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Eine bewegende Geschichte über die Kraft der Aussöhnung und Vergebung In einer Welt, in der dem Wunsch nach ausgeglichener und umfassender Gerechtigkeit zunehmend durch Vergeltung und härtere Strafen nachgegangen wird, zeigt Jan de Cock mit seiner Arbeit andere Wege und Möglichkeiten auf. Er reiste einmal um die Welt, um Menschen zu treffen, deren Schicksale durch entsetzliche und verstörende Verbrechen getroffen wurden und die es dennoch geschafft haben, den jeweiligen Tätern zu vergeben. Darunter sind Eltern, deren Kinder bei dem Amoklauf durch Anders Behring Breivik ums Leben kamen und Angehörige, die beim Terroranschlag 9/11 ihre Liebsten verloren.
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Seitenzahl: 436
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‚In Wort und Tat setzt sich Jan De Cock unermüdlich und mit großer Hingabe für die Bewahrung der Sehnsucht nach mehr Menschlichkeit in einer globalen Gesellschaft ein, einer Gesellschaft, in der Härte oft die Herzlichkeit und Isolation oft das Zusammenleben verdrängt. Die Versöhnung von Opfern und Tätern, bei der sich Reue und Vergebung zu einem ineinanderfließenden Gefühl gegenseitigen Verstehens vereinen, erfordert eine unvorstellbar feinsinnige Menschenkenntnis. In jedem Menschen glimmt ein Funken Güte, mag er auch fast schon erloschen scheinen. Jan De Cock rettet diese kleine Flamme aus den von Hass und Rachsucht versengten Herzen. Das ist mehr als mutig.‘
– MARK EYSKENS, STAATSMINISTER
‚Jan De Cock hält uns auf unbequeme, aber humorvolle Weise vor Augen, dass niemand mehr übrig bliebe, wenn wir alle Übeltäter aussondern und wegsperren würden. Unseren Widerständen zum Trotz lädt er uns dazu ein, uns umzuwenden, den Mangel an Menschlichkeit in uns und unseren Mitmenschen zu erkennen und ihm entgegenzutreten. Dazu bedarf es des Muts zur Vergebung und des Muts, unsere verlorenen Söhne wieder in unserem Haus willkommen zu heißen. Mit Hotel Pardon bietet uns Jan De Cock die glanzvolle Vision eines humanen Daseins auf Erden.‘
– LAURENT NOUWEN, VORSITZENDER DER HENRI-NOUWEN-STIFTUNG
‚Große Namen und große Idole lassen mich kalt. Zur Heldenverehrung habe ich kein Talent. Doch wenn es etwas gibt, was ich an einem Menschen bewundere, dann ist es Authentizität, Wehrlosigkeit, Aufrichtigkeit, selbstlose Liebe und vor allem den Glauben an das Gute. Wenn ein Mensch diese Qualitäten besitzt, dann ist es Jan De Cock.‘
– ANNEMIE STRUYF, JOURNALISTIN
‚Jan De Cock ist ein engagierter Gefängnispilger, der Gott in den Herzen aller Menschen sucht. Was ihn offensichtlich antreibt, ist die Sehnsucht nach wahrer Nähe.‘
– ANNEMIEK SCHRIJVER, TV- UND RADIOMODERATORIN
‚Jan De Cock ist ein Mann, der seine Worten Taten folgen lässt. Seine gezielten Aktionen weisen uns den Weg. Aktionen, die beweisen, dass Vergebung zu innerer Balance führt. Manche unerträglichen Situationen können wieder erträglich werden, wenn wir uns in der Kunst des Balancehaltens üben.
Danke, Jan.‘
– JEAN BOSCO SAFARI, MUSIKER
Für meinen Vater
© Uitgeveri Lannoo nv für die Originalausgabe
Originaltitel: Hotel Pardon
www.lannoo.com
UMSCHLAGENTWURF
Kris Demey
LAYOUT
Keppie & Keppie
COVERBILD
© Getty Images, Sundvolden, Norway by Jeff J. Mitchell
AUTORENFOTO
© Alain Giebens
© 2015 Kunth Verlag GmbH & Co KG für die deutsche Ausgabe
Übersetzung aus dem Niederländischen: Bärbel Jänicke, Birgit Erdmann
www.kunth-verlag.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015ISBN: 978-3-95504-254-7
Ale Rechte vorbehalten. Reproduktionen, Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Copyrightinhaber.
