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Hotel Prison - Auf der Suche nach dem Leben hinter Gittern. Wie feiern russen ihre Freilassung? Wie fröhlich ist eine Silvesternacht, wenn der Zellengenosse stirbt? Wie bringt man in Indien tausen Gefangene zum Schweigen? Jan de Cock reiste um die Welt, von Gefängnis zu Gefängnis, auf der Suche nach dem Leben hinter Gittern. Er traf kleine Gauner, Taschendiebe und Flugzeugentführer, und teilte die Zelle tage- oder wochenlang mit Musikanten und Schauspielern, Killern und Müttern, die Essen für ihre Kinder gestohlen hatten. Ein völlig anderer Blick auf die knallharte und zugleich rührende Welt des Lebens im Gefängnis.
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Seitenzahl: 601
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Cover
Titel
ÜBERSICHTSKARTE
UNTERSUCHUNGSHAFT
Mildernde Umstände
Verfahren
Abschied
HOTEL PRISON
Karibu in Kenia
Uganda, nichts wie ran
Sorgen in Ruanda
Schwarz-weißes Simbabwe
Südafrika stiehlt das Herz
Huhn mit Bohnen in Lesotho
Harmonisches Madagaskar
Von Pontius zu Pilatus in Namibia
Galeonen aus Ghana
Fröhliche Weihnachen in Burkina Faso
Frohes neues Jahr in Benin
Untertauchen in Russland
Störrisches Baltikum
Slowenische Häftlinge löschen deutsches Feuer
Von Zügen und Tricks in Rumänien
Türkisches Obst und türkischer Hunger
Russische Eier in Dubai
Hochzeit in Pakistan
Indien Zindabad
Das angekettete Thailand
Eine Eidechse in Laos
Der Mandelbaum in Vietnam
Geißblatt in Kambodscha
Chinesische Nelken
Japan, aufgehende Sonne und schweigende Söhne
Kaffeepause in Indonesien
Verlorene Schafe in Australien
Das tapfere Schneiderlein von Neuseeland
Jails und Prisons im hohen Norden und im Wilden Westen
Entführung in Mexiko
Unter Strom in Guatemala
Luftballons in El Salvador
Nicaragua „en rose“
Happy Birthday Costa Rica
Brot und Wasser in der Dominikanischen Republik
Haiti auf Matratzen
Der Postbote von Kolumbien
Torschuss mit Kater in Peru
Unter Auftragskillern und Drogenbaronen in Bolivien
Brasilien – Belgien: 1:1
Vom Tango zum Walzer in Argentinien
Von einem Schwein mit langer Rüsselschnauze in Chile
AUF BEWÄHRUNG ENTLASSEN
Jarvis
Danksagung
Resonanzen
Impressum
Weitere Bücher
Diese Geschichte fing in Chile an, als ich vorhatte, nach mehrjähriger Arbeit als Entwicklungshelfer nach Belgien zurückzukehren. Das Hilfsprojekt für Leim schnüffelnde Straßenkinder war so gut wie abgeschlossen, und ich hatte noch zwei Monate bis zur Abreise. Da ich mich in den vorangegangenen Jahren mehr und mehr für Strafgefangene eingesetzt hatte, hatte ich im Knast ein zweites Zuhause gefunden. Weil ich wissen wollte, wie es ist, eine Nacht auf der anderen Seite der Gitter zu verbringen, die Angst, die Kälte, die Pritsche zu spüren, meldete ich mich beim Gefängnisdirektor von Talca. Ob er mich nicht eine Zeit lang einsperren könne? Er blickte mich entgeistert an und meinte, er hätte in seiner fünfundzwanzigjährigen Karriere schon einiges erlebt, aber so was sei ihm noch nie untergekommen. Er wolle es seinen Vorgesetzten in Santiago vorlegen. Zwei Tage später bestellte er mich in sein Büro.
„Hermano Juan, problemas. Ich muss den Behörden gegenüber verantworten können, dass jeder Häftling in dieser Anstalt auch wirklich etwas auf dem Kerbholz hat. Vielleicht lässt sich da etwas regeln.“
„Wie meinen Sie das, Señhor Direktor?“
„Sie könnten eine Straftat begehen, hermano Juan. Und sei es nur eine kleine, eine winzig kleine.“
„Was schwebt Ihnen vor?“
„Oh, por ejemplo, eh, Sie könnten ein Huhn stehlen.“
„Und was kriege ich dafür?“, frage ich etwas unschlüssig. „Oh, lo mínimo, hermano Juan, das Minimum. Fünf Jahre.“
Der Einwand, meine Aufenthaltserlaubnis sei nicht so lange gültig, fruchtete nicht, und so zerschlug sich dieser Plan.
