Hüter der drei Reiche - Jacky Carll - E-Book

Hüter der drei Reiche E-Book

Jacky Carll

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Beschreibung

»Träume ich?«, fragte er seine Schwester, die ihn daraufhin mit ihren kleinen Fingern in den Arm kniff. »Aua. Das tat weh«, sagte er leise und checkte die Umgebung sorgfältig ab. »Wo sind wir?« Ein gigantisches Monster, das sie verfolgt. Ein blauhaariges Mädchen, das immer auf etwas Hohem sitzen muss. Ein kauziger Bauer, mit einem Haufen Babyschweinen. Ein Baumhaus, das ihr Vater gebaut haben soll. Fliegende Berge, mit einer Geschichte über vergangene Zeiten. Die Folge: Eine sehr gefährliche Reise. All das begegnet den Geschwistern Finn und Joey, als sie durch die Magie eines Portals in ein völlig fremdes Land gezogen werden. Welche Gefahren lauern in diesem Land? Wieso taucht plötzlich Finns beste Freundin auf? Welches Geheimnis verbindet ihre Familien mit diesem Ort? Und was hat das Ganze mit einem Schwein zu tun?

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Widmung

Für Chris, den einzig wahren Sprichwörterhelden.

Inhaltsverzeichnis

Was Schweine und Namen gemeinsam haben

Ein harter Brocken namens Mama

Von magischen Mülltonen Türen und Wünschen

Ein Hauch Magie und beste Freundinnen

Auf der Suche

Ein peinlicher Vorfall und eine unwahre Begegnung

Ottilie, Hüterin und Schützerin der Durchquerlandtür

Ein Bauer und ein allesfressender Vogel

Ein Wirrwarr, das es zu entwirren gilt

Was ein Schlüssel und eine Erinnerung gemeinsam haben

Auf dem Weg ins erste Abenteuer

Unerwartete Begegnungen

Ein Spiel, das gespielt werden muss

Die gelbe Himmelstür im blauen See

Wenn Berge fliegen können

Große Gefühle auf kleinen Wegen

Ein Traumland voller Zusammenhänge

Rettungsmission Vogel

Von Mut und kleinen Hockern

Wie die Hüter die Welt erschufen

Ein Nest voller Überraschungen

Warum der Vogel nicht aufhören kann

Es ist so einfach und doch so schwer

Ein Plan, der geschmiedet wird

Das Feuer

Ein weiterer Schlüssel

Wie ein Phönix aus der Asche

Den Anfang nahm es auf Bergen und das Ende nimmt es auf Erden

1. Was Schweine und Namen gemeinsam haben

Finn und Joey

Das kleine Mädchen rannte die Treppe herunter und stürzte in die Küche. Ihre Beine überschlugen sich fast und ihr Gesicht war rot wie eine Tomate.

»Du bist so doof. Doof, doof, doof. Wo ist mein Tagebuch?«, schrie sie ihren großen Bruder an, der in diesem Augenblick am Küchentisch saß und versuchte, seine Mathehausaufgaben zu erledigen.

»Das weiß ich doch nicht. Was bitte soll ich mit deinem Tagebuch, Schwesterchen?«, grinste er sie frech an.

Sie hatte es erst bemerkt, als sie ihren letzten Traum in das Buch schreiben wollte. Ihr Tagebuch war in Wirklichkeit ein geheimes Traumbuch, doch das sollte niemand wissen. Ihr Bruder war manchmal ein blöder Kerl. Oft steckte er die Nase in Angelegenheiten, die ihn absolut nichts angingen.

»Warum bist du immer so gemein zu mir? Ich mag dich nicht mehr!«, schrie sie und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie schniefte und setzte den süßesten Hundeblick auf, den sie im Stande war aufzusetzen.

»Joey, ich habe dein Tagebuch nicht. Wirklich nicht. Ich schwöre auf alles was ich habe!«

Er streckte beide Hände in die Luft und legte den Kopf leicht schief, grinste bis über die Ohren und formte mit den Zeige- und Mittelfingern das Peace-Zeichen.

Sie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen an. Konnte sie ihm trauen? Immerhin war er ihr älterer Bruder und es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass er ein Vorbild für sie sein musste.