Cover
Zitate
Widmung
Titel
sum
Vorwort
1Niederlande • Hank Heijn-Engel
2Chile • César Pizarro
3USA • Lynette Grace
4USA • Claudia Gerbasi und Pattie Carrington
5USA • Aba Gayle
6Kanada • Dale und Diane Lang
7Afghanistan • Afghan Peace Volunteers
8Australien • Norita Morseu Diop
9Samoa • Chef Te’o und Pusi Patea
10Brasilien • Raimunda Maria da Conceição und Eni da Silva •
11Weißrussland • Pavel
12Israel und Palästina • Robi Damelin, Rami Elhanan und Bassam Aramin
13Ruanda • Anne-Marie Katengwa und viele andere
14Belgien • Hilde Van Geel
15Norwegen • Jon Olsen und Lisbeth Røyneland
Nachwort • Azim Khamisa
Brief an Azim
Bibliografie
Mit Dank an
Weitere Bücher
Fußnoten
Als ich noch ein Kind war, haben mich meine Eltern manchmal dazu angehalten, einen Streit mit dem Jungen aus der Nachbarschaft beizulegen – auch wenn er angefangen hatte und die Zerstörung unseres Planschbeckens mit einem Schraubenzieher eigentlich auf sein Konto gegangen war. Im Fernsehen hörte ich ab und an, dass Länder Friedensverträge schlossen und noblen Menschen ein Friedenspreis überreicht wurde. Einen denkwürdigen konkreten Fall erlebte ich allerdings erst mit, als ich schon als Entwicklungshelfer in Chile arbeitete. Das schäbige Häuschen meiner dortigen Nachbarn beherbergte mindestens zwanzig Menschen und einen gewissen Alkoholvorrat. Ich geriet vollkommen außer Fassung, als die Nachbarin über ihren Mann bei einem Ehestreit das brühend heiße Wasser aus einer Teekanne überschüttete. Aber noch fassungsloser war ich, als ich die beiden Wochen später – einige Tage, nachdem Petro aus dem Krankenhaus entlassen worden war – wie zwei Turteltäubchen im Bett vorfand.
Aus welchen Quellen schöpfen diese Menschen? Was vermag Menschen in die Lage zu versetzen, sich wieder in die Augen zu schauen, sich wieder zu berühren und gernzuhaben? Ist der Weg zur Versöhnung weit oder liegt sie zum Greifen nahe? Gibt es so etwas wie eine Hierarchie des Bösen und lassen sich einige Taten leichter verzeihen als andere? Ist Vergebung ein Monopol religiöser Menschen? Hängt die Fähigkeit zu vergeben vielleicht von der Persönlichkeit des Einzelnen oder seiner Lebensgeschichte ab?
Nach meinen Aufenthalten bei Häftlingen in aller Welt dachte ich, Besuche bei den Opfern wären ein Leichtes. Erst als ich die Schlittschuhe anschnallte, spürte ich, wie glatt das Eis war, auf das ich mich damit begab. Ich bin keine Witwe, deren Mann an einem sonnigen Dienstag im September mit den Twin Towers in die Tiefe gestürzt ist. Ich habe kein Kind zur Welt gebracht, an dem sich jemand vergangen hat, kein Kind, dem jemand die Kehle zugedrückt hat. Werde ich mit der Geschichte eines missbrauchten Mädchens auch dem Schicksal eines missbrauchten Jungen gerecht? Auch wenn man mich in Barcelona einmal – bis auf die Badehose – ausgeraubt hat, kann ich mir nur ausmalen, was es bedeutet, wenn das eigene Haus ausgeplündert wird. Woher nehme ich eigentlich das Recht, über diese Dinge zu sprechen?
Ich habe eine unbändige Sehnsucht danach, Menschen besser verstehen und lieben zu können. Den Anfang mache ich gewöhnlich damit, dass ich mich mit ihnen treffe. Aber ich habe auch einen Auftrag: In einer Welt, in der der Ruf nach Gerechtigkeit oft von einem Mehr an Repressionen, Strafen und Leid beantwortet wird, ist es mir wichtig, einen Kontrapunkt zu setzen. Darum habe ich Menschen besucht, die das letzte Wort weder den Taten noch der Rache überlassen haben. Einige von ihnen hat der größte Schmerz ihres Lebens zu Leitsternen von Duldsamkeit und sozialem Engagement geformt.
