Hinterm Vorhang ist es still - Sylvia Giuliani - E-Book

Hinterm Vorhang ist es still E-Book

Sylvia Giuliani

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in eine bewegende Geschichte über Mut, Widerstand und die Suche nach einem neuen Anfang inmitten des historischen Umbruchs der Wendezeit.
Ulrike Giucaroni, eine leidenschaftliche und entschlossene junge Frau, arbeitet Ende der achtziger Jahre als Regieassistentin an einer kleinen Provinzbühne in der DDR. Neben ihrer Arbeit studiert sie Theaterwissenschaft und träumt von großen Inszenierungen. Trotz der politischen und beruflichen Hürden erkämpft sie sich ihre Chance, unterstützt von einem wohlwollenden Intendanten, der ihr Talent erkennt.
Doch als der Intendant zu Beginn der neuen Spielzeit plötzlich gen Westen flieht, gerät Ulrikes Welt ins Wanken. Sein Nachfolger, ein machthungriger Widersacher, nutzt die Gelegenheit, um sie kaltzustellen. Ulrike versucht verzweifelt, an ein anderes Theater zu wechseln, doch ihre Bemühungen scheitern.
Im Sommer 1989 scheint sich das Blatt erneut zu wenden, als ein neuer Intendant die Bühne übernimmt. Doch genau in diesem Moment zerbricht die DDR. Die Mauer fällt, und Ulrikes Leben wird von den politischen Umwälzungen mitgerissen. Wird sie in dieser neuen Welt ihren Platz finden und ihre Träume verwirklichen können?

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Sylvia Giulianiwurde 1958 in Berlin (Ost) geboren, hat 1976 in Schwedt/Oder das Abitur gemacht, an der Leipziger Universität Russisch (Staatsexamen) und an der Theaterhochschule Leipzig von 1982-1987 Theaterwissenschaften (Diplom) studiert, war von 1982-2000 Regieassistentin und Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Quedlinburg bzw. dem Nordharzer Städtebundtheater, ist dann nach Niedersachsen gezogen, hat 2003 in Bad Bevensen ihr Staatsexamen als Physiotherapeutin gemacht und bis 2013 in Braunschweig gelebt und gearbeitet. Seit 2014 ist sie in Norden (Ostfriesland) zu Hause.

»Hinterm Vorhang ist es still« ist ihr erster Roman.

Inhaltsverzeichnis

1988

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1989

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

1990

Kapitel 14

Kapitel 15

ANMERKUNGEN

1988

1

Sie sitzt allein am Regie-Tisch im riesigen Zuschauersaal der Waldbühne. Ein Windhauch wedelt die Blätter des Regiebuchs von »Romeo und Julia« hoch und drückt sie gegen das Mikrofon auf dem Tisch, es knattert aus den Lautsprechern. Ulrike lächelt und schließt das Buch. Der Tontechniker sitzt sicher schon in der Kantine vor seinem Bockwurst-mit-Brötchen-Teller, er wird mit längerer Kritik für die Schauspielkollegen nach der Generalprobe gerechnet haben, aber es lief fast zu gut. Sie sortiert die restlichen Kritiken für die technischen Abteilungen, die sie noch weitergeben muss, und ist auch damit schnell fertig. Martin Holz, ihr Oberspielleiter und »Romeo und Julia«-Regisseur, hatte nach der Kritik den Arm um sie gelegt und gesagt:

»Rikchen, machst du den Rest allein? Ich glaub, ich muss nochmal weg hier …«

Er hielt die Stunden zwischen Generalprobe und Premiere nie gut aus. Seine Nervosität vor großen Premieren wie dieser ist unerträglich. Er würde frühestens fünfzehn Minuten vor Beginn der Premiere hinter der Bühne auftauchen, von einem Schauspieler zum nächsten jagen, ihnen sein Toi-toi-toi über die linke Schulter spucken und wieder verschwinden. Meist unauffindbar. Je nach Spielstätte. Hatten sie in ihrem Stadttheater eine Premiere, fürchteten alle Kollegen hinter der Bühne sein Auftauchen während der laufenden Vorstellung, weil sein Lampenfieber ihm schlimmer als jeder Alkohol den Geist vernebelte und konzentriertes, fehlerfreies Arbeiten schwer machte. Hier auf der Waldbühne aber würde er irgendwo mitten im Wald an einem Baum gelehnt stehen, hören, was der Wind ihm an Wortfetzen oder Beifall zuträgt, seinen kleinen, edlen Flachmann aus der Sakkotasche ziehen, dem blassen Mond zuprosten und niemandem auf die Nerven gehen. Es gibt nicht mehr viele Gewohnheiten und Marotten, die Ulrike nach vier Spielzeiten als Regieassistentin von ihm nicht kennt. Sie klemmt sich ihr Regiebuch unter den Arm, den Stift zwischen Ohr und Brille in ihr dichtes, rötlich schimmerndes, lang über die Schultern fallendes Haar und springt die Treppenstufen hinunter auf die Bühne des in den Hang hineingebauten Freilichttheaters mit seinen über 1.400 Plätzen. Heidi, die Gewandmeisterin, kommt ihr entgegen, langsam, müde. Sie hat mit zwei Schneiderinnen noch bis in die Nacht an nötig gewordenen Änderungen gesessen und hebt jetzt fragend die Augenbrauen.

»Alles bestens, Heidi, auch Martin hat nichts mehr zu kritteln, das habt ihr wunderbar hingekriegt!«

»Hast du für uns auch noch was, Ulrike?«, der Bühnenmeister stapft aus dem Orchestergraben auf sie zu.

»Nee, Heinz, alles okay. Achtet bitte nur noch besser auf die Einsicht hinter der Bühne, die Kassenkollegen haben euch von oben gesehen, und kleb deinen Jungs bei Vorstellungsbeginn ein Pflaster über die Gusche! Die vergessen, was wir hier für eine Akustik haben, ich hör euch bis in die zehnte Reihe!«, sie zwinkert ihm zu.

Mehr muss sie nicht sagen. Heinz ist seit über dreißig Jahren Bühnenmeister und zuverlässig wie ein Uhrwerk. Tobias, der Requisiteur, dreht schuldbewusst die Hände nach oben.

»Nutzt nichts, Tobi, lass dir was einfallen, der Nebel war wieder zu dünn, dann müsst ihr es halt doch mit zwei Nebelmaschinen von beiden Seiten machen, borg dir einen Kollegen von der Technik aus!«

Die Requisite ist ständig unterbesetzt und Tobias hat inzwischen das Gesicht eines Prügelknaben mit Ohrfeigen-Abo. Sie knufft ihn in die Rippen.

»Sprich mit Heinz, der hilft euch«, sagt sie und geht zur Inspizientenseite weiter.

Susanne sitzt auf einem uralten Orchestergrabenstuhl, ihr mobiles Pult auf dem Schoß, die Beine gegen die Bühnenfelsen auf Nasenhöhe gestemmt, das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne haltend. Die Inspizientin ist eine aus der Volksbildung ausgestiegene ehemalige Lehrerin, Ulrike liebt das Arbeiten mit ihr, ihre Ruhe, auch in der größten Hektik, ihre Übersicht und Klarheit, ihren Humor.

