Hiob - Joseph Roth - E-Book

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Joseph Roth

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Beschreibung

Erzählt wird die Geschichte der Heimsuchung des Juden Mendel Singer, der sein Leben in Armut und Bescheidenheit als Dorfschullehrer im russischen Teil Galiziens fristet, bis die Idylle durch die Geburt eines epileptischen Sohnes zerstört wird und ihn daraufhin mehrere Schicksalsschläge treffen. Mendel lässt sein krankes Kind zurück und wandert nach Amerika aus, wo es ihm nicht besser ergeht. Seine älteren Söhne sterben im Krieg, seine Frau vor Gram darüber. In seiner Wut lehnt er sich gegen Gott auf und verflucht ihn, doch da kommt es eines Tages zu einer fast wundersamen Umkehr des Schicksals.

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Cover
Über den Autor

Joseph Roth (1894-1939) begann 1913 ein Germanistikstudium an der Universität Lemberg und wechselte später an die Universität Wien. 1916 kam er zum Militär, sein Studium nahm er jedoch nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder auf, sondern wurde Journalist. 1922 heiratete er Friederike Reichler und ging 1925 als Feuilletonkorrespondent der „Frankfurter Zeitung“ nach Paris. Friederike erkrankte an Schizophrenie und wurde 1929 in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Der Schicksalsschlag warf Joseph Roth aus der Bahn und belastete ihn schwer. Am 27. Mai 1939 erlag er einer Lungenentzündung.

Nach dem Weltkrieg stellt der Journalist Roth in vielen seiner bedeutendsten Feuilletons die Frage nach den „geistigen Grundlagen für eine neue Welt“. In seinem 1929 geschriebenen, erfolgreichsten Buch „Hiob“ behandelt er dieses Thema am Beispiel eines „ganz alltäglichen“ Ostjuden und seiner Familie: Die Romanfiguren scheitern desaströs an der traditionellen (jüdischen) Welt und an der neuen (amerikanischen) Welt der 20er Jahre. Im Roman vermag ausschließlich der Sohn Mendel Singers, der einst verlassen wurde, der geniale Musiker Menuchim, zu sich selbst zu finden – nachdem er zuvor großes menschliches Leid durchleben musste.

„Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär.“ Joseph Roth

Zum Buch

Erzählt wird die Geschichte der Heimsuchung des Juden Mendel Singer, der sein Leben in Armut und Bescheidenheit als Dorfschullehrer im russischen Teil Galiziens fristet, bis die Idylle durch die Geburt eines epileptischen Sohnes zerstört wird und ihn daraufhin mehrere Schicksalsschläge treffen. Mendel lässt sein krankes Kind zurück und wandert nach Amerika aus, wo es ihm nicht besser ergeht. Seine älteren Söhne sterben im Krieg, seine Frau vor Gram darüber und seine Tochter wird in eine Anstalt eingeliefert. In seinem Zorn lehnt er sich gegen Gott auf und verflucht ihn, doch da kommt es eines Tages zu einer fast wundersamen Umkehr des Schicksals.

Haupttitel

JOSEPH ROTH

HIOB

Roman eines einfachen Mannes
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.  Alle Rechte vorbehalten  Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Der Text wurde behutsam revidiert nach Ausgabe Verlag Allert de Lange, Amsterdam 1933 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: akg-images GmbH , Berlin Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2   ISBN: 978-3-8438-0000-6  www.marixverlag.de

Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Erster Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Zweiter Teil

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

Kontakt zum Verlag

Erster Teil

I

Vor vielen Jahren lebte in Zuchnow ein Mann namens Mendel Singer. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Er übte den schlichten Beruf eines Lehrers aus. In seinem Haus, das nur aus einer geräumigen Küche bestand, vermittelte er Kindern die Kennt­nis der Bibel. Er lehrte mit ehrlichem Eifer und ohne Aufsehen erregenden Erfolg. Hunderttau­sende vor ihm hatten wie er gelebt und unter­richtet.