Aber seitdem hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen. Und die sporadischen Besuche im Zentralgefängnis von Leuven bei denen, die erst Fremde im doppelten Sinn des Wortes waren, nämlich ausländische Strafgefangene, und die später Freunde wurden, verstärkten diesen Traum nur noch.
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, mich ein Jahr lang in eine einzige Haftanstalt einsperren zu lassen und ein Buch darüber zu schreiben. Doch der Rumäne meinte, die Gefängnisse in seinem Land seien ganz anders als die belgischen, und der Nigerianer fragte mich, ob ich schon afrikanische Gefängnisse gesehen hätte. Um der kulturellen Vielfalt einigermaßen gerecht zu werden, änderte ich mein Vorhaben: Die Aufenthalte würden kürzer sein, die Eindrücke facettenreicher.
Hinzu kommen der Briefwechsel mit und die Besuche bei ehemaligen Häftlingen. Die Erfahrung, dass die Liebe und Anteilnahme von Angehörigen und Freunden die beste Voraussetzung für eine gelungene Resozialisierung ist, macht mich zum leidenschaftlichen Verfechter der bedingungslosen Hinwendung zu Gefangenen und aller Projekte, die den Kontakt ermöglichen. Ich weiß natürlich, dass dies kein Allheilmittel ist. Ich weiß auch, dass die Befolgung des christlichen Gebots, Gefangene zu besuchen, noch keinen guten Menschen macht, wie es umgekehrt auch gute Christen gibt, die noch nie einen Häftling besucht haben und es auch nie tun werden.
Meine Sympathie für Strafgefangene ist ganz allmählich gewachsen. Ihre Geduld und Großzügigkeit, ihre beispiellose Gastfreundschaft und die Freude, mit der sie mich immer wieder in ihren Zellen empfingen, waren harte Lektionen. Mit echtem brasilianischem Kaffee, mit chilenischen Empanadas oder venezolanischen Pfannkuchen, mit chinesischem Krupuk und chinesischen Tränen drückten sie ein ums andere Mal aus, was sie nicht in Worten zu sagen vermochten. Ihr Vertrauen war grenzenlos. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen.
Als ich Schulen und Gruppen besuchte und ihnen Geschichten über die kleinen Leimschnüffler erzählte, hatte ich den Saal mühelos auf meiner Seite. Arme Straßenkinder kommen immer gut an. Für Strafgefangene gilt das weniger. Es sei denn, sie sitzen in Ländern der Dritten Welt hinter Gittern, sind politische Gefangene, werden unmenschlich behandelt, sind zweifellos unschuldig oder werden von Amnesty International unterstützt. Aber wie steht es mit dem „gewöhnlichen“ Kriminellen, der sich die Suppe selbst eingebrockt hat?
Ich weiß nicht, ob es von Mut zeugt, im Belgien der Dutroux-Ära zu behaupten, auch in einem Verbrecher stecke ein guter Mensch. Zumindest ist dies meine Erfahrung.
Die Identifikation mit Menschen hinter Gittern wird für mich immer eine Herausforderung und gleichzeitig eine Enttäuschung bleiben. Gelingen wird es mir wohl nie ganz.
Ach ja, manche meinen, wir seien alle irgendwie Gefangene, doch etwas anderes ist es, im Treibsand des Verbrechens und der Reue zu stecken, den Sumpf der Prozesse – auch wenn sie auf sich warten lassen – zu durchqueren, durch die Tunnels der Isolation und der Einsamkeit, der Angst und der Unsicherheit zu kriechen, die Hölle der Unfreiheit zu erleiden … Auch nach fünfzehn Jahren Engagement ist dies für mich immer noch schwer zu begreifen.
Kann ich trotzdem einen Versuch wagen? Stimme der Stimmlosen sein? Ein Menetekel an die Wand malen? Und als „Unschuldiger“ in die Gefängniswelt eintauchen?
