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«Hiob», die Geschichte der ostjüdischen Familie Singer, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg beginnt und ins amerikanische Exil führt, ist Joseph Roths berühmtester Roman. Die Bühnenfassung von Koen Tachelet wurde im April 2008 in Johan Simons' Regie an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt. Anschließend war die Inszenierung, «eine der berührendsten seit sehr langer Zeit» (Der Standard), auch bei den Wiener Festwochen zu sehen. «Dieser Abend ist selbst ein großes Wunder … Zu rühmen ist dabei zuerst einmal die Fassung von Koen Tachelet, der den Rhythmus und den poetischen Bilderreichtum Roths bewahrt hat, indem er den Erzählstrom auf die Lippen der Figuren umgeleitet hat.» (Süddeutsche Zeitung)
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Seitenzahl: 63
Joseph Roth
Hiob
Bühnenfassung von Koen Tachelet
Ihr Verlagsname
Joseph Roth, geboren 1894 in Brody, Ostgalizien, Österreich-Ungarn, arbeitete als Journalist in Wien und Berlin und bereiste in den 1920er Jahren für die Frankfurter Zeitung als Reisekorrespondent Europa. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus emigrierte er nach Frankreich, unternahm aber weiterhin längere Reisen unter anderem nach Österreich und in die Niederlande, wo auch seine letzten Texte publiziert wurden. 1939 starb er in Paris an den Folgen einer Lungenentzündung. Zu seinen wichtigsten Werken gehören «Hotel Savoy» (Berlin, 1924), «Hiob. Roman eines einfachen Mannes» (Berlin, 1930), «Radetzkymarsch» (Berlin, 1932), «Die Legende vom heiligen Trinker» (Amsterdam, 1939).
Menuchim bekommt einen Anfall
DOKTOR
Was hat er denn?
DEBORAH
Gliederzucken. Es kommt vom Wachsen. Das kriegt jedes Kind.
DOKTOR
Was sind die Symptome?
DEBORAH
Er schneidet Grimassen. Er stöhnt wie ein Tier. Er atmet in jagender Hast und keucht auf eine noch nie dagewesene Art. Seine Beine sind leblos, aber seine Arme zappeln und zucken. Sein Mund stammelt lächerliche Laute.
DOKTOR
Was tust du, wenn er einen Anfall bekommt?
DEBORAH
Ich schüttle ihn ordentlich, bis sein Gesicht bläulich wird. Der Atem vergeht ihm beinahe. Dann erholt er sich langsam wieder …
JONAS
Er ist nicht normal.
DEBORAH
… und dann gebe ich ihm die Brust.
SCHEMARJAH
Es ist zum Lachen.
MIRJAM
Er gleicht einem Tier.
DOKTOR
Er wird ein Epileptiker.
Es ist Leben in seinen Augen. Ich kann ihn vielleicht gesund machen. Er muss ins Krankenhaus.
DEBORAH
Das können wir nicht bezahlen.
DOKTOR
Mach dir darüber keine Sorgen.
MENDEL
Kein Doktor kann ihn gesund machen, wenn Gott es nicht will.
DEBORAH
Es kostet uns nichts. Man wird ihn umsonst gesund machen!
MENDEL
Soll ich seine Seele verkaufen, nur weil seine Heilung umsonst sein kann? Soll er unter nichtjüdischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören? Milch und Fleisch essen und in Butter gebratene Hühner?
DEBORAH
Man wird ihn gesund machen!
MENDEL
Man wird nicht gesund gemacht in fremden Spitälern.
DEBORAH
Wo denn sonst?
MENDEL
Der Allmächtige wird entscheiden, ob Menuchim wieder gesund und kein Epileptiker wird. Gepriesen sei Gott, dass unsere anderen Kinder gesund sind.
DEBORAH
Schweig über die Kinder. Sie sind gesund, weil er krank ist. Ich hasse ihr Geschrei, ihre roten Wangen, ihre geraden Gliedmaßen. Ihre Gesundheit ist der Feind seiner Krankheit. Wir müssen etwas tun. Warum tust du nichts?
MENDEL
Ich bin kein Doktor und nicht reich. Ich bin ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Jude.
DEBORAH
Du bist ein Schwächling. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich fahre zum Rabbi nach Kluczýsk.
MENDEL
Was erwartest du dir davon?
DEBORAH
Heilung für Menuchim.
MENDEL
Weißt du, was dich in Kluczýsk erwarten wird? Kranke, Krumme, Lahme, Wahnsinnige, Idioten, Herzpatienten, Zuckerkranke, Leute, die Krebs im Körper haben, deren Augen mit Trachom verseucht sind, Frauen mit unfruchtbarem Schoß, Mütter mit missgestalteten Kindern, Männer, denen Militärdienst droht, Deserteure, die um eine glückliche Flucht bitten, Menschen, die die Ärzte aufgegeben haben, die von der Menschheit verstoßen sind, von der irdischen Gerechtigkeit misshandelt, Bekümmerte und Sehnsüchtige, Verhungerte und Satte, Betrüger und Ehrliche, alle, alle, alle hoffen sie – alle stehen sie vor dem Haus des Rabbis und warten. Sie hoffen alle auf ein Wunder.