Unbedeutend wie sein Wesen war sein blasses Gesicht. Ein Vollbart von einem gewöhnlichen Schwarz umrahmte es ganz. Den Mund verdeckte der Bart. Die Augen waren groß, schwarz, träge und halb verhüllt von schweren Lidern. Auf dem Kopf saß eine Mütze aus schwarzem Seidenrips, einem Stoff, aus dem manchmal unmoderne und billige Krawatten gemacht werden. Der Körper steckte im halblangen landesüblichen jüdischen Kaftan, dessen Schöße flatterten, wenn Mendel Singer durch die Gasse eilte, und die mit hartem regelmäßigem Flügelschlag an die Schäfte der hohen Lederstiefel pochten. Singer schien wenig Zeit zu haben und lauter dringende Ziele. Gewiss war sein Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage. Eine Frau und drei Kinder musste er kleiden und nähren. (Mit einem vierten ging sie schwanger). Gott hatte seinen Lenden Fruchtbarkeit verliehen, seinem Herzen Gleichmut und seinen Händen Armut. Sie hatten kein Gold zu wägen und keine Bank­noten zu zählen. Dennoch rann sein Leben stetig dahin, wie ein kleiner armer Bach zwischen kärg­lichen Ufern. Jeden Morgen dankte Mendel Gott für den Schlaf, für das Erwachen und den anbre­chenden Tag. Wenn die Sonne unterging, betete er noch einmal. Wenn die ersten Sterne auf­sprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden aber eifrigen Lippen. Sein Schlaf war traumlos. Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch. Er brauchte nichts zu bereuen, und nichts gab es, was er begehrt hätte. Er liebte sein Weib und ergötzte sich an ihrem Fleische. Mit gesundem Hunger verzehrte er schnell seine Mahlzeiten. Seine zwei kleinen Söhne Jonas und Schemarjah prügelte er wegen Ungehorsams. Aber das Jüngste, die Tochter Mirjam, liebkoste er häufig. Sie hatte sein schwarzes Haar und seine schwarzen, trägen und sanften Augen. Ihre Glie­der waren zart, ihre Gelenke zerbrechlich. Eine junge Gazelle.

Zwölf sechsjährige Schüler unterrichtete er im Lesen und Memorieren der Bibel. Jeder von den zwölf brachte ihm an jedem Freitag zwanzig Ko­peken. Sie waren Mendel Singers einzige Ein­nahmen. Dreißig Jahre war er erst alt. Aber seine Aussichten, mehr zu verdienen, waren gering, vielleicht überhaupt nicht vorhanden. Wurden die Schüler älter, kamen sie zu andern, weise­ren Lehrern. Das Leben verteuerte sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten wurden ärmer und ärmer. Die Karotten verringerten sich, die Eier wurden hohl, die Kartoffeln erfroren, die Suppen wäs­serig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart und die Hühner ein Nichts. Also klangen die Klagen Deborahs, der Frau Men­del Singers. Sie war ein Weib, manchmal ritt sie der Teufel. Sie schielte nach dem Besitz Wohl­habender und neidete Kaufleuten den Gewinn. Viel zu gering war Mendel Singer in ihren Au­gen. Die Kinder warf sie ihm vor, die Schwan­gerschaft, die Teuerung, die niedrigen Honorare und oft sogar das schlechte Wetter. Am Freitag scheuerte sie den Fußboden, bis er gelb wurde wie Safran. Ihre breiten Schultern zuckten auf und nieder im gleichmäßigen Rhythmus, ihre starken Hände rieben kreuz und quer jedes ein­zelne Brett, und ihre Nägel fuhren in die Sparren und Hohlräume zwischen den Brettern und kratz­ten schwarzen Unrat hervor, den Sturzwellen aus dem Kübel vollends vernichteten. Wie ein breites, gewaltiges und bewegliches Gebirge kroch sie durch das kahle blau getünchte Zimmer. Draußen, vor der Tür, lüfteten sich die Möbel, das braune hölzerne Bett, die Strohsäcke, ein blank gehobelter Tisch, zwei lange und schmale Bänke, horizontale Bretter, festgenagelt auf je zwei vertikalen. Sobald die erste Dämmerung an das Fenster hauchte, zündete Deborah die Kerzen an, in Leuchtern aus Alpaka, schlug die Hände vors Angesicht und betete. Ihr Mann kam nach Hause, in seidigem Schwarz, der Fußboden leuchtete ihm entgegen, gelb wie geschmolzene Sonne, sein Angesicht schimmerte weißer als ge­wöhnlich, schwärzer als an Wochentagen dun­kelte auch sein Bart. Er setzte sich, sang ein Lied­chen, dann schlürften die Eltern und die Kinder die heiße Suppe, lächelten den Tellern zu und sprachen kein Wort. Wärme erhob sich im Zim­mer. Sie schwärmte aus den Töpfen, den Schüs­seln, den Leibern. Die billigen Kerzen in den Leuchtern aus Alpaka hielten es nicht aus, sie begannen sich zu biegen. Auf das ziegelrote blau karierte Tischtuch tropfte Stearin und verkruste­te im Nu. Man stieß das Fenster auf, die Ker­zen ermannten sich und brannten friedlich ihrem Ende zu. Die Kinder legten sich auf die Stroh­säcke in der Nähe des Ofens, die Eltern saßen noch und sahen mit bekümmerter Festlichkeit in die letzten blauen Flämmchen, die gezackt aus den Höhlungen der Leuchter emporschossen und sanft gewellt zurücksanken, ein Wasserspiel aus Feuer. Das Stearin schwellte, blaue dünne Fäden aus Rauch zogen von den verkohlten Dochtresten aufwärts zur Decke. »Ach!« seufzte die Frau. »Seufze nicht!« gemahnte Mendel Singer. Sie schwiegen. »Schlafen wir, Deborah!« be­fahl er. Und sie begannen, ein Nachtgebet zu murmeln.