Konkret bedeutet das, dass ich zwölf Monate lang auf fünf Kontinenten von Knast zu Knast ziehe, um über dem Geschepper der Blechnäpfe und dem Plärren der Lautsprecher das Herz der Gefangenen dieser Welt klopfen zu hören. Um in Hütten oder auf Dachböden ihrer Familien zu übernachten. Exhäftlinge inmitten ihrer Angehörigen zu erleben oder von Gott und der Welt verlassen vorzufinden. Zu entdecken, wie es Belgiern und anderen Ausländern in Gefängnissen ergeht. Und vor allem nicht zu verschweigen – vielmehr laut zu bezeugen –, dass weltweit Tausende unschuldig eingesperrt sind.
Aber auch wenn das nicht der Fall ist. Ohne für das Drama der Opfer und Hinterbliebenen blind oder unempfindlich zu sein – auch sie will ich auf meiner Reise besuchen –, bin ich fest davon überzeugt, dass ein Dieb, ein Vergewaltiger, ein Mörder, ein Bankräuber, ein Terrorist, ein Wiederholungstäter, ein Geldwäscher, Drogenschmuggler, Vandale, Hooligan … ein neues Leben anfangen kann und die Gelegenheit dazu bekommen muss. Ein Krimineller ist – was immer er verbrochen hat – anders, als seine Tat vermuten lässt. Wenn ich nicht glaube, dass ein Gefangener „Mensch“ bleibt, höre ich selber auf, Mensch zu sein.
Was ich hier berichte, habe ich mit Leib und Seele, mit Haut und Haar erlebt. Manche Gefangenen baten mich ausdrücklich, dies oder jenes aufzuschreiben, „Botschafter“ ihrer Ohnmacht zu sein, zu berichten, wozu sie selber nicht in der Lage sind. Während sie ein Forum bekommen (ihre Ideen über alternative Strafen, über Rechtsprechung, Drogen, Liebe sind bedenkenswert), versuche ich mich in die Situation eines Häftlings in Kampala, St. Petersburg oder Bangkok zu versetzen.
Ihre Geschichten gebe ich so getreu wie möglich wieder. Manche Namen habe ich auf ausdrücklichen Wunsch oder aus Sicherheitsgründen geändert. Ihre wirklichen Namen und vor allem die Sprache ihrer Augen haben sich mir für immer eingeprägt.
Der Grund ihrer Haft wird zwar erwähnt, ist aber nicht vorrangig. Dies könnte der Bericht eines einzigen Häftlings sein, schuldig oder unschuldig, könnten seine Erfahrungen mit Strafe und Reue, Hoffnung und Verzweiflung sein. Zugleich ist es jedoch die Geschichte Hunderter Individuen, ihres Lebens, ihrer augenblicklichen Situation und ihrer Hoffnungen. Wie unterschiedlich Gefängnisse auch sind, welche Einschränkungen oder Privilegien auch in ihnen gelten mögen, dies haben alle Häftlinge gemeinsam: Sie sind allesamt ihrer Freiheit beraubt worden.
Dieses Buch ist ein Buch der zufälligen Begegnungen mit Menschen, von denen ich vermute, dass ihr Weg den meinen kreuzen musste, im oder unterwegs zum Gefängnis. Es sind Momentaufnahmen, Interviews, Lebensgeschichten. Dieses Buch ist keine Abhandlung über den Strafvollzug auf dem Balkan oder eine Aufzählung von Menschenrechtsverletzungen in asiatischen Haftanstalten. Ich hüte mich davor, aus der Tatsache, dass ich ein paar Nächte in einer Zelle verbrachte, voreilige Schlüsse zu ziehen. Mit vielen Details und Kapiteln ließe sich dieses Buch erweitern, auch mit gegenteiligen Erfahrungen und Beobachtungen. Im Namen der Gefangenen bin ich für jede Ergänzung dankbar. Denn ein Buch wie das vorliegende ist nie abgeschlossen.
Es war oft schwierig, überhaupt Zugang zu einer Haftanstalt zu bekommen. Man findet auf diesen Seiten viele Beispiele dafür. Ebenso wie für die vielfältigen Abenteuer in Zügen und auf Straßen. Ich begegne ihnen, den Schurken und Spitzbuben, den Halunken und Schelmen. Manchmal bin ich eine leichte Beute, manchmal entwische ich ihnen. Doch der Weg weist immer vorwärts.
Der Blick ist natürlich der eines Belgiers. Ein Togolese würde sich über die Gleichgewichtskünste afrikanischer Frauen, die Kanister voll Wasser oder Obstkörbe auf dem Kopf balancieren, kaum wundern. Ein Russe würde kein Wort über eisige Kälte verlieren. Aber ich wette, dass jeder Mensch, zu welcher Nation er auch gehört und welche Sprache er auch spricht, vom Kern der Dinge getroffen wird.
