Hunsrück 62 - Dieter Leonhard - E-Book

Hunsrück 62 E-Book

Dieter Leonhard

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Beschreibung

Hunsrück 62 Dorfgeschichten vom Hunsrück mit 26 Momentaufnahmen Eine Spurensuche mit Fundstücken Das Buch enthält eine Sammlung von Fundstücken mit autobiografischen Erinnerungen aus meinem Heimatdorf im Hunsrück aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Entdeckungen stehen mein Geburtsort mit seiner nahen Umgebung und die darin allgemein vorherrschende kleinbäuerliche Landwirtschaft in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es liegt mir daran, in meinen Fundstücken die damals handelnden Charaktere und Personen in unser aller Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, und dem Leser ihre soziale und gesellschaftliche Eingebundenheit in die ehemaligen Strukturen der dörflichen Gemeinschaft gegenwärtig zu machen. Das Buch erscheint im Format 12 mal 19 cm als Paperback und umfasst ca. 280 Seiten. Die darin enthaltenen insgesamt 26 Texte und Gedichte hat meine Tochter teilweise mit kleinen, kontextbezogenen Grafiken künstlerisch ausgeschmückt. Der erste Teil besteht aus in sich abgeschlossenen, jedoch mit gegenseitigen Bezügen ausgestatteten autobiografischen Geschichten im Prosa-Format. Der zweite Teil enthält Beobachtungen und Gedanken in lyrischer Form. Das Buch erscheint im Self Publishing Verlag Book on Demand. Das Cover zeigt auf der Vorderseite die erzählende Person in der behandelten Zeit. Die Rückseite enthält neben einem Kurzporträt und Konterfei des Autors die ISBN und den Barcode, sowie den empfohlenen Laden-VK-Preis. Der Band wird nach seinem Erscheinen in allen Buchläden bestellbar sein. Autor: Dieter Leonhard Cover: Axel Leonhard Grafiken: Ute Reinbeck

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Seitenzahl: 290

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Eine Spurensuche mit Fundstücken

Mit seinen 21 Geschichten und 5 Gedichten führt das Buch den Leser zurück und vermittelt ihm Eindrücke aus dem Familien- und dem gesellschaftlichen Leben im Mittelhunsrück aus einer Zeit in der:

Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt war

es Lebensmittelkarten gab

die Arbeitswoche 6 Tage hatte

die Kühe von Hand gemolken wurden

das Brötchen einen Groschen kostete

die Kinder mit 14 Jahren erwachsen waren

die Mädchen Zöpfe und die Buben Lederhosen trugen

das Plumpsklo auf dem Hof stand

im Winter Eisblumen am Fenster blühten

Opa die Rente bar bei der Post abholte

die Raucher auf der Straße Kippen sammelten

der US-$ 4,20 DM und eine Kugel Eis 10 Pfennige kostete

Mein Dank geht an:

meinen Bruder Jürgen Leonhard für seine qualifizierte und geduldige Arbeit als Korrektor

meine Tochter Ute Reinbeck für ihre pfiffigen Skizzen

meinen Sohn Axel Leonhard für die Covergestaltung

Dieter Leonhard

Inhaltsverzeichnis

Geschichten

Wo ich herkomme

Büchenbeuren von oben

Der Flug über mein Dorf

Das Büchenbeurener Fest

Die Mainacht

Der MGV und die OAS

Der Schneeball von Erwin

Die Kartoffelernte

Briefe an Onkel Kurt

Briefe von Onkel Kurt

Das Backhaus und das Bauernbrot

Begegnung mit dem Weltmeister

Die Maus in der Dickmilch

Spritztour nach Traben-Trarbach

Internationale Kundschaft

Gasse Kino

Die Rattenfalle

Das Wespennest

Freihändig fahren

Die Tanzschule

Kreidler Florett

Gedichte

Corona

Lockdown

Das Vorbild

Die drei Jäger von Kirchberg

Goethe kam nach Büchenbeuren

Geschichten

Wo ich herkomme

Dankeschön für die Möglichkeit, mit diesem Auftritt das große Publikum der Öffentlichkeit begrüßen zu können, das gekommen ist, von mir heute etwas sehen, hören und auch lesen zu wollen.

Meine persönlichen Daten möchte ich ergänzen um ein paar Einzelheiten aus meiner Kindheit und Jugend, damit ihr alle wisst, was ich für einer bin.

Es ist schön, dass ihr alle da seid, und es ist schön, dass auch ich da bin, in Büchenbeuren, wo ich am ersten April 1945 in diese Welt eingefallen bin und zum ersten Mal dieses schöne Erdenrund betreten durfte. Damals hat der Klapperstorch noch alle kleinen Mädchen und Buben ins Dorf gebracht, das war zumindest eine weit verbreitete Ansicht unter den Kindern bis hinauf ins schulpflichtige Alter. Es war ganz früh am Morgen, als der große weiße Vogel mit dem langen roten Schnabel mich damals hier ablud. Meine Mutter lag noch im Bett und dennoch standen eine Menge Leute um sie herum, so als würden sie auf mich warten. Dabei hatte ich niemandem irgendeine Order gegeben, um meine Ankunft anzumelden. Weil es aber in ihrem Bett so weich, warm und gemütlich war, legte ich mich gleich dazu.

Als ich meine kleinen Augen das erste Mal gerade so öffnen konnte, sah ich auf der großen Wanduhr, dass es eben halb Vier vorbei gewesen war. Und weil es draußen noch dunkel gewesen ist, konnte es nur morgens halb Vier sein, nicht am Nachmittag. Das ist doch logisch, oder nicht?

Weil der Tag ja noch ganz frisch war, hatte jemand von denen, die da drumherum standen, das obere Blatt vom Wandkalender abgerissen. Auf dem nächsten war jetzt eine rote „1“ zu sehen.

Oh, dachte ich gleich, das muss ja ein Sonntag sein! Und da die Frauen um das Bett herum jetzt damit anfingen, vom Osterhasen zu erzählen, ist mir gleich klar geworden, dass wir Ostersonntag hatten.