Am Ende jeder Woche brach so der Sabbat an, mit Schweigen, Kerzen und Gesang. Vierund­zwanzig Stunden später tauchte er unter in der Nacht, die den grauen Zug der Wochentage an­führte, einen Reigen aus Mühsal. An einem hei­ßen Tag im Hochsommer, um die vierte Stunde des Nachmittags, kam Deborah nieder. Ihre ersten Schreie stießen in den Sing-Sang der zwölf ler­nenden Kinder. Sie gingen alle nach Hause. Sie­ben Tage Ferien begannen. Mendel bekam ein neues Kind, ein viertes, einen Knaben. Acht Tage später wurde es beschnitten und Menuchim ge­nannt. Menuchim hatte keine Wiege. Er schwebte in einem Korb aus geflochtenen Weidenruten in der Mitte des Zimmers, mit vier Seilen an einem Ha­ken im Plafond befestigt wie ein Kronleuchter. Mendel Singer tippte von Zeit zu Zeit mit einem leichten, nicht lieblosen Finger an den hängenden Korb, der sofort anfing, zu schaukeln. Diese Bewegung beruhigte den Säugling zuweilen. Manchmal aber half gar nichts gegen seine Lust, zu wimmern und zu schreien. Seine Stimme krächzte über den Stimmen der zwölf lernenden Kinder, profane, hässliche Laute über den heili­gen Sätzen der Bibel. Deborah stieg auf einen Schemel und holte den Säugling herunter. Weiß, geschwellt und kolossal entquoll ihre Brust der offenen Bluse und zog die Blicke der Knaben übermächtig auf sich. Alle Anwesenden schien Deborah zu säugen. Ihre eigenen älteren drei Kinder umstanden sie, eifersüchtig und lüstern. Stille brach ein. Man hörte das Schmatzen des Säuglings.

