Himmelfahrt - Sylvia Giuliani - E-Book

Himmelfahrt E-Book

Sylvia Giuliani

0,0

Beschreibung

Als eine lebensbedrohliche Krankheit die Schauspieldramaturgin Ulrike Giucaroni aus ihrem ostdeutschen Theaterleben in den frühen Nachwendejahren in eine westdeutsche Kurklinik katapultiert und ihr Leben durch die Freundschaft mit Jutta Weigand, einer Mitpatientin aus Braunschweig, eine neue Perspektive erhält, ergreift sie die Chance und packt ihre Koffer gen Westen, wird aber immer wieder von ihrer DDR-Vergangenheit und Familiengeschichte eingeholt. Erst die Endlichkeit ihres Lebens macht Versöhnung möglich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sylvia Giuliani

wurde 1958 in Berlin (Ost) geboren, hat 1976 in Schwedt/Oder das Abitur gemacht, an der Leipziger Universität Russisch (Staatsexamen) und an der Theaterhochschule Leipzig von 1982-1987 Theaterwissenschaften (Diplom) studiert, war von 1982-2000 Regieassistentin und Dramaturgin an den Städtischen Bühnen Quedlinburg bzw. dem Nordharzer Städtebundtheater, ist dann nach Niedersachsen gezogen, hat 2003 in Bad Bevensen ihr Staatsexamen als Physiotherapeutin gemacht und bis 2013 in Braunschweig gelebt und gearbeitet. Seit 2014 ist sie in Norden (Ostfriesland) zu Hause.

»Himmelfahrt« ist ihr zweiter Roman.

Inhaltsverzeichnis

1993

DAMALS

DAMALS

1994

DAMALS

1995

ANMERKUNGEN

1993

Sie hört das Klingeln und Klopfen an ihrer Tür und zieht sich die Decke über den Kopf. Ruhe. Sie will niemanden hören, niemanden sehen, sie hat frei heute, einmal in der Woche ganz frei sein, bitte. Als sie sich später in Bademantel und Hausschuhen in ihre Küche schleppt und den Zettel sieht, den ihr Gerda durch den zugigen Spalt ihrer Tür geschoben hat, weiß sie schon, was ihr blüht. Große Buchstaben über drei Zeilen gemalt und viele Ausrufezeichen. Das Theater hat also angerufen und Planänderungen durchgegeben. Ulrike ignoriert den Zettel auf dem Boden und greift nach dem Wasserkessel auf dem Gasherd, geht zwei Schritte zum Wasserhahn an der Wand und denkt: erst den Kaffee, dann die Arbeit. Vielleicht. Warum hab ich diesen Vertrag nur unterschrieben. Im Beistellherd ist noch Glut, wie gut, sie hat die Kohlenzange noch in der Hand, als sie Gerdas Schritte auf der knarzigen alten Holztreppe draußen hört. Bevor Gerda klopfen kann, öffnet Ulrike die Tür neben dem Herd und wendet sich wieder dem Kohleneimer zu.

»Komm rein, du auch Kaffee?«

Gerda schließt die Tür, dreht Ulrike an den Schultern zu sich herum und mustert sie von oben bis unten.

»Was ist los, Mädchen, bist du krank? Ich denke, es gibt keinen neuen Befund oder hast du nur die halbe Wahrheit erzählt? Und die Nachricht aus der Intendanz hast du auch noch nicht gelesen«, sie bückt sich für ihr Alter unglaublich behänd und hebt den Zettel vom Boden auf, »es ist jetzt elf, Ulrike, entschuldige, aber in zwei Stunden hast du eine außerordentliche Schauspielleitungssitzung!«

»Er ist vom Dach gesprungen. Vom Dach der Klinik. Ich fahre da nicht mehr hin.«

»Wer – ist vom Dach -?«

»Dr. Wardetzky, mein Onkologe, der Einzige, der mir jede Frage beantwortet hat, der Einzige, dem ich vertraut habe.«

Gerda nimmt sie an die Hand und führt sie zum Sofa im Nebenzimmer, Papier und Bücherstapel auf dem Fußboden geschickt umlaufend.

»Er ist nicht der einzige gute Arzt in dem Klinikum, du wirst …«, Ulrikes Schrei lässt sie erschrocken zurückweichen.

»Was ist das für ein Scheißvolk, das einen Scheiterhaufen nach dem anderen anzündet und dann scheinheilig in Mitleid zerfließt, wenn der vermeintliche Ketzer sein Leben selbst beendet!«

»Aber wieso …«

Ulrike fällt auf dem Sofa in sich zusammen.

»Er soll IM gewesen sein, hat einer seiner Kollegen in der Zeitung behauptet, vor dem Suizid. Warum sind die Menschen so feige, warum reden die nicht erst miteinander, warum …«

»Rikchen, du wälzt Menschheitsprobleme, bevor du was getrunken und gegessen hast, das ist ungesund. Ich bring dir jetzt deinen Kaffee und du machst dich dann für deine Sitzung fertig und versprichst mir, heute Nachmittag zu mir runterzukommen, wir zwei müssen nämlich auch reden, und zwar dringend, es gibt Neuigkeiten unser Haus betreffend, die Rückübertragung ist vollzogen.« Sie steht auf und streicht Ulrike beruhigend über den Arm, »bleib sitzen, ich setze dir noch warmes Wasser zum Waschen auf und dann kann ich dich allein lassen? Mach dir keine Sorgen, hier ist dein Kaffee, wir kriegen das alles hin.«

Ulrike nickt nur und schaut ihr gedankenverloren nach.

