Hotel Savoy - Joseph Roth - E-Book + Hörbuch

Hotel Savoy E-Book

Joseph Roth

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Beschreibung

»Joseph Roth – einer der besten deutschen Erzähler. Andere hatten im Leben größeren Ruhm. Sein Ruhm wird länger dauern.« Hermann Kesten »Jede Seite, jede Zeile ist wie die Strophe eines Gedichts, gehämmert mit dem genauesten Bewusstsein für Rhythmus und Melodik.« Stefan Zweig

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Seitenzahl: 155

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Joseph Roth

Hotel Savoy

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Joseph Roth

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Joseph Roth

Joseph Roth wurde am 2. September 1894 als Sohn jüdischer Eltern in Brody (Ostgalizien) geboren, studierte Literaturwissenschaften in Wien und Lemberg und nahm als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Ab 1916 veröffentlichte er Erzählungen und Romane, lebte ab 1918 als Journalist in Wien, dann Berlin, und war von 1923–1932 Korrespondent der Frankfurter Zeitung. Anfang der 1930er Jahre erlangte er mit den Romanen Hiob und Radetzkymarsch Weltruhm. 1933 emigrierte Roth nach Frankreich. Er starb am 27. Mai 1939, verarmt und alkoholkrank, im Pariser Exil und im Alter von nur 45 Jahren.

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Über dieses Buch

Ein Hotel wird in Roths Roman zur Metapher für die aus den Fugen geratene Welt nach dem Ersten Weltkrieg. In einer polnischen Stadt gelegen, nach außen mit seiner prunkvollen Fassade noch Zeuge der Vorkriegsepoche, beherbergt es im Innern die bunten Existenzen einer durcheinandergeratenen Zeit: Soldaten, Millionäre, Bankrotteure, Devisenschieber.

Gabriel Dan, nach fünf Jahren Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt und einquartiert im 6. Stock des Hotels, gerät zwischen die Welten. Er wird Assistent des Millionärs Bloomfield und teilt gleichzeitig sein Zimmer mit einem Kriegskumpan, einem anarchistischen Kommunisten. So wird er in die Aktivitäten der Reichen und Armen verstrickt, bis in der Stadt ein Streik ausbricht und das Hotel im Kampf zwischen Arbeitern und Militär in Flammen aufgeht – eine Welt versinkt.

»Hier hat ein ganz starker Romancier das einleitende Buch zur menschlichen Tragödie des Heute geschrieben«, urteilte die Presse, als Hotel Savoy 1929 erschien.

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

Zweites Buch

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

Drittes Buch

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

Viertes Buch

XXIV. Kapitel

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

XXX. Kapitel

Erstes Buch

I

Ich komme um zehn Uhr vormittags im Hotel Savoy an. Ich war entschlossen, ein paar Tage oder eine Woche auszuruhen. In dieser Stadt leben meine Verwandten – meine Eltern waren russische Juden. Ich möchte Geldmittel bekommen, um meinen Weg nach dem Westen fortzusetzen.

Ich kehre aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft zurück, habe in einem sibirischen Lager gelebt und bin durch russische Dörfer und Städte gewandert, als Arbeiter, Taglöhner, Nachtwächter, Kofferträger und Bäckergehilfe.

Ich trage eine russische Bluse, die mir jemand geschenkt hat, eine kurze Hose, die ich von einem verstorbenen Kameraden geerbt habe, und Stiefel, immer noch brauchbare, an deren Herkunft ich mich selbst nicht mehr erinnere.

Zum ersten Mal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens scheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braun getäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehorchen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen.

Ich freue mich, wieder ein altes Leben abzustreifen wie so oft in diesen Jahren. Ich sehe den Soldaten, den Mörder, den fast Gemordeten, den Auferstandenen, den Gefesselten, den Wanderer.