»Ok, ich glaube dir. Kannst du mir bitte suchen helfen? Es muss da sein.«

Widerwillig erhob er sich von seinem Stuhl, packte sich seine Schwester und wirbelte sie durch die Luft. Das Nesthäkchen quietschte und lachte vor Freude und ihre geflochtenen Zöpfe flogen um ihren Kopf.

»Guck wie du die Treppen hochfliegen kannst, wie ein kleiner, bunt angezogener Vogel!«

»Ja, ich bin ein Vogel«, gab sie vergnügt von sich und versuchte, ein Vogelgezwitscher nachzumachen, obwohl sie dafür schon ein wenig zu alt war. Für ihre sieben Jahre benahm sie sich in manchen Situationen jünger, als sie eigentlich war und an anderen Tagen sagte sie Dinge, die zu alt und reif für sie waren. Jolanthe war eben ein besonderes Mädchen.

Währenddessen stand ihre Mutter am Herd und rührte verträumt in dem Topf voller heißduftender Spaghetti. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Frieda war unglaublich glücklich, so großartige Kinder zu haben. Sie verstanden sich gut, obwohl es ab und an Reibereien gab. Erst zofften sie sich und dann hatten sie sich wieder lieb, als wäre nichts gewesen. Das hatten sie und ihr verstorbener Mann gut gemacht. Auf Phineas war sie unglaublich stolz, denn er leistete in seinem Alter wirklich viele großartige Dinge.

Nachdem das Auto seines Vaters im Fluss gefunden wurde, er aber verschwunden blieb, war Frieda der festen Überzeugung, dass ihr Mann sie niemals hätte verlassen. Dem zufolge war sie sich sicher, dass er an diesem Tag verstarb. Finn war sich zu dieser Zeit etwas anderem sehr bewusst. Er war jetzt der Mann im Haus und seine Aufgabe war es, für die damals Zweijährige ein Vorbild zu werden. Ebenso war es seine Pflicht, seiner Mutter zu helfen, wo immer es ihm möglich war. Dies war mit einem Alter von zehn Jahren eine faszinierende Eigenschaft. Er passte immer auf Joey auf und schämte sich nicht für das Nesthäkchen. Die jetzt Siebenjährige war beileibe nicht einfach und konnte einen zur Weißglut treiben.

Jolanthe hatte einen großartigen und hübschen großen Bruder. Frieda grinste bei diesem Gedanken. Er sah seinem Vater so ähnlich und je älter er wurde, desto mehr fand sie Jochen in ihm wieder. Er hatte die gleichen grünen Augen, die voller Liebe waren und vor Schabernack hell leuchteten. Ebenso hatte er die dicken, dunkelbraunen Haare, die ihm widerspenstig vom Kopf abstanden. Einige Strähnen waren lockig, andere platt, als hätte man sie mit einem Glätteisen geglättet. Frieda fand, dass es ihm zwar besser stehen würde, wenn er sich seine Haare kürzer schneiden ließ, aber er mochte seinen Zottellook.

Phineas und Jochen waren ein Herz und eine Seele. Jochen hatte alles mit ihm unternommen. Er hatte ihm bei den Hausaufgaben geholfen und Modellflugzeuge gebaut. Sie erschufen Legoburgen, so groß, wie Phineas hoch war. Im Sommer gingen die beiden auf Expedition, wie sie es genannt hatten. Sie bewaffneten sich mit Rucksäcken, Proviant und einem Zelt und waren losgezogen – in das Waldabenteuer hinter dem Haus.

Jolanthe war zu dieser Zeit noch zu jung, um sich jetzt, fünf Jahre später, an ihren Vater erinnern zu können. Doch für die großartigen Erinnerungen hatte sie Phineas. Er erzählte abenteuerliche Geschichten von Himmelreichen und Wasserstädten, die er zusammen mit seinem Vater von bösen Monstern befreit hatte. Jochen hatte ihm damals all diese Fantasiegeschichten erzählt und sie im Garten oder im Wald nachgespielt. Finn berichtete Joey von all den ritterlichen Eigenschaften, an die er sich erinnerte. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater mutig, tapfer und furchtlos war, und betete ihn wie einen Helden an. Jochen war stark, lustig und chaotisch gewesen, hatte die besten Ideen und zu jeder Zeit gewusst, wie er seinen Sohn aufmuntern konnte, falls dieser traurig war oder einen schlechten Tag hatte. Dann hampelte er wie ein Kasper durch die Wohnung, wurde zum Reittier und erzählte Witze. Wenn das alles nichts half, tat er, als spräche er eine fremde Sprache, redete Kauderwelsch und brachte Phineas wieder zum Lachen.