Sie sieht die Staubwolken und hört den Baulärm schon von weitem, der Pförtner bleibt hinter seiner verschlossenen Glasscheibe und winkt ihr nur zu, als sie durch den Bühneneingang eilt. Sie wirft einen Blick in den Schaukasten, bevor sie den Verwaltungsaufgang nimmt, der Tagesplan für morgen hängt noch nicht, der Presslufthammer aus dem ehemaligen Kantinenküchentrakt tut ihr im Körper weh, bloß weg hier, die Tür zum Treppenaufgang ist heute viel zu schwer. Oben angekommen, steckt sie ihren Kopf durch den Türspalt ins Intendanzsekretariat.

»Hallo, Hanne, hast du Post für mich?«

Hannelore schaut auf und schüttelt den Kopf.

»Ist schon oben, Rike, Martin wartet in der Dramaturgie auf dich, ich hab ihm aufgeschlossen und die Post auf deinen Schreibtisch gelegt. Aber seid pünktlich hier nachher, der Alte hat die Sitzung extra in die Mittagspause der Handwerker gelegt.«

Ihre Füße sind schwer wie Blei, als sie die Treppen hoch ins Dachgeschoss zur Dramaturgie steigt. Das Sekretariat ist seit über einem Jahr verwaist, ihre Sekretärin zwei Jahre nach dem Chefdramaturgen in den Ruhestand gegangen, beide Stellen werden nicht neu besetzt, Ulrike hat zu Beginn der Spielzeit einen Doppelvertrag unterschrieben. Das Theater baut seit 1990 jedes Jahr weitere Stellen ab, sie darf bleiben, aber nur in Doppelfunktion als Schauspieldramaturgin und Regieassistentin.

»Ich nehme dir zwei Dramaturgien pro Spielzeit ab, Ulrike, wir müssen lernen, anders zu arbeiten«, hatte Bertram Rieger, ihr Intendant, beim Vertragsgespräch gesagt und versprochen, dass er an sie denkt, sollten die Fusionsverhandlungen mit dem Musiktheater im Nachbarkreis klappen und alles neu strukturiert werden. Sie fürchtet die Hiobsnachrichten, die es mit Zuverlässigkeit in außerordentlichen Leitungssitzungen gibt, und öffnet ihre Bürotür. Durch die offene Zwischentür sieht sie Martin Holz, ihren Oberspielleiter, am Tisch vor den Bücherregalen sitzen, sieht seine Unsicherheit in der fahrigen Handbewegung über den Dreitagebart und das Zucken seiner Mundwinkel bei ihrem Anblick.

»Früher hast du im Dunkeln mit einer Flasche Wein im Torbogen gestanden und bei mir geklingelt, wenn’s umwälzende Nachrichten gab«, kommt sie ihm zuvor und lässt ihre wie immer viel zu schwere Umhängetasche von der Schulter auf den nächsten freien Stuhl rutschen.

»Das waren Nachrichten aus einem anderen Land, Rike, und ich wusste auch nicht, ob dir zum Feiern sein würde, wenn du aus dem Klinikum zurück bist.«

Ulrikes Fingernägel bohren sich in die Stuhllehne.

»Bitte setz dich mal, wir haben noch Zeit bis zur Sitzung und ich will nicht, dass du es erst da erfährst«, mit dem Fuß schiebt er den Stuhl neben sich zu ihr.

»Du gehst weg«, Ulrike plumpst auf den Stuhl.

Martin weicht ihrem Blick nicht aus.

»Wir gehen weg, ja. Kerstin und ich hatten ein Vorsprechen, als du in der Uniklinik warst. In Augsburg. Und sie nehmen uns. Beide!! Rike, das ist wie ein Sechser im Lotto! Du weißt, wie schwer es ist, ein Doppelengagement zu kriegen, drüben nicht anders als hier!«

»Wann?«, fragt sie tonlos.

»Wir ziehen zum Spielzeitende um, Ende Juli sind wir weg.«

»Wieso – Augsburg?«

»Ein Freund aus meinen Berliner Jahren ist dort gelandet, gleich nach der Wende. Wir waren letztes Jahr im Sommer in Bayern und haben uns mit ihm getroffen …«

»Ihr habt nur erzählt, wie schön Bayern ist …«

»Rike, ich muss raus hier! Ich will so nicht mehr arbeiten! Die Städtischen Bühnen in Augsburg sind ein Vierspartentheater, endlich ein richtiges großes Haus! Die Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten sind mit unseren überhaupt nicht vergleichbar, Augsburg ist eine tolle Stadt, wir haben uns schon eine Wohnung ansehen können, da fing Kerstin an zu heulen! Kein Kohlendreck mehr in der Wohnung, Parkett in allen Zimmern, Blick aus dem Fenster in einen kleinen Garten mit Terrasse – ja, nenn uns Spießbürger!! Die Straßenbahnhaltestelle ist keine zehn Minuten entfernt, der Zug braucht keine halbe Stunde nach München, Rike! München!!«

»Und was für einen Vertrag hast du unterschrieben?«

»Wir haben beide einen Normalvertrag für die nächste Spielzeit. Als Schauspieler. Und weiß Gott keine Anfängergage!«

»Martin, du bist hier Oberspielleiter …«

»… ja, aber ich bin es schon lange nicht mehr gerne, Ulrike, und du weißt, warum. Diese Stadt blutet aus, die Hälfte unseres Stammpublikums ist verschwunden, ich freue mich wahnsinnig auf diesen Neuanfang, auch auf das ganz andere Leben in Bayern und irgendwann werde ich auch wieder inszenieren. Komm, wünsch mir Glück!«

Das Telefon klingelt, Ulrike steht auf, geht zu ihrem Schreibtisch und nimmt den Hörer ab.