Weil meine Augen damals noch so jung und frisch waren, konnte ich auch gleich sehen, dass unter der „1“ etwas kleiner das Word „April“ auf dem Kalenderblatt gestanden hat.

„Das ist ja ein Volltreffer“, dachte ich wieder bei mir, „damit werde ich mein ganzes Leben lang den Leuten eine scheinbare Mär vorgaukeln können, sie verblüffen und sie auch ein bisschen veräppeln! Wem mir danach etwa mit dem Einwand einer bösen Absicht entgegentritt, dem werde ich durch die Faktenlage stets die Reinheit meiner Äußerungen und meine Schuldlosigkeit beweisen können.

In diesem Moment beschloss ich gleich, ganz lange leben zu wollen. Hier in dem Bettchen gefiel es mir gut, und zu trinken gab es auch gleich etwas.

Im weiteren Verlauf des Morgens wurde es nicht wirklich hell in dem Zimmer von meiner „Blechlasch“ Oma und Opa, das damals eigentlich das Schlafzimmer von Fritz gewesen ist, dem jüngsten Bruder meiner Mutter. Fritz aber war mit seinen gerade mal 16 Jahren im staatlichen Auftrag unterwegs am Westwall. Dort sollte er im Frühling 1945 unsere Hunsrücker Heimat und noch viel mehr vor den von Westen herannahenden bösen Feinden schützen.

Im Hause meiner Großeltern war also ein Bett frei geworden, das ich an diesem Tag gleich ganz selbstbewusst und ungeniert für mich beanspruchte.

Das kleine Fenster meines Geburtszimmers, in dem heute die sanitären Anlagen des Hauses untergebracht sind, war an diesem Morgen mit schweren Gardinen und anderen Lumpen ganz dicht zugehängt. Kein Tageslicht sollte nach innen treten, so dachte ich. In Wirklichkeit aber war es genau umgekehrt, von außen sollte nicht der geringste Lichtschein sichtbar sein.

Es war Krieg gewesen, und die Menschen hatten Angst vor den feindlichen Tieffliegern und vor den Bomben, die diese unliebsamen Brummer wieder abwerfen könnten. Vor ein paar Monaten waren im Dorf schon einmal Bomben gefallen, sieben Stück sollen es gewesen sein. Sie hätten aber zum Glück nicht so viel Schaden angerichtet, konnte ich später mal hören.

Die Leute, die um unser Bett herumstanden, sah ich mir alle so nach und nach ganz genau an. An die Stimmen meiner „Blechlasch“ Oma, meiner Tanten und die der Nachbarin war ich schon seit Wochen gewöhnt. Mein Opa streckte auch ab und zu seinen Kopf in die Tür, um neugierig nach uns allen zu sehen. Der wollte gleich wissen, was der Klapperstorch am frühen Morgen denn so gebracht habe. Damit meinte er mich, Mädchen oder Bube?

Da war auch noch eine weitere Frau mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf anwesend. Es war die Gemeindeschwester. Sie hatte dafür zu sorgen, dass ich auf dem richtigen Weg ohne Komplikationen ausgeliefert, von der Familie ordentlich empfangen und danach auch altersgemäß gut und richtig behandelt wurde.

Ein paar Tage zuvor hielten meine Mutter und ich in Personalunion uns noch bei engen Bekannten in Lindenschied in einem schützenden Schieferbergwerk vor den amerikanischen Tieffliegern versteckt. Die fremden Soldaten aber ließen nicht locker und rückten mit ihren Panzern, Kanonen, Lkw’s und Jeeps von Westen her über die „Eiche Heh“ und den nahen „Hüpperich“ in unser Dorf Büchenbeuren ein und machten sich dort gleich überall breit. Sie waren neugierig wie die Kinder und stürmten mit ihren vorgehaltenen Flinten ruppig in jedes Haus hinein. Offenbar fühlten sie sich danach hier gut aufgehoben, und bei uns war jetzt der Krieg vorbei. Von meinem vorgeburtlichen Asyl im Lindenschieder Steinbruch konnte ich keine persönlichen Eindrücke mitnehmen. Meinen eigenen kleinen Augen war der Blick in die Welt da draußen noch nicht freigegeben.

In den letzten Märztagen hatte Opa Heinrich uns mit seinem Kuhfuhrwerk noch von Lindenschied nach Büchenbeuren auf den eigenen Hof mit der kleinen Landwirtschaft geholt. In dem neuen Haus auf der anderen Straßenseite unterhielt Opa zusammen mit seinem ältesten Sohn Heinrich eine Klempnerwerkstatt mit einem kleinen Ladengeschäft zur Straßenseite hin.

Wegen der jetzt eingetretenen Besatzungslage nannten mich die Leute im Dorf gleich:

„De erscht Ami“ (der erste Amerikaner)

Dabei hatte ich in meinem ganzen kurzen Leben noch kein einziges Wort von mir gegeben, und schon gar nicht auf Amerikanisch.

Bei nunmehr zurückgezogenen Vorhängen betrachtete ich im Verlauf des Vormittags die Menschen in meiner neuen Umgebung weiter ganz genau und suchte dabei nach meinem Vater. Erich sollte er heißen, so erfuhr ich durch die bei den Umstehenden abgehörten Gespräche. Meinen fragenden Augen antwortete schließlich die beherzte Stimme der Gemeindeschwester, ei, der sei ja gar nicht daheim, er sei unterwegs auf Dienstreise, er sei jetzt in Frankreich!

Auch die Männer meiner dort herumstehenden Tanten waren nicht anwesend. Sie waren allesamt nicht dort, wo sie hingehörten. Mein Onkel Heinrich galt schon damals als im fernen Russland verschollen, Onkel Hans und Onkel Ernst waren dort in Kriegsgefangenschaft, Onkel Julius sei noch immer in der kämpfenden Truppe des ehemaligen Afrika-Corps und Onkel Kurt in amerikanischem Gewahrsam und gegenwärtig auf dem Seeweg unterwegs von Italien in die USA.