Ich ahne Morgendunst, höre den Trommelwirbel der marschierenden Kompanie, auf klirrende Fensterscheiben im höchsten Stockwerk; erblicke einen Mann in weißen Hemdsärmeln, die zuckenden Glieder der Soldaten, eine Waldlichtung, die vom Tau glänzt; ich stürze ins Gras vor »fiktivem Feind« und habe den brünstigen Wunsch, hier liegen zu bleiben, ewig, im samtenen Gras, das die Nase streichelt.

Ich höre die Stille des Krankensaals, die weiße Stille. Ich stehe an einem Sommermorgen auf, höre das Trillern gesunder Lerchen, schmecke den Morgenkakao mit Buttersemmel und den Duft von Jodoform in der »ersten Diät«.

Ich lebe in einer weißen Welt aus Himmel und Schnee, Baracken bedecken die Erde wie gelber Aussatz. Ich schmecke den süßen letzten Zug aus einem aufgeklaubten Zigarettenstummel, lese die Inseratenseite einer heimatlichen, uralten Zeitung, aus der man vertraute Straßennamen wiederholen kann, den Gemischtwarenhändler erkennt, einen Portier, eine blonde Agnes, mit der man geschlafen hat.

Ich höre den wonnigen Regen in durchwachter Nacht, die hurtig schmelzenden Eiszapfen in lächelnder Morgensonne, ich greife die mächtigen Brüste einer Frau, die man unterwegs getroffen, ins Moos gelegt hat, die weiße Pracht ihrer Schenkel. Ich schlafe den betäubenden Schlaf auf dem Heuboden, in der Scheune. Ich schreite über zerfurchte Äcker und lausche dem dünnen Sang einer Balalaika.

So vieles kann man in sich saugen und dennoch unverändert an Körper, Gang und Gehaben bleiben. Aus Millionen Gefäßen schlürfen, niemals satt sein, wie ein Regenbogen in allen Farben schillern, dennoch immer ein Regenbogen sein, von der gleichen Farbenskala.

Im Hotel Savoy konnte ich mit einem Hemd anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern – und immer noch der Gabriel Dan sein. Vielleicht hat mich dieser Einfall so selbstbewusst gemacht, so stolz und herrisch, dass der Portier mich grüßt, mich, den armen Wanderer in der russischen Bluse, dass ein Boy geschäftig meiner harrt, obwohl ich gar kein Gepäck habe.

Ein Lift nimmt mich auf, Spiegel zieren seine Wände, der Liftboy, ein älterer Mann, lässt das Drahtseil durch seine Fäuste gleiten, der Kasten hebt sich, ich schwebe – und es kommt mir vor, als würde ich so noch eine geraume Weile in die Höhe fliegen. Ich genieße das Schweben, berechne, wie viel Stufen ich mühsam erklimmen müsste, wenn ich nicht in diesem Prachtlift säße, und werfe Bitterkeit, Armut, Wanderung, Heimatlosigkeit, Hunger, Vergangenheit des Bettlers hinunter – tief, woher es mich, den Emporschwebenden, nimmermehr erreichen kann.

Mein Zimmer – ich habe eines der billigsten bekommen – liegt im sechsten Stockwerk und trägt die Nummer 703. Die Zahl gefällt mir – ich bin zahlengläubig –, die Null in der Mitte ist wie eine Dame, von einem ältern und einem jüngern Herrn flankiert. Auf dem Bett liegt eine gelbe Decke; gottlob, keine graue, die ans Militär erinnern könnte. Ich knipse ein paarmal das Licht an und aus, schlage die Tür des Nachtkästchens auf, die Matratze gibt dem Druck der Hand nach und federt empor, Wasser blinkt aus der Karaffe, das Fenster geht in Lichthöfe, in denen lustig bunte Wäsche flattert, Kinder schreien, Hühner lustwandeln.

Ich wasche mich und schlüpfe langsam ins Bett, jede Sekunde koste ich aus. Ich öffne das Fenster, die Hühner schwatzen laut und lustig, es ist wie süße Schlafmusik. Ich schlafe ohne Traum den ganzen Tag.