»Wir kommen.«

Dass es die letzte Sitzung in diesem Kreis und Rahmen ist, erfährt sie, als sie zwischen Martin Holz und Harry Kunert vor ihrem Intendanten Bertram Rieger sitzt. Auch, dass der Fusionsvertrag mit allen beteiligten Trägerkommunen unterschrieben ist, ihr Theater im Sommer einen anderen Namen erhält, einen neuen Intendanten, der in der anderen Stadt im größeren Musiktheater sitzen wird, die Dramaturgie und andere Abteilungen umstrukturiert und ins größere Haus verlegt werden oder auch aufgelöst, wie der theatereigene Fuhrpark zum Beispiel.

»Ulrike, haben Sie eigentlich einen Führerschein? Nein? Nun, wir können ja Fahrgemeinschaften ausprobieren und Züge fahren ja auch. Martin wird uns leider verlassen, ob und wann es einen neuen Oberspielleiter für das Schauspiel geben wird, kann ich noch nicht sagen, die Leitungsstrukturen werden sich im neuen Dreispartenhaus sehr verändern und das Ensemble wird auch weiter, nun, nennen wir es mal verschlankt. Ach ja, und dass die Stadt für unsere ehemalige Kantine einen Vertrag mit einem Griechen gemacht hat, ist vielleicht für den einen oder anderen auch noch neu, Anfang Mai soll das Restaurant KRETA bereits eröffnet werden, nun, so haben wir also für unsere Besucher auch ein echtes kulinarisches Angebot. Ich halte Sie natürlich über die weiteren Entwicklungen, soweit es Sie betrifft, auf dem Laufenden. Was ist, Ulrike, soll ich das Fenster mal aufmachen?«

»Und es ist wirklich nichts, du hattest auch keinen neuen Befund?«

»Nein, Martin, es ist nichts.«

»Ich bringe dich nach Hause.«

»Nein. Ich begleite dich noch ein Stück und du erzählst mir von Augsburg und dem Theater dort, dem schönen, und dann wünsche ich euch beiden Glück.«

»Hausarztpraxis Morgner, hallo?«

»Ulrike Giucaroni. Ich bin aus der Uniklinik Halle zurück. Kann ich bitte heute noch einen Termin bei Frau Dr. Morgner haben? Nicht? Gut, morgen früh um acht, danke«, Ulrike legt den Hörer auf und schaut in den Spiegel von Gerdas Frisierkommode, vor der sie sitzt. Wer ist die Fremde dort?

Gerda hat den Kaffeetisch in der guten Stube mit ihren schönsten Sammeltassen gedeckt. Sehr verdächtig. Ulrike erinnert sich, wie überrascht sie vor nun fast fünf Jahren war, als sie kurz nach ihrem Einzug in das jahrhundertealte Fachwerkhaus, das schon lange kurz vor der baupolizeilichen Sperrung stand, zum ersten Mal in Gerda Schenkers gute Stube trat. In einem Haus mit Außentoiletten und löchrigem Dach erwartet man keine Jugendstil- und Biedermeiermöbel in geschmackvollem Mix, auch kein Meißner Porzellan oder Sammeltassen mit Goldrand und phantasievoller Malerei, auch kein Telefon im Schlafzimmer hinter der guten Stube, mit Fenster zum Hinterhof, es steht auch im Einheitsjahr drei noch wie früher auf der alten Frisierkommode neben Gerdas Bett. Ulrike schließt die Schlafzimmertür hinter sich.

»Danke, Gerda. Du hast den Tisch gedeckt, als gäb’s was zu feiern«, sie setzt sich auf ihren Platz und versucht ein Lächeln, »schieß los. Die Rückübertragung ist also durch und deine Nichte Cornelia kommt nun aus Lübeck und redet mit dir über die Sanierung, von der sie schon drei Jahre lang träumt, richtig?«

»Falsch. Also, ja, nur Cornelia kommt jetzt nicht her. Ich fahre nach Hamburg zu meiner Schwester für ein paar Wochen. Irgendwann kommt meine Nichte dann dazu und wir halten Familienrat. Ich muss zu meiner Entscheidung finden, Ulrike, eine, die ich nie fällen wollte.«

In Ulrikes Schweigen klingt der Kaffee, den Gerda ihnen in die Sammeltassen gießt, dann der Kaffeelöffel, mit dem Ulrike die Milch im Kaffee umrührt. Und rührt. Und rührt.

»Warum sagst du nichts? Rike?«

»Weil das noch nicht alles sein kann, was du mir erzählen wolltest. Und es mir heute schon einmal die Sprache verschlagen hat. Mach weiter.«

Gerda holt tief Luft.

»Also gut. Wir müssen wahrscheinlich zum Sommer hier raus, Ulrike, das Haus wird komplett saniert, vom Dach bis zum Keller. Der Denkmalschutz hat alle Pläne, unter Auflagen, ja, aber grundsätzlich abgenickt. Cornelia nimmt so viel Geld in die Hand, dass mir himmelangst wird, aber sie ist meine Erbin, ich bin über achtzig, ich bin da raus und sie sagt, sie macht es richtig oder gar nicht. Die Öfen fliegen raus, das Haus bekommt eine Heizung, über die sie sich noch streiten, jede Wohnung ein Badezimmer mit Klo, die gesamte Elektrik muss erneuert werden, die Fenster auch und der Dachboden soll …«, irritiert bricht sie ab.

Aus Ulrike quillt ein Kichern, das immer lauter wird, sie schüttelt sich wie im Krampf, nimmt schließlich die Brille ab und hält ihren Kopf mit beiden Händen fest. Erst da sieht Gerda die Tränen, die ihr zwischen den Fingern durchlaufen. Sie steht auf und drückt Ulrikes Kopf an ihren Bauch, hält sie fest, bis der flatternde Körper in ihrem Arm sich beruhigt.