Die Tage dehnten sich zu Wochen, die Wochen wuchsen sich zu Monaten aus, zwölf Monate machten ein Jahr. Menuchim trank immer noch die Milch seiner Mutter, eine schüttere, klare Milch. Sie konnte ihn nicht absetzen. Im dreizehnten Monat seines Lebens begann er Grimassen zu schneiden und wie ein Tier zu stöhnen, in ja­gender Hast zu atmen und auf eine noch nie da gewesene Art zu keuchen. Sein großer Schädel hing schwer wie ein Kürbis an seinem dünnen Hals. Seine breite Stirn fältelte und furchte sich kreuz und quer, wie ein zerknittertes Pergament. Seine Beine waren gekrümmt und ohne Leben wie zwei hölzerne Bögen. Seine dürren Ärmchen zappelten und zuckten. Lächerliche Laute stam­melte sein Mund. Bekam er einen Anfall, so nahm man ihn aus der Wiege und schüttelte ihn ordentlich, bis sein Angesicht bläulich wurde und der Atem ihm beinah’ verging. Dann erholte er sich langsam. Man legte gebrühten Tee (in meh­reren Säckchen) auf seine magere Brust und wickelte Huflattich um seinen dünnen Hals. »Macht nichts« sagte sein Vater »es kommt vom Wach­sen!« »Söhne geraten nach den Brüdern der Mut­ter. Mein Bruder hat es fünf Jahre gehabt!« sagte die Mutter. »Man wächst sich aus!« sprachen die andern. Bis eines Tages die Pocken in der Stadt ausbrachen, die Behörden Impfungen verschrie­ben und die Ärzte in die Häuser der Juden dran­gen. Manche verbargen sich. Mendel Singer aber, der Gerechte, floh vor keiner Strafe Gottes. Auch der Impfung sah er getrost entgegen. Es war an einem heißen sonnigen Vormittag, an dem die Kommission durch Mendels Gasse kam. Das letzte in der Reihe der jüdischen Häuser war Mendels Haus. Mit einem Polizisten, der ein großes Buch im Arm trug, ging der Doktor Soltysiuk mit wehendem blondem Schnurrbart im braunen Angesicht, einen goldgeränderten Kneifer auf der geröteten Nase, mit breiten Schritten, in knar­rend gelben Ledergamaschen und den Rock, der Hitze wegen, über die blaue Rubaschka lässig ge­hängt, dass die Ärmel wie noch ein paar Arme aussahen, die ebenfalls bereit schienen, Impfun­gen vorzunehmen: Also kam der Doktor Soltysiuk in die Gasse der Juden. Ihm entgegen scholl das Wehklagen der Frauen und das Heulen der Kinder, die sich nicht hatten verbergen können. Der Poli­zist holte Frauen und Kinder aus tiefen Kellern und von hohen Dachböden, aus kleinen Kämmerchen und großen Strohkörben. Die Sonne brütete, der Dokter schwitzte. Nicht weniger als hundertsechsundsiebzig Juden hatte er zu impfen. Für jeden Geflohenen und Unerreichbaren dankte er Gott im Stillen. Als er zum vierten der kleinen blau getünchten Häuschen gelangt war, gab er dem Po­lizisten einen Wink, nicht mehr eifrig zu suchen. Immer stärker schwoll das Geschrei, je weiter der Doktor ging. Es wehte vor seinen Schritten ein­her. Das Geheul derjenigen, die sich noch fürchteten, verband sich mit dem Fluchen der bereits Geimpften. Müde und vollends verwirrt ließ er sich in Mendels Stube mit einem schweren Stöh­nen auf die Bank nieder und verlangte ein Glas Wasser. Sein Blick fiel auf den kleinen Menuchim, er hob den Krüppel hoch und sagte: »Er wird ein Epileptiker.« Angst goss er in des Vaters Herz. »Alle Kinder haben Fraisen«, wandte die Mut­ter ein. »Das ist es nicht«, bestimmte der Dok­tor. »Aber ich könnte ihn vielleicht gesund ma­chen. Es ist Leben in seinen Augen.« Gleich wollte er den Kleinen ins Krankenhaus mit­nehmen. Schon war Deborah bereit. »Man wird ihn umsonst gesund machen« – sagte sie. Men­del aber erwiderte: »Sei still, Deborah! Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch es­sen und Hühner auf Butter gebraten, wie man sie im Spital bekommt? Wir sind arm, aber Menuchims Seele verkauf ich nicht, nur weil seine Heilung umsonst sein kann. Man wird nicht ge­heilt in fremden Spitälern.« Wie ein Held hielt Mendel seinen dürren weißen Arm zum Impfen hin. Menuchim aber gab er nicht fort. Er beschloss, Gottes Hilfe für seinen Jüngsten zu erflehen und zweimal in der Woche zu fasten, Montag und Donnerstag. Deborah nahm sich vor, auf den Friedhof zu pilgern und die Gebeine der Ahnen anzurufen, um ihre Fürsprache beim Allmächtigen. Also würde Menuchim gesund werden und kein Epi­leptiker.