Am zweiten Ostertag hatte sich die Nachricht vom „ersten Ami“ im Unterdorf bis ins Oberdorf herumgesprochen, wo „Henne Oma und Henne Opa“, die Eltern meines Vaters, mit ihrem Sohn Hans und der jungen Schwiegertochter Elli einen kleinen Bauernhof betrieben. Dort führte Opa Rudolf vor allem zur Winterzeit auch zusätzlich sein Schneiderhandwerk aus. Die älteste Tochter Else war seit einiger Zeit in Solingen in Stellung und auch dort mit Onkel Walter in junger Fernehe verheiratet.

Unserer lieben „Henne-Oma“ oblag es nun, meinem zweijährigen Bruder Jürgen meine tatsächliche Ankunft im Unterdorf als willkommenes Ostergeschenk an die ganze Familie schmackhaft zu machen. Er ließ sich zu einer ersten Visite überreden und stand, sich fest an Omas Hand klammernd, noch vor dem Mittagessen in Fritzens Stube vor meinem frisch eroberten Bettchen. Meiner nur gedachten Frage: „Was ist denn das für einer?“ kamen beide Omas unisono mit der aufklärenden Auskunft zuvor: „Das ist dein Bruder Jürgen!“ Wie als spontanen Beweis zu dieser Behauptung, sprach dieser Jürgen nach einem kühl zu mir herübergeworfenen Blick sogleich meine Mutti neben mir ebenfalls liebevoll mit dem Wort „Mutti“ an und mit der Frage: „Bleibt der jetzt immer bei uns?“

Auch mein Onkel Hans und mein Vater hatten nach Abschluss ihrer Volksschule bei ihrem eigenen Vater das Schneiderhandwerk erlernt. Während Hans sich danach der Landwirtschaft zuwandte, versuchte mein Vater sich eine Zeitlang als Wandergeselle im Schneiderhandwerk durch die regionale Welt zu schlagen. Diese Welt war derzeit geprägt von einer weit verbreiteten Arbeitslosigkeit und einem überall aufkommenden Nationalsozialismus, dem sich in Deutschland kaum ein junger Mensch völlig entziehen konnte.

Nach zwei Jahren der Wanderschaft fand mein späterer Papa schließlich eine feste Anstellung bei der Reichsbahn, zunächst als Rottenarbeiter im Gleisbau, danach als Beamter im Fahrbetrieb auf dem Bahnhof in Kirchberg. Bis zum Jahr 1944 arbeitete er dort und musste wegen dieser kriegswichtigen Funktion im Staatsdienst auch nicht gleich in den ersten Kriegsjahren Soldat werden.

Dann aber, als die Sache mit der angezettelten militärischen Auseinandersetzung täglich im eigenen Land spürbar, und deswegen nicht mehr prospektgemäß verlief, sondern für alle Deutschen sehr brenzlig geworden war, rief ihn die oberste Heeresleitung doch noch zu den Waffen und steckte ihn in die graue Wehrmachtsuniform. Man könne nicht auf ihn verzichten, hieß es wohl in seinem Stellungsbefehl, der ihn noch vor Weihnachten 1944 zum Dienst an der schon nahegerückten Westfront verpflichtete.

Mein Papa in spe sollte also die total verfahrene Sache mit dem Krieg noch einmal zugunsten des Deutschen Reiches herumreißen. Eine kurze militärische Ausbildung in der Mainzer Gegend sollte ihn und andere bisherigen Zivilisten auf die Schnelle dazu befähigen, erfolgreich Krieg zu machen und die schlimmsten Abwehrschlachten siegreich zu bestehen. Zahlreiche Briefe aus jener Zeit sind erhalten geblieben und zeugen von anfänglichem scheinbarem Optimismus in der anbefohlenen Sache. Zugleich erkennt auch der heutige Leser noch den kontrollierenden Zwang durch die totale Zensur der hin- und hergesandten Feldpost. Zur Stärkung seiner furchterregenden Feuerkraft bekam mein werdender Papa als Leihgabe aus dem Staatseigentum noch einen Karabiner um die Schultern gehängt, und ab ging es mit ihm nach Frankreich.

Ohne das Gewehr hätten die Franzosen ihn auch gar nicht in ihr Land gelassen. Es war dieselbe Geschichte wie damals 1916 mit meinem „Henne Opa“, dem Landwirt und Schneidermeister, dem Papa meines Papas. Auch er bekam als junger Mann ein Gewehr als öffentliche Leihgabe, um damit im Auftrag des Kaisers nach Belgien und nach Frankreich zu reisen. Das aber gefiel den Belgiern und den Franzosen auch schon gar nicht, die haben einfach ohne Vorwarnung auf meinen Opa geschossen, ihn auch getroffen und dabei böse an der rechten Schulter verwundet, die „Lumpensäckel“! Wer zuerst geschossen hatte, ist leider nicht überliefert.

Meinen künftigen Papa trafen die Franzosen glücklicherweise nicht mit ihren Kugeln, sie fingen ihn ein, bevor er überhaupt selbst mit seinem Leihgewehr schießen konnte. Dann hielten sie ihn gegen seinen Willen fest und sperrten ihn ein. Er blieb zwei Jahre lang in Kriegsgefangenschaft im schönen Süden von Frankreich bei Wasser und trockenem Brot. Mit der berechtigten Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zu seiner geliebten jungen Familie auf dem Hunsrück konnte er diese schlimme Zeit, wenn auch sehr abgemagert, doch an Leib und Seele gesund, überstehen. Meine Eltern hatten sich schon schriftlich per Feldpost über meine selbständig vorgenommene Reservierung des verwaisten vierten Platzes am heimischen Küchentisch verständigt.

Ein gutes Jahr zuvor war meine Schwester Inge leider an Scharlach verstorben. Ich habe sie nur noch auf Fotografien gesehen und kennengelernt.