»Du wolltest nie hier weg, Gerda!«

»Nein, aber es sieht nicht so aus, als würde ich bis zum Sommer tot umfallen und du Blumen auf mein Grab streuen, also muss ich zu anderen Entschlüssen kommen und eins weiß ich inzwischen, Rikchen, ich will nicht mal vorübergehend ins Neubaugebiet ziehen.«

»Auch nicht mit mir zusammen? Da stehen inzwischen so viele Wohnungen leer, wir könnten bestimmt sogar zusammen in einen Aufgang oder in denselben Block ziehen und ich könnte dir immer helfen …«

»Im Augenblick bist du diejenige von uns beiden, die Hilfe braucht, und wenn es dir irgendwann besser geht, kriege ich dich wieder kaum zu sehen, weil du aus deinem Theater nicht mehr rauskommst. Nein, Ulrike, ich habe Cornelia Handlungsfreiheit in der Sanierung versprochen und ich vertraue ihr. In die Platte gehe ich genauso wenig wie in ein Altenheim. Ich fahre nach Hamburg und wenn ich wiederkomme, sind wir alle schlauer. Magst du wirklich keinen Kuchen?«

DAMALS

Das Licht fällt durch ein Astloch auf den Boden der Sandkiste. Wenn sie sich ganz platt in den Sand drückt, gelingt es ihr, durch das Loch zu spähen. Aber es sind nicht mehr viele Schuhe, die an der Kiste vorbeiklappern. Es wird Abend und es ist warm, Spätsommer in Berlin-Hohenschönhausen. Sie hat die Decke mitgenommen, die sie zum Spielen auf dem Rasen im Innenhof nehmen darf, und ihre Puppe Reni, hatte beides an sich gedrückt und gesagt, ich geh runter, spielen, die Antwort nicht abgewartet, weil sie weiß, Mutti ist mit dem Baby beschäftigt, da hört sie nichts, nicht mal das Klappen der Wohnungstür, die sie leise hinter sich zuzieht. Sie war die Treppe hinuntergegangen, langsam, nicht springend wie sonst, hatte sich auf der halben Treppe noch einmal umgedreht und gewartet. Vielleicht öffnet sich die Tür ja doch noch und Mutti hat gemerkt, dass sie gegangen ist, guckt raus und fragt, wo gehst du hin, zu Roswitha? Oder sie sagt, geh nicht so weit weg, ich muss dich sehen können aus dem Fenster. Oder sie sagt, wenn es dunkel wird, kommst du hoch! Nein, die Tür war zugeblieben. Sie hatte nichts gemerkt. Niemand merkt, ob sie da ist oder nicht. Niemand wird sie vermissen. Ich komme nicht wieder, hatte sie gedacht und war weiter die Treppe hinuntergegangen, vier Etagen bis zum Erdgeschoss und dann noch drei Stufen bis zur Haustür, immer noch langsam, horchend, doch es war still geblieben im Haus und alle Türen zu. Sie ist vier Jahre alt und nicht groß, aber kräftig genug, die Haustür aufzuziehen, sie leise von außen wieder zuzumachen, dazu braucht sie beide Hände, die zusammengefaltete Decke war ihr heruntergefallen, sie hatte sich gegen die Tür geworfen und die Decke an einem Zipfel durch den Türspalt gezerrt. Mit der zerknautschten Decke über dem Arm war sie durch die immer offenstehende Haustür zwei Eingänge weiter zur Wohnungstür ihrer Freundin Roswitha im Erdgeschoß gezogen, auch diese Tür steht fast immer offen im Sommer, auch die Kowalskis haben ein Baby, ein paar Wochen älter als Ulrikes Bruder Ralf. In der Küche der Kowalskis gibt es einen großen, blankgescheuerten Esstisch mit einer Bank und Stühlen ringsherum. Auf der Bank sitzen meist die beiden älteren Brüder von Roswitha und haben das Baby abwechselnd auf dem Arm, während Frau Kowalski sich am Herd zu schaffen macht. Roswitha ist auch erst vier Jahre alt, genau wie Ulrike, und sie darf ihr Brüderchen im Arm halten, wann sie will. Frau Kowalski ist klein und rund und lächelt immer, wenn jemand zur Tür reinkommt. Bei Kowalskis steht immer was auf dem Herd, Ulrike darf sich immer mit an den Tisch setzen und sagt fast immer ja, wenn Frau Kowalski sie fragt, ob sie auch einen Eierkuchen möchte oder einen Teller Suppe, auch wenn sie schon gegessen hat. Es ist immer lecker, es ist warm und gemütlich und sie wird es zu Hause nicht mehr erzählen, seit sie weiß, ihre Mutter mag es nicht, wenn sie in dieser Küche mit am Tisch sitzt und isst, weil, das sind Pollacken, sagt die Mutter, und die sind anders, nicht ganz so ordentlich und nicht ganz so sauber, wie es wohl sein muss. Ulrike versteht nicht, was ihre Mutter meint, sie findet es schön bei Kowalskis, sie weiß nicht, was Pollacken sind, aber sie soll das Wort ja auch nicht sagen. Sie wird immer traurig, wenn sie Roswithas kleines Brüderchen in den Armen seiner Geschwister sieht. Sie hatte sich so sehr gewünscht, den kleinen Ralf auch stolz halten und ihren Freunden zeigen zu dürfen, aber sie darf keinen Besuch mit nach Hause bringen, auch Roswitha nicht, schon gar kein Pollacken-Kind, sie darf ihren Bruder auch nicht anfassen, ohne sich unter den Augen der Mutter die Hände gewaschen zu haben, und halten darf sie ihn auch nicht, es könnte ihm ja was passieren, wenn sie ihn falsch hält oder gar loslässt, oh Schreck.