Dennoch hing seit der Stunde der Impfung über dem Haus Mendel Singers die Furcht wie ein Ungetüm, und der Kummer durchzog die Herzen wie ein dauernder, heißer und stechender Wind. Deborah durfte seufzen, und ihr Mann wies sie nicht zurecht. Länger als sonst hielt sie ihr An­gesicht in den Händen vergraben, wenn sie betete, als schüfe sie sich eigene Nächte, die Furcht in ihnen zu begraben und eigene Finsternisse, um zugleich die Gnade in ihnen zu finden. Denn sie glaubte, wie es geschrieben stand, dass Gottes Licht in den Dämmernissen aufleuchte und seine Güte das Schwarze erhelle. Menuchims Anfälle aber hörten nicht auf. Die älteren Kinder wuchsen und wuchsen, ihre Gesundheit lärmte wie ein Feind Menuchims, des Kranken, böse in den Ohren der Mutter. Es war, als bezögen die ge­sunden Kinder Kraft von dem Siechen, und Deborah hasste ihr Geschrei, ihre roten Wangen, ihre geraden Gliedmaßen. Sie pilgerte zum Fried­hof durch Regen und Sonne. Sie schlug mit dem Kopf gegen die moosigen Sandsteine, die aus den Gebeinen ihrer Väter und Mütter wuchsen. Sie beschwor die Toten, deren stumme tröstende Ant­worten sie zu hören vermeinte. Auf dem Heim­weg zitterte sie vor Hoffnung, ihren Sohn gesund wiederzufinden. Sie versäumte den Dienst am Herd, die Suppe lief über, die tönernen Töpfe zer­brachen, die Kasserollen verrosteten, die grünlich schimmernden Gläser zersprangen mit hartem Knall, der Zylinder der Petroleumlampe verfin­sterte sich rußig, der Docht verkohlte kümmerlich zu einem Zäpfchen, der Schmutz vieler Sohlen und vieler Wochen überlagerte die Dielen des Bo­dens, das Schmalz im Topfe zerrann, die Knöpfe fielen dürr von den Hemden der Kinder wie Laub vor dem Winter. Eines Tages, eine Woche vor den hohen Feier­tagen (aus dem Sommer war Regen geworden, und aus dem Regen wollte Schnee werden) packte Deborah den Korb mit ihrem Sohn, legte wollene Decken über ihn, stellte ihn auf die Fuhre des Kutschers Sameschkin und reiste nach Kluczýsk, wo der Rabbi wohnte. Das Sitzbrett lag locker auf dem Stroh und rutschte bei jeder Bewe­gung des Wagens. Lediglich mit dem Gewicht ihres Körpers hielt Deborah es nieder, lebendig war es, hüpfen wollte es. Die schmale gewundene Straße bedeckte der silbergraue Schlamm, in dem die hohen Stiefel der Vorüberkommenden versan­ken und die halben Räder der Fuhre. Der Regen verhüllte die Felder, zerstäubte den Rauch über den vereinzelten Hütten, zermahlte mit unend­licher feiner Geduld alles Feste, auf das er traf, den Kalkstein, der hier und dort wie weißer Zahn aus der schwarzen Erde wuchs, die zersägten Stämme an den Rändern der Straße, die aufeinander ge­schichteten duftenden Bretter vor dem Eingang zur Sägemühle, auch das Kopftuch Deborahs und die wollenen Decken, unter denen Menuchim be­graben lag. Kein Tröpfchen sollte ihn benetzen. Deborah berechnete, dass sie noch vier Stunden zu fahren hatte; hörte der Regen nicht auf, musste sie vor der Herberge halten und die Decken trocknen, einen Tee trinken und die mitgenom­menen ebenfalls schon durchweichten Mohnbre­zeln verzehren. Das konnte fünf Kopeken kosten, fünf Kopeken, mit denen man nicht leichtsinnig umgehen darf. Gott hatte ein Einsehen, es hörte zu regnen auf. Über hastigen Wolkenfetzen bleichte eine zerronnene Sonne, eine Stunde kaum; in einem neuen tieferen Dämmer versank sie endgültig.