II

Späte Sonne rötete die höchsten Fenster des gegenüberliegenden Hauses; die Wäsche, die Hühner, die Kinder waren aus dem Hofe verschwunden.

Am Vormittag, als ich ankam, hatte es leise geregnet; weil es inzwischen heiter geworden war, schien es mir, als hätte ich nicht einen Tag, sondern drei geschlafen. Meine Müdigkeit war abgetan; mein Herz festlich gestimmt. Ich war neugierig auf die Stadt, das neue Leben. Mein Zimmer schien mir vertraut, als hätte ich schon lange darin gewohnt, bekannt die Glocke, der Druckknopf, der elektrische Taster, der grüne Lampenschirm, der Kleiderkasten, die Waschschüssel. Alles heimisch, wie in einer Stube, in der man eine Kindheit verbracht, alles beruhigend, Wärme verschüttend, wie nach einem lieben Wiedersehn. Neu war nur der Zettel an der Tür, auf dem zu lesen stand:

 

»Nach zehn Uhr abends wird um Ruhe gebeten. Für abhandengekommene Schmuckstücke keine Haftung. Tresor im Hause.

Hochachtungsvoll

Kaleguropulos, Hotelwirt«

 

Der Name war fremd, ein griechischer Name, ich bekam Lust, ihn zu deklinieren: Kaleguropulos, Kaleguropulu, Kaleguropulo – eine leise Erinnerung an ungemütliche Schulstunden; einen Griechischlehrer, der aufstieg aus vergessenen Jahren in einem patinagrünen Jäckchen, drängte ich zurück. Dann beschloss ich, durch die Stadt zu gehen, vielleicht einen Verwandten aufzusuchen, wenn Zeit dazu blieb, und zu genießen, wenn dieser Abend und diese Stadt Genuss bieten wollten. Ich gehe den Korridor entlang der Haupttreppe zu und freue mich über die schöne Quaderpflasterung des Hotelgangs, die rötlichen, sauberen Steine, das Echo meiner festen Schritte.

Langsam steige ich die Treppe hinunter, aus unteren Stockwerken klingen Stimmen, hier oben ist alles still, alle Türen sind geschlossen, man geht wie durch ein altes Kloster, an den Zellen betender Mönche vorbei. Das fünfte Stockwerk sieht genauso wie das sechste aus, man kann sich leicht irren; dort oben und hier hängt eine Normaluhr gegenüber der Treppe, nur gehen die beiden Uhren nicht regelmäßig. Die im sechsten Stockwerk zeigt sieben Uhr und zehn Minuten, hier ist es sieben Uhr, und im vierten Stock sind es zehn Minuten weniger.

Über den Quadersteinen des dritten Stockwerks liegen dunkelrote, grün gesäumte Teppiche, man hört seinen Schritt nicht mehr. Die Zimmernummern sind nicht an die Türen gemalt, sondern auf ovalen Porzellantäfelchen angebracht. Ein Mädchen kommt mit einem Staubwedel und einem Papierkorb, hier scheint man mehr auf Sauberkeit zu achten. Hier wohnen die Reichen, und Kaleguropulos, der Schlaue, lässt absichtlich die Uhren zurückgehn, weil die Reichen Zeit haben. Im Hochparterre standen zwei Flügel einer Tür weit offen.

Es war ein großes Zimmer mit zwei Fenstern, zwei Betten, zwei Kasten, einem grünen Plüschsofa, einem braunen Kachelofen und einem Ständer für Gepäck. An der Tür war kein Zettel des Kaleguropulos zu sehen – vielleicht durften die Bewohner des Hochparterres nach zehn Uhr lärmen, ihnen haftete man vielleicht für »abhandengekommene Schmuckstücke« – oder wussten sie bereits von den Tresors, oder sagte es ihnen Kaleguropulos persönlich?

