls nach einem Kodex, nur dass der in seinem Fall aus Sportlersprüchen bestand. Doch für Ware war dieses Regelbuch genauso unlesbar.

»Ware!«, rief in diesem Moment sein Vater von der Küche her.

An der Gereiztheit in der Stimme erkannte Ware, dass sein Vater ihn nicht zum ersten Mal gerufen hatte. Er sprang auf. »’tschuldigung. Was ist?«

»Reinkommen. Teambesprechung.«

4

Wares Mutter saß am Küchentisch, ihr Handy immer noch in der Hand.

»Was gibt’s?«

Sein Vater setzte sich und klopfte auf den freien Stuhl.

Ware blieb stehen. »Was ist passiert?«

»Als deine Großmutter gestürzt ist, hat sie sich die Hüften gebrochen. Beide!« Die Stimme seiner Mutter klang extrem heiter und entschlossen, hatte aber eine neue, unvertraute Tonhöhe erreicht. »Sie müssen beide ersetzt werden.«

»Ersetzt?« In Wares Kopf tauchten wenig hilfreiche Bilder von Dingen auf, die normalerweise ersetzt wurden: Batterien, Glühbirnen, Zahnbürsten. Eine Hüfte passte da nicht rein.

»Künstliche Gelenke. Ein chirurgischer Eingriff. Nichts, worüber ein Junge in deinem Alter sich Gedanken machen sollte.« Seine Mutter lächelte angestrengt, doch gleichzeitig zwinkerte sie heftig.

Ware hatte das Gefühl, dass seine Welt gerade leicht schrumpfte, so als hätte sie sich plötzlich daran erinnert, dass sie im Inneren hohl war. Konnte es sein, dass seine Mutter gleich zu weinen anfing?

Seinen Vater schienen diese glänzenden Augen genauso zu erschüttern wie Ware. Er übernahm. »Künstliche Hüftgelenke einzusetzen ist inzwischen eine Routineoperation, und deine Großmutter ist hart im Nehmen.«

Fast musste Ware lachen. Nicht nur hart im Nehmen. Big Deal stellte immer so bohrende Fragen – »sie ist nun mal sehr direkt«, erklärte seine Mutter entschuldigend –, und sie erwartete klare Antworten. Wann immer er sie sah, meistens nur an den Feiertagen, steuerte sie den Besuch wie ein Militärmanöver. Selbst der Truthahn an Thanksgiving schien zu salutieren, wenn sie vorbeiging. Im Grunde hatte er sich immer ein bisschen vor ihr gefürchtet.

Doch als er jetzt bei ihr gewesen war, hatte er die Kehrseite ihrer Härte kennengelernt. Statt sie gegen ihn zu verwenden, hatte sie ihn damit umgeben wie mit einem Schutzschild, zum Beispiel gegenüber den Zwillingskönigen.

»Ich kann ihr helfen, wenn ich nächste Woche wieder zurück bin. Irgendwelche Dinge für sie erledigen.«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Beide Hüften gleichzeitig, das bedeutet eine längere Reha. So schnell wird sie nicht nach Hause können. Diesen Sommer vermutlich nicht mehr. Und das heißt …«

Wares Mutter richtete sich auf. »Keine Sorge, Ware, ich hab deinen Sommer schon durchgeplant.«

Sofort war sie wieder munter. Sie liebte es, Zeitpläne zu entwerfen, dabei konnte sie auftanken. »Nein, Mom, bitte nicht«, versuchte er. Ihm selbst gaben Zeitpläne immer das Gefühl, in ein Fass voll Teer eingesogen zu werden.

»Ich kann dich morgens auf dem Weg zur Arbeit beim Gemeindezentrum absetzen. Nachmittags nimmst du den Bus um viertel vor vier nach Hause. Mittagessen geben wir dir mit; für den Mist, den sie dort servieren, bezahlen wir nicht. Was die Wochenenden angeht …«

Die Lampe über seinem Kopf schien auf einmal schwächer zu werden. Offenbar reichte es der Gemeinde nicht, ihm die Woche zu ruinieren – jetzt boten sie ihr Sommerlager auch noch samstags und sonntags an und versauten ihm damit das ganze Wochenende. Seine Mutter war schon beim nächsten Punkt, dem Abendessen, als Ware es schaffte, aus der Tiefe der Teerfasses einen Gurgellaut hervorzubringen. »Nein!«

»Wie bitte? Was heißt hier nein?«

»Das Sommerlager. Ich will zu Hause bleiben. Vashon ist noch bis August zu Hause, und Mikayla …«