»Ich gehe nicht wieder nach Hause«, hatte sie Roswitha zugeflüstert. Die riss die Augen auf, aber bevor aus ihrem Mund ein Wort herausfallen konnte, hält sich Ulrike erschrocken den Zeigefinger auf die Lippen. Pssst, das darf niemand wissen!

»Ulrike, auch ein bisken Suppe?«

Ulrike hatte genickt und Frau Kowalski angelächelt, Essen ist gut, sie hat von zu Hause nichts mitgenommen für die Reise, die sie nun vorhat, sie hat es doch erst beschlossen, als die Wohnungstür zu und sie im Treppenhaus war. Nach dem Essen waren die Mädchen auf den Innenhof gegangen. Die späte Augustsonne ließ sie noch barfuß im Buddelkasten im Schatten der großen alten Bäume spielen, sie saßen mit ihren Puppen auf dem Rand, Roswitha platzte vor Neugier.

»Wo willst du denn hin?«

»Weiß ich nicht, aber nie wieder zurück«, Ulrike zog die Mundwinkel nach unten und presste trotzig die Lippen zusammen, »wenn es dunkel wird, verstecke ich mich, damit mich keiner findet.«

»Aber wo denn?«

»Wir müssen ein Versteck finden, komm!«

Ulrike rollte die kleine Decke zusammen, zog die Kniestrümpfe und die Sandalen wieder an, nahm ihre Puppe auf den Arm und stand auf. Roswitha blieb unschlüssig sitzen.

»Aber deine Mutti wird böse sein!«

»Na und! Soll sie doch!«, die Wuttränen schossen Ulrike in die Augen, aber sie wollte nicht weinen und wieder presste sie die Lippen aufeinander und zog die Mundwinkel runter. Roswitha kennt diesen Blick, so sieht sie immer aus, wenn Ulrikes Mutti Ohrfeigen ausgeteilt oder Verbote ausgesprochen hat, die Ulrike nicht verstehen will.

»Na gut«, Roswitha gab auf und lief mit Ulrike zum Durchgang auf die Straße. Bevor sie um die Ecke bogen, schaute Ulrike, an die Hauswand gepresst, nochmal hoch zum Balkon in der fünften Etage. Niemand war zu sehen, die Luft rein! Sie rannten die Schöneicherstraße hinunter bis an die Ecke, dann links rum. Geschafft! Außer Sichtweite! Ulrike schob sich die Brille, die immer runterrutscht beim Rennen, wieder hoch und grinste Roswitha an.

»Kiek ma, da«, zu Hause darf sie nicht berlinern, woran sie sich selten hält, sobald die Mutter außer Hörweite ist, »die Kiste is vielleicht jut, wa?«

»Wofür denn?«

»Mach ma uff!«

Der Deckel der hellgrünen Bretterkiste klemmte etwas, aber zu zweit stemmen die beiden Vierjährigen ihn hoch. Es ist eine der Sandkisten, aus denen im Winter bei Glätte der Fußweg gestreut wird, aber jetzt ist nur der Boden der Kiste mit Sand bedeckt.

»Dit jeht!«, Ulrike warf die Decke in die Kiste, die Puppe hinterher und stieg hinein, »halt ma uff, ick leg mich uff die Decke und denn machste zu, aber nich so fest!«

Es ist ganz schön dunkel und eng in der Kiste, aber sie kann auf der Seite liegen, die Beine angezogen, und entdeckt genau in Augenhöhe das Astloch, klasse! Keiner sieht mich, ich seh alle, hier finden sie mich nicht. Sie klappte den Deckel der Kiste von innen auf und strahlte Roswitha an.

»Hier bleib ick!«

Roswitha lief nach Hause und stibitzte vom Kuchenteller auf dem Küchentisch ein Stück von Mamas selbstgebackenem Streuselkuchen und ein altes Stück Brot aus dem Brotkasten, das brachte sie Ulrike in die Kiste.

»Willst du wirklich hierbleiben?«

»Haste meene Mutta jesehen?«

»Nein«, Roswitha schüttelt den Kopf.

»Siehste.«

»Es wird gleich dunkel, ich muss heim.«

Ulrike sagte nichts mehr.

»Hast du denn keine Angst?«

»Nee.«

Das würde sie nie zugeben, selbst wenn es so wäre. Mit dem Versprechen, nichts und niemandem etwas zu verraten und gleich morgens wiederzukommen, ließ sie Roswitha nach Hause gehen und wartete, bis die Straße wieder leer war und niemand sah, wie sie wieder in die Kiste steigt. Solange sie immer noch Schritte hört, die sich nähern, und Beine sieht, die an der Sandkiste vorbeigehen, solange noch etwas Licht durch das Astloch scheint, ist es sogar lustig zu erraten, ob die Schritte zu Frauen- oder Männerbeinen gehören, zu schweren oder leichten Menschen, jungen oder alten. Aber je dunkler es wird, umso weniger Beine laufen an dem Astloch vorbei und umso kälter wird es und die dünne Decke ist zu klein, um sie ganz um den Körper wickeln zu können. Irgendwann klappern ihr die Zähne vor Kälte, durch das Astloch scheint nur noch fahles Straßenlaternenlicht, sie hat Hunger und Durst und pullern muss sie auch, auweia, und so dringend! Schließlich hebt sie vorsichtig den Deckel der Kiste und illert durch den Spalt. Niemand zu sehen. Sie klettert etwas steif heraus, angelt sich dann die Decke und ihre Puppe und läuft zur Schöneicherstraße. Je näher sie der Haustür kommt, umso größer wird der Druck im Unterbauch. Ihre Sachen sind von der Feuchtigkeit in der Kiste sowieso klamm, aber mit nassen Unterhosen darf sie auf keinen Fall vor Mutter stehen. Vor den Häusern entlang der Hauswände sind große Büsche. Die Rettung! Als sie im Gebüsch in der Hocke sitzt und fühlt, dass die Unterhose doch ein bisschen nass wird, verlässt sie der Mut und sie sitzt schließlich vor der Haustür auf der Stufe, die Puppe fest an sich gepresst, und hört nichts außer ihrem laut schlagenden Herz. Endlich steht sie auf und drückt auf die Klinke. Die Tür geht nicht auf. Noch einmal, die Klinke runterziehen und den ganzen Körper gegen die mächtige Tür drücken. Die bewegt sich nicht, keine Chance. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um den obersten Klingelknopf rechts zu erreichen. Sie hört, wie die Balkontür oben aufgerissen wird.