Aus einem benachbarten Zimmer rauschte eine Frau heraus, parfümiert und in einer grauen Federboa – das ist eine Dame, sage ich mir und gehe, hart hinter ihr, die wenigen Stufen hinunter, ihre kleinen Lackstiefelchen fröhlich betrachtend. Die Dame hält sich eine Weile beim Portier auf, ich gelange mit ihr gleichzeitig zur Tür, der Portier grüßt, mir schmeichelt es, dass der Portier mich vielleicht für den Begleiter der reichen Dame hält.

Ich beschloss, weil ich keine Richtung wusste, hinter der Dame einherzugehn.

Sie bog aus dem engen Gässchen, in dem das Hotel stand, rechts ab, da weitete sich der Marktplatz. Es musste Markttag gewesen sein, Heu und Häcksel lagen verstreut auf dem Pflaster, man schloss gerade die Läden, es klirrten Schlüssel, und Ketten rasselten, Hausierer zogen heim mit kleinen Handwagen, Frauen mit bunten Kopftüchern eilten mit vollen und vorsichtig vor den Leib gehaltenen Töpfen, berstenden Markttaschen am Arm, aus denen hölzerne Kochlöffel hervorschauten. Spärliche Laternen streuten silbernes Licht in die Dämmerung, auf dem Bürgersteig entwickelte sich ein Korso, Männer in Uniform und Zivil wedelten mit schlanken Rohrstäbchen, und Wolken russischen Parfüms wallten auf und verschwanden wieder. Wagen kamen vom Bahnhof geholpert, mit hochgeschichtetem Gepäck, vermummten Reisenden. Das Pflaster war schlecht, wies Mulden und plötzliche Versenkungen auf, über schadhafte Stellen waren faulende Latten gelegt, die überraschend knarrten.

Dennoch sah die Stadt am Abend freundlicher aus als am Tage. Am Vormittag war sie grau, Kohlendunst naher Fabriken wälzte sich über sie aus riesigen Schornsteinen, schmutzige Bettler krümmten sich an den Straßenecken, und Unrat und Mostkübel waren in engen Gässchen gehäuft. Die Dunkelheit aber barg alles, Schmutz, Laster, Seuche und Armut, gütig, mütterlich, verzeihend, vertuschend.

Häuser, die nur gebrechlich und schadhaft sind, scheinen im Dunkel gespenstisch und geheimnisvoll, von einer willkürlichen Architektur. Schiefe Giebel wachsen sanft in den Schatten, armseliges Licht winkt heimlich durch halb erblindete Scheiben, zwei Schritte daneben brechen Ströme von Licht aus mannshohen Fenstern einer Konditorei, Spiegel widerstrahlen Kristall und Lüster, Engel schweben, lieblich gebeugt, an der Deckenwölbung. Es ist die Konditorei der reichen Welt, die in dieser Fabrikstadt Geld erwirbt und ausgibt.

Hierher ging die Dame, ich folgte ihr nicht, weil ich bedachte, dass mein Geld eine geraume Zeit würde reichen müssen, ehe ich fortreisen konnte.

Ich schlenderte weiter, sah schwarze Gruppen behänder Kaftanjuden, hörte lautes Gemurmel, Gruß und Gegengruß, zorniges Wort und lange Rede – Federn, Prozente, Hopfen, Stahl, Kohle, Zitronen flogen, von Lippen in die Luft geschleudert, in Ohren gezielt. Männer mit verdächtigem Blick und Kautschukkragen schienen Polizei. Ich griff nach meiner Brusttasche, wo der Pass lag, unwillkürlich, wie ich nach der Mütze gegriffen hatte als Soldat, wenn ein Vorgesetzter in der Nähe war. Ich war Heimkehrer, meine Papiere waren in Ordnung, ich hatte nichts zu fürchten.