Das Resultat ist eine bunte Mischung aus Sehnsüchten und Hoffnungen, aus Berufung und Abenteuerlust sowie Freude an fremden Kulturen. Dieses Buch erzählt von Freundschaft und menschlichen Beziehungen über viele Jahre, es berichtet von Unsicherheit, Überheblichkeit und Ehrgeiz, von Selbstzweifeln und Bestätigung, von Wanderschaft und dem einfachen Leben. Und der stillen Hoffnung, dass die Erfahrung uns alle, auf welcher Seite der Gitter wir uns auch befinden, diesseits oder jenseits der Zäune, Tore und Riegel, des Stacheldrahts und des Elektrozauns, mit oder ohne Fesseln und Handschellen, zu freieren Menschen macht.
Zeig mir deine Gefängnisse, und ich sage dir, wie demokratisch dein Land ist.
Wie geht man an ein solches Abenteuer heran?
Bei den Vorbereitungen habe ich immer die Gefangenen vor Augen gehabt, von denen sich keiner auf seine Inhaftierung vorbereiten kann.
Richard aus Peru zum Beispiel lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in den Slums von Lima. Sein Bruder hatte Aids, und für Medikamente war kein Geld da. Eines Tages machte ihm jemand ein verlockendes Angebot. Wenn er ein Päckchen nach Italien bringe, könne er sich tausend Dollar verdienen. Richard rechnete sich aus, dass er seinen Bruder davon eine Weile versorgen könnte und auch noch etwas für seine Familie übrig bliebe. Er machte sich also an einem Wochenende auf den Weg, im Koffer ein Päckchen und im Herzen die Zuversicht, dass er am Montag wieder zu Hause sein würde. Schon bei der Zwischenlandung in Zaventem wurde er erwischt, landete in den Gefängnissen von Vorst und Saint-Gilles und später im Zentralgefängnis von Leuven. Sein Bruder konnte die Medikamente in den Wind schreiben, seine Frau musste betteln gehen. Richard bekam seine Dollar nicht und verlor seine Stelle. Und der Drogenhändler? Er ward nicht mehr gesehen. Es ging Richard wie vielen ausländischen Häftlingen. Keiner von ihnen ist auf die Monate oder Jahre der Inhaftierung vorbereitet. Sie verstehen die Sprache der Gefängniswärter nicht, müssen sich an das Klima und die belgische Küche gewöhnen.
Wie ernsthaft habe ich diese weltweite Erkundung der Gefängnisse geplant? Diesmal keine Lonely-Planet-Reiseführer. Stattdessen die nötigen Impfungen. Keine ausgeklügelte Reiseroute. Stattdessen eine Reiseversicherung. Kein Sprachstudium. Stattdessen die Zuversicht, dass es schon gut gehen wird, dass ich zumindest mit heiler Haut davonkommen werde.
Ach ja, und ich tue noch etwas Praktisches. Ein Jahr vor der Abreise tauche ich in die Fitness-Welt ein, schwimme viel. Ich gehöre zwar zu den gesunden Naturen, meine Physis kann aber durchaus einen Schubs gebrauchen. Ab und zu schlafe ich auf dem Fußboden. Ein Bett ist für viele Häftlinge in vielen Ländern ein Traum.
Ich habe mehr als hundert Konsulate und Botschaften kontaktiert. Sie zeigten sich interessiert, luden mich zu einem Gespräch ein, reichten meine Anträge an die zuständigen Instanzen in ihrem Land weiter, rieten mir ab („Wir können nicht für Ihre Sicherheit bürgen“ oder „Monsieur, Sie sind verrückt!“), oder sie reagierten erst gar nicht.
Dann habe ich NGOs angeschrieben, Institute und Kirchen, die im Strafvollzug tätig sind.
Und ich setzte auf ein drittes Pferd. Die Kontakte, die ich im Lauf der Jahre durch Freundschaften und Recherchen geknüpft hatte, kamen mir jetzt zugute. So konnte ich Gruppierungen und Leute vor Ort für meine Sache einspannen. Ich frage mich, ob mir dieses Unternehmen ohne dieses weltweite Freundschaftsnetz überhaupt gelungen wäre.