Die schwarze Nacht lagerte in Kluczýsk, als De­borah ankam. Viele ratlose Menschen waren be­reits gekommen, den Rabbi zu sehn. Kluczýsk be­stand aus ein paar Tausend niedrigen Stroh- und Schindel-gedeckten Häusern, einem kilometer­weiten Marktplatz, der wie ein trockener See war, umkränzt von Gebäuden. Die Fuhrwerke, die in ihm herumstanden, erinnerten an stecken­gebliebene Wracks; übrigens verloren sie sich, winzig und sinnlos, in der kreisrunden Weite. Die ausgespannten Pferde wieherten neben den Fuhrwerken und traten mit müden klatschenden Hufen den klebrigen Schlamm. Einzelne Männer irrten mit schwankenden gelben Laternen durch die runde Nacht, eine vergessene Decke zu holen und ein klirrendes Geschirr mit Mundvorrat. Ringsum, in den tausend kleinen Häuschen, wa­ren die Ankömmlinge untergebracht. Sie schliefen auf Pritschen neben den Betten der Einheimischen, die Siechen, die Krummen, die Lahmen, die Wahnsinnigen, die Idiotischen, die Herzschwachen, die Zuckerkranken, die den Krebs im Leibe trugen, deren Augen mit Trachom verseucht waren, Frauen mit unfruchtbarem Schoß, Mütter mit missgestalteten Kindern, Männer, denen Gefäng­nis oder Militärdienst drohte, Deserteure, die um eine geglückte Flucht baten, von Ärzten Auf­gegebene, von der Menschheit Verstoßene, von der irdischen Gerechtigkeit Misshandelte, Be­kümmerte, Sehnsüchtige, Verhungernde und Satte, Betrüger und Ehrliche, Alle, Alle, Alle ... Deborah wohnte bei Kluczýsker Verwandten ihres Mannes. Sie schlief nicht. Die ganze Nacht kauerte sie neben dem Korb Menuchims in der Ecke, neben dem Herd, finster war das Zimmer, finster war ihr Herz. Sie wagte nicht mehr, Gott anzurufen, er schien ihr zu hoch, zu groß, zu weit, unendlich hinter unendlichen Himmeln, eine Leiter aus Millionen Gebeten hätte sie ha­ben müssen, um einen Zipfel von Gott zu er­reichen. Sie suchte nach toten Gönnern, rief die Eltern an, den Großvater Menuchims, nach dem der Kleine hieß, dann die Erzväter der Juden, Abraham, Isaak und Jakob, die Gebeine Mosis und zum Schluss die Erzmütter. Wo immer eine Fürsprache möglich war, schickte sie einen Seufzer vor. Sie pochte an hundert Gräber, an hundert Türen des Paradieses. Vor Angst, dass sie morgen den Rabbi nicht erreichen würde, weil zu viel Bittende da waren, betete sie zuerst um das Glück, rechtzeitig vordringen zu können, als wäre die Gesundung ihres Sohnes dann schon ein Kinderspiel. Endlich sah sie durch die Ritzen der schwarzen Fensterläden ein paar fahle Strei­fen des Morgens. Schnell erhob sie sich. Sie zündete die trockenen Kienspäne an, die auf dem Herd lagen, suchte und fand einen Topf, holte den Samowar vom Tisch, warf die brennenden Späne hinein, schüttete Kohle nach, fasste das Gefäß an beiden Henkeln, bückte sich und blies hinein, dass die Funken herausstoben und um ihr Angesicht knisterten. Es war, als handelte sie nach einem geheimnisvollen Ritus. Bald siedete das Wasser, bald kochte der Tee, die Familie erhob sich, sie setzten sich vor irdene braune Geschirre und tranken. Da hob Deborah ihren Sohn aus dem Korb. Er winselte. Sie küsste ihn schnell und viele Male, mit einer rasenden Zärt­lichkeit, ihre feuchten Lippen knallten auf das graue Angesicht, die dürren Händchen, die krummen Schenkel, den aufgedunsenen Bauch des Kleinen, es war, als schlüge sie das Kind mit ihrem liebenden mütterlichen Mund. Hier­auf packte sie ihn ein, schnürte einen Strick um das Paket und hängte sich ihren Sohn um den Hals, damit ihre Hände frei würden. Platz wollte sie sich schaffen im Gedränge vor der Tür des Rabbi.