Als ich in Brasilien im Gefängnis von Itaúna saß, teilte ich die Zelle mit elf anderen. Einer von ihnen hatte nur noch eine Niere. Das kam so: Dyego hatte – nach der immer gleichen Vorgeschichte aus zerrütteten Familienverhältnissen, schlechten Freunden, Drogen, einer Vergewaltigung, einem Überfall und Ähnlichem – einen Taxifahrer ermordet und saß dafür schon seit fünf Jahren in Haft. Drei Jahre nach dem Mord hatte er gehört, dass die Witwe des Taxifahrers im Sterben lag. Die Dialyse, der sie sich schon seit vielen Jahren unterzog, half nicht mehr. Der einzige Ausweg für sie lag in einer Transplantation. Doch ein geeigneter Spender war in Brasilien offenbar ebenso schwer zu finden wie ein unbestechlicher Politiker. Zufällig musste Dyego zu einer medizinischen Kontrolluntersuchung – Tuberkulose, Aids … man weiß ja nie. Die Ärzte in Minas Gerais – einem entlegenen Winkel der Welt, in dem jeder jeden kennt und der Arzt weiß, in welcher Kneipe sich der Richter sein Glas Cachaça hinter die Binde kippt – stellten fest, dass Dyego als Spender kompatibel wäre. Großzügig und demütig spendete er der Witwe seine Niere. Seit dieser Zeit besucht die Familie des Taxifahrers ihn jede Woche im Gefängnis.
Anfangs hielt ich das für eine schöne, aber auch einzigartige Geschichte. Bis ich eine zweite hörte. Und dann eine dritte. Plötzlich sah ich mich einer wahren ‚Flut von Opfern‘ gegenüber, die ihre Geschichte nicht nur erzählen, sondern regelrecht hinausposaunen wollten. Sie wollten nicht mehr länger nur Opfer sein. Ich besuchte sie, blickte mit ihnen auf die Taten zurück und suchte mit ihnen nach Worten für ihren Verarbeitungsprozess. Aber ich erkannte auch, dass Vergebung eine vielfarbige Palette bereithält … und durchaus auch eine schmackhafte Seite hat.
Ich möchte allen meinen Gastgebern und Gastgeberinnen gegenüber meinen tief empfundenen Respekt und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Außerdem hoffe ich, meinen Lesern mit diesem Buch einen großen Lesegenuss und einen Spiegel zu schenken.
Jan De Cock
Wenn ich niemandem etwas übel nehme, muss ich auch niemandem vergeben.
– RONALD JAN HEIJN
Anfang Herbst 1987 wird Gerrit Jan Heijn, Enkel des in den Niederlanden berühmten Albert Heijn, dem Gründer der gleichnamigen Supermarktkette, entführt. Obwohl der Entführer Ferdi E. sein Opfer bereits einige Stunden nach der Entführung ermordet, gibt er weiterhin vor, der Industrielle sei noch am Leben und in den Händen einer kriminellen Bande. Sieben Monate lang spielt Ferdi E. ein psychologisches Versteckspiel mit der Familie des Opfers. Und auch nachdem die Übergabe des Lösegelds endlich gelungen ist, bleibt ein Lebenszeichen des Entführten aus. Doch die Polizei kommt Ferdi E. auf die Spur; er gesteht schließlich die Entführung und den Mord.
schwimmen
sich Zeit geben
dem Täter einen Brief schreiben
sich in ihn hineinversetzen
Humor
die Geschichte erzählen
das Leben so gut wie möglich genießen
für zwei leben
Der heiße Sommer 2013 gönnt sich eine Atempause, als ich mit dem Zug durch halb Holland reise, um in einem der Villendörfer kurz vor Amsterdam auszusteigen. Ronald Jan Heijn, der Sohn von Gerrit Jan und seiner Frau Hank Heijn, holt mich in Bloemendaal vom Bahnhof ab. „Sind Sie schon mal hier gewesen?“, fragt er mich.
Ich muss lachen. Mein Leben spielt sich eher in Favelas und in Gefängnissen ab, aber nicht im wohlhabenden Bloemendaal. Doch schon am Bahnsteig verschwimmt dieser Kontrast. Ich erliege schnell Ronald Jans Lebensphilosophie und seinen tiefblauen Augen.
Blau. Jetzt weiß ich zumindest, woher Albert Heijn das Blau für sein Logo hat. Zwar steht Frau Heijn in der Villa De Wiltzangk auf einem gelben Teppichboden, doch alles an ihr ist blau: ihre Jacke, das Haarband, der Lidschatten, ihre Träumereien …
Ich segle mit ihr in die Küche und durch die Geschichten über ihre letzte Reise in die Karibik.