Auf Grund der Reaktionen und Zusagen habe ich die Länder ausgewählt und die Reiseroute zusammengestellt. Nur in Pakistan, wo ich unbedingt hin wollte, hatte ich noch keine Knast-Unterkunft gefunden, aber das wird sich schon noch ergeben, das spürte ich.
Es wurde eine Reise ins Ungewisse. Aber es war für mich eine Chance zu erfahren, woran ich eisern glaube: Wohin ich auch kommen mag, in welche entlegenen Winkel der Erde, da, wo Menschen sind, „riskiere“ ich, Göttliches zu erleben. Man gibt, was man bekommt, man bekommt, was man gibt: Sie nennen es Liebe.
Ein großer Rucksack voll Sommer- und Wintersachen, für Weihnachten in Westafrika und Polen im Winter. Aber wozu braucht man eigentlich einen Kleiderschrank auf dem Rücken? Mit zwei Jeans und drei Unterhosen kommt man durchs Leben und rund um die Welt.
Zwei Dinge trage ich am Körper: einen Bergkristall und eine drei Zentimeter große Muttergottes aus Platin. Das eine baumelt an meinem Hals. Das andere befand sich viele Jahre in der Handtasche meiner Mutter – und ist nun in meiner Hosentasche. Talismane oder Segenswünsche von zu Hause.
Außerdem habe ich im Handgepäck die Filzstift-Zeichnung einer Nichte (ein Schutzengel), etwas zum Lesen und was man sonst so bei sich hat: Adressbuch, Kaugummi, Kugelschreiber. Und einen Stein. Den trage ich auch mit mir herum. Der Symbolik wegen. Ein Freund hat ihn vor Monaten aus einem chilenischen Fluss gefischt, ihn umklammert, wenn es ihm schlecht ging, und mir anvertraut, unter der Bedingung, dass ich ihn nächstes Jahr in Chile, auf der letzten Station meiner Reise, dem Fluss zurückgebe.
Außerdem stecke ich ein paar Luftballons ein, eine Angewohnheit aus meinen Jahren in Chile. In der Metro in Santiago hörte ich einmal ein kleines Mädchen Zetermordio schreien, nachdem ihr Ballon zwischen den Türen zerplatzt war. Zufällig hatte ich noch einen Ballon von der letzten Geburtstagsparty bei mir.
Und dann habe ich noch ungefähr sechzig Gemälde in Postkartengröße. Alberto, ein spanischer Häftling des Leuvener Zentralgefängnisses, hat sie gemalt. Ich kann schwerlich ein Jahr lang mit belgischen Meeresfrüchten oder Leonidas-Pralinen herumziehen, deshalb werde ich hier und da eines dieser Kunstwerke zurücklassen. „Als Zeichen unserer Solidarität“, wie der Künstler meinte.
Alberto ist nicht irgendwer. Als seine Eltern ihn dieses Jahr zum ersten Mal besuchten, war das auch für mich eine läuternde Erfahrung. Sein Vater José war Chef der Guardia Civil und höchster Sicherheitschef während des Papstbesuchs in Spanien gewesen. Jetzt saß sein eigener Sohn hinter Gittern. Es war nicht mehr wichtig, ob Alberto sein Geld als Dragqueen verdient, ein anarchistisches Theaterstück geschrieben oder in London mit Drogen gedealt hatte. Bei einer Tüte Chips und einer Cola lernten Vater und Sohn sich neu kennen. Ihr Zusammensein in der modern-kühlen Cafeteria des Gefängnisses war von Toleranz und Offenheit geprägt. Mutter Marichus Glaube an die Unschuld ihres Sohnes war durch nichts zu erschüttern. Mit ihrer Güte drückte sie der Begegnung einen Stempel auf, mit ihren feuerrot bemalten Lippen einen Kuss auf Albertos Stirn. Leider konnten sie seine Zelle nicht sehen. Nach Monaten tiefer Depression hatte Alberto sich auf seine Kreativität besonnen. Aus der Druckerei, in der er arbeitete, nahm er sich Papier- und Kartonabfälle mit. Vor die Kloschüssel spannte er eine Schiebetür aus Papierschnitzeln. Leuchter, Rahmen für seine Malereien und ein chinesischer Miniaturtempel für die Maus, die er sich inzwischen als Haustier hielt, brachten Farbe in die Zelle. Hier war ein Künstler eingesperrt, dessen Kreativität und Liebe zum Leben nicht klein zu kriegen waren.