»Ulrike?!«, Mutters Ruf klingt schrill.

Plötzlich schließt jemand die Haustür von innen auf, ein Mann mit Hut kommt raus, schaut verwundert auf das kleine, bebrillte Mädchen mit den zerzausten Zöpfen, der Puppe im Arm und der auf dem Boden schleifenden Decke, dann hoch zu der Frau, die streng ruft:

»Komm jetzt hoch!«

Der Mann lässt das Kind ins Haus, bevor er die Tür von außen wieder abschließt. Ulrike weiß, was sie erwartet. Sie geht so langsam wie möglich, Stockwerk für Stockwerk. Vor der letzten halben Treppe bleibt sie stehen mit gesenktem Kopf. Sie sieht die Füße ihrer Mutter auf dem obersten Absatz und hebt den Kopf. Mutter hat den Handfeger in der Hand. Den Handfeger? Nicht den Ausklopfer? Die Hand mit dem Handfeger zittert. Kaum oben angekommen, zerrt die Mutter sie in den Korridor, ein Kommendlich-rein zischend, reißt ihr alles aus den Händen, was sie krampfhaft versucht als Schutz festzuhalten, die Decke, die Puppe, zwecklos, Mutter ist stärker, ihr Arm hält sie wie ein Schraubstock über dem Knie, sie will nicht schreien, die Holzseite des Handfegers klatscht auf ihren Körper, es gibt kein Entkommen. Erst als Mutters Arm müde wird, hört das dumpfe Klatschen auf. Sie kann kaum stehen, wird ins Bad geschickt, soll sich ausziehen und die Zähne putzen. Dann kommt Mutter, schimpfend über den Schmutz an ihrem Körper, schämen soll sie sich, lamentierend wird sie am Waschbecken gewaschen und alles, alles tut so weh, heul nicht rum, faucht die Mutter und dann darf sie etwas trinken, zu essen gibt es nichts mehr, zur Strafe, sagt die Mutter und Ulrike schweigt. Wo bist du gewesen? Sie schweigt. Verstocktes Gör, sagt die Mutter, ab ins Bett! Ulrike zieht die Bettdecke über den Kopf, als Mutter draußen ist. Sie wimmert vor Schmerz und niemand soll das hören. Auf dem Rücken kann sie nicht liegen, der brennt wie Feuer. Dann hört sie den Vater kommen, hört das aufgeregt erstickte Reden ihrer Mutter, der kleine Ralf in seinem Körbchen im Wohnzimmer darf ja nicht geweckt werden, und schließlich steht Vater an ihrem Bett, hebt vorsichtig die Bettdecke hoch, streicht ihr über den Kopf.

»Zeig mal, wo es weh tut«, sagt er.

Aber sie kann das Hemd nicht allein hochziehen und er muss helfen. Was er dann sieht, macht ihn stumm. Schnaufend verlässt er das Schlafzimmer und dann hört Ulrike ihren Vater zum ersten und letzten Mal in ihrer Kindheit brüllen. Nie wieder wird sie die Eltern so laut streiten hören, nie wieder schlägt Mutter mit dem Handfeger zu. Mit dem Handfeger nicht mehr.

»Vati, mein Vati«, flüstert das kleine Mädchen und schläft irgendwann ein auf ihrem nass geweinten Kopfkissen.

Vati! Ulrike fährt schweißgebadet hoch, sie spürt ihr seltsam unrhythmisch schlagendes Herz, die aufsteigende Übelkeit und das Wissen, jetzt sofort die knarrende Holztreppe hinunter auf die Toilette im Keller laufen zu müssen, greift nach dem Bademantel am Fußende, aber nichts geht schnell genug, mein Gott, wieso ist dieser Fünfzig-Kilogramm-Körper so bleischwer? Sie bleibt länger im Keller als nötig, aus Angst, auf halber Treppe wieder umkehren zu müssen, aus Angst vor dieser Stiege, die sie eine gefühlte Ewigkeit schon nicht mehr zwei Stufen auf einmal nehmend hinaufspringen kann. Aber die Kälte treibt sie auf die Treppe. Heißen Tee, sie braucht jetzt heißen Tee und um acht muss sie bei Frau Dr. Morgner sein. Sie zieht sich also die Treppe hoch und plötzlich ist er wieder da, der Gedanke an den Mann, den sie als Kind so sehr liebte und Vati nannte, voller Stolz auf ihn und seine Uniform, der sich seit Oktober 1990 wohl auch jede Treppe hochziehen muss, wenn er sich überhaupt noch bewegt, der Feigling. Ulrike stößt unterdrückte Flüche aus, bis sie wieder in ihrer Wohnung angekommen ist. Wieso träumt sie eigentlich von ihm? Und wieso fühlt sie sich in ihrer Wohnung plötzlich so fremd? Als ihre Hände die heiße Teetasse umfassen, zwischen zwei Übelkeitswellen, und ihre Augen aus dem Fenster in den grauenden Morgenhimmel blicken, weiß sie plötzlich, ich muss hier weg. Ich muss gehen. Es ist nicht nur das Haus, das sich verändern und andere Bewohner haben will. Ich bin am falschen Ort. Als der feige Vater sich so dämlich versucht hat, eine Kugel durch den Kopf zu jagen, bevor er Uniform und Waffe abgeben musste, hat er sich vielleicht genauso falsch angefühlt, am falschen Ort, in der falschen Zeit, auf seinem politischen Scherbenhaufen. Geplatzt der Traum vom sozialistischen Vaterland und allen guten Ideen, an die er glaubte und die er zeitlebens verteidigen wollte. Damals, vor drei Jahren hat er ihr noch leidgetan, heute verachtet sie ihn. Oder? Was tut da noch weh? Ulrikes Tasse ist leer, sie blickt auf die Uhr.