Manchmal stimmten Frieda diese Geschichten traurig, da sie ihren Mann vermisste. An wenigen seltenen Tagen fiel es ihr besonders schwer, den Tag ohne ihn zu meistern. Aber sie wusste, dass sie es muss. Für ihre Kinder. Für seine Kinder, die es ihr an diesen schlimmen Tagen leicht machten, diese zu überstehen.

Trotz der Jahre, die bereits vergangen waren, war sie nie mit jemandem ausgegangen, weil sie sich schlecht fühlen würde. Sie hatte Angst vor einer neuen Beziehung. Angst, dass Jochen doch eines Tages nach Hause kommen könnte, Angst dass Jolanthe und Phineas keinen anderen Mann im Haus dulden würden. Sie war sich außerdem nicht sicher, ob sie einen erneuten Verlust ertragen könnten, wenn der neue Mann und sie sich wieder trennten. Zu all diesen Gedanken kam ein wichtiger obendrauf. Könnte sie nochmal jemanden so lieben, wie sie Jochen geliebt hatte?

Was Phineas und Jolanthe ihrer Mutter noch nie gesagt hatten war, dass sie sich nichts sehnlicher wünschten, als dass sie wieder glücklich wird. Sie hätten gerne jemanden im Hause, der den Platz ihres Vaters füllen könnte, der ihnen bei den Hausaufgaben half, wenn Frieda arbeiten war, der Phineas Ratschläge in Sachen Mädchen gab und ihre Mutter im Alltag unterstützte. Sowohl Frieda als auch Phineas und Jolanthe, verarbeiteten die Trauer anders und so war es noch nie zu solch einem Gespräch zwischen ihnen gekommen. Außerdem hielt Frieda ihre Kinder für zu jung, um mit ihnen über Erwachsenenthemen zu sprechen. Schließlich war es ihre Aufgabe als Mutter, ihre Sprösslinge vor diesen unangenehmen Themen des Lebens zu schützen und ihre Kinder so lange Kinder sein zu lassen, wie es in ihrer Macht stand.

Jolanthe fand ihren Namen richtig blöd und wollte lieber Joey genannt werden. Ähnlich erging es auch Phineas, der seinen zwar nicht mehr so grausam fand wie Joey ihren, schön fand er ihn aber auch nicht. Wie viel Spott und Hohn er früher für seinen Namen ertragen musste. Es fing in der zweiten Klasse an und hielt bis jetzt, neunte Klasse, an.

»Phineas wo ist denn Ferb?«

»Phineas, du bist ja gar nicht so klug wie in der Serie!«

»Warum trägst du kein orangenes gestreiftes T-Shirt?«

»Dein IQ ist nicht mal bei einundzwanzig.«

Es war unerträglich gewesen, sich all diese Sticheleien anhören zu müssen, doch er hatte gelernt, darüberzustehen und diese Zeit mit erhobenem Kopf überstanden. Zwar hörte er ab und zu die anderen noch Witze reißen, doch mit seiner eigens auf die Beine gestellten Taufe und dem Namen Finn, ließen die Hänseleien jedoch nach. Dieser neue Name, der nichts weniger war als ein Spitzname seines Geburtsnamens, gab ihm nicht mehr das Gefühl, anders zu sein.

Und nun brachte er es seiner Schwester bei. Jemand in ihrer Klasse hatte herausgefunden, dass es früher einen Film gegeben hatte, in dem es ein Schwein namens Jolanthe gab. Jetzt imitierten die Jungs ihrer Klasse Schweine und die Mädchen zogen mit den Fingern die Nasenspitzen hoch, sodass jeder in ihre Nasenlöcher gucken konnte.