»Suse? Hast du noch was?«

»Ich? Nö. Solange mein Pult Strom hat …«

Sie müssen lachen. In der Endprobenwoche gab es ein Gewitter, abends, Komplettprobe mit allem, es grollte hinterm Berg, aber auf der Bühne waren erst wenige Regentropfen gefallen. Sie wollten die Unterbrechung so lange wie möglich hinauszögern und plötzlich knallte es und alle Scheinwerfer gingen aus, der Toneinsatz brach ab und sie hörten im Zuschauersaal nur Suses kräftige Stimme: »Finito!«, und dann Tybalts Schrei auf der Bühne: »Scheiße!!!!«, was nicht im Textbuch stand.

Ulrike hält Suses Sachen, während die das Pult in den Technikschrank schließt. Als sie über die Bühne auf die Treppe nach oben Richtung Kantine zusteuern, sehen sie eine kräftig gebaute Frau hinter der letzten Reihe stehen und wild mit den Armen rudern. Suse grinst.

»Hannelörchen. Sieht aus, als meint sie dich.«

Ulrike dreht sich um, aber sie sind tatsächlich die Einzigen auf der Treppe. Mist. Hannelore ist die Intendanz-Sekretärin, lieb, rund, emsig, ihre Stimme ist das Kontrastprogramm zu ihrem Körper, weshalb sie sich auf der Waldbühne am liebsten in ihrem Büro hinterm Telefon verschanzt. Ihre uneleganten Verrenkungen bedeuten für Ulrike eine Pausenverkürzung.

»Was kann sie wollen?«, fragt Susanne.

»Keine Ahnung«, Ulrike verlangsamt ihren Schritt.

Sie will jetzt nichts mehr denken, sie liebt dieses Nichts, dieses Vakuum zwischen Generalprobe und Premiere, den Moment, wo sie weiß, ihre Arbeit ist getan, sie muss nichts mehr retten, nichts schlichten, nichts klären oder organisieren, nur ausatmen bis die Anspannung wieder steigt und das Premierenfieber um sich greift. Aber bis dahin sind noch gut drei Stunden Zeit. Für die Kollegen, die die Pause zu Hause in der kleinen Stadt verbringen wollen, ist der Theaterbus längst abgefahren, wer oben am Berg, im Wald bleibt, will die Ruhe und die Landschaft genießen, sucht seine stillen Lieblingsplätze auf oder liegt auf einer Zuschauerbank in der Sonne. Sie sind oben angekommen, Susanne geht in die Kantine vor, während Ulrike vor Hannelore stehen bleibt:

»Was gibt’s?«

»Hans-Werner fragt, ob du Zeit hast, jetzt gleich oder nach dem Essen, er will dich sprechen.«

»Wie – er will mich sprechen, mich allein? Martin ist doch schon weg!«

»Dich allein und ganz in Ruhe. Er wartet oben in seinem Büro auf dich, Kaffee hab ich euch schon gekocht.«

Sie lächelt der verdatterten Ulrike zu, dreht sich um und stakst Richtung Kantine davon.

Die Kantinenbockwurst ist vergessen, Ulrikes Kopf raucht, als sie über den großen Vorplatz an den Theaterkassen vorbei auf das Holzhaus zuläuft, das wie ein Ferienbungalow aussieht. Was will der Alte von ihr? Das jährliche Kadergespräch ist noch nicht dran, die Stimmung im »Romeo und Julia«-Ensemble ist gut, die Arbeit mit Martin lief fast zu harmonisch, der Alte hatte hocherfreut und zufrieden in der Generalprobe gesessen, kein kritisches Wort zu Martin, nur gemeinschaftliches Lästern über bekannte Schwächen der lieben Schauspielkollegen, Martin wie immer spitzzüngig, der Alte amüsiert-jovial, nein, Ulrike fällt kein Grund für ein Vier-Augen-Gespräch ein. Der Kaffeeduft schlägt ihr entgegen, als sie die Tür öffnet, die Holzbohlen knarren unter ihren Füßen, das macht die Klingel am Haus überflüssig. Hans-Werner Gerhardt kommt ihr aus seinem Büro entgegen, als sie noch unschlüssig in Hannelores Reich steht, sein Händedruck ist fest und warm, die Lachfalten an seinen Augen werden tiefer, als er in Ulrikes Gesicht schaut.

»Nimm Platz«, er schiebt sie sanft zur Clubsesselecke.

Aha, nicht zum Schreibtisch, Ulrikes Puls wird langsamer. Seit sie im zweiten Studienjahr ihres Fernstudiums an der Theaterhochschule für ein Semester auch seine persönliche Referentin war, schätzen sie sich gegenseitig sehr und Ulrike weiß, rein dienstliche Dinge werden am Schreibtisch übergeben und sind kaum verhandelbar. Die Clubsessel sind für persönliche Gespräche reserviert. Was will er? Er gießt den Kaffee in die bereitstehenden Tassen, sagt, auf Zucker und Sahne weisend: »Bediene dich«, und spricht erst weiter, als das Klingen der umrührenden Löffel in den Tassen verstummt ist. »Martins Inszenierungen auf unserer Sommerbühne sind eine sichere Bank, es wird gut laufen heute Abend«, er nimmt einen Schluck aus der Tasse, »und mir ist klar, wo deine Anteile an der Inszenierung liegen.«

Er trinkt wieder, behält Ulrike über den Tassenrand im Auge, sie hält dem Blick stand, sie mag das klare Blau seiner Augen, und nein, sie will nichts dazu sagen, er soll weiterreden. In die Stille hinein tickt die Kuckucksuhr an der Wand, ein Geschenk der Arbeiter einer Harzer Uhrenfabrik, mit dem sie sich im letzten Sommer für die Führung im Theater, die Gespräche und den Vorstellungsbesuch bedankten. Ticktackticktack. Er stellt die Tasse ab, lehnt sich zurück und blickt ihr wieder ins Gesicht.

»Ich möchte wissen, und zwar bevor ich mit den einzelnen Kollegen aus der Schauspielleitung rede und vor deinem offiziellen Kadergespräch demnächst, wo du dich am Ende dieser Spielzeit siehst. Du hast dein letztes Studienjahr vor dir, hast einen Regieassistenten-Vertrag mit Spielverpflichtung und die beiden zusätzlichen Dramaturgien diese Spielzeit waren aus meiner Sicht hervorragende Arbeit, wir sprachen darüber. Aber was fehlt dir vielleicht noch, wo brauchst du Unterstützung? Was wünschst du dir für die nächste Spielzeit?«

Ulrike lässt die Frage verklingen im Raum. Ticktacktick, ihre großen grünen Augen scheinen die Brillengläser zu sprengen, kein Irrtum möglich, die Frage löst sich nicht auf und sie glaubt für einen Sekundenbruchteil, noch nie in ihrem Leben diese Worte gehört zu haben: Was wünschst du dir?