»Du gehst, Ware. Was ich sagen wollte: An den meisten Abenden werden wir zwischen unseren Schichten beide kurz nach Hause kommen, aber –«

»Ich bin alt genug, um –«

»Du gehst zum Sommerlager. Nächster Punkt: Sonnencreme. Bevor du aus dem Haus gehst, cremst du dich gut ein. Lichtschutzfaktor 80 Minimum, hypoallergen. Ich besorg dir einen Vorrat. Vergiss nicht die Ohrläppchen. Achte auch darauf, dass du immer genug trinkst. Nächster Punkt: Mitte Juli …«

Ware warf seinem Vater einen Blick zu. Seine Mutter war diejenige, die die Regeln in der Familie aufstellte, aber manchmal …

Mit offenem Mund sah der Vater seine Frau fast anbetend an. Noch nach fünfzehn Ehejahren beeindruckte ihn die Art, wie seine Frau aus dem Stand in Aktion treten konnte.

»Dad, bitte! Ich bin elfeinhalb. In dem Alter nimmt kein Mensch mehr an Sommerlagern teil.«

Sein Vater riss sich von dem Anblick seiner Frau los und konzentrierte sich wieder auf Ware.

»Du bekommst eine Entschädigung. Wie wär’s mit einem neuen Fahrrad? Einem Basketballring? Was du willst. Ach, noch was: Du nimmst auf jeden Fall mein großes Erste-Hilfe-Set mit –«

»Ich weiß, was ich will: nicht zum Sommerlager gehen. Kann ich das haben?« Ware versuchte seine Überraschung über das, was er gerade gesagt hatte, zu verbergen. Seine Haut fühlte sich zu eng an, so als passte sie nicht über die neue, kühne Version von ihm selbst, zu der er in den gerade mal drei Wochen bei der Großmutter geworden war. Auch seine Mutter schien ziemlich überrascht. Sie öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Diese neue Erfahrung, dass ihr Körper sie so im Stich ließ, schien sie nur noch mehr zu verwirren.

Ware sah ihr nach, wie sie zur Spüle ging, einen Schwamm ausdrückte und anfing, mit heftigen Bewegungen den Küchentresen abzuwischen.

Dann hörte sie wieder auf. Lehnte den Kopf an die Seite des Kühlschranks. An den Bewegungen ihres Rückens sah Ware, dass seine Mutter, die Krisenzentrumsleiterin, der Babys und Brückenspringer gleichermaßen gehorchten, gerade Mühe hatte, der Luft Anweisungen zu geben, wie sie in ihre Lungen hinein- und dann wieder herauskommen sollte. Von dem Anblick tat Ware selbst die Brust weh.

Er stand auf und legte ihr die Arme um die Taille. Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn lange an.

Ihre Haare, die sie immer in einem festen Knoten im Nacken trug, hatten sich gelöst. Eine Strähne baumelte über dem Toaster. Der Toaster war zwar nicht an, und die Haare seiner Mutter waren natürlich nicht aus Metall, doch Ware hatte die Sorgenmachernatur seines Vaters geerbt. Dieser nasse Schwamm …

Unauffällig streckte er eine Hand aus und zog den Stecker aus der Steckdose.

Seine Mutter sah ihn überrascht an, so als versuchte sie sich zu erinnern, wer er war. Dann lächelte sie, als wäre es ihr plötzlich wieder eingefallen. »Du«, sagte sie mit einer Stimme, die so mitleidig klang, dass Ware sich eine Sekunde lang doch noch Hoffnungen machte.

»Tut mir leid«, seufzte sie. »Aber neben der Betreuung deiner Großmutter und den Doppelschichten können wir uns nicht auch noch um dich Sorgen machen, weil du den ganzen Tag allein bist.«

»Sorgen um deine Sicherheit«, fügte sein Vater hinzu.

»Wir müssen einfach wissen, dass du …« Seine Mutter griff nach der Sommerlager-Broschüre und las daraus vor. »… dass du deine Zeit in sinnvoller sozialer Interaktion mit anderen Kindern verbringst.« Sie nahm einen Magnet und knallte die Broschüre damit an den Kühlschrank. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges. »Und jetzt zieh dich an.«

5

Auf der ganzen Fahrt zum Gemeindezentrum hatte Ware kein Wort gesprochen.

Schon viel zu oft hatte es im Laufe der Jahre Diskussionen über diesen Punkt gegeben: Er hatte reichlich sinnvolle soziale Interaktion in der Schule. Jede Menge. Er hatte auch Freunde – Vashon und Mikayla. Und überhaupt, warum tat sie immer so, als wären zwei Freunde nicht genug?