Ich ging zu einem Schutzmann, fragte nach der Gibka, wo meine Verwandten wohnen, der reiche Onkel Phöbus Böhlaug. Der Schutzmann sprach Deutsch, viele Menschen sprachen hier Deutsch, deutsche Fabrikanten, Ingenieure und Kaufleute beherrschten Gesellschaft, Geschäft, Industrie dieser Stadt.

Ich musste zehn Minuten gehn und dachte an Phöbus Böhlaug, von dem mein Vater in der Leopoldstadt mit Neid und Hass gesprochen hatte, wenn er von vergeblichen Ratensammlungen müde und zerdrückt heimgekommen war. Den Namen Phöbus hatte jedes Familienmitglied mit Respekt genannt, es war, als hätte man wirklich vom Sonnengott gesprochen; nur mein Vater sprach immer von »Phöbus, dem Lump« – weil er angeblich mit der Mitgift der Mutter Geschäfte gemacht hatte. Mein Vater war immer zu feige gewesen, hatte nie seine Mitgift gefordert, hatte immer nur, jährlich um dieselbe Zeit, in der Fremdenliste nachgelesen, ob Phöbus Böhlaug im Hotel Imperial abgestiegen sei, und wenn er da war, ging mein Vater den Schwager in die Leopoldstadt einladen, zu einem Tee. Die Mutter trug ein schwarzes Kleid mit spärlich gewordenem Flitterbesatz, sie achtete den reichen Bruder, als wäre er etwas sehr Fremdes, Königliches, als hätte sie nicht beide ein Schoß geboren, ein Brüstepaar gesäugt. Der Onkel kam, brachte mir ein Buch, Lebzelte dufteten aus der dunklen Küche, in der mein Großvater wohnte, aus der er nur bei festlichen Gelegenheiten hervorkam, als wäre er gerade gar geworden, frisch gewaschen, mit einem weiß gestärkten Brustvorsatz, zwinkernd durch die viel zu schwache Brille, vorgeneigt, um den Sohn Phöbus zu sehn, den Stolz des Alters. Phöbus hat ein breites Lachen, ein quellendes Doppelkinn und rote Nackenwülste, er riecht nach Zigarren und manchmal nach Wein, und er gibt jedem einen Kuss auf beide Wangen. Er spricht viel, laut und fröhlich, aber wenn man ihn fragt, ob die Geschäfte gut gehen, quellen seine Augen hervor, er sinkt zusammen, jeden Augenblick kann er anfangen zu schlottern wie ein frierender Bettler, sein Doppelkinn verschwindet im Kragen: »Die Geschäfte gehn nicht mehr, in diesen Zeiten. Wie ich klein war, bekam ich einen Mohnbeugel für eine halbe Kopeke, zehn Kopeken kostet jetzt ein Brot, die Kinder – unberufen – werden groß und brauchen Geld, Alexander will jeden Tag Taschengeld.«

Der Vater zupfte an den Manschettenröllchen und stieß sie wieder am Tischrand zurück, lächelte, wenn ihn Phöbus ansprach, schwach und lauernd und wünschte seinem Schwager einen Herzschlag. Nach zwei Stunden stand Phöbus auf, drückte der Mutter ein Silberstück in die Hand, dem Großvater eines, und ein großes, glänzendes steckte er in meine Tasche. Der Vater begleitete ihn, weil es dunkel war, die Treppe hinunter, mit der Petroleumlampe in hocherhobener Hand, und die Mutter rief: »Nathan, gib acht auf den Schirm!« Der Vater gab acht auf den Schirm, und man hörte noch, da die Tür offen stand, das gesunde Reden Phöbus’.

Zwei Tage später war Phöbus verreist, und der Vater verkündete: »Der Lump ist schon weggefahren.«

»Hör auf, Nathan!«, sagte die Mutter.