»Ich will inszenieren«, platzt es aus ihr heraus, »und ich habe auch eine Idee, aber Martin will mich weiter zum Schauspielstudium überreden …«

»… lass Martin aus dem Spiel. Was ist das für eine Idee?«

Und Ulrike erzählt von der Faszination der Frauenmonologe von Maxie Wander, die sie seit zwei Jahren schon nicht loslässt, von der Studiobühne, in der geprobt wird, die man aber als Kleinspielstätte wunderbar nutzen könnte, nur vierzig bis fünfzig Zuschauer, was da an Dichtheit im Spiel und Interaktion mit dem Zuschauer möglich wäre, wie man unterschiedliche künstlerische Mittel miteinander verbinden und anschließend mit den Zuschauern ins Gespräch kommen könnte … Sie quillt über, endlich hört ihr jemand zu, sie sieht das Lächeln des Alten immer breiter werden, merkt gar nicht, dass sie inzwischen auf der Sesselkante sitzt und ihre wild gestikulierenden Arme mehrfach nur haarscharf einer Kollision mit der tief hängenden Lampe über dem Beistelltisch entgehen, und erst, als ihr die Luft ausgeht, fällt er ihr in den Satz:

»Gut. An welchen Umfang hast du gedacht, wieviel Monologe, welche Spieldauer, welcher Ausstattungsrahmen?«

Sie antwortet wie aus der Pistole geschossen. Maximal drei Monologe, Ausstattung aus dem Fundus, keine Werkstattzeit, aber Tontechnik, zögerlich dann:

»Die Lieder der Theresa Bahl, die würde ich gern verwenden, sie hat gerade ein neues Programm herausgebracht, das müsste ich aber noch recherchieren.«

Der Name der Liedermacherin kommt nicht als Reizwort bei ihm an. Sie wagt kaum noch zu atmen, ihre Augen kleben an ihm. Ticktackticktack.

»Deine Idee gefällt mir. Das ist auch machbar als zusätzliche Kleinproduktion.«

Ticktackticktack.

»Du machst das, und zwar alles: Regie und Dramaturgie!«

Ihr ungläubig fallender Unterkiefer und sprachlose Fassungslosigkeit wechseln mit rasender Geschwindigkeit in ihrem Gesicht zu überschäumender Freude und der Jubelschrei in ihrer Kehle wird nur von seiner nächsten Frage erstickt:

»Was brauchst du jetzt, damit wir das Projekt noch vor der Sommerpause in der Schauspielleitung verabschieden und der technischen Leitung vorstellen können?«

Ulrike holt tief Luft:

»Ich müsste nach Berlin ins Konzert der Bahl, den Kontakt mit ihr herstellen und um die einzelnen Lieder verhandeln. Und das Konzept ausfeilen, dramaturgisch sowieso, aber auch die szenische Grundidee. Die letzte Entscheidung in der Auswahl der Monologe fällt, wenn ich weiß, wen ich aus dem Ensemble zur Verfügung habe.«

Intendant Gerhardt sitzt mit übergeschlagenem Bein, auf der Sessellehne aufgestütztem Arm und den Kopf in der Hand zurückgelehnt da, ticktacktick, sein Blick ruht auf Ulrike, wandert von ihr zum Fenster, in die Bäume. Sie denkt voll Sehnsucht an eine Zigarette, als sie ihn sagen hört:

»Du reichst einen Urlaubsschein über drei Tage für Berlin ein und sagst mir Bescheid, solltest du Probleme haben, an die Konzertkarte heranzukommen. Deine Vorstellungsdienste in der Zeit kläre ich mit Martin. Sobald du zurück bist, meldest du dich bei mir und erstattest Bericht. Wir legen dann den Abgabetermin für deine komplette Inszenierungskonzeption fest.« Sein Blick kommt aus den Bäumen zurück zu ihr. »Ich weiß, die Zeit ist mehr als knapp, arbeite vor! Ich brauche keine Figurenanalysen in der Konzeption, aber ein schlüssiges, überzeugendes Gesamtkonzept. Die Neuartigkeit der Theaterform für unser Haus, die du mit diesem Abend entwickeln willst, das muss der Kern sein. Du kennst inzwischen alle unsere Bedenkenträger, du musst ein ganzes Arsenal von Gegenargumenten aus den Hosentaschen ziehen können, wenn wir mit deiner Konzeption in die Leitungsgremien gehen.«

Ulrike sitzt noch immer kerzengrade auf der Sesselkante, jedes Wort von ihm aufsaugend. Der Alte beugt sich vor, stützt seine Unterarme auf den Oberschenkeln ab und nimmt ihre Hände:

»Ich will, dass du das machst, Mädchen, du bist klug, du bist begabt, du hast die Kraft, aber wir beide wissen, dass es hier nicht um einen heiteren Volksliederabend geht. Es wird Widerstand geben, das muss dir klar sein, und dir ist auf lange Sicht nicht allein mit einer Anweisung und einem Aushang von mir geholfen.«

Er zieht sie hoch, ohne ihre Hände loszulassen, und geht mit ihr ans Fenster, weiter weg von Tür und Telefon. Der Griff seiner Hände wird fast schmerzhaft.

»Wir zwei schließen jetzt einen Pakt: Ich verspreche dir, das Hinterland und den Boden für deine erste eigene Inszenierung vorzubereiten, während du in Berlin bist und anschließend eine hieb- und stichfeste Konzeption für deine Inszenierung schreibst, die du in der nächsten Schauspielleitungssitzung vorstellst. Bis dahin zu niemandem, Ulrike, wirklich zu niemandem auch nur ein einziges Sterbenswörtchen, hörst du? Weder darüber, dass du inszenieren willst und wirst, noch über die Frauenmonologe. Man muss manchmal schweigen können, wenn etwas gelingen soll. Hast du verstanden?«

Ulrike nickt. Beklommenheit steigt in ihr hoch. Schweigen, wie soll das gehen? Der Alte, als hätte er ihren Gedanken gehört, lässt ihre Hände wieder los, führt sie am Arm zurück zu den beiden Clubsesseln und als sie wieder sitzen, sagt er:

»Wir haben über dein fünftes Studienjahr in Leipzig gesprochen und über deine beiden Prüfungen in zwei Wochen, den Stand deiner Vorbereitungen. Ich habe dich gefragt, wie wir dich unterstützen können und dir zusätzliche Studientage versprochen. Damit dürftest du die Neugier der Kollegen befriedigen können. Ich verlasse mich auf dich und dein Stillschweigen, bis ich dir grünes Licht gebe.«

Ulrike schluckt.

»Versprochen.«

Der Kaffee ist kalt geworden. Der Alte blickt auf die Uhr.

»Ab mit dir in die Kantine, iss was, sonst fällst du mir noch um! Wir sehen uns nachher.«

Sie stehen auf, er überragt sie um Haupteslänge, am liebsten hätte sie ihn umarmt, ticktacktick. Er legt lächelnd den Arm um ihre schmalen Schultern und geht so mit ihr zur Bürotür. Bevor er sie öffnet, geben sie sich die Hand und halten sie länger als nötig. Wortlos bestätigen ihre Hände den geschlossenen Pakt.