DEBORAH
Dann bin ich am richtigen Ort.
Rabbi!
DEBORAH
Rabbi, wird Menuchim gesund werden?
RABBI
Menuchim, Mendels Sohn, wird gesund werden. Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark. Seine Augen werden weit sein und tief, seine Ohren hell und voll Widerhall. Sein Mund wird schweigen, aber wenn er die Lippen auftun wird, werden sie Gutes verkünden. Hab keine Furcht und geh nach Hause.
DEBORAH
Aber wann, wann, wann wird er gesund werden?
RABBI
Frag mich nicht weiter, ich weiß nichts mehr. Verlasse deinen Sohn nicht, auch wenn er dir eine große Last ist, gib ihn nicht weg, er kommt aus dir, wie ein gesundes Kind auch.
DEBORAH
Menuchim wird gesund werden, aber es wird lang dauern. Der Rabbi hat es vorhergesagt.
MENDEL
Du glaubst an den Rabbi, weil er Menuchim heilen könnte. Ich glaube nicht an Wunder im Bereich der Augen. Ich brauche niemand zwischen Gott und mir selbst.
…
DEBORAH
Wo sind die Kinder?
Jonas! Schemarjah, Mirjam!
Kinder, ihr müsst Menuchim spazieren führen. Der heilige Mann hat gesagt, er wird gesund.
SCHEMARJAH
Unsere Freunde spotten, wenn er bei uns ist.
JONAS
Er kann nicht laufen. Kann nicht mal stehen.
DEBORAH
Wenn er müde wird, werdet ihr ihn tragen. Lasst ihn, Gott behüte, nicht fallen. Tut ihm kein Weh.
JONAS
Er bringt Unglück.
SCHEMARJAH
Er ist ein Unglück.
MIRJAM
Legen wir ihn in eine Ecke.
JONAS
Ja, da kann er mit Hundekot und Pferdeäpfeln spielen, er isst es auf. Es sind seine Freunde.
Jonas, Mirjam und Schemarjah schmieren Menuchim mit Kot ein und stoßen seinen Kopf in einen mit Wasser gefüllten Eimer.
JONAS
Er ist abscheulich. Ich hasse ihn.
MIRJAM
Ist er tot?
JONAS
Ich glaub schon.
Menuchim bekommt einen Anfall.
MIRJAM
Er lebt noch.
SCHEMARJAH
Warum ist er nicht tot?
JONAS
Vielleicht stirbt er später.
SCHEMARJAH
Warum stirbt er nicht? Ich habe Angst. Gott winkt uns mit dem Finger.
MIRJAM
Er stirbt nicht. Er ist behindert, aber er stirbt nicht.
Mendel findet den mit Kot beschmierten Menuchim.
MENDEL
Menuchim, was haben sie mit dir gemacht?
Mendel packt seine beiden Söhne. Mirjam flüchtet zur Mutter. Mendel kneift seine Söhne in die Ohren. Sie heulen auf. Er schnallt den Hosengürtel ab, schwingt ihn durch die Luft und trifft die Rücken seiner Söhne. Deborah schreit. Mendel hört nur sein eigenes Getöse. Er fühlt nicht mehr, wo er hinschlägt, schwingt den Gürtel und trifft Wände, Tisch und Bänke. Endlich schlägt die Wanduhr drei, die Schüler kommen herein, und Mendel, die Aufregung noch in der Kehle, hört auf zu schlagen.
MENDEL
Mendel Singer. Jude. Fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich. Blasses Gesicht, Vollbart, große, träge, schwarze Augen. Auf dem Kopf sitzt eine Mütze aus schwarzem Seidenrips. Der Körper steckt im halblangen jüdischen Kaftan. Mein Haus besteht nur aus einer geräumigen Küche. Ich bin Lehrer. Ich vermittle den Kindern aus Zuchnow die Kenntnis der Bibel. Zwanzig Kopeken bezahlt jeder dafür. Damit muss ich eine Frau und vier Kinder kleiden und ernähren.
DEBORAH
Zwanzig Kopeken. Wie sollen wir davon leben?
MENDEL
Ich bin nur ein einfacher Lehrer.
DEBORAH
Das Leben verteuert sich von Jahr zu Jahr. Die Ernten werden karger, die Eier verderben, die Karotten werden kleiner …
MENDEL
Du schielst zu oft nach dem Besitz der Wohlhabenden.
DEBORAH
… die Kartoffeln erfrieren, die Suppen werden wässrig, die Karpfen schmal und die Hechte kurz, die Enten mager, die Gänse hart, die Hühner ein Nichts …
MENDEL
Du bist besessen von dem, was andere haben.
DEBORAH
… und das Wetter wird immer schlechter.
MENUCHIM
Mama.
DEBORAH
Menuchim kann sprechen!
MENUCHIM
Mama.
DEBORAH