Mit scharfem Heulen stürzte sie sich in die Menge der Wartenden, mit grausamen Fäusten drängte sie Schwache auseinander, niemand konnte sie aufhalten. Wer immer von ihrer Hand getroffen und weggerückt, sich nach ihr umsah, um sie zurückzuweisen, war geblendet von dem bren­nenden Schmerz in ihrem Angesicht, ihrem offe­nen roten Mund, aus dem ein sengender Hauch zu strömen schien, von dem kristallenen Leuch­ten der großen rollenden Tränen, von den Wan­gen, die in hellroten Flammen standen, von den dicken blauen Adern am gereckten Hals, in denen sich die Schreie sammelten, ehe sie ausbrachen. Wie eine Fackel wehte Deborah einher. Mit einem einzigen grellen Schrei, hinter dem die grauenhafte Stille einer ganzen gestorbenen Welt einstürzte, fiel Deborah vor der endlich erreichten Tür des Rabbi nieder, die Klinke in der ge­reckten Rechten. Mit der Linken trommelte sie gegen das braune Holz. Menuchim schleifte vor ihr her am Boden.

Jemand machte die Tür auf. Der Rabbi stand am Fenster, er kehrte ihr den Rücken, ein schwarzer schmaler Strich. Plötzlich wandte er sich um. Sie blieb an der Schwelle, auf beiden Armen bot sie ihren Sohn dar, wie man ein Opfer bringt. Sie erhaschte einen Schimmer von dem bleichen Angesicht des Mannes, das eins zu sein schien mit seinem weißen Bart. Sie hatte sich vorge­nommen, in die Augen des Heiligen zu sehen, um sich zu überzeugen, dass wirklich in ihnen die mächtige Güte lebe. Aber nun sie hier stand, lag ein See von Tränen vor ihrem Blick, und sie sah den Mann hinter einer weißen Welle aus Wasser und Salz. Er hob die Hand, zwei dürre Finger glaubte sie zu erkennen, Instrumente des Segens. Aber ganz nah hörte sie die Stimme des Rabbi, obwohl er nur flüsterte: »Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund wer­den. Seinesgleichen wird es nicht viele geben in Israel. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes künden. Hab keine Furcht und geh nach Haus!« »Wann, wann, wann wird er gesund werden?« flüsterte Deborah. »Nach langen Jahren«, sagte der Rabbi, »aber frage mich nicht weiter, ich habe keine Zeit und ich weiß nichts mehr. Verlass deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg von dir, er kommt aus dir, wie ein ge­sundes Kind auch. Und geh!«... Draußen machte man ihr Platz. Ihre Wangen waren blass, ihre Augen trocken, ihre Lippen leicht geöffnet, als atmeten sie lauter Hoffnung. Gnade im Herzen kehrte sie heim.