Als Ulrike die Bungalowtür hinter sich geschlossen hat, der Wind ihr ins Haar fährt und das Rauschen der Bäume ihr klarmacht, wo sie ist und was ihr Auftrag, die Füße sich Richtung Kantine in Bewegung setzen, ihr Magen plötzlich lautstark hungerknurrt und ihr Mund unbemerkt dauerlächelt, da reihen sich Buchstaben in ihrem Kopf: Was war das denn jetzt?! Ein Traum?! Sie bleibt abrupt stehen. In der Kantine werden noch mindestens ein Dutzend Kollegen sitzen und mindestens die Hälfte von ihnen wird vor Neugier platzen und herauskriegen wollen, was sie fast eine Stunde lang beim Alten gemacht hat. Nein, unmöglich, da kann sie nicht hin. Sie dreht um und läuft schnell in den Wald, bevor sie irgendjemand sehen und ansprechen kann. Vor drei Jahren hat sie eine kleine Lichtung zwischen hohen Bäumen gefunden, abseits der Wanderwege, und am Rand dieser Lichtung gibt es eine Mulde, wie für sie gemacht, ganz und gar mit weichem Moos ausgekleidet, das ist ihr Zufluchtsort, diesen Platz teilt sie mit niemandem, hierher flüchtet sie, wenn sie in Gefühlschaos geraten ist und sich sortieren muss, wenn sie Ruhe zum Nachdenken braucht, wenn sie einfach mal mit niemandem reden will, nur das weiche Moos unter sich spüren und riechen, die Wolken am Himmel ziehen sehen, den Vögeln zuhören. Das Alleinsein im Wald hat sie als etwas Wunderbares, Beschützendes, Heilsames im Alter von zehn Jahren für sich entdeckt. Ulrike wirft sich ins Moos, weder damals noch heute kennt sie das Gefühl von Angst. Sie schließt die Augen. Eine Woge von Glück fließt durch ihren Körper, wabert vom Kopf abwärts bis in die Füße. Ich werde inszenieren, denkt sie. Kein Traum. Ganz echt. Ganz wirklich. Nicht irgendwann, nicht erst wenn sie schon graue Haare hat und so müde und kaputt gespielt ist wie der Alte, nein, jetzt. Im Programmheft wird stehen: REGIE – Ulrike Giucaroni. Wie soll sie es schaffen, ihr Glück zu verstecken? Wie so schnell neben Vorstellungsdiensten und Prüfungsvorbereitung ihre Inszenierungskonzeption schreiben? Ein Specht sitzt hoch über ihr im Baum und hämmert sein Stakkato in den Stamm. Ein Roter Milan kreist über den Wipfeln. Sie legt die Hände in den Nacken und während ihre Augen dem Milan folgen, denkt sie: Genauso mache ich das, wie die Vögel, die Kraft gut einteilen und dann – fliegen …

Sie ist nicht ohne Ehrgeiz im Studium an der Hochschule, mit schlechteren Noten als Eins oder Zwei kann sie nicht gut leben, aber es passiert ihr nichts, wenn sie die Prüfungen nur mit Drei machen sollte, und sie kann nur dort, in der Prüfungsvorbereitung, die Zeit abknapsen für die Inszenierungskonzeption und die muss stehen, blitzsauber, wie eine Eins, unangreifbar. Der Alte hat recht, schlafende Hunde darf man nicht zu früh wecken. Wie war das? Wir haben über dein letztes Studienjahr in Leipzig gesprochen und über deine Prüfungen, sie kichert. Das ist gut, den meisten Kollegen ist sowieso schleierhaft, wieso sie sich das mit dem Hochschulfernstudium überhaupt antut, wo sie doch schon einen Studienabschluss hat und man damit als Quereinsteiger und als Frau bitteschön ja sowieso auch ganz anders zum Ziel kommen kann. Sie schüttelt unmerklich den Kopf, nie würde sie verstehen, wie man so denken kann. Ein Geräusch aus ihrem Körper irritiert sie – ach, der Magen! Sie schaut auf die Uhr. Oh verdammt, jetzt wird’s Zeit. Sie springt auf und klopft sich die Hosen ab. Essen muss sie unbedingt noch was, bevor das Lampenfieber jede Nahrungsaufnahme unmöglich macht, und dann wird es Zeit, die Bühne abzugehen und alle Abteilungen abzufragen, die kleinen, längst vorbereiteten Premierengeschenke auf den Garderobentischen zu drapieren, die Schauspielkollegen hinter der Bühne aufzufangen und für Ruhe zu sorgen.

Die Sonne knallt auf den Theatervorplatz, als sie aus dem Wald tritt, und die Staubwolke, die der Theaterbus aufgewirbelt hat, legt sich gerade wieder. Sie geht am Bus vorbei, aus dem die Kollegen aussteigen, die die Pause zu Hause verbracht haben. Schorsch springt ihr aus dem Bus direkt vor die Füße und freut sich über ihren Schreck. Er legt den Arm um ihre Schulter, sie greift um seine Hüfte, sie schieben ihre Becken übertrieben weit im Gleichschritt tänzelnd von links nach rechts raus, sie hätte vorhersagen können, wer hinter ihnen laut anfängt zu juchzen und zu gackern, links, rechts, links, rechts, links.

»Na Kleene, wie sieht’s aus? Geht’s dir gut?«

Ulrike strahlt ihn an:

»Bestens, Großer, wir sind ausverkauft, die Sonne scheint, es wird wundervoll!«

Immer noch aneinandergedrückt hüpfen sie wie die Kinder im Schlusssprung drei Stufen hinunter, Ulrike reißt sich los: »Wer ist zuerst an der Bockwurst!?«

Sie rennen durch den Bühneneingang in die Kantine, Ulrike schlägt als Erste am Tresen an und dreht sich lachend um zu Schorsch:

»Langer, du kriegst mich nie!«

2

Die Bühne liegt im gedämpften Zwielicht weniger Scheinwerfer, die Bühnenmitte hell genug, um beim Tanzen nicht zu stolpern, ringsum an Granit- und Pappfelswänden, auf Steinstufen und grasigen Zwischenebenen schummrig genug, um in kleinen und größeren Runden ungestört herumlästern oder Witzchen reißen zu können, neue Intrigen anzukochen oder vermeintliche Geheimnisse zu verraten, lautes Lachen und leises Tuscheln im Dröhnen der Bühnenlautsprecher. Jörg, Tontechniker mit Schallplattenunterhalterausweis, gibt nach gelungenen Premieren gern sein Bestes, Ulrike ist glücklich und beschwipst genug, um raumgreifend und entfesselt zu tanzen. Sie genoss es immer, von Schorsch beim Rock ’n’ Roll durch die Luft gewirbelt zu werden und die Kollegen mit Saltos und Flickflacks auf dem Betonbühnenboden zu schocken. Und Beifall!!! Sie verbeugen sich clownesk und wie ein Eiskunstlaufpaar, Schorsch anderthalb Köpfe größer als Ulrike, vor den um sie im Kreis stehenden, klatschenden, pfeifenden und johlenden Kollegen. Es geht auf Mitternacht zu, zwei Stunden nach der Premiere ist kaum noch jemand nüchtern bis auf die, die um die Zeit noch freiwillig Dienst schieben, Theaterfuhrpark und technische Leitung. Die Kantine ist für solche Feiern von der Gewerkschaft subventioniert. Ulrike schnappt nach Luft und steuert auf die rechte Bühnenseite mit den Felsentreppen zu, auf denen sie ihre Sachen abgelegt und ihre Getränke gebunkert haben. Auch Martin steht applaudierend auf der Seite, flankiert von einigen Schauspielkollegen, von denen er sich löst, als sich Ulrike nähert.