„Hier hängt mein ganzes Leben an den Wänden“, sagt sie. „Mit Fotos kann man allem einen Platz geben.“
Und man kann Tapetenkleister sparen, denn jedes Stückchen Wand zwischen der Abzugshaube und den Schränken ist mit Bildern zugehängt.
„Keine Mikrowelle,“ sagt Hank Heijn entschieden und hält mir einen Vortrag über gefährliche Strahlen.
Mein Nachmittag mit der 82-jährigen mädchenhaften Frau gestaltet sich wie ein Inselhopping. Jemand anders würde es vielleicht als vom-Hundertsten-ins-Tausende-Kommen beschreiben, aber ich finde es reizend, den Gedanken und Erinnerungen einer Frau nachzugehen, die von sich sagt, sie kenne keinen Hass.
Blau. Durch die große Glasfront, die Wohn- und Esszimmer umgibt, zeigt sie mir das Schwimmbad.
„Dort schwimme ich jeden Morgen.“ Das gar nicht so kleine Schwimmbad liegt idyllisch zwischen Rhododendron-Sträuchern und kurz geschnittenen Rasenflächen, in deren Mitte ein Fahnenmast mit einer schmalen niederländischen Fahne prunkt. Die Heijn-Entführung war eine regelrechte nationale Tragödie. Ronald Jan versorgt mich pausenlos mit Kaffee, Käse und Feigen, holländischer geht es kaum. Ich koste den Gouda, den Danish Blue, oder ist es italienischer Gorgonzola – jedenfalls ein Blauschimmelkäse – und die belgischen Pralinen. Versöhnung kann manchmal auch auf einer Käseplatte liegen. Als der Hunger größer wird, reicht mir der ehemalige Hockeynationalspieler Brot, auf das ich Blue Band Margarine schmiere. An der Wand hängt wahrhaftig ein Monet, aber das ist nicht das Einzige, was hier eindrückliche sionen hervorruft. Hank Heijn revoltiert gegen die klassische Auffassung von Schuld und Sühne. Sie lebt den Moment, arbeitet gerne an der frischen Luft, und all das macht sie zu einer beeindruckenden sion eines Opfers und einer ebenso beeindruckenden Persönlichkeit. Wir unterhalten uns erst über Dinge, bei denen wir Ähnlichkeiten zwischen uns vermuten. So verbrachte ich etwa als Siebenjähriger meinen ersten Schweizurlaub in Verbier. Die Familie Heijn hatte dort ein ganzes Sportimperium aufgebaut.
Ronald Jan wacht über seine Mutter und über unser Gespräch, aber recht unaufdringlich, mal von der Küche, mal vom Couchtisch aus. Ab und zu lässt er ein paar Gedanken einfließen, wie Milch in den Kaffee.
„Als Junge hatte ich einmal einen Albtraum“, sagt er. „In dem Traum passierte etwas Schreckliches mit meinem Vater.“ „Stimmt“, unterbricht ihn seine Mutter, „mein Sohn hat – wie soll ich es ausdrücken? – manchmal hellseherische Fähigkeiten. Oder besser, hellfühlende. Wir haben alle einen Kurs ‚Entführungen‘ belegt.“
Aus dem Lächeln des Sohnes erkenne ich, dass er diese Assoziation bezweifelt, aber den Kurs gab es wirklich. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, steinreich zu sein und Besitz und Vermögen jederzeit verlieren zu können. Kalkuliert man bei der Sicherung seines ganzen Hab und Guts automatisch ein, dass man eines schönen Tages entführt werden könnte?