Haben wir das heute in Deutschland und Westeuropa doch so gut. Wir können nach Frankreich, nach Belgien und überall hinfahren, ohne ein Gewehr mitnehmen zu müssen. Wir können auch wieder ungehindert heimfahren, wenn wir das wollen.

Als mein Papa dann im Frühjahr 1946 von seiner verordneten Dienstreise endlich wieder nach Hause kam, bin ich ihm schon im Hausflur mit großen Erwartungen und mit einem Butterbrot in der Hand ganz selbständig entgegen gekrabbelt. Aber er hatte mir nichts mitgebracht aus Frankreich.

Damals wohnten wir in dem alten Haus neben dem Hotel Schüler, das die Leute aus unserem Heimatdorf nur „Schelasch ehr alt Hous“ nannten. Dieses alte Haus ist mittlerweile schon lange abgerissen und aus dem Dorfbild völlig verschwunden.

Nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft musste mein Papa ja auch wieder eine Arbeit aufnehmen. Er hatte schließlich vier hungrige Mäuler zu stopfen, wie man so sagt. Bei der Bahn als Staatsbetrieb blieb ihm der Zugang aus politischen Gründen erst einmal verwehrt. Bevor er dort wieder in den Dienst eintreten konnte, hatte er eine Entnazifizierung über sich ergehen lassen müssen. Auf Druck der Besatzungsmächte war das in der frühen Nachkriegszeit in Westdeutschland so etwas wie eine staatlich organisierte gründliche Reinigungsaktion des Volksgeistes, eine Gehirnwäsche, bei der die ganze braune politische und rassistische Ideologie der unseligen Nazizeit aus den Köpfen der Menschen ausgetrieben werden sollte. Nicht nur Männer mussten diese Prozedur über sich ergehen lassen, die Frauen blieben nicht ausgenommen.

Papa war im nun abgehakten Tausendjährigen Reich kein herausragender Aktivist gewesen. Von den Gehirnreinigern wurde er in dem politischen Verfahren schnell der großen Gruppe der ehemaligen Mitläufer im braunen Kostüm zugeteilt, die ihre Motivation aus den Nöten der Zeit mit hoher Arbeitslosigkeit gezogen hatten. Dennoch gab es für ihn ein vorläufiges Berufsverbot im Dienste des neuen Staates.

In dieser Zeit verdiente unser Vater im Sägewerk Kunz im benachbarten Sohren das dringend benötigte Geld für unsere Familie zum Leben. Jeden Tag fuhr er die überschaubare Strecke mit dem Fahrrad hin und zurück.

Nach Ablauf von etwa zwei Jahren durfte er bei der Bahn, die jetzt Deutsche Bundesbahn hieß, seine Fahrdiensttätigkeit wieder aufnehmen. Seine Dienststelle lag in dem nahen Kirchberg. Ich glaube, meiner Mutter gefiel das ganz gut. Auf diese Weise konnte sie sich erstmalig ein wenig aus unser aller kleinem Geburtsort mit den damals höchstens 500 Einwohnern lösen und gleichzeitig eintreten in das ebenfalls überschaubare Leben der nahen Kleinstadt auf dem Berge, wo sich innerhalb und auch bereits außerhalb der noch rudimentär vorhandenen Stadtmauer schon so um die 3000 Seelen vereinten.

In Kirchberg erhielten wir von der DB eine Dienstwohnung in der Bahnhofstraße zugewiesen. Im Parterre wohnte noch eine andere Bahnfamilie, wir Vier bezogen die drei Zimmer im ersten Stockwerk und zusätzlich ein Mansardenzimmer auf dem Speicher, das uns beiden Buben in der warmen Jahreszeit als gemeinsames Schlafzimmer diente. Auf halber Treppe zwischen den beiden Wohnungen befand sich das gemeinschaftliche Plumpsklo für alle Hausbewohner.

Hier in Kirchberg wurde ich 1951 in die ev. Volksschule eingeschult, die am westlichen Ende der Stadt, hinter dem Stadtgraben an der Schied, in drei Klassenräumen und mit drei Lehrern acht Jahrgänge führte. Das Schuljahr begann im April nach den Osterferien. Weil der Stichtag für die Erstklässler in diesem Jahr der 31. März gewesen war, ich aber am 1. April geboren bin, mussten meine Eltern für den einen Tag vom Hausarzt ein Attest darüber vorlegen, das mich als einen, den Anforderungen der Schule gewachsenen ABC-Schützen ausweisen sollte. Und ob ich der Schule gewachsen war, was glaubt ihr denn!

In dieser Zeit wurde in der Nachbargemeinde Lautzenhausen und Umgebung schon damit begonnen, den Flugplatz Hahn für die amerikanische Luftwaffe zu erbauen. Vom Bahnhof Büchenbeuren aus sollte ein neues Bahngleis verlegt werden. In diesem Zusammenhang plante die DB auf dem Bahngelände ein ganz modernes elektronisches Weichenstellwerk und installierte diese Anlage mit dem von vielen Lämpchen und Bedienknöpfen strotzenden Schaltpult auch zügig. Zur ordentlichen Bedienung dieser technischen Anlage hielt die Bahn mit ihren verfügbaren Beamten vorher einen mehrtägigen Lehrgang ab. Mein Papa bestand diesen, andere erreichten das Klassenziel nicht. Also mussten wir aus Kirchberg mit jener Familie, die bisher im Büchenbeurener Bahnhofsgebäude residierte, die Wohnungen tauschen. Die andere Familie zog nach Kirchberg und wir wieder in meinen Geburtsort.

Die Umzüge vollzog mein Onkel Ernst mit seinem ersten LKW in dem Fuhrbetrieb, den er nach seiner Entlassung aus russischer Gefangenschaft neu gegründet hatte. Das Auto, ein ehemaliges Wehrmachtsfahrzeug, war gebraucht gekauft und hatte über der Ladepritsche kein Verdeck. An dem Umzugstag musste es mit den Habseligkeiten beider Haushalte mehrere Male hin- und herpendeln. Ein Regen hätte der bescheidenen Ausstattung bestimmt sehr geschadet.