»Rike, du bist großartig! Ich komme auf ganz neue Ideen, wenn ich dich so sehe«, er zwinkert ihr zu, umarmt sie und entführt sie mit zwei eleganten Tanzschritten aus Georgs Dunstkreis.

»Schade, dass ich aus der großen Ballszene im »Aschenputtel« nächste Spielzeit keine Rock-’n’-Roll-Nacht machen kann. Aber vielleicht sollte ich über dich als Zweitbesetzung für das Aschenputtel nachdenken.«

»Martin, bitte, wir haben doch schon so oft darüber gesprochen, ich …«, sie ringt nach Luft.

»Was guckst du so entsetzt? Ich meine das ernst und bitte dich nochmal, darüber nachzudenken. Wer weiß, wie lange es diese externe Schauspielausbildung noch gibt!«

»He, du hörst einfach nicht zu!«

Mit einem Ruck dreht sich Ulrike aus Martins Armen und baut sich vor ihm auf.

»Sieh mich doch mal richtig an! Ich bin keine achtzehn Jahre mehr, Mann, sondern sechsundzwanzig und schließe nächstes Jahr mein zweites Studium ab und ich habe mitten im Gesicht eine gottverdammte Brille, ohne die ich fast blind bin, und die Kontaktlinsen, die ihr mir versorgt habt, sind die Hölle für meine Augen, die bringen mich um! Was soll das, Aschenputtel mit Brille? Eine halbblinde Schauspielerin auf der Bühne?! Hör auf zu grinsen, du bist blind und das ist überhaupt nicht witzig!«

Einige Kollegen haben ihre Gespräche unterbrochen und schauen neugierig zu den beiden herüber, Martin zieht sie etwas weiter weg, zu einer Bank auf der linken Bühnenseite, aber Ulrike reißt sich los:

»Dass ich ab und zu Spaß daran habe, auf der Bühne zu stehen, heißt nicht, dass ich damit mein Leben verbringen will. Mit meinem Theaterwissenschaftsdiplom habe ich mehr Möglichkeiten und die will ich ausschöpfen, Martin, als Dramaturgin oder auf dem Regiestuhl.«

»Hast du darüber heute mit dem Alten gesprochen?«

Martins Frage klingt beiläufig, er lächelt sie an.

Verdammt. Vorsicht. War sie zu weit gegangen? Ulrike lächelt zurück.

»Wir haben nur über mein Studium gesprochen, ich habe zwei Hauptprüfungen jetzt, und über meinen Abschluss nächstes Jahr, und er will schauen, wie er mich mehr unterstützen kann, auch mit zusätzlichen Studientagen.«

Sie merkt, dass sie plappert, zu schnell auch, Martins Augenbrauen ziehen sich hoch, da dröhnen die Lautsprecher wieder und die nächste Tanzrunde wird von Jörg, dem Tontechniker, eingeläutet. Georg nähert sich breit grinsend mit etwas unsicherem Gang, verbeugt sich vor Martin: »Eminenz, tut mir leid, ich muss die Prinzessin entführen.«

»Na ja, wenn die Prinzessin das zulässt?«

»Geh zu ihr« von den Puhdys wird abgefahren, nichts zum Zusammentanzen, erleichtert läuft Ulrike zwischen den beiden Männern hindurch auf die sich schnell füllende Tanzfläche, wo sie mit Hallo von den tanzenden Kollegen empfangen wird. Keiner, der den Text nicht kennt, jeder tanzt jeden an und der Chor ist gewaltig. Das Ensemble lässt das »Romeo und Julia«-Paar Maja und Stephan in der Mitte tanzen. Die beiden sind sich in den Proben auch privat so nahegekommen, dass Spekulationen über ihre Zukunft die Gerüchteküche anheizen. Ulrike spürt Georgs Hände, die sich von hinten auf ihren Bauch legen, als sich die ersten Akkorde von Simon & Garfunkels »The Boxer« in der sternenklaren Nacht ausbreiten. Sie dreht sich zu ihm um, ihr Körper schwingt im Rhythmus der Klänge, Georgs Hände wandern auf ihren Rücken, lassen nicht los. Sein Kopf nähert sich, Ulrike weicht seinen Lippen aus und zieht seinen Kopf so weit zu sich heran, dass sie beim Sprechen in sein Ohr atmet.

»Schorsch, ich hätte das Küchenmesser deiner Frau im Bauch, wenn sie uns beide hier sehen würde.«

Georg presst sie so an sich, dass sie seine spürbar wachsende Erregung fühlt, und obwohl ihr fast die Luft wegbleibt vom Griff seiner Arme um ihren Körper, spricht sie weiter in sein Ohr:

»Es ist ein Glück für dich und für mich, dass sie sich mit ihrem dicken Babybauch nicht mehr auf den Berg wagt.«

Ziel erreicht, denkt sie, als der Druck seiner langen, um sie geschlungenen Arme nachlässt. Noch immer schwingen ihre Körper im betörenden Rhythmus der Musik. Ulrike hebt den Kopf und begegnet seinen flehenden Augen. Dackelblick nennt sie das bei sich, was sie sieht, auch ohne sein gestöhntes »Ulriiiike …«. Sie macht sich sanft los und zieht ihn hinter sich her von der Tanzfläche weg in eine Seitenbühnennische.

»Schorsch, vergiss diesen einen Kuss und den nächtlichen Spaziergang nach der Hauptprobe, bitte!«

Er antwortet nicht, versucht, sie wieder an sich zu ziehen, und drückt sie mit seinem Körper an die Felswand, als er ihren Widerstand spürt.

»Verdammt, Schorsch!!!«, ihre Fäuste trommeln auf seiner Brust, »ich liebe dich, ja, aber als begnadeten Schauspieler und als Freund! Deinen Hormonstau musst du woanders loswerden!«

Sie ist lauter geworden mit dem letzten Satz, schlagartig lässt er ab von ihr. Maja taucht in der Seitengasse auf.

»Uli, musst du gerettet werden?«, sie lacht schelmisch und bleibt abwartend stehen.

»Nicht nötig, alles okay«, Ulrike lässt Georg stehen, fasst nach Majas Hand und sie rennen ins tanzende Getümmel zurück.

Als Jörg die letzten Titel ansagt, setzen sich Maja und Ulrike an den Bühnenrand auf eine Treppenstufe und greifen nach ihren halbvollen Bierflaschen.