„Das Geheimnis des Lebens besteht darin, einander verstehen zu lernen“, sagt Hank und reißt mich damit aus meinen Gedanken. „So viel hat mir der Kurs immerhin gebracht, dass ich nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn in Panik geriet, als Gerrit Jan entführt wurde. Auch er hat sich bestimmt daran erinnert, dass man seine Entführer am besten respektieren oder akzeptieren sollte.“
Ich selbst wohnte 1987 in Lateinamerika, weshalb ich vom Fall Heijn nichts mitbekommen hatte. Wie sollte denn auch eine Entführung in Europa die Gemüter auf einem Kontinent erhitzen, auf dem spurloses Verschwinden und Entführungen an der Tagesordnung sind? Ich stelle mir Hank in dieser unsicheren Situation äußerst ‚würdevoll‘ vor. Als hätten sie meine Gedanken gelesen – mittels hellseherischer Fähigkeiten wahrscheinlich –, erinnern sich die beiden an ein Gespräch mit dem Pariser Baron Édouard-Jean Empain, kurz nachdem Hank sich in den nationalen Fernsehkanälen an die Entführer gewandt hatte. Ronald Jan schiebt eine CD-ROM in seinen Laptop, um mir den Appell vorzuspielen. Wir blicken in die Vergangenheit. Als Erstes fallen mir die kobaltblaue Bluse und die blauen Blumen auf, die mit Hank den Bildschirm einnehmen, und ihre fesche Frisur. Ist sie etwa morgens beim Friseur gewesen und hat um einen Schnitt gebeten, um die Kidnapper besser überzeugen zu können? Mit einer Anmut, die sogar die frühere Königin Beatrix vor Neid erblassen ließe, wendet sie sich an die Entführer ihres Mannes:
An unserer Zuversicht, dass Gerrit Jan wohlbehalten zurückkommt, halten wir bereits 86 Tage fest. Wir haben gehofft, Sie würden meinen Mann freilassen, nachdem wir alles uns Mögliche getan haben, Ihnen das Lösegeld zu übergeben. Heute, sieben Tage später, ist dies immer noch nicht geschehen. […] Ich bitte Sie aus tiefstem Herzen: Lassen Sie Gerrit Jan so bald wie möglich frei, sodass sein Leidensweg ein Ende hat. […] Wir möchten nur eines: die schnelle Heimkehr unseres Gerrit Jan. Lassen Sie uns nicht länger in Ungewissheit, denn in Ungewissheit weiterzuleben, ist für jeden von uns unmenschlich.
„Nach der Aufnahme habe ich geweint“, vertraut Hank mir an.
Wie ein stolzer Schwan steht sie auf und reicht mir ein Schälchen mit Pralinen und wirkt dabei fast so, als schüttele sie Wasser von ihren Federn.
„Nun also zu Baron Empain“, sagt sie. Weil ich sie bloß fragend ansehe, beginnt sie erst einmal damit, mir von ihm zu erzählen.
„Der Baron war selbst ein Entführungsopfer. Auch ihm hatte man den kleinen Finger abgeschnitten. Nach meinem Fernsehappell hat Ronald Jan mit ihm telefoniert.“ „Ermutigende Worte, nehme ich an?“, sage ich. „Er erzählte vor allem, die Entführung habe einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Seelisch und materiell hatte er Bilanz gezogen. Moralische Werte erschienen ihm mit einem Mal in einem anderen Licht.“ „Ich weiß noch, wie ich damals dachte, dass mein Vater, wenn er das alles hinter sich hätte, in Baron Empain einen Seelenverwandten finden würde“, sagte Ronald Jan. Dazu ist es leider nicht gekommen, doch Mutter und Sohn halten zusammen wie Pech und Schwefel. „Wir haben uns immer gegen eine Hetzjagd ausgesprochen“, sagt sie. Der Sohn stimmt zu.
„Die schlimmste Form des Bösen, das deine Welt treffen kann, ist spurloses Verschwinden. Ungewissheit ist qualvoll. Von einem auf den nächsten Tag verschwindet derjenige, den man über alle Maßen liebt. Gone with the wind. Keine Spur von ihm. Einfach weg, als wäre er in Salzsäure aufgelöst.“
Hank holt eine blaue Dose hervor. Schatzkisten können blau sein: Sie enthält Briefe, die ich lesen darf. Eine Frau, deren Leben eine einzige Qual war und dem sie ein Ende setzen wollte, schreibt ihr: ‚Wenn Sie, Mevrouw Heijn, das alles durchgestanden haben, muss ich es doch auch schaffen.‘
„Den hier müssen Sie lesen“, sagt Hank und fischt begeistert einen anderen Brief hervor. „Es könnte mein Lebensmotto sein. Kennen Sie Etty Hillesum? Eine Jüdin, die während der deutschen Besatzung ihre eigenen kleinen Rendezvous mit Gott hatte.“
Ich nicke, Hank liest vor: ‚Lass mich meine Kraft nicht an den Hass verlieren, nicht den kleinsten Hauch meiner Kraft an den sinnlosen Hass gegen diese Soldaten. Meine Kraft muss ich für andere Dinge schonen.‘
„Ich hatte eine Todesangst … bitte entschuldigen Sie die Wortwahl“, kichert Hank, „dass der Hass sich in die Herzen meiner Kinder einschleichen würde. Etwas so Grausames wie die Entführung des eigenen Vaters kann unvorstellbaren Schaden anrichten. Aber wir haben auf unsere Familienbande gesetzt.“
Blue Band Margarine, denke ich mir.