Ab diesem Zeitpunkt musste ich natürlich in Büchenbeuren zur Schule gehen. Zuerst in die kleine Klasse mit den Schuljahren eins bis vier, wo Fräulein Geibel unsere Lehrerin gewesen ist. Sie war eine ganz junge Frau, Gertrud hieß sie mit Vornamen und hübsch war sie auch. Aber im dritten Schuljahr hatte man das nur so am Rande wahrgenommen.

Wenn ich bei ihr im Unterricht mal ein Gedicht aufsagen sollte, sagte sie zu mir:

„Dieter, dann stehst du auf, stellst dich frei neben die Bank in den Gang, machst den Rücken gerade, hältst den Kopf hoch, drückst die Brust raus und sprichst mit fester und deutlicher Stimme!“

Frl. Geibel blieb nicht lange bei uns, dann folgte sie dem Ruf ihres Herzens, heiratete ganz unauffällig und ging schließlich als Frau Reingans von uns weg nach Abenteuer. Dieser Ort liegt auch im Hunsrück, aber weit weg in westlicher Richtung hinter dem Soonwald. Danach hörten wir leider nichts mehr darüber, wie ihr Abenteuer in Abenteuer verlaufen ist.

Nach Frl. Geibel kam Frau Tomaschewsky. Vorne hieß sie Vera, Vera Tomaschewsky! Sie war eine resolute Frau und auch schon ein wenig älter und erfahrener aus Frl. Geibel. Sie hat gerne mit uns Schülern gesungen. Auch als wir später schon bei unserem Lehrer Emil Rohleff die große Klasse mit den Schuljahren fünf bis acht besuchten, unterrichtete sie uns noch im Fach Musik, und das nicht ohne Erfolg, denn: Das erwies sich daran, dass nach den Schulentlassungen in diesen Jahren so etwa die Hälfte der Buben im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren in den örtlichen Männergesangverein als aktive Sänger eingetreten ist, auch ich.

Doch erst einmal hatte man die vier Jahre in der großen Gemeinschaftsklasse von Emil Rohleff gut zu überstehen. Das erwies sich als nicht so schwer. Bei den älteren Leuten im Dorf war unser Lehrer Emil nicht so gut angesehen. Denen war er zu liberal, zu wenig autoritär, zu lasch, zu weich und zu nachgiebig im Umgang mit seinen Schülern. Die Alten waren noch darauf gedrillt, ab und zu vom Schulmeister zur Durchsetzung seines Willens mit der flachen Hand oder sogar mit einem Stöckchen körperlich spürbar touchiert zu werden.

Emil Rohleff war kein Vertreter dieses alten Schlags. Er setzte andere Prioritäten, zum Beispiel flankierte er den Mathematikunterricht mit spannenden Rechenspielen. Uns Schüler beschäftigte er auch immer wieder mit Kopfrechnen und setzte bei schriftlichen Aufgaben oft die in vielen Schuljahren zuvor schon bewährten kleinen grauen und abgegriffenen Rechenkarten aus dem schmalen Lehrmittelschrank in der Ecke des Klassenraums ein.

„1000 weniger 47“ rief er in die Klasse hinein, wenn er mal zur Toilette musste oder eine andere technische Pause nötig gewesen ist. Dabei zeigte er mit dem Finger auf einen von uns in der vorderen Bankreihe, und der oder die begann dann laut zu rechnen:

„1000 weniger 47 ist neunhundertvierund nein: 953!“

So ging es weiter, die ganze Reihe hindurch nach hinten und von dort wieder in der benachbarten Reihe gegenläufig nach vorne. Wenn am Schluss die Zahl 13 an der Tafel stand, war Emil nach seiner Rückkehr in den Klassenraum mit sich und uns zufrieden.

Auch einen ordentlichen Deutschunterricht veranstaltete der aus Wuppertal stammende Dorfschullehrer Emil mit uns und ließ dabei die Klassiker von Goethe und Schiller nicht aus.

Zu dem gründlich bearbeiteten Unterrichtsstoff gehörten zum Beispiel Der Zauberlehrling und Die Glocke. Diese Werke erkundeten wir in der siebten und achten Klasse mit verteilten Rollen und lernten sie auch stückweise auswendig. Auch die Nibelungensage mit dem legendären Goldschatz im Rhein bei Worms und mit den Protagonisten Siegfried, Brunhilde, Kriemhild, Gunter, Hagen und Gudrun beschäftigte uns in dieser Zeit. Einige Schüler haben auch tatsächlich ein bisschen davon verstanden.

In manchen Jahren standen die Herbstwochen zwischen dem Ende der Kartoffelferien und Advent im Zeichen des Krippenspiels, das wir unter der Regie unseres Lehrers gemeinsam einstudierten. Am lange vorbestimmten Termin in der Vorweihnachtszeit gelangte es im Gemeindesaal, der bei uns nur „Betsaal“ hieß, vor der versammelten Dorfschaft zur Aufführung.

Wir Schüler waren nur mäßig begabte Vortragsoder Schauspieltalente, keiner von uns, bis auf einen: Reinhold Stumm, genannt „Schmieds Reinhold“!

Reinhold war ein geborener Vortragskünstler. Er konnte sich sehr gut in einen aus dem Rollenheft angelesenen Handlungsablauf hineinversetzen und seine Figur in der ihm zugedachten Bühnenrolle mit passender Betonung, eindrucksvoller Mimik und überzeugendem Augenrollen so ausfüllen, dass ihm die Zuschauer immer wieder spontanen Szenenapplaus spendeten. Es ist schade, dass Reinhold nicht mehr unter uns weilt.

In den letzten beiden Schuljahren gab es an zwei Wochentagen nachmittags zusätzliche zweistündige Verpflichtungen: Der Herr Pfarrer rief die evangelischen Kinder zum Konfirmandenunterricht. Seine Aufgabe als Religionslehrer nahm er sehr ernst und forderte von uns während der Sitzungen außer konzentrierter Aufmerksamkeit noch das Auswendiglernen vieler Kirchenlieder und Psalmen aus der Bibel.