»Prost, auf uns! Und ich danke dir, Uli, für alles. Ohne dich hätte es zwischen Martin und mir in den Proben viel öfter geknallt, ich wusste am Anfang oft nicht, was er will, und bin furchtbar geschwommen.«

»Ihr hattet einfach unterschiedliche Arbeitssprachen und eure Energien Explosionspotential«, Ulrike grinst, »ich hab nur den Transformator gegeben.«

»Nee, du warst weit mehr, deine Ideen haben uns manchmal gerettet, Stephan und mich, und Martins Vertrauen zu dir hat das Arbeiten so schön gemacht. Dass Atmosphäre sich so harmonisieren kann, habe ich selten erlebt.«

Ihre Flaschen machen beim Anstoßen dumpfe Geräusche. Ulrike blickt zu Martin hinüber auf die andere Bühnenseite, der diskutiert sehr lebhaft mit Stephan, und Ulrike bleibt mit den Augen bei den beiden Männern, als sie fragt:

»Wirst du an den spielfreien Tagen hierbleiben oder nach Berlin fahren?«

Majas Hand greift in Ulrikes dichtes Haar und wurschtelt ihr alles durcheinander:

»He du!! Was fragst du so?«

Sie lachen glucksend, Ulrike macht sich frei, Majas Augen wandern wieder zu Stephan.

»Ich kann mir gerade nicht vorstellen, auch nur einen Tag ohne ihn zu sein.«

»Heißt, du bleibst hier?«

»Brauchst du ein Bett in Berlin? Du kannst jederzeit bei mir übernachten!«

»Der Alte gibt mir zusätzliche Studientage und die könnte ich in Berlin gut nutzen. Ich will unbedingt im Deutschen Theater was sehen und wenn’s klappt, ins Konzert von Theresa Bahl, in die WABE.«

»Kein Problem. Sag mir wann und du kriegst meine Wohnungsschlüssel. Hast du denn schon Karten für das Konzert?«

»Nee, ich telefoniere morgen Vormittag, wenn ich unten im Haus in der Dramaturgie bin.«

»Meine Schwester arbeitet in der WABE, wir kriegen dich da rein, auch wenn’s ausverkauft ist.«

»Mensch, das ist ja noch ein Premierengeschenk!«, glücklich umarmt sie Maja.

Als sie im Theaterbus auf der hintersten Bank sitzen, Maja zwischen Stephan und Ulrike, den Kopf auf Stephans Schulter, Ulrike durch die Scheiben in die Sterne schauend und sich schon nach Berlin träumend, richtet sich Maja plötzlich kerzengerade auf und schaut suchend durch den Bus.

»Was ist?«, Ulrike dreht den Kopf zu Maja.

»Wo ist denn Georg? Ist der oben am Berg geblieben?«

»Keine Ahnung«, Ulrike will zurück in ihren Traum von Berlin.

»Uli?«, Majas Kopf wechselt von Stephans rechter Schulter auf Ulrikes linke. »Der Georg ist richtig verliebt in dich«, brabbelt sie ihr verschwörerisch ins Ohr.

»Hmhmm, und er ist verheiratet mit einer krankhaft eifersüchtigen und gerade im achten Monat schwangeren Frau, die aus irgendeinem Grunde auch niemand im Theater haben und sehen will, und ich will nicht Nummer fünfzig auf Schorschis Eroberungsliste sein!«

»Mein Gott, bist du hart«, kichernd rollt sich Maja wieder nach rechts auf Stephans Schulter und küsst den Schlafenden von unten aufs Kinn.

Ulrike will nicht an Schorsch denken. Sie mag den Flirt mit ihm, sie mag das Kribbeln im Bauch beim Tanzen mit ihm, aber sie fürchtet Beziehungschaos und will sich auf keinen Fall binden, schon gar nicht an einen verheirateten Kollegen, den sie als Freund braucht. Schorsch soll erstmal seinen Rausch ausschlafen, egal wo. Morgen ist ein neuer Tag. Und Berlin ruft!

3

Rattamrattam, das Rattern der Räder des Bummelzuges paart sich beim Blick aus dem Zugfenster mit der im Licht der aufgehenden Sonne vorbeiziehenden Landschaft. Felder, Wiesen, Teiche, Wälder … Ulrike hat den ersten Zug genommen, noch vor Sonnenaufgang. Sie muss in der Bezirkshauptstadt den D-Zug nach Berlin kriegen, um am frühen Nachmittag anzukommen. Es ist Samstag, sie sitzt allein im Waggon, auf einem Fensterplatz, das Kinn in die Hand gestützt, mit dem Ellenbogen an der Scheibe. Schon als Kind hat sie das geliebt, wenn der Vater sie in Berlin-Schönefeld in den Zug setzte, nachdem er dem Schaffner seine kleine Tochter gezeigt und ihn gebeten hatte darauf zu achten, dass sie auch nach mehreren Stunden Fahrt am richtigen Bahnhof aussteigt und dort zum richtigen Anschlusszug nach Hettstedt gebracht wird. Am Fenster sitzen und stundenlang hinaussehen, ja nichts verpassen, kein Reh, kein Dorf, keinen Adler oder Storch am Himmel. Es war aufregend für sie, als Kind allein verreisen zu dürfen, beim ersten Mal, als Siebenjährige, noch mit Pappschild um den Hals, stolz und voller Vorfreude auf zwei Wochen Ferien bei der Großmutter in einer anderen Welt, aus der Hauptstadt und der modernen Plattenbauwohnung in die kleine Stadt im Südharz, wo die Großmutter in einem für das Großstadtkind unsagbar alten Haus mit Plumpsklo auf dem Hof eine Stube und eine winzige Küche unterm Dach hatte und sie in einer Bodenkammer in dem Bett schlief, in dem auch ihr Vati geschlafen hatte, bis er als Achtzehnjähriger nach Berlin aufbrach, weil er nicht mehr mit der Grubenlampe in den Schacht einfahren wollte. Wie lange ist das her, Plumpsklo und Nachttopf unterm Bett? Fünfzehn Jahre und mehr. Die Großmutter schon begraben, sie weiß nicht einmal wo. Die Gedanken an die Großmutter und die Eltern drohen den Tag zu verdunkeln, Ulrike verjagt sie. In ihrer Jackentasche knistert der unterschriebene Urlaubsschein für drei Tage in Berlin und ihr Herz macht einen Sprung beim Gedanken an ihre Heimatstadt. Trotz aller Umzüge der Eltern hat sie dieses Gefühl für Berlin nie verloren, das war der Abenteuerspielplatz ihrer Kindheit, die Wohnung der Großtante in Berlin-Weißensee ihr Zufluchtsort bis zum Auszug bei den Eltern und wann immer sie in einem Zug nach Berlin saß, dachte sie: Ich fahre nach Hause. Ihre Hand tastet nach Majas Wohnungsschlüssel in der Handtasche auf ihrem Schoß, er ist beruhigend warm und verstärkt ihre Vorfreude. Sie zieht den Urlaubsschein heraus, ohne den kein künstlerisch Beschäftigter die Stadt verlassen darf, auch wenn er laut Tagesplan weder Probe noch Vorstellung haben sollte. Ständige Erreichbarkeit ist für den Fall von notwendigen Planänderungen Pflicht und Ulrike ist Disziplin gewohnt, niemals hätte sie die Stadt ohne Urlaubsschein verlassen. Fast zärtlich streicht sie über den schmalen Papierstreifen mit der Unterschrift des Alten.