„Wissen Sie, Jan, die Ereignisse haben unsere Familie nur noch fester zusammengeschweißt. Und sollten wir auch nur einen Bruchteil davon bewahren können, war es nicht umsonst.“
Meine liebenswürdige Gastgeberin mit den rot lackierten Fingernägeln richtet sich auf. Mir wird durch diese feierliche Regung klar, dass wir an einen Wendepunkt angelangt sind. Sie holt einen weiteren Brief aus der Dose, einen Brief, datiert auf den 3. März 2003.
„An diesem Tag hat mir Ferdi E. einen Brief geschrieben“, sagt sie leise. „Es ist ihm so schwergefallen, als hätte er eine steile Felswand bezwingen müssen. Es ist ihm vollkommen bewusst gewesen, dass er sowohl mir meinen geliebten Mann genommen hatte als auch den Kindern ihren Vater, und dass er uns auf furchtbare Weise erpresst hatte. Er hat sich zutiefst geschämt. Ach, hätte er doch die Zeit um zwei Jahre zurückdrehen und seinen inneren Kampf anders austragen können. Lesen Sie nur diesen Satz!“
Hank rückt näher, sodass ich sehen kann, wie gewissenhaft ihre roten Fingernägel über den Brief gleitet, bis sie bei Zeile 17 ankommen: ‚Ich wünschte, Sie könnten mir vergeben. Aber nicht einmal meine Frau kann es.‘
Wir verharren in Stille, atmen höchstens etwas tiefer. Ein nassaublauer Eisvogel landet unweit des Schwimmbeckens. Wir lesen weiter: ‚Falls Sie Wert auf ein Treffen mit mir legen, wäre ich dazu bereit.‘
Hank Heijn legt den Brief auf ihren Knien ab.
„Er drückte noch seine Hoffnung aus, dass es mir und den Kindern gut gehe. Ich steckte den Brief in eine Schublade. Bei Gott, ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich wollte ihm eine Antwort schreiben, aber wenn schon, dann von ganzem Herzen. Mein Herz konnte jedoch erst sprechen, als all die Gedanken, die dieser Brief in mir hervorgerufen hatte, zur Ruhe gekommen waren. Zwei Jahre später war es so weit. Nach zwei Jahren hatte ich den Mut, den Frieden und die Worte, um Ferdi E. zu antworten.“
Hank Heijn begegnet dem Entführer und Mörder ihres Mannes respektvoll.
Sehr geehrter Herr E.,
erst jetzt bin ich dazu in der Lage, Ihnen auf Ihren Brief zu antworten. Ich brauchte Zeit. Genau wie bei Ihnen damals kostet es auch mich große Überwindung, Ihnen zu schreiben. Davon ausgehend, dass Ihre Zeilen ernst gemeint waren, möchte ich Ihnen sagen, dass es ein schöner Brief war.
Wie ich bereits Ihrer Frau geschrieben habe, muss es für Sie und Ihre Familie manchmal recht schwer gewesen sein, sich wieder in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich hoffe, Ihre Kinder haben ihren Weg gefunden. […]
Für mich war die Zeit der Entführung wieder so wie damals die Zeit des Krieges. Ich habe ab meinem 15. Lebensjahr mehrere Jahre in einem japanischen Konzentrationslager verbracht. Dort habe ich gelernt zu überleben, und das kam mir später dann zugute. Meine Mutter hat sich im Lager alles von der Seele geschrieben, das war ihre Rettung. Ich habe diese Lagertagebücher gerade wieder gelesen und bin dabei sozusagen in die Haut meiner Mutter geschlüpft. Es war eine unbeschreiblich grausame Zeit. Aber die Zeit der Entführung, diese sieben Monate, war für mich noch sehr viel schlimmer. Meine Kinder und ich haben uns oft gefragt: Was muss in Gerrit Jan vorgegangen sein, als er vor Ihnen herging und Sie ihn niederschossen? Wir vergessen es niemals, es geht einfach nicht anders, immer wieder kommt dieser Gedanke in unseren Gesprächen auf. Ich hatte psychische Probleme, die sich auch körperlich äußerten, doch als ich, wie es meine Mutter damals getan hatte, die Ereignisse aufschrieb, war es damit glücklicherweise vorbei. […]
Letzten Sommer habe ich als Mitglied der ‚Stiftung Japanische Ehrenschuld‘ (Stichting Japanse Ereschulden) der sechzig Jahre Unabhängigkeit Indonesiens gedacht. Zu meiner Überraschung habe ich entdeckt, dass ich aus dieser Geschichte im Grunde mit Bärenkräften herausgekommen bin. Wenn ich bedenke, was ich mit meiner bewegten Vergangenheit angefangen habe, hatte alles seinen Sinn.