Im Alter von neun bis vierzehn Jahren ließen Schule und Pfarrunterricht im Betsaal mir noch Zeit für andere Beschäftigungen. Unter Berücksichtigung der erheblichen Ferienzeiten und der freien Nachmittage konnte ich mich fast täglich den landwirtschaftlichen Arbeiten auf dem kleinen Bauernhof bei „Henne“ widmen.

„Bei Henne“, das waren Haus und Hof meiner Großeltern und meines Onkels Hans väterlicherseits. Das Anwesen umfasste ein altes Wohnhaus, ein Wirtschaftsgebäude mit Scheune, Kuhstall, Schweineställen, Hühnerstall und Geräteschuppen. Es gruppierte sich um den im Oberdorf gelegenen Hof an der Hauptstraße mit dem zentralen Nussbaum.

Meine Oma, Opa, Tante Elli, Onkel Hans und Tante Else bewirtschafteten dort mit recht einfachen Mitteln den eigenen Besitz von fünf Hektar Acker- und Wiesenland. Weil es in diesem Haus keine Nachkommen, und damit auch keine Erben, gab, war es für die gesamte Großfamilie und auch für mich seit Jahren eine klare Sache, diesen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb einmal in meinen Besitz und in meine Regie zu übernehmen. Alles schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Auch meine Eltern verbrachten ihre freie Zeit zu großen Teilen als Hilfskräfte auf diesem Hof. Diese Hilfe war auch nötig, denn mein Onkel litt unter einer Kriegsverletzung, die ihn ständig körperlich behinderte. Als Ausgleich für diese tatkräftige Unterstützung gab es für unsere vierköpfige Familie Kartoffeln, Gemüse, Obst, Mehl und Eier aus eigener Erzeugung. Bei den zwei Hausschlachtungen des Jahres fiel auch immer ein ordentlicher Teil der frischen und der selbst geräucherten Fertigprodukte für uns ab. Die leckere Wurstsuppe sei hier stellvertretend für alle anderen Fleischprodukte hervorgehoben.

Auch Muttis Eltern betrieben eine kleine Landwirtschaft mit zwei Hektar eigenem Acker- und Wiesenland, zwei Kühen, zwei Schweinen und einer kleinen Schar Hühner. Auch hier waren immer wieder helfende Hände nötig, die nicht nur von uns, sondern auch von Muttis Geschwistern und deren Familien eingefordert, und von ihnen auch gerne gewährt wurden. Vor allem zu Erntezeiten ergaben sich auch dort dringliche und witterungsabhängige Arbeitseinsätze.

Neben dieser Nebenbeschäftigungen auf den Wiesen und Feldern der Eltern und Großeltern fanden Mutti und Papa noch Zeit für häusliche Näharbeiten. Papa hatte ja bei seinem eigenen Papa schon früh den Schneiderberuf erlernt, und Mutti besaß ein natürliches Talent für diese Tätigkeit, das sie nach der eigenen Schulentlassung während ihrer Zeit als Hausmädchen in der Villa unseres Doktors Schüler durch qualifizierte Anleitung nicht nur ausbauen, sondern auch perfektionieren konnte. Ja, sie brachte es mit ihren Fähigkeiten so weit, dass sie über Jahre hinweg als die Schneiderin im Dorf, und sogar über die Grenzen des Dorfs hinaus, galt. Noch heute sind kleine Notizbücher vorhanden, worin sie die relevanten Körpermaße ihrer weiblichen Kundschaft ebenso handschriftlich notierte wie die nach Fertigstellung und Ablieferung ihrer Produkte dafür einzufordernden Gegenwerte in DM und Pfennigen. Die kleinste dort verwendete Recheneinheit war der Groschen, einzelne Pfennige hatte sie schon wegen der Übersichtlichkeit gerundet, nach welcher Richtung ist nicht mehr zu erkennen.

Auch Papa befasste sich vor und nach seinen wechselnden Arbeitsschichten bei der Bundesbahn am häuslichen Küchentisch und an der fußbetriebenen Anker Nähmaschine mit Schneiderarbeiten. Seine Kundschaft kam aus der männlichen Bevölkerung unseres Dorfs und seiner Umgebung. Da sich sein eigener Papa und Lehrmeister in diesen Jahren aus Altersgründen von den Schneiderarbeiten schon weitgehend zurückgezogen hatte, war es eine neidlose, ja sogar notwendige Fortführung des Schneiderhandwerks innerhalb der Familie, eine kleine Tradition also. Damit aber endete auch zugleich die Linie der Schneiderzunft. Denn leider versäumten mein Bruder und ich es in dieser Zeit, die eigene Neugier den handwerklichen Schneiderkünsten unserer Eltern zuzuwenden, um uns dadurch eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten für ganz persönliche Selbstmachkompetenzen anzueignen.

Im Arbeitsbüchlein meiner Mutti finden wir aus dem Jahr 1969 folgende Einträge:

Dieses bescheidene Zubrot ergänzte verlässlich das schmale Beamtengehalt meines Papas auf angenehme Weise und sorgte für eine verlässliche Handbreit Wasser unter dem Kiel unserer schmalen Haushaltskasse. Man kam nicht gleich in monetäre Bedrängnis, wenn der Dachdecker am eigenen kleinen Häuschen etwas ausbessern musste, oder wenn für einen der heranwachsenden Söhne mal ein Wintermantel nötig war.