Sie stand mit dem Rücken zur Tür an der Bücherwand der Dramaturgie gestern Nachmittag, als Martin nach kurzem Anklopfen die Tür aufriss, den Schein in die Höhe hielt und damit wedelte, als wolle er sagen: »Was krieg ich dafür, wenn ich ihn dir gebe?«

Sie war dabei, den großen antiquarischen Theatergeschichtsband aus dem obersten Regal zu ziehen, den sie sich für die Prüfungsvorbereitung mit nach Hause nehmen wollte. Ihre Hand blieb oben am Buch, sie warf Martin einen fragenden Schulterblick zu und während sie sein fröhliches »Ich hab was für dich!« und das Stuhlrücken in ihrem Rücken hörte, bevor er sich setzte, spannte sich ihr Körper. Verdammt, sie hasste dieses Versteckspiel und die Angst, sich zu verquatschen. Hätte der Alte ihr den Urlaubsschein nicht selbst bringen oder zur Pforte legen können? Ruhig und locker bleiben, dachte sie, nahm das schwere Buch mit beiden Händen aus dem Regal und drehte sich zu Martin um.

»Prüfung?«, er neigte den Kopf, um den Buchtitel lesen zu können.

»Weißt du doch, in knapp zwei Wochen.«

»Du wirst das mit links machen, oder musst du dir für Theatergeschichte das Rüstzeug in Berlin holen?«

Wieder wedelte er mit dem Schein. Ulrike weiß, wie gern er provoziert. Sie ließ das Buch mit lautem Krachen aus der Höhe auf den Tisch fallen, registrierte Martins erschrockenes Zusammenzucken, riss ihr rechtes Bein gestreckt hoch, legte es über das Buch wie auf eine Ballettstange, näherte sich Martins Kopf so sehr, dass sich ihre Nasen fast berührten und ihre langen Haare ihren Fuß zudeckten, und röhrte mit rauchigem Marlene-Dietrich-Timbre in der Stimme:

»No, Sir! Aber wenn man schöne Beine haben will, muss man sie von den Blicken der Männer massieren lassen«, nahm ihr Bein wieder mit Schwung vom Tisch, setzte sich Martin gegenüber, legte die Arme auf das Buch wie auf ein Kopfkissen, ihren Kopf auf die Arme, blickte Martin von unten grinsend an:

»Und für die Prüfungen brauche ich ein gestärktes Selbstbewusstsein mittels Berliner Kopfmassage.«

Ihr war egal, ob er verstand, was genau sie damit meinte, aber der Mini-Cancan verfing sofort.

»Hier hast du die Reiseerlaubnis zur Kopfmassage«, er schob ihr den Urlaubsschein über den Tisch zu, »aber atme mir nicht zu viel Berliner Luft, ich brauche dich hier!«

Rattamrattam. Ulrike versucht, sich an jedes Detail des Gesprächs mit Martin am Vortag zu erinnern. Sie wollte ihn loswerden, nachdem sie den Urlaubsschein in ihrem Taschenkalender verstaut hatte, und packte geschäftig ihre große Schultertasche voll, Martin sah ihr zu und auch als ihr Schreibtisch akkurat aufgeräumt war, rührte er sich nicht vom Fleck. Erst als sie mit der schweren Tasche in den Armen auffordernd vor ihm stand, sagte er:

»Setz dich doch bitte nochmal, nur ein paar Minuten.«

Nur weil sie spürte, wie wichtig es ihm war und wie ernst, setzte sie sich, wenn auch widerstrebend, die Tasche wie ein Schutzschild auf dem Schoß festhaltend.

»Seit ich das letzte Mal zum Absolventenvorspiel an der Schauspielschule war, weiß ich, wir haben kaum eine Chance auf auch nur einen wirklich guten Absolventen, Ulrike, wir sind als Theater zu klein, zu uninteressant für die jungen Leute, zu weit weg, viel zu sehr an der Peripherie. Ich bin froh, dass wir weiter extern ausbilden dürfen, und auch wenn du es nicht mehr hören kannst, ich bin überzeugt davon, dass du die Aufnahmeprüfung an der Busch in Berlin bestehen würdest, und es wäre mir ein Fest, mit dir als Schauspielerin zu arbeiten.«

Ulrike musste schlucken und versuchte sich zu retten mit:

»Martin! Das klingt ja fast wie ein Antrag!«

Linkisch, es missglückte, Martin schaute ihr unverwandt ernst und auf Antwort wartend in die Augen. Ulrike drückte die Tasche noch fester an sich und holte tief Luft:

»Dass du so sehr daran glaubst, ich könnte eine gute Schauspielerin werden, das verwirrt mich, ich sehe mich anders und vor allem: ich habe einen anderen Traum und dieser Traum hat viel mit Freiheit und mit Unabhängigkeit zu tun, mit viel mehr Freiheit, als ich sie je als Schauspielerin hätte, verstehst du?«

»Nein, ich würde dir immer alle Freiheiten auf der Bühne lassen!«

»Nein, das würdest du nicht! Weil du ein guter Regisseur bist, und als solcher tust du alles, und zwar mit aller Raffinesse und mit allen Tricks, dass du den Kollegen da oben auf der Bühne genau dahin bringst, wo du ihn hinhaben willst!«

Sie ließ Martins Einwand, zu dem er startete, nicht zu und hielt seine erhobene Hand fest:

»Martin, ich ertrage das auf Dauer nicht, mir von anderen sagen zu lassen, wo es hingehen soll. Ich weiß, ich halte das nicht lange aus! Mit dir vielleicht noch eine kleine Weile, weil wir uns vertrauen, aber was wird aus mir beim ersten hohlen Rohr von Gastregisseur, mit dem ich nicht klarkomme?!«

»Gib uns doch die Chance, Rike, dir und mir und dem kleinen Nudelbrett hier! Ich hätte dich so gern als Aschenputtel in der Zweitbesetzung, die Besucherabteilung will die Anzahl der Vorstellungen in der Weihnachtszeit mit Gastspielen erhöhen, das schaffen wir nur mit Zweitbesetzung!«

Ulrike schüttelte den Kopf.

»Ich werde dir wie immer mit aller Akribie eine gute Regieassistentin sein, du wirst dich wie immer darauf verlassen können, dass ich, ganz gleich wer ausfällt, in jedes Kostüm springe und der Vorhang hochgehen wird, aber ich will dieses Schauspielstudium nicht, Martin, begreif das!«

Sie sah die Enttäuschung in Martins Gesicht.

»Ich verteidige nächstes Jahr mein Diplom als Theaterwissenschaftlerin und ich will mehr, Martin, mehr Verantwortung, mehr Mitsprache.«

»Mehr Mitsprache? Aber du sitzt doch jetzt schon mit in jeder Schauspielleitungssitzung! Und wir hören dir doch zu!«

»Ja, und beschließt dann Stückpositionen, die auf eurer Wunschliste stehen, weil ihr das kraft eurer Verträge auch durchsetzen könnt, ich bin als Assistentin Fußvolk!«

»Ist das ein Vorwurf?«

Martins Enttäuschung wurde maßlos.