Ich hoffe, dass Ihr Gesundungsprozess gut verläuft und dass Sie viele Einsichten daraus mitnehmen können, um Ihr Leben und Ihr Lebensziel etwas besser in den Griff zu bekommen. Das ist natürlich nicht nur für Sie wichtig, sondern auch für Ihre Umgebung.
Wie Sie sehen, habe ich allem einen Platz gegeben, damit ich, soweit ich das im Moment überblicken kann, das Leben, wie es verlaufen ist, akzeptieren kann. Meine Kinder und ich haben viel daraus gelernt. Zum Glück bin ich ein positiv eingestellter Mensch, und innerhalb meiner Familie gibt es viel Humor, was unglaublich wichtig ist!
Gerrit Jan war und ist immer in meinen Gedanken. Er war das Teuerste, was ich hatte.
Ich wünsche Ihnen, Ihrer Frau und Ihren Kindern viel Kraft für die Gegenwart und die Zukunft.
Hochachtungsvoll
Hank Heijn-Engel
„Ich habe ihn in den Briefkasten geworfen und erst danach meinen Kindern davon erzählt.“ „Sehen Sie nun, wie meine Mutter sich mit dem Leben versöhnt hat?“, sagt Ronald Jan mit Stolz in der Stimme. „Sie hat das Schicksal akzeptiert und das war ihre größte Befreiung.“ „Fanden Ihre Geschwister es denn in Ordnung, dass Ihre Mutter dem Mann, der Ihren Vater umgebracht hatte, einen so respektvollen Brief geschrieben hat?“ „Oh, nein“, sagt Hank, noch bevor Ronald Jan antworten kann. „Gerriane geriet ziemlich aus der Fassung. ‚Wie kannst du nur Verständnis für seine Familie aufbringen?‘, rief sie. In einer nicht enden wollenden Tirade, versehen mit allen Schimpfworten, die es in der niederländischen Sprache gibt, hat sie gegen Ferdi E. und im selben Ton auch gegen mich ausgeholt. ‚Er hat dein Leben zerstört und den Vater deiner Kinder auf sadistische Weise ermordet!‘, wiederholte sie ständig. Am nächsten Tag rief Gerriane wieder an, sie hatte sich etwas beruhigt und war dazu in der Lage, ihren Ausbruch zu überdenken. Ihre Meinung hatte sie nicht geändert und sie wird es auch nicht tun. Wäre sie ihm je begegnet, sie hätte ihn grün und blau geschlagen. Allerdings war sie zu der Ansicht gelangt, dass ich jedes Recht hatte, zu schreiben, was ich empfand. Und das respektierte sie.“
„Kennen Sie die Psychologin Elisabeth Kübler-Ross?“, fragt mich Hank. „Und ob!“, antworte ich. „Sie inspiriert mich bei meiner Arbeit mit Palliativpatienten.“
„Von ihr gibt es aber auch für Opfer und deren Angehörige eine tröstliche Studie. Sie beschreibt darin mindestens vier Phasen des Trauerprozesses: Leugnung, Anerkennung, Zorn und Akzeptanz. Manchmal bleibt man sein gesamtes Leben in der Phase des Zorns hängen. Verbitterung hätte für mich lebenslänglich bedeutet. Da ich wusste, dass Groll nur Verlierer kennt, setzte ich alles auf Akzeptanz. Ach, ich konnte die Härte nutzen, unter der ich als Kind in Indonesien oder während des Zweiten Weltkriegs oft zu leiden hatte. Man kann diese Kraft jedoch auch nutzen, um Kummer und Schmerz dahinter zu verstecken. Um zu vergeben braucht man aber Milde und Demut.“
Die Sonne scheint ins Zimmer. Hank schiebt eines der großen Fenster zur Seite und lässt die Sonne hinein. So macht sie das wahrscheinlich auch mit der Welt. Wir schlendern langsam über den gelben Teppich auf den grünen Rasen. Ich biete dieser Klassefrau meinen Arm, so gehen wir die Treppe hinunter. Quellwolken ziehen über uns hinweg, schnell wie niederländische Eisläufer. Der große Garten ist von Flora umsäumt. Hank streichelt eine Blume, wie sie es wohl auch bei ihren 16 Enkelkindern tut.