Luxuriöse Ausgaben wie die Zahlung von außerhäuslichen Übernachtungen und Mahlzeiten, oder die Finanzierung von Urlaubsreisen, waren bei uns nie Gegenstand einer Diskussion. So etwas hat es nicht nur in unserer Familie nicht gegeben, niemand im Dorf leistete sich in diesen Jahren eine Urlaubsreise. Unsere jährlich verfügbaren kostenlosen Personalfahrkarten der DB für die ganze Familie verfielen fast regelmäßig. Nur ganz selten nutzten wir diese für eine einwöchige Bahnfahrt hinter den Eisernen Vorhang nach Sachsen, wo mein Onkel Kurt und meine Tante Anneliese schon lange ihren Westbesuch bei den dortigen Behörden und auch im örtlichen Konsumladen durch vorsorgende Hamsterkäufe vorbereitetet hatten, und sich auf die gemeinsame Zeit mit uns freuten.

Unsere Großfamilie mit über zwanzig Personen im Ort, verteilt auf sechs verschiedene Häuser und Haushalte, war wohl dem unauffälligen Durchschnitt der ländlichen Bevölkerung dieser Region zurechenbar. Diese Normalität galt für das verfügbare Einkommen und das Vermögen ebenso wie für die allgemeine Schul- bzw. Berufsausbildung, das persönliche Ansehen in der Öffentlichkeit, die kulturellen Ansprüche sowie für sonstige allgemeine persönliche Fähigkeiten und Fertigkeiten. Nahezu jeder im Dorf war mit jedem per Du, gegenseitige unangemeldete Hausbesuche und ein Schwätzchen an der Straße oder am Gartenzaun waren stets an der Tagesordnung.

Die meisten der 500 Dorfbewohner hatten einen direkten Bezug zur Landwirtschaft, sei es im Haupt- oder im Nebenerwerb. Der eigene Landbau war die Basis für die tägliche Versorgung mit den wichtigsten Lebensmitteln. Nur wenige Haushalte besaßen nur einen Hausgarten als Anbaufläche oder in einigen Fällen auch einen externen Garten in der Gemarkung zwischen den Ländereien der Bauern. Dort standen neben ein paar bunten Blumen vor allem Kartoffeln, Gemüse aller Arten, Obst und Strauchbeeren auf dem Anbauplan.

Es gab verschiedene Methoden, die auf den Feldern und in den Gärten geernteten Produkte für den künftigen Verzehr zu behandeln. Kartoffeln zum Beispiel fanden direkt nach der Ernte ihren Platz hinter den dicken Schieferfundamenten der dunklen und kühlen Keller unserer Fachwerkhäuser. Dort standen auch die riesigen runden Bottiche aus Sandstein, in denen unter einem beschwerenden Gewicht das eingeschnittene Weißkraut als Sauerkraut dauerhaft in einer Salzlake eingelagert vor sich hin fermentierte. Ein gleiches verlässliches Verfahren gab es für die grünen Bohnen.

Gegen Weihnachten hatten beide eingemachten Vorräte ihre Reifegrade erreicht und die Tröge konnten erstmals geöffnet und ihre Inhalte verwendet werden. Für den Gaumen war das fertige Mittagessen am Sonntag stets ein Fest gewesen, nicht aber einen Tag zuvor die erste Öffnung der Bottiche für die Nasen.

Die Möhren behielten ihre leckere Frische über mehrere Monate in einem mit trockenem Rheinsand gefüllten und innen wie außen glasiertem Steintopf. Auch für die rohen Hühnereier gab es ein probates Aufbewahrungsverfahren mit glibberigem Wasserglas im blau angemalten Topf aus Steinzeug. Allerdings ließen sich die noch immer scheinbar frischen Eier danach nur noch zum Backen verwenden.

Ja, und da gab es auch noch die guten alten Einmachgläser. Jede Hausfrau benutzte sie und das damit verbundene Vakuum-Verfahren zur Sterilisierung und Erhaltung der wertvollen Inhalte in den verschiedenen Erntephasen des Jahres. Im Sommer nahmen diese Weckgläser Kirschen und Stachelbeeren ebenso gerne auf wie im Herbst die Bohnen, Erbsen, Rote Beete oder Gurken. Besondere Beliebtheit kam ihnen bei Hausschlachtungen für die Konservierung der Blut- und Leberwurst, des Bratenfleischs und des leckeren Schwartenmagens zu.

Schlachtprodukte landeten aber auch häufig in wiederverwendbaren Konservendosen, deren oberer Rand vor erneutem Gebrauch ganz einfach von einer speziellen Maschine um ein paar Millimeter gekürzt wurde.

Weckgläser und Konservendosen fanden im Keller ihren Aufbewahrungsort. Es war ratsam, die Gläser gelegentlich auf dauerhafte Dichtigkeit hin zu überprüfen. Bei schadhaften roten Gummiringen traten durchaus auch Reklamationen auf, deren Schadenswirkung bei früher Entdeckung abwendbar war.

Besonderheiten unter den Vorratsräumen waren die Räucherkammern auf den Dachböden der Bauernhäuser. Bevor diese abgekapselten Räume unter den Schieferdächern nur noch eine allgemeine Aufbewahrungsfunktion ausübten, brutzelten darin wochenlang die Schinken und auch Würste im mäßig scharfen Rauch des ständig schwelenden Sägemehls von der heimischen Buche. Dieser Brennstoff fiel überall beim Holzschneiden als Abfallprodukt an.

Eine angewandte Praxis zur Erhaltung des Frischegrads von Weiß-, Rot- und Spitzkohl war das kopfüber Einschlagen dieser Gemüsesorten in den Mutterboden des heimischen Gartens. Dabei versank der Kopf der Pflanze völlig in der Erde und ihre Wurzel ragte wie ein Hühnerbein als Markierung des angelegten Depots senkrecht daraus hervor. Ein ähnliches Verfahren wurde in viel größerem Stil zur Aufbewahrung der Rüben für das liebe Vieh in einer großen Miete im Umfeld der Scheune angewandt.