Ich kam in die Gibka. Es ist eine vornehme Vorstadtstraße, mit weißen, niederen Häusern, neuen und verzierten. Ich sah erleuchtete Fenster im Hause Böhlaugs, aber die Tür war geschlossen. Ich überlegte eine Weile, ob ich so spät noch hinaufgehen sollte, es musste schon zehn Uhr sein – da hörte ich Klavierspiel und ein Cello, eine weibliche Stimme, einen Schall von klatschenden Spielkarten. Ich dachte, dass es nicht anginge, in solchem Anzug, wie ich ihn trug, in die Gesellschaft zu kommen, von meinem ersten Auftreten hing alles ab – ich beschloss, den Besuch für morgen aufzuschieben, und kehrte ins Hotel zurück.

Der vergebliche Weg hatte mich missmutig gemacht, der Portier grüßte nicht mehr, als ich ins Hotel trat. Der Liftmensch beeilte sich nicht, als ich auf den Knopf drückte. Er kam langsam, in meinem Gesicht forschend. Es war ein fünfzigjähriger livrierter Mensch, ein alter Liftknabe; ich ärgerte mich, dass in diesem Hotel nicht kleine, rotwangige Knirpse den Fahrstuhl bedienten.

Ich entsann mich, dass ich noch einen Blick in den siebenten Stock hatte werfen wollen, und schritt die Stiege hinauf. Oben war der Korridor sehr schmal, die Decke hing tiefer, aus einer Waschküche strömte grauer Dunst, und es roch nach feuchter Wäsche. Zwei, drei Türen mussten halb offen stehn, man hörte streitende Stimmen, eine Normaluhr war, wie ich vermutet hatte, nicht vorhanden. Ich wollte gerade die Stiege hinuntergehn, da hielt knarrend der Fahrstuhl, die Tür ging auf, der Liftmensch warf einen verwunderten Blick auf mich und ließ ein Mädchen aussteigen. Sie trug einen kleinen grauen Sporthut, wandte mir ein braunes Gesicht zu und große graue, schwarz bewimperte Augen. Ich grüßte und schritt die Stiege hinunter. Etwas zwang mich, vom letzten Treppenabsatz wieder aufzublicken, da glaubte ich, die biergelben Augen des Liftboys vom Treppengeländer her auf mich gerichtet zu sehn.

Ich schloss meine Tür ab, weil ich eine unbestimmte Furcht hatte, und begann, in einem alten Buch zu lesen.

III

Ich war nicht schläfrig. Eine Kirchturmglocke bettet regelmäßige Schläge in die weiche Nacht. Über mir höre ich Schritte, behutsame, sanfte, unaufhörliche, es müssen Frauenschritte sein – ging jene Kleine aus dem siebenten Stock so rastlos auf und ab? Was hatte sie?

Ich sah hinauf zur Decke, weil mir plötzlich der Einfall kam, dass die Decke durchsichtig geworden war. Man sah vielleicht die zierlichen Fußsohlen des grau gekleideten Mädchens. Ging sie barfuß oder in Pantoffeln? Oder in grauen Strümpfen aus Halbseide?

Ich erinnerte mich, wie sehnsüchtig ich und viele Kameraden einen Urlaub erwartet hatten, der den Wunsch nach einem wildledernen Halbschuh erfüllen konnte. Gesunde Bauernmädchenbeine durfte man streicheln, breitsohlige Füße, mit abstehendem großem Zeh, die durch den Schlamm der Felder, durch den Lehm der Landstraße wanderten, Körper, für die die harten Schollen eines gefrorenen Herbstackers ein Liebesbett bildeten. Gesunde Oberschenkel. Minutenschnelle Liebe in der Dunkelheit vor einbrechendem Befehl. Ich entsann mich der ältlichen Lehrerin in einem Etappennest, der einzigen Frau jenes Orts, die vor Krieg und Überfall nicht geflüchtet war. Es war ein spitzes Mädchen, über dreißig, man nannte sie den »Drahtverhau«. Aber es gab nicht einen, der sie nicht umworben hätte. Denn weit und breit, im Umkreis von Kilometern, war sie die einzige Frau mit Halbschuhen und durchbrochenen Strümpfen.