Eines Mittwochs wollte Finn sie nach Schulschluss an ihrem Klassenzimmer abholen, als er sie tränenüberströmt auf dem Mädchenklo entdeckte. Dort hatte Joey ihm schluchzend von den täglichen und unzähligen Gemeinheiten erzählt. Das letzte Mal, dass er sie weinend auf einem Klodeckel sitzend vorfand, war erst fünf Stunden her. Es hörte selbst mit dem Spitznamen nicht auf. Vielleicht war es darauf zurückzuführen, dass Joey ein sehr temperamentvolles Mädchen war und sich oft aufregte, schimpfte und genauso viel weinte, wie sie rumzickte. Wenn das passierte, war es für die anderen Kinder ein gefundenes Fressen, weiter zu sticheln und sie obendrauf noch Heulsuse oder Memme zu nennen.

»Finn?«

»Ja, Kleines?«

»Warum sind die in meiner Klasse alle so gemein zu mir? Ich kann doch auch nichts für meinen Namen. Muss ich Mama dafür die Schuld geben?«

»Weißt du, Joey, dein Name ist so außergewöhnlich, die anderen Kinder sind einfach nur neidisch auf deinen Namen«, log Finn seine Schwester an, die einen dicken rosa Schmollmund zog, der leicht bibberte.

»Die sind neidisch darauf, dass ich heiße wie ein Schwein?«, sie zog eine Augenbraue hoch und starrte ihn erwartungsvoll an. Darauf wusste auch Finn nichts mehr zu sagen. Sie tat ihm in diesen Augenblicken unendlich leid und dieses Mal nahm er sich fest vor, mit seiner Mutter ein erstes Wort zusprechen. Zwar hatte er Joey versprochen, nichts von den Gemeinheiten und dem Gehänsel zu petzen, denn Mama solle sich keine Sorgen machen, hatte sie gesagt, aber sie musste es wissen. Nach dieser langen Zeit, die Joey dem Ganzen schon ausgesetzt war.

»Weißt du was ich morgen mache?«, grinste er sie geheimnisvoll und aufmunternd an.

»Nein. Was denn?«

Joey wurde unruhig neben Finn und kramte aufgeregt in ihren Schubladen rum. Irgendwo hier musste das Tagebuch doch sein.

»Ich … Nein. Ich kann es dir einfach nicht sagen. Es ist so ultra streng geheim, dass nicht einmal du es wissen darfst.«

Jetzt hielt Joey inne und sah ihren Bruder an.

»Du kannst mich nicht erst neugierig machen und dann so etwas sagen. Das ist gemein, gemein.«

»Na gut. Aber du darfst es niemandem sagen. Versprichst du es mir, kleines Schweinchen?«

Joey lächelte bei dem neuen Spitznamen. Es hatte zwar wieder etwas mit einem Schwein zutun, doch so wie ihr Bruder es sagte, klang es irgendwie süß. Dieser liebevolle und sanfte Tonfall in seiner Stimme ließ sie an den letzten Bauernhofbesuch denken. Dort hatte sie zum ersten Mal in ihrem leben ein Babyschwein gesehen und wünschte sich seither nichts sehnlicher als ein Hausschwein. Ihre Mutter war gegen ein Schwein, besser gesagt, sie war gegen jegliche größeren Tiere im Haus, und so hatte Joey ihren Hamster bekommen. Alle, die von dem neuen plüschigen Mitbewohner wussten, lachten sie dafür aus, dass sie ihn Ralf genannt hatte. Sie verstand das Gelächter nicht. Wieso sollte ausgerechnet ein Hamster einen vernünftigen Namen bekommen und sie nicht? Und überhaupt, was war denn bitte ein sinnvoller und angebrachter Name für einen Hamster?

Finn beugte sich zu seiner kleinen Schwester hinunter. »Morgen werde ich so lange mit Mama sprechen, bis sie uns erlaubt, ein Hausschwein zu halten. Was meinst du? Ist das eine gute Idee?«, fragte er flüsternd an ihr Ohr.

Ihre grau-blauen Augen weiteten sich und leuchteten schlagartig so grell, dass Finn glaubte, er müsse sich gleich eine Sonnenbrille aufsetzen.

»Das machst du für mich? Du bist der beste obermegatollste Bruder der ganzen Welt«, und fiel ihm um die Schultern.

Er gab ihr einen Kuss auf den braunen Wuschelkopf.

»Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich es schaffe. Mama ist eine ziemlich harte Verhandlungspartnerin. Hier, dein Tagebuch. Es lag da unter dem Haufen Kuscheltiere!«

»Phineas«, hörte er seine Mutter von unten rufen und er verdrehte die Augen. »Das Essen ist fertig. Bringst du bitte Jolanthe mit?«

Nach dem Essen sah Joey aus, als hätte sie nie gelernt zu essen. Selbst in ihren Haaren klebte die rote Tomatensoße. Frieda riss lachend ein Küchentuch von der Rolle und tupfte die Stellen, die mit der Soße übersäht waren, vorsichtig ab.

»Maus, wie kannst du denn da Soße haben?«, fragte Frieda ihre Tochter und wischte mit dem Tuch über ihren Nacken. Joey zuckte mit den Schultern.

»Jetzt ist aber gleich Bettzeit und du, junger Mann«, sie schaute zu Finn, »erledigst deine Hausaufgaben. Ich will nicht noch einmal deine Lehrerin am Telefon haben. Haben wir uns verstanden?« Sie sah ihren Sohn mit ernster, aber gleichzeitig mit liebevoller Miene an.

»Ja Mama. Ich gebe alles und das mit dem Test letztes Mal war nicht meine Schuld. Die hat da ohne Vorwarnung Aufgaben drangenommen, die wir noch nie besprochen haben. Wirklich!«, beschwor Finn seine Mutter. Frieda stemmte die Hände die in die Hüfte und sah ihn ungläubig an. Sie glaubte ihm eh kein Wort, das wusste er. Egal, was er sagte. Wenn es um die Schule und um seine Mathelehrerin ging, die obendrein auch noch seine Klassenlehrerin und Friedas beste Freundin war, hatte er keine Chance. Sobald Frau Mehlkorn, oder Frau Brötchen, wie sie bei den Schülern heimlich genannt wurde, sagte, Finn sei faul und würde nicht lernen, dann war es genauso, wie sie es sagte. Egal, ob er seiner Mutter versicherte, dass das nicht stimmte. Frau Mehlkorn war die Erwachsene und gegen Erwachsene, die sich verschworen hatten, kam kein Jugendlicher und kein Kind an.

Frieda brachte Jolanthe ins Bett, die Finn vorher noch einen dicken Kuss auf die Wange gab und ihm verschwörerisch zuzwinkerte.

»Morgen, ja?«

Finn nickte und lächelte ihr zu. »Ja, morgen kleines Schweinchen!«

Mit diesem Versprechen im Hinterkopf würde Joey ohne Probleme einschlafen können. Seine Worte waren in ihrem Gedächtnis und vertrieben all die Gemeinheiten, die sie sich den heutigen Schultag über hatte gefallen lassen müssen und bescherten ihr wundervolle Träume.

2. Ein harter Brocken namens Mama

Finn

Finn wachte an diesem Morgen noch vor seinem Weckerklingeln auf. Ein seltsamer Traum hatte ihn aus dem Schlaf gerissen und es fiel ihm schwer, wieder einzuschlafen. Er hatte von einem komisch aussehenden Mülleimer geträumt, der ihn mit seinen langen Tentakeln zu fangen und zu verschlingen versucht hatte. Dabei hatte der Mülleimer einen kleinwagengroßen schwarzen Schlund, mit tausenden, in den Himmel abstehenden spitzen Zähnen gehabt, die darauf warteten, ihn zerkauen zu können. Das war natürlich ein total absurder und nicht ernstzunehmender Traum, doch sein Herz raste jedes Mal aufs Neue in seinem Brustkorb, wenn er sich kurz vorm Übergang in den Schlaf befand und wieder aufschreckte.

So stand er nach drei Einschlafversuchen auf, schlich die Treppe hinunter und kochte sich und seiner Mutter, die bereits im Bademantel auf dem Sofa saß und das Frühstücksfernsehen ansah, Kaffee. Mit den Tassen in den Händen ließ er sich neben Frieda in die Kissen fallen.