Die gemeinschaftliche Mühle und das zentral gelegene Backhaus gehörten zu den wichtigsten Einrichtungen für die Verarbeitung der eigenen Getreideerzeugnisse. Der geerntete Weizen wurde von den Bauern selbst zu Weißmehl gemahlen und dieses vor den Wochenenden von ihren fleißigen Frauen unter Hinzunahme einiger edler Beigaben zu leckeren Kuchen verbacken. Dem Roggenvorrat auf den Dachböden erging es ähnlich. Auch dieser kam in den großen Einlasstrichter der Mühle. Nach der Bearbeitung zwischen den langsam rotierenden Steinen rieselte schließlich am anderen Ende das fertige Roggenmehl in den Mehlkasten. Jetzt oblag es wieder den Hausfrauen, bei Bedarf im „Backes“ das gewonnene, etwas gräulich erscheinende Brotmehl zu rustikalem Bauernbrot zu veredeln.

Auch die nötige Wärmeversorgung der Wohnräume lag in eigener vorsorgender Verantwortung. In den kleinen Dörfern des Hunsrücks oblag die dem Gemeinwesen zukommende Landschaftspflege und viele andere öffentlichen Arbeiten stets den Bewohnern selbst. War es an der Zeit, rief der Gemeindevorsteher die Bürger zu ihren Frondiensten auf. Dieses geschah durch Ausschellen in den Straßen und begleitende Ausrufe der anstehenden Arbeiten und der dafür angesetzten Termine. Nach den Gemeindesatzungen hatte sich jeder Haushalt der Dorfschaften mit mindestens einer Person an diesen Aktionen zu beteiligen. Man nannte es, „mit der Gemeinde gehen“.

Als Gegenleistung dafür standen in unserem Dorf jedem teilnehmenden Haushalt jährlich sieben Festmeter Brennholz zu, das der Ortsbürgermeister zu Jahresbeginn nach einem bewährten Verfahren kostenfrei an seine Bürger verloste. Allerdings musste man die auf Klafter gesetzten Scheite und Knüppel im Wald selbst abholen, zu Hause zersägen und anschließend in weiterer Handarbeit mit der Axt noch auf das gewünschte Maß spalten. In einem geschützter Raum oder Schuppen des eigenen Anwesens hatte dieser Vorrat an Brennmaterial bis zur Zuteilung im nächsten Frühjahr zu reichen. In den Bauernhäusern gab es nur wenige ständig betriebene Feuerstellen zu versorgen. Die wichtigsten waren der Küchenherd, der Waschkessel, in dem auch die Kartoffeln für die Schweine gekocht wurden, und der Ofen im Wohnzimmer. Die Nutzung dieser guten Stube aber blieb aus Gründen der Sparsamkeit in vielen Häusern auf die Sonn- und Feiertage des Jahres beschränkt. Das soziale Leben der Familien spielte sich hauptsächlich in den Küchen ab. Diese Praxis stand in gutem Einklang mit der Unterscheidung der Kleidung nach Werktags- und nach Sonntagsgewändern.

Alle Maßnahmen der auf Sparsamkeit angelegten Vorratswirtschaft dienten nur dem Ziel, die Produkte aus der eigenen Erzeugung und Veredelung so lange wie möglich frisch zum Verzehr bzw. zum Verbrauch zu erhalten. Diese ökologische Lebensweise mit einem hohen Grad an Selbstversorgung gewährte in meinen Kindheitstagen den Menschen ein bedeutendes Maß an Unabhängigkeit von weiteren Einnahmequellen.

Als acht Schuljahre vorüber waren, und wir vierzehn- bis fünfzehnjährigen Kinder alles das konnten und wussten, was unsere Lehrer gekonnt und gewusst haben, sprach man uns mit dem Entlassungszeugnis die nötige Reife zu, um in dem nun folgenden Lebensabschnitt bestehen zu können. Auch der Herr Pfarrer gewährte nach einer öffentlichen Überprüfung unserer Bibelfestigkeit mit der feierlichen Konfirmation vor dem Altar unseres Gotteshauses seinen kirchlichen Segen zur Vollmitgliedschaft in unserer evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde. Danach ging jeder von uns seiner Wege.

In den Monaten davor war bei mir ein Sinneswandel eingetreten, was die scheinbar vorgezeichnete Wahl meiner künftigen Beschäftigung und Berufswahl betraf. Zum Entsetzen meiner Großeltern, Erbtante und -Onkel wollte ich jetzt nicht mehr Bauer werden. Doch ein anderes Berufsziel hatte ich auch noch nicht vorzuweisen.

Büchenbeuren von oben

Wenn man schon länger in Schleswig-Holstein wohnt als in Büchenbeuren auf dem Hunsrück, dann guckt man auf das Dorf schon alleine deswegen von oben herab, weil der Hunsrück auf der Landkarte unten, und Schleswig-Holstein oben liegt. Nicht nur darum ist die Überschrift so scheinbar überheblich gewählt.

Auch später, wenn man dereinst hier unten auf dem schönen Erdbällchen seinen Platz endgültig geräumt haben wird, weil die lieben Mitmenschen einen selbst hier nicht mehr haben wollen, und weil man auch lange genug am gedeckten Tisch gesessen und seinen vom Lieben Gott zugedachten Platz belegt hat, guckt man von oben herab auf den Hunsrück. Natürlich nur dann, wenn man in seinem Leben auch brav gewesen ist. Warst du das nicht, dann guckst du von unten nach oben auf den Hunsrück und auf die Kartoffeläcker von Büchenbeuren und seinen Nachbardörfern.

Warum ich auch so gerne auf Hunsrücker Platt schreibe? Diese Sprache habe ich von Grund auf gelernt und schon als kleiner Bube gesprochen, als ich längst noch nicht schreiben konnte. Als man das dann aber in der Schule so nach und nach gelernt hat, musste man Hochdeutsch schreiben und natürlich auch so sprechen. Und richtig schreiben musste man auch. Was richtig und was falsch war, das bestimmte der Lehrer. Sein Standpunkt erwies sich als nicht verhandelbar und hat mich von Anfang an zählbar behindert. Das gefiel mir damals gar nicht, und damit haben wir schon die Antwort gefunden auf die Frage, warum ich so gerne auf Hunsrücker Platt schreiben.