»Steh auf«, sagt sie laut.

»Das kann nicht sein, Frau Dr. Morgner, da muss ein Rezidiv sein, oder was auch immer, irgendwas müssen die in Halle übersehen haben! So schlapp war ich nicht mal nach den Bestrahlungen, können wir nicht wenigstens nochmal Blut abnehmen? Bitte!«

»Das tue ich, wenn Sie nur einer einzigen meiner Behauptungen widersprechen können: Sie fühlen sich so müde und abgeschlagen, dass Sie morgens nicht wissen, wie Sie aus dem Bett kommen sollen. Sie haben Angst, dass jemand merkt, wie schwer Ihnen Ihre Arbeit fällt. Die Summe Ihrer Aufgaben bewältigen Sie schon lange nicht mehr so, wie Sie es von sich gewohnt sind, weder zu Hause am Schreibtisch noch im Theater, und das hat nichts mehr mit ihrer Brustkrebserkrankung vor zwei Jahren zu tun. Sie wissen nicht mehr, wofür Sie morgens aufstehen sollen und für wen eigentlich noch. Ihr Körper fühlt sich alt und krank und viel zu schwer an und die Welt ist grau, auch wenn die Sonne scheint. Nanu, wo bleibt Ihr Widerspruch? Soll ich weitermachen?« Frau Dr. Morgner reicht Ulrike eine Packung Tempotaschentücher über den Tisch und wartet ruhig ab, bis Ulrike die Brille wieder im Gesicht hat und sie ansehen kann. »Frau Giucaroni, ich habe schon vor der Wende versucht, Ihnen den Zusammenhang zwischen Ihrer damals chronischen Gastritis, den Magengeschwüren, Ihrer Anfälligkeit für alle möglichen Entzündungen einerseits und Ihrer in jeder Weise ungesunden, selbstzerstörerischen Lebensweise andererseits klarzumachen. Erfolglos! Sie meinten als Workaholic weiterleben zu müssen und sind erst dank Brustkrebs zur Nichtraucherin geworden, immerhin! Aber Sie haben viel zu früh wieder angefangen zu arbeiten und auch die Kur abgelehnt. Sie lassen mich jetzt ausreden, ich schwöre Ihnen, das ist mein letzter Versuch! Mit Ihrer Lebensweise haben Sie jahrelang Ihre körperlichen Grenzen verletzt und irgendwann zieht dieser Körper die Reißleine. Merken Sie sich all diese Symptome: Übelkeit, Hyperventilation, Krämpfe und Lähmungserscheinungen, Kreislaufzusammenbrüche, Chaos im vegetativen Nervensystem. Damit wird Ihr Körper Sie immer wieder ins Aus befördern, wenn Sie sich weiter so überfordern. Denken Sie endlich nach, Himmelherrgott nochmal, Sie sind erst 31 Jahre alt, wie oft wollen Sie denn noch im Rettungswagen abtransportiert werden?!«

Ulrike schnieft und ringt um Fassung.

»Aber was soll ich denn machen? Ich kann doch meine grundsätzliche Lebenssituation nicht verändern, auch die halb vollen Zuschauersäle nicht, meinen Vertrag nicht riskieren«, sie greift wieder nach den Taschentüchern.

»Stopp! Die Kiste der Unmöglichkeiten schließen wir jetzt. Haben Sie schon mal was von Burnout gehört?«

Ulrike schüttelt den Kopf.

»Sie sind ausgebrannt, Frau Giucaroni, und zwar sozusagen bis auf die Knochen, Sie können nicht mehr, nichts. Sind Sie diesmal bereit, sich meine Vorschläge nicht nur anzuhören?«

Als Ulrike die Arztpraxis wieder verlässt, hat sie dem Kurantrag zugestimmt und unter anderem versprochen, den Krankenschein in ihrer Schultertasche diesmal auch im Theater abzugeben.