„25 Jahre, nachdem Gerrit Jan entführt worden war, hat mir die Familie von Ferdi E. einen wunderschönen Blumenstrauß geschickt. Vergeben bringt auch Blumen“, lacht sie. „Wissen Sie, Jan, man kann es sich aussuchen, ein positiv denkender Mensch zu sein. Man schwört dem Hass ab, der Rache und den Traumata. Vergeben ist ein Prozess: Man wächst ganz allmählich hinein. Zumindest wenn man das möchte! Eine Reinigung von innen. Natürlich kenne ich die Grausamkeit des Kummers. Aber auch sie ist porös. Ganz allmählich sickerte die Möglichkeit durch, sich in Ferdi E. hineinzuversetzen. Er hatte damals große finanzielle Probleme.“
Na also, denke ich sofort, es geht auch umgekehrt: Der wohlhabende Bürger macht sich getrost die Mühe, sich in die Welt der weniger gut Betuchten hineinzuversetzen.
„Ferdi E. litt auch unter psychischen Problemen“, sagt Hank Heijn. „Dieses ganze Durcheinander muss hart für ihn gewesen sein.“
Hank Heijn geht geschmeidig in die Knie und prüft die Wassertemperatur im Schwimmbecken.
„Vergeben ist vielleicht das größte Geschenk, das ich mir selbst gemacht habe. Es ist sehr heilsam. Ich bin toleranter und milder geworden. Und, wie ich bereits sagte, auch körperlich leide ich keine Qualen mehr. Drängen Sie mich nicht in die Opferrolle. Lassen Sie uns lieber nach dem Sinn des Lebens suchen. Wenn das beinhaltet, aus bitteren Lektionen zu lernen, dann legt man die Opferrolle automatisch ab. Am Ende geht es nicht darum, was man mitgemacht hat, sondern wie man damit umgeht. Ich habe das Wunder der Vergebung erleben dürfen. Schon allein deshalb hat sich mein Leben gelohnt. Vielleicht bin ich ein gesegneter Mensch, dass ich so beschaffen bin.“
Der Sommerwind raschelt durch das volle Blattwerk. Die niederländische Fahne zeigt mir, aus welcher Richtung er weht. Ein Vogel singt. Bäume, Fahnen, Vögel …, in diese Reihe passt auch Gerrit Jan.
„Mein Gerrit Jan ist immer bei mir.“ Hank lächelt voller Hingabe. „Es ist ein herrliches Gefühl. Ich weiß nicht, wie es ist, aber ich vertraue darauf, dass Gerrit Jan Ruhe gefunden hat. Unsere Geschichte zu erzählen, ist auch eine Art, sich mit ihm zu beschäftigen. Ansonsten versuche ich, das Leben so gut es geht zu genießen, auch in seinem Namen. Ich lebe für zwei.“
„Sie müssen nicht glauben, dass ich jeden hereinlasse“, sagt Hank zum Abschied.
Ich halte ihre Hände in den meinen. Gerade hat sie mir noch einen Apfel zugesteckt.
„Gewaschen. Für die lange Zugfahrt.“
Wer bewundert wen? Sie wirft mit Komplimenten um sich, über meine Arbeit mit den Gefangenen, Kranken und Opfern. Für jede Zielgruppe bekomme ich einen Kuss. Früher hätte ich mich kleingemacht und die Lorbeeren schnell in ihre Richtung geschoben. Heute aber lasse ich es geschehen. Eine Frage der Ausgeglichenheit.
Als Ronald Jan mit mir den Schotterweg entlangfährt, drehe ich mich um und winke der Frau, die zehn Mal Malaria hatte, in einem japanischen Konzentrationslager inhaftiert war, die Witwe eines Entführungsopfers ist und mit ihren 82 Jahren in ihrem Schwimmbad täglich bestimmt ebenso viele Bahnen zieht. Eine Frau, der es gelungen ist, die schlimmsten Geschehnisse nicht einfach nachtblau zu belassen.
Wenn alle leidenden Menschen ihren Schmerz dafür einsetzen würden, etwas sehr, sehr Schlimmes in etwas Gutes umzuwandeln, wäre die Welt tausendmal besser.
– CÉSAR PIZARRO
Nach Tagen gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Banden kommen am 8.Dezember 2010 über achtzig Insassen bei einem Brand im Gefängnis San Miguel in Santiago de Chile ums Leben. Einer von ihnen ist Jorge Pizarro, der Bruder von César Pizarro. Die Rolle, die die Wärter bei dieser Tragödie gespielt haben, ist immer noch ungeklärt. Sie haben scheinbar gar nicht erst versucht, den Brand zu verhindern, vermutlich haben sie ihn sogar selbst gelegt.
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