Manchmal war er einfach gern allein. Manchmal brauchte er das. Wenn ihn das für seine Eltern zu einer Enttäuschung machte, nun – konnten sie ihr Pech nicht einfach akzeptieren?

Aber jetzt, wo er mit seiner Mutter am Empfang stand, um ihn anzumelden, da wünschte Ware, er hätte doch ein bisschen gekämpft. Mehr als ein bisschen. Warum hatte er nicht während der Fahrt die Autotür geöffnet und sich hinausfallen lassen – natürlich nur bei niedriger Geschwindigkeit und auf weiches Gras? Das hatte er mal in einem Film gesehen. Das Mädchen hatte sich zwar den Arm gebrochen, aber die Aufmerksamkeit der Mutter hatte es auf jeden Fall damit auf sich gezogen.

Mrs. Sanchez, die Leiterin des Sommerlagers, die immer so müde aussah, wie Ware sich fühlte, fing gerade an, die Regeln aufzusagen. »Das Gemeindezentrum haftet nicht für verlorene oder beschädigte Gegenstände; das Personal verabreicht keinerlei Medikamente …«

Ware schaltete ab – in fünf Sommern schon hatte er diese Regeln gehört – und ließ seinen Blick durch die Halle wandern.

Nichts hatte sich geändert. An den Betonwänden mit ihrem abgeplatzten, leukoplastfarbenen Anstrich hingen immer noch dieselben welligen Poster: RETTE EIN LEBEN – LERN DEN HEIMLICH-GRIFF – GIFTSCHLANGEN IN FLORIDA und, seltsamerweise: SO GELINGT PERFEKTER KAFFEE.

Am Boden sah man die Markierungen eines Basketballfeldes aus der Zeit, als hier eine Sporthalle gewesen war, an einem Ende hing auch noch ein Ring, doch die Basketbälle waren schon lange durch leichte Wifflebälle ersetzt worden, nachdem ein muskelbepacktes Kind es einmal geschafft hatte, einen Ball durch eines der Oberlichter zu schmettern. In den Dielen am Boden steckten noch immer Glassplitter.

Ganz am Ende befand sich die KUNSTHÜTTE, deren Name in doppelter Hinsicht unzutreffend war. Erstens war da überhaupt keine Hütte, und zweitens entstand dort nichts, was auch nur annähernd mit Kunst zu tun hatte. Jedenfalls nicht, wenn Kunst bedeutete, selbst kreativ zu werden, anstatt nur Anweisungen zu folgen wie »Zeichne die Umrisse deiner Hand, füge ein rotes Dreieck hinzu«.

Die Geräuschkulisse war immer noch die alte: das hohe Gekreische von Kindern, die dabei waren, die Bündnisse des kommenden Tages zu schmieden und ihre Schlachten vorzubereiten.

Am enttäuschendsten aber war, dass die Luft noch immer ganz genauso roch: nach ungewaschenen Füßen, nach Desinfektionsmittel und schwach, aber doch aufdringlich, nach dem Erbrochenen von Legionen kleiner Kinder, die mit tomatenroten Köpfen hereintaumelten, nachdem sie lange unter der sengenden Sonne Floridas herumgerannt waren, und jetzt ihr Mittagessen auswürgten. Ware hatte das auch schon getan. Bei der Erinnerung fühlte er, wie ihm sein Frühstück bedrohlich hochkam.

Er sah nur drei andere Kinder aus seiner Altersgruppe – den Elfern in diesem Jahr –, zwei Jungen und ein Mädchen. Alle drei gehörten zu denen, die die höhlenartigen Räume des Gemeindezentrums als unwiderstehliche Herausforderung, die Akustik zu testen, begriffen. Einer der Jungen fing Wares Blick auf und stieß ein kurzes Geheul aus. Der andere schluckte und ließ einen donnernden Rülpser hören.

Ware deutete einen Gruß an, indem er nickte und kurz die Hand hob, doch gleichzeitig spürte er, wie dieses Ding, das tief in seiner Brust wohnte und vermutlich seine Seele war, sich auf vertraute Weise zusammenzog.

Das Sommerlager hatte erst vor zwei Wochen begonnen, und doch hatten alle schon bei irgendwelchen Gruppen angedockt. Nur zwei Kinder standen allein am Rand.