»Nein! Aber ich will, dass du mich verstehst, wenn ich mich am Ende der nächsten Spielzeit, nach Studienabschluss, um einen anderen Vertrag bemühe.«

»Und was sollte das für ein Vertrag sein?«

»Das verhandle ich nicht mit dir, Martin, aber du weißt, das Übliche ist die Arbeit als Schauspieldramaturg, die Stelle ist da und außerdem geht Hubert bald in Rente.«

»Rike, davon träumst du nicht wirklich, du brauchst die Bühne!«

Ulrike lachte.

»Vielleicht brauche ich das ja alles, Martin, wer weiß! Und übrigens: wieviel weibliche Regisseure haben wir gleich nochmal im Lande? Und gibt es eigentlich schon irgendwo einen weiblichen Oberspielleiter?«

Martin prustete.

»Lach nicht! Wir haben die Gleichberechtigung der Frau in der Verfassung stehen, schon seit meiner Kindheit, und ich bin genauso erzogen worden und was ist? Ich bin die einzige Frau in der Schauspielleitung, aber nur als Gast, dank Frauenförderungsplan und Fernstudium, ohne Stimmrecht und dank männlichem Wohlwollen.«

»Rikchen, jetzt halt die Luft an!«

Martin stand auf und ging zum Fenster.

»Mach ich, aber es bleibt bei meinem Nein zu deinen Plänen. Und jetzt, Martinchen, muss das Rikchen nochmal schnell nach Hause und packen für den Berlin-Trip, bevor wir zur Vorstellung auf den Berg fahren, mein Zug geht kurz vor Sonnenaufgang!«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um Martin einen Kuss auf die Wange zu drücken, und verließ die Dramaturgie, bevor er reagieren konnte.

Habe ich mich zu weit aus dem Fenster gelehnt, zu viel geredet, mehr gesagt, als gut ist? Ulrike grübelt noch, als die Zugbremsen anfangen zu quietschen, die Waggons ruckeln beim Einfahren in den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig hört sie die Ansage für die Verspätung des D-Zugs nach Berlin.

Prima, denkt sie, dann bleibt Zeit für einen Kaffee in der Mitropa und zieht schon mal im Gehen die Zigarettenschachtel aus der Tasche.

Ostbahnhof, der Zug fährt ein, Ulrikes Herz schlägt schneller. Sie steigt aus, lässt sich in der Bahnhofsmenschenmenge die Treppe hinunter treiben auf den langen, ihr immer etwas unheimlichen, schummrigen Gang zu den anderen Bahnsteigen. Da ist der Aufgang zum S-Bahnsteig, schnell hoch, ach, zu spät, die Türen der S-Bahn, die sie unten im Gang noch einfahren hörte, schließen sich, klack-klack, sie hört den typischen Anfahrtston der Bahn. Sie würde blind alle Busse und Bahnen Berlins identifizieren können, sie ist wieder da, zu Hause, inmitten aller Berlin-Geräusche, die sie von klein auf kennt und in denen ihr Körper vibriert. Der Sog der Stadt hat sie wieder, sie schmeckt die Rußpartikel in der Luft, aber lächelt und steigt in die nächste einfahrende S-Bahn, fährt nur zwei Stationen und meint jedes Haus zu kennen, das sie durch die verdreckten Scheiben sieht. Jannowitzbrücke, Alexanderplatz, aussteigen. Sie hätte umsteigen und bis zur Greifswalder Straße weiterfahren können, aber sie will laufen, die Sonne scheint. Es ist ihr unmöglich, nicht wenigstens einmal über den Alex zu gehen, einmal um die Weltzeituhr herum, einmal am Fernsehturm vorbei, rüber zur Markthalle, einmal da durch und einfach nur die Größe der Auswahl, die Menge der Stände bestaunen, die Ohren füllen mit Berliner Sprachklängen, dann weiter zur Rosa-Luxemburg-Straße, weil es auch nicht möglich ist, nicht an der Volksbühne vorbeizugehen, ihrem Berliner Lieblingstheater, seit Benno Besson dort inszenierte. Da war sie noch Schülerin und die Großtante steckte ihr Geld für die Theaterkarte zu und sie stand sich mit hundert anderen Wartenden auf den Treppen vor den Eingängen die Beine in den Bauch, wenn es hieß:

»Ausverkauft, aber vielleicht gibt’s noch Stehplätze auf dem Rang!«

Meistens kam sie rein und es gab keine glücklicheren Abende. Jetzt geht Ulrike um den Theaterkoloss herum zum Bühneneingang und gibt beim Pförtner eine Nachricht für Jochen ab, der ein paar Jahre vor ihr die Theaterhochschule in Leipzig absolviert und danach eine Regieassistenten-Stelle an der Volksbühne ergattert hat, sie will ihn unbedingt treffen. Der Pförtner sieht auf den Briefumschlag.

»Der kommt erst abends zur Vorstellung wieder rein«, und er schiebt den Brief zwischen die Scheiben seines Pfortenbüdchens.

»Ick weeß, tschüssikowski!«, vergnügt winkt Ulrike dem brummigen Hünen zu, bevor sie wieder auf die Straße tritt.

Sie läuft hinüber zur Prenzlauer Allee und über den Prenzlauer Berg quer durch zur Greifswalder Straße. Der Riemen ihrer großen, prall gefüllten Umhängetasche drückt inzwischen unangenehm auf der Schulter, die Beine werden müde. Sie hatte vergessen, wie endlos sich die Straßen ziehen, wenn man sie allein läuft, und ist froh, als sie vor der Mietskaserne steht, in deren Hinterhaus Majas Wohnung liegt. Maja hat ihr alles genau beschrieben, dennoch wird Ulrike flau im Magen, als sie durch die hohe, schwere Tür ins Vorderhaus tritt und im Dunkeln steht. Sie tastet an der Wand nach dem Lichtschalter, erfasst schließlich einen Drehschalter und atmet erleichtert aus, als auf die halbe Drehung nicht nur ein Klicken zu hören ist, sondern tatsächlich ein Funzellicht aus einer tiefhängenden Lampe auf den brüchigen Steinfußboden fällt, der genau wie die Lampe schon die Jahrhundertwende gesehen haben muss. Ulrike lässt die Aufgänge zu den Vorderhäusern links und rechts liegen und steuert auf die Hoftür zu, dreht das Licht wieder aus, muss etwas an der klemmenden Hoftür reißen und tritt in den Hof, geht an Mülltonnen, Teppichklopfstange und abgestellten Fahrrädern vorbei zum Hinterhaus und steigt dann über erstaunliche, weil frisch gebohnerte Treppenstufen hinauf in den vierten Stock. Der Luxus von Majas Wohnung besteht erstens darin, dass sie selbst Mieterin dieser Wohnung ist, nicht Untermieterin Nummer eins oder zwei und auch nicht schwarz Einwohnende, nein, »Maja Schütte« steht auf dem bunten Emailletürschild. Zweitens hat die Wohnung eine eigene Toilette, wenn auch eine halbe Treppe tiefer, und der dritte, für Ulrike völlig unfassbare Luxus besteht nicht etwa in dem scheinbar dichten Dach des Hauses, sondern in einem eigenen Telefonanschluss. Wie hatte sie das nur geschafft? Als Ulrike im Korridor der Wohnung ihre Tasche abgestellt hat,