»Guten Morgen, mein Sohn!«, sagte sie spöttisch, als sie in sein zerknautschtes Gesicht blickte. Er ahnte, warum sie so schelmisch grinste. Im Bad hatte er einen dicken fetten Kissenabdruck auf der Wange gesehen und er war sich sicher, dass er den ganzen Tag eine tiefe Falte in seinem Gesicht hinterlassen würde.

»Morgen« gab er muffelig zurück. Auch wenn Finn unfreiwillig, aber von allein aufgewacht war, aufstehen war nicht seine Lieblingsbeschäftigung. Er lungerte lange im Bett rum und schlief für sein Leben gerne. Manchmal bis zu zwölf Stunden. Im Schlaf konnte er der Welt ein wenig entfliehen und zeitweise bildete er sich ein, seine Träume steuern zu können. Aber das war meist nur an den Wochenenden möglich, an denen seine Mutter Nachtschicht im Krankenhaus hatte und am nächsten Tag genauso lange schlief. Joey übernachtete an diesen Wochenenden bei Frau Mehlkorn und ihrem Sohn Tim, Joeys heimlichen Verehrer. Leider kam diese Konstellation sehr selten vor.

»Können wir mal reden, Ma?«, fragte Finn mit müder, belegter Stimme und gähnte ausgelassen los.

»Klar. Du weißt doch, dass ich immer für euch da bin.«

Frieda rutschte näher an Finn heran und zog ihn fest in ihre Arme. Er verdrehte die Augen und versuchte, sich zu befreien, aber sie hielt ihn für einen endlos langen Augenblick derart doll fest, dass ihm die Befreiung nur mit Mühe und Not gelang. Er liebte seine Mutter, doch so viel Nähe einer Mutter konnte kein pubertierender Teenager ertragen.

»Oh Mama, lass das. Ich habe dich lieb, aber so doll dann auch wieder nicht«, sagte er halb schmunzelnd zu ihr.

»Mein Sohn wird erwachsen!«, heulte Frieda gespielt los und wischte sich die imaginären Tränen aus den Augen. »Spaß bei Seite. Was ist los Finn? Hast du Probleme? Brauchst du Geld? Soll ich einen Bodyguard organisieren?«

»Nein, nein. Um mich geht es nicht, Ma. Es geht um Joey. Weißt du, ich habe ihr versprochen dir das nicht zu erzählen, weil sie nicht möchte, dass du dir Sorgen machst, aber ...« Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch seine Haare und überlegte noch einmal kurz, ob er es ihr wirklich erzählen sollte. Er kam zu dem Endschluss, dass sie es wissen musste und begann, ihr alles zu berichten, was Joey ihm gebeichtet hatte. Ihre Augen verengten sich mit jedem Satz mehr und als er fast fertig war mit erzählen, waren ihre Augen hinter schmalen Schlitzen verschwunden. Wenn es um ihre Kinder handelte, verstand Frieda keinen Spaß und konnte richtig böse werden. Sie würde alles für ihre Kinder tun. Und wenn sie könnte, wie sie wollte, würde sie alle, ob Freund oder Feind, die ihren Lieblingen etwas Böses wollten, in eine Rakete stecken und zum Mars schießen lassen.

»... und weißt du, jetzt habe ich gedacht, wir sind ja jetzt älter geworden und können Verantwortung übernehmen und vielleicht könnten wir doch ein Hausschwein ...«

Seine Mutter unterbrach ihn mit einem warnenden Finger vor seinem Gesicht und einem etwas zu laut geratenem »Nein!«

»Aber das würde Joey helfen ...«

»Finn es reicht. Ich habe nein gesagt und dabei bleibt es.«

»Eben hast du noch gesagt, dass du immer da bist und jetzt lässt du mich nicht mal ausreden. Ich mache mir doch nur Sorgen um Joey. Sie ist doch erst sieben und sollte sich nicht mit solchen Gemeinheiten auseinandersetzten müssen. Wenn ihre Mitschüler sehen, wie toll so ein Schwein ist, dann lassen sie sie bestimmt in Ruhe und wollen mit ihr befreundet sein.«