Das eine war ein aufgeschossener Junge, den er nie zuvor gesehen hatte und dessen Hals wie ein Fernrohr aus einem gestreiften T-Shirt ragte. Nach einem Rundumblick durch die Halle tat der Junge so, als würde er die Ameisenfarm auf einer Fensterbank beobachten. Ware wusste, dass er nur so tat, denn die Ameisen waren schon vor Jahren, vermutlich an Langeweile, eingegangen.

Das zweite Kind war eine Siebenjährige. Das traurige Mädchen, so nannte er sie bei sich. Vor zwei Sommern, als sie zum ersten Mal gekommen war, hatte sie den kompletten ersten Tag an der Tür gestanden und geweint. Ihre stummen Tränen hatten Ware fast umgebracht. In einem verzweifelten Versuch, sie zu trocknen, hatte er ein paar älteren Mädchen das begehrte Plüscheinhorn weggenommen und ihr gebracht, doch sie hatte es nur an sich gepresst und die rotgeweinten Augen unter den schweren, tränenverklebten Wimpern weiterhin die ganze Zeit auf die Tür gerichtet.

Heute schaute das traurige Mädchen unglücklich auf einen Klumpen Play-Doh in seiner Hand. Die Knete hatte dieselbe beigerosa Farbe wie die Wände, und selbst vom Empfangspult aus konnte Ware erkennen, dass sie eingetrocknet war. Das Mädchen schaute auf und sah ihm direkt ins Gesicht, so als hätte sie seinen Blick gespürt. Sie drehte die Hand um, so dass die Knete auf den Boden fiel. Ware nickte mitfühlend.

Seine Mutter zog einen Scheck aus der Tasche und reichte ihn der Leiterin. »Das ist für das komplette Sommerpaket – also auch die Wochenenden.«

Mrs. Sanchez notierte »SOMMER – KOMPL.« hinter seinem Namen. So ähnlich könnte ein Richter, dachte Ware, vielleicht »STRAFMASS: TOD« unter ein Urteil schreiben. »Du kannst kommen, wann du willst. Trag dich nur an der Tür immer gleich in die Liste ein, damit wir wissen, wie viele da sind.«

»Oh, er kommt jeden …«, setzte seine Mutter an, doch die Leiterin war schon aufgesprungen, um ein Kind aus einer Mülltonne zu ziehen.

»Wie viel kostet das hier, Mom?«

»Darüber muss sich ein Kind keine Sorgen machen.«

»Ich mach mir keine Sorgen. Ich zahl dir das Doppelte, wenn du mich zu Hause bleiben lässt.« Das war sein neues, kühnes Ich, das da gesprochen hatte. Schließlich hatte er gerade mal sechsundvierzig Dollar in einer Schuhschachtel zu Hause, aber es war ein Akt der Verzweiflung.

»Ich muss zur Arbeit, wir sehen uns beim Abendessen.« Seine Mutter kramte in ihrer Stofftasche und zog eine Busfahrkarte heraus. »Für Juli. Die Bushaltestelle ist direkt vor der Tür.« Als Nächstes überreichte sie ihm noch das Erste-Hilfe-Set und ein Päckchen mit Desinfektionstüchern. »Wenn du irgendetwas angefasst hast …«

»Mom!«

Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche zu. »Versuch, ein bisschen Spaß zu haben, okay? Vielleicht findest du ja einen Freund.«

Ware gab auf. Er versuchte angestrengt, so etwas wie ein Lächeln auf seine Wangen zu bringen, und nickte. Dann ging er hinüber zu den Schließfächern und stopfte das Erste-Hilfe-Set und die feuchten Tücher ganz tief in eins hinein. Seinen Rucksack hängte er an einen Haken. Schon jetzt fühlte er sich erschöpft.

»Elfer!«, rief Mrs. Sanchez von der seitlichen Tür. »Ihr geht mit Kyle raus zum Laufspaß. Die Zehner genauso.«

Laufspaß. Den hatte Ware schon fast vergessen. Zwölfmal ums Gebäude herum. Erst gehen, dann marschieren und hüpfen und schließlich immer schneller und schneller rennen, bis es im Kopf pochte und einem der Schweiß über den Rücken lief, gefolgt von fünf Runden freier Bewegung, die aber nicht wirklich frei war, da man immer weiter im Kreis um das Gebäude herum laufen musste. Eine halbe Stunde Zwangssport. In manchen Jahren waren Kinder mit Krücken dabei gewesen und einmal sogar ein Junge in einem Rollstuhl – selbst die hatten mitmachen müssen, nur ein bisschen langsamer. Ware seufzte und machte sich auf den Weg zum Seitenausgang.