Es ist ein seltsames Gefühl, liegen bleiben zu können. Einfach so. Mitten in der Spielzeit. Vom Bett aus sieht sie durch die offene Kammertür auf die am Boden liegenden Papierstapel rund um ihren kleinen Schreibtisch. Wann hat das angefangen, dass sie nach Textbausteinen aus ihren alten Inszenierungskonzeptionen und Zeitungsartikeln suchte und dann mit der Angst lebte, jemand würde bemerken, dass sie fast nur noch Schubladen zog? Pein, damische! Schon beim Denken dieser beiden Wörter: Schublade ziehen. Sie hatte das bei ihren grauhaarigen und stoppelbärtigen Regiekollegen in ihren Anfängerjahren entdeckt, wenn sie ihnen zum dritten, vierten, fünften Mal assistierte, und war jedes Mal so enttäuscht, dass sie sich schwor: Wenn dir das jemals passiert, dann hörst du auf, dann hast du am Theater nichts mehr verloren. Und nun? Sie war noch keine zehn Jahre im Beruf. Burnout. Nicht mehr lange und sie wird mit ihrem Gepäck vor einem Kurzentrum für Frauen in Niedersachsen stehen. Frau Dr. Morgner hatte darauf bestanden, so schnell wie möglich und so weit weg, dass sie für das Theater unerreichbar ist. Ein holpriger Gedankengang. Nach der Brustkrebsoperation und den Bestrahlungen hatte sie noch die Kraft, zu allem Nein zu sagen, weil sie sicher war, dass das Theater und ihre Arbeit Medizin genug sein würden. Aber diese Kraft ist verbraucht. Die Zeit vor der Wende war hart an Kämpfen und genauso schlafarm wie stressig, aber immer wieder auch glücklich. Die Zeit danach war nur noch schlaflos und aufregend, die Ängste nahmen zu, der Überlebenskampf hatte kein Ziel mehr, keinen anderen Inhalt als das bloße Überleben. Zu wenig. Sie hat recht, die Frau Doktor, Ulrike weiß nicht mehr, wofür sie noch hier ist, für wen sie eigentlich noch Theater machen will. Und wozu? Wen interessiert das noch? Was nützt Theater Menschen, die nicht wissen, wovon sie in Zukunft leben sollen? Und die kein Geld mehr für eine Theaterkarte übrig haben? Ulrike steht auf, tapst aus der Schlafkammer ins Zimmer, hebt das Papier vom Boden auf, Stapel für Stapel, stellt ihren Papierkorb neben den Schreibtisch und zerreißt ihre Konzeptionen, eine nach der anderen, jeder Riss wie ein Schnitt in den Arm, ritsch, ratsch, das Geräusch tut weh und sie sieht Blut, wo keins fließt, und ist der Korb voll, läuft sie hinüber zum Beistellherd in der Küche und füttert die Glut, die zur Flamme wird. Wie lange? Eine Stunde? Zwei? Der Wind steht auf dem Schornstein, wie blöd, es qualmt aus dem Ofen, sie öffnet das Küchenfenster zum Hof, hört den Besen von Gerda Schenker und ihr Rufen.

»Ulrike, bist du da? Was ist los?«

Sie mag nicht antworten. Wie soll der Ton denn aus ihr rauskommen? Ritsch, ratsch, Korb, Boden, ach, Feuer.

Gerda hämmert an die Tür. Wieso kommt die alte Frau eigentlich so schnell diese verdammte Treppe hoch? Ulrike öffnet die Tür und Sekunden später stochert Gerda mit dem Feuerhaken im Feuer herum.

»Der Aschekasten muss dringend geleert werden, Rike, der läuft über, und du hast den Zug vorn vergessen, was machst du hier eigentlich?«

Gerdas Augen gehen verwundert über Ulrikes Nachthemd bis auf die nackten Füße und an ihr vorbei ins Zimmer mit dem papierschnitzelbedeckten Boden.

»Es ist Mittag, ich hab Kartoffelsuppe auf dem Herd. Komm runter, wenn du fertig bist. Hörst du?«, sie rüttelt Ulrike leicht an den Armen, »hallo?!«

Ulrike nickt.

»Ich hör nichts!«

Seit wann ist Gerda so ruppig und penetrant?

»Ja doch. Ich komme. Wenn ich fertig bin. Mit allem.«

Der Zug nähert sich der Stadt an der polnischen Grenze, in der sie das Abitur gemacht hatte und gern zur Schule gegangen war. Und in die sie nie zurückkehren wollte. Sie war nach dem Abitur sofort ausgezogen, ein halbes Jahr später war aus ihrem Kinderzimmer in der Wohnung der Eltern ein Esszimmer geworden und knapp zwei Jahre später stand sie, noch Studentin, am Grab ihres Bruders und begriff nicht, was sie hörte. Wobei wollten Ralfs Freunde den Eltern helfen? Beim Umzug? Wenige Monate später hatten die Eltern eine neue Adresse und waren in eine kleine Zweiraumwohnung in einen gerade fertiggestellten, zehngeschossigen Wohnblock am Rande der Stadt gezogen, eine Wohnung, die Ulrike noch nie betreten hatte. Ein Haus mit Fahrstuhl. Damals hätte der Vater die Treppen in den fünften Stock auch noch zu Fuß geschafft, da hatte er sich noch nicht zum Krüppel geschossen. Krüppel, so nannte er sich jetzt. War es wirklich eine gute Idee, noch vor der Kur hierherzufahren? Sandboden und Kiefernwälder, soweit das Auge reicht. Dann rattert der Zug an den ersten Wohnblöcken vorbei, die Endstation naht. Ulrike steht auf und zieht ihren Rucksack aus der Gepäckablage. Einatmen, ausatmen.

»Du kannst nicht bei uns schlafen, aber ich besorge dir was«, hatte die Mutter gesagt. Und da steht sie jetzt, auf dem Bahnsteig, die Mutter. Premiere, dachte Ulrike beim Aussteigen, abgeholt hat sie mich noch nie. Sie lässt die kurze, linkische Umarmung ihrer Mutter zu. Der Weg vom einzigen Bahnsteig auf den Bahnhofsvorplatz ist kurz, Mutter dirigiert sie zum Parkplatz, Ulrike sieht fassungslos zu, wie ihre Mutter den Trabi aufschließt. Vatis Trabi.