»Meine Tochter muss sich Freunde nicht erkaufen und außerdem hat sie doch Tim.«

»Ja, wow. Den überklugen nervigen Sohn einer Lehrerin«, warf Finn ein und beobachtet seine Mutter aufmerksam. Sie ließ sich partout nicht erweichen und verzog keine Miene. Sie war ein harter Brocken. Papa hätte bestimmt ja gesagt und mit ihm zusammen im Garten, hinter dem Busch und vor dem Wald, einen großen Stall gebaut. Er wäre mit ihm in den Baumarkt gefahren, hätte Finn alles suchen lassen, was auf dem Einkaufszettel stand und hätten angefangen, den Stall zusammenzubauen. Frieda nicht. Er wusste zwar, dass sie es nur gut mit ihren Kindern meint, erlaubte ihnen aber nicht viel. Aus Angst oder aus anderen Gründen, die er nicht im entferntesten ahnen konnte. Eltern, besonders Mütter, sind komisch. Sie wollen, dass man aufmerksam zuhört und aus ihren Worten lernt. Sich aber selbst daranhalten, war eher selten der Fall.

Frieda warf einen langen besorgten Blick auf ihren Sohn und er konnte sehen, wie sich ihre harte Miene veränderte und weicher zu werden schien.

»Ach Finn. Ich kann es nicht erlauben. Ich habe zwei Kinder und einen Job, muss den Haushalt machen und kann mich nicht auch noch um ein Schwein kümmern. Und außerdem muss sich Jolanthe doch schon um Ralf kümmern.«

Ja, das sah er unter Protest ein, trotzdem hätte er es Joey gegönnt und Ralf, auch wenn er niedlich war, mit seinen Bäckchen und den schwarzen Knopfaugen, kein gutes Gegenargument war. Aber er konnte seiner Mutter nicht versprechen, dass er sich rund um die Uhr um das Schwein kümmern würde, denn das wäre gelogen. Er hatte auch nicht immer Zeit. Schließlich ging er zur Schule, musste sich mit den Hausaufgaben rumplagen, auf seine Schwester aufpassen und verbrachte seine wenige freie Zeit im Platten- und Comicladen um die Ecke.

Ein leises Knacken ließ die Zwei verstummen und Joey kam mit ihrem Teddy im Arm die Treppe hinunter. Sie schlurfte vor sich hin und trat verträumt und halb schlafend ins Wohnzimmer. Als ihr Blick Finn und Frieda auf dem Sofa traf, öffneten ihre Augen weit und sie schaute hoffnungsvoll von ihrer Mutter zu ihrem Bruder. Diesem stieg ein dicker Kloß im Hals auf und schnürte ihm kurz die Luft ab. Er senkte bedröppelt den Blick auf den Fußboden, folgte mit den Augen dem Muster des Teppichs und schüttelte stumm mit dem Kopf.

Auf dem Weg zur Schule gab Finn alles, um Joey zu erklären, warum ihre Mutter kein Hausschwein erlaubte. Sie war traurig, trotzig, konnte und wollte es nicht verstehen. Immerhin handelte es sich nur um ein kleines Schwein und nicht um einen gigantischen Elefanten. Außerdem würde sie sich gut um es kümmern. Es füttern, den Stall ausmisten und dafür sorgen, dass es stubenrein werden würde. Und nach unzähligen Tränen folgte, was Finn befürchtet hatte - der arme Ralf musste erneut als schlechtestes Haustier aller Zeiten herhalten.

»Er schläft doch nur den ganzen Tag. Und wenn er so oberschnell in seinem Hamsterrad gegen sich selbst ein Rennen rennt, dann muss ich den Käfig immer vor die Tür stellen. Weißt du eigentlich, wie ultraschwer dieser große Hamsterkäfig ist?«

Finn sah sie mitleidend an. Er konnte sie doch verstehen, und hätte nichts gegen ein kleines Hausschwein einzuwenden, aber wenn Frieda nein sagt, dann blieb es für gewöhnlich dabei. Finn kannte seine Mutter länger als Joey und wusste, dass es verdammt überzeugende Argumente brauchte, damit sie etwas zustimmte, das sie vorher abgelehnt hatte.

Vor dem Schulgelände blieb Joey stehen und Finn beobachtete, wie sie ihren Rucksack abnahm, ihr Tagebuch aus einem der vier innenliegenden Fächern herausholte und die Seite, die sie herausriss, sofort zerknüllte. Danach stopfte sie das Buch wortlos in ihren Schulranzen zurück, schulterte ihn