Auf dem Flughafen Zaventem in Brüssel hole ich das Päckchen Tickets ab. Lose für vierzig Häfen auf dieser Erdkugel. Noch so makellos wie mein Laptop und das Heft für meine Erlebnisse. Ich blase die Kerze Flandern aus.
Die Welt ist ein Buch,
wer nie reist,
sieht nur eine Seite davon.
(Augustinus, 354–430)
Ein Anruf nach Belgien, der erste und letzte. Obwohl noch nicht einmal neun Uhr abends, ist es gar nicht so einfach, einen Ort zu finden, wo man ein internationales Telefongespräch führen kann.
„Vielleicht doch“, sagt ein junger Taxifahrer, „Richtung Bahnhof, aber da würde ich zu dieser Zeit nicht mal meine Schwiegermutter hinschicken.“
Ich habe keine Schwiegermutter, also lasse ich mich nicht abschrecken. Nachdem ich zehn Minuten gelaufen bin, wird die Straßenbeleuchtung allerdings noch schummriger. Die Wolkenkratzer von Nairobi lösen sich im pechschwarzen Himmel auf. Ich gehe schneller. Es wird wohl an meiner Fantasie liegen, als ich Schritte im gleichen Rhythmus höre. Schatten links und rechts, vor mir und hinter mir verraten die Anwesenheit von fünf, sechs Leuten. Jetzt bin ich mir sicher: Ich werde verfolgt.
Ich denke an einen Vorfall zurück, der vor zwei Jahren geschah, als ich in Antwerpen von genauso vielen Typen verdroschen wurde. Ich sah nur noch Sternchen und Vögelchen. Ein blaues Auge und gebrochene Rippen verhinderten, dass ich die Jungen fragen konnte, was jemanden dazu treibt, auf eine wehrlose Person einzutreten.
Ich will ziemlich abrupt die Straße überqueren, denke aber nicht daran, dass man in Kenia links fährt. Der Schrei einer Frau rettet mir das Leben, und wenn ich mich nicht so schnell wie möglich hätte verdrücken wollen, hätte ich ihr mitten auf der Straße einen Kuss gegeben. Ich spüre, dass meine Verfolger auch die Straße überqueren. Ich bin umzingelt. Ich betrachte meine Tasche, in der die Flugscheine für das ganze Jahr stecken, die Reiseschecks und der Pass mit den Visa vieler Länder. Was bin ich doch für ein naiver Idiot!
Plötzlich schweben links und rechts zwei Engel nieder.
„Hi, I’m Anthony and this is Jayne. Wissen Sie, dass Sie verfolgt werden?“ Ich starre entgeistert in zwei himmlische Gesichter, die unleugbar die reinste Güte ausstrahlen.
„Ääh, es war mir auch schon aufgefallen.“
„Wir liefen ein Stück hinter dir und merkten, dass sie es auf dich abgesehen haben. Als sie auch hinter dir über die Straße gingen, waren wir uns sicher. Jayne meinte sofort, wir müssten dir helfen.“
„Thank you. So kind of you. Ich war nur auf der Suche nach einem Telefon.“
Die Engel wollen mich begleiten. Wie zwei Bodyguards nehmen sie mich in die Mitte und halten Wache, während ich telefoniere. Wieder draußen kann ich gleich in ein Tuk-Tuk steigen, eine Art motorisierte Rikscha, die sie in der Zwischenzeit organisiert haben. Sie bestehen darauf, mich wohlbehalten vor der Jugendherberge abzuliefern. Diese bedingungslose Fürsorge rührt mich.
„Darauf trinken wir einen Tusker“, schlägt Anthony vor. Wir stoßen auf das gute Ende an und auf den Gründer der Brauerei, den anno 1922 ein Elefant auf seine Stoßzähne genommen hatte. Anthony und Jayne laden mich zur ihrer Hochzeit im nächsten Jahr ein und unterhalten mich mit zahllosen Geschichten über die verschiedenen Riten und Bräuche des Kikuyu-Stamms, zu dem sie gehören. Mit Schadenfreude reagiert Jayne auf Anthonys Berechnung, wie viele Kühe und Ziegen er als Brautschatz aufbringen muss.
Die Begegnung mit den beiden hat etwas Geheimnisvolles. Schon ihretwegen hat es sich gelohnt, nach Kenia zu kommen. Ein gutes Omen– von Engeln und Menschen beschützt. Karibu, willkommen in Kenia. Liebe Welt, here we come!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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