II

Als Deborah heimkehrte, traf sie ihren Mann am Herd. Unwillig besorgte er das Feuer, den Topf, die hölzernen Löffel. Sein gerader Sinn war auf die einfachen irdischen Dinge gerichtet und ver­trug kein Wunder im Bereich der Augen. Er lä­chelte über den Glauben seiner Frau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner ver­mittelnden Gewalt zwischen Gott und den Men­schen. »Menuchim wird gesund werden, aber es wird lange dauern!« – Mit diesen Worten betrat Deborah das Haus. »Es wird lange dauern!« wie­derholte Mendel wie ein böses Echo. Deborah hängte seufzend den Korb wieder an den Plafond. Die älteren drei Kinder kamen vom Spiel. Sie fielen über den Korb her, den sie schon einige Tage vermisst hatten, und ließen ihn heftig pendeln. Mendel Singer ergriff mit beiden Händen seine Söhne, Jonas und Schemarjah. Mirjam, das Mädchen, flüchtete zur Mutter. Mendel kniff seine Söhne in die Ohren. Sie heulten auf. Er schnallte den Hosengurt ab und schwang ihn durch die Luft. Als gehörte das Leder noch zu seinem Körper, als wäre es die natürliche Fort­setzung seiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden klatschenden Schlag, der die Rücken seiner Söhne traf. Ein unheimliches Getöse brach los in sei­nem Kopf. Die warnenden Schreie seiner Frau fielen in seinen eigenen Lärm, unbedeutend vergingen sie darin. Es war, als schüttete man Gläser Wasser in ein aufgeregtes Meer. Er fühlte nicht, wo er stand. Er wirbelte mit dem schwin­genden, knallenden Gürtel umher, traf die Wän­de, den Tisch, die Bänke und wusste nicht, ob ihn die verfehlten Schläge mehr freuten oder die gelungenen. Endlich klang es drei von der Wanduhr, die Stunde, in der sich die Schüler am Nachmittag versammelten. Mit leerem Magen – denn er hatte nichts gegessen – die würgende Aufregung noch in der Kehle, begann Mendel, Wort für Wort, Satz auf Satz aus der Bibel vor­zutragen. Der helle Chor der Kinderstimmen wiederholte Wort für Wort, Satz für Satz, es war, als würde die Bibel von vielen Glocken geläutet. Wie Glocken schwangen auch die Oberkörper der Lernenden vorwärts und zurück, indes über den Köpfen der Korb Menuchims fast in gleichem Rhythmus pendelte. Heute nahmen Mendels Söhne am Unterricht teil. Des Vaters Zorn ver­sprühte, erkaltete, erlosch, weil sie im klingenden Vorsagen den andern voran waren. Um sie zu er­proben, verließ er die Stube. Der Chor der Kin­der läutete weiter, angeführt von den Stimmen der Söhne. Er konnte sich auf sie verlassen. Jonas, der ältere, war stark wie ein Bär, Schemarjah, der jüngere, war schlau wie ein Fuchs. Stampfend trottete Jonas einher, mit vorgeneig­tem Kopf, mit hängenden Händen, strotzenden Backen, ewigem Hunger, gekräuseltem Haar, das heftig über die Ränder der Mütze wucherte. Sanft und beinahe schleichend, mit spitzem Profil, im­mer wachen hellen Augen, dünnen Armen, in der Tasche vergrabenen Händen, folgte ihm sein Bruder Schemarjah. Niemals brach ein Streit zwischen ihnen aus, zu ferne waren sie einander, getrennt waren ihre Reiche und Besitztümer, sie hatten ein Bündnis geschlossen. Aus Blechdosen, Zündholzschachteln, Scherben, Hörnern, Wei­denruten verfertigte Schemarjah wunderbare Sa­chen. Jonas hätte sie mit seinem starken Atem umblasen und vernichten können. Aber er be­wunderte die zarte Geschicklichkeit seines Bru­ders. Seine kleinen schwarzen Augen blinkten wie Fünkchen zwischen seinen Wangen, neu­gierig und heiter.

Einige Tage nach ihrer Rückkehr erachtete De­borah die Zeit für gekommen, Menuchims Korb vom Plafond abzuknöpfen. Nicht ohne Feierlich­keit übergab sie den Kleinen den ältern Kindern. »Ihr werdet ihn spazieren führen!« sagte De­borah. »Wenn er müde wird, werdet ihr ihn tragen. Lasst ihn Gott behüte nicht fallen! Der heilige Mann hat gesagt, er wird gesund. Tut ihm kein Weh.« Von nun an begann die Plage der Kinder.

Sie schleppten Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt, sie ließen ihn liegen, sie ließen ihn fallen. Sie ertrugen den Hohn der Altersgenossen schwer, die hinter ihnen her liefen, wenn sie Menuchim spazieren führten. Der Kleine musste zwischen zweien gehalten werden. Er setzte nicht einen Fuß vor den andern, wie ein Mensch. Er wackelte mit seinen Beinen wie mit zwei zer­brochenen Reifen, er blieb stehen, er knickte ein. Schließlich ließen ihn Jonas und Schemarjah lie­gen. Sie legten ihn in eine Ecke, in einen Sack. Dort spielte er mit Hundekot, Pferdeäpfeln, Kie­selsteinen. Er fraß alles. Er kratzte den Kalk von den Wänden und stopfte sich den Mund voll, hustete dann und wurde blau im Angesicht. Ein Stück Dreck, lagerte er im Winkel. Manchmal fing er an zu weinen. Die Knaben schickten Mir­jam zu ihm, damit sie ihn tröste. Zart, kokett, mit hüpfenden dünnen Beinen, einen hässlichen und hassenden Abscheu im Herzen, näherte sie sich ihrem lächerlichen Bruder. Die Zärtlichkeit, mit der sie sein aschgraues verknittertes Ange­sicht streichelte, hatte etwas Mörderisches. Sie sah sich vorsichtig um, nach rechts und links, dann kniff sie ihren Bruder in den Schenkel. Er heulte auf, Nachbarn sahen aus den Fenstern. Sie verzerrte das Angesicht zur weinerlichen Gri­masse. Alle Menschen hatten Mitleid mit ihr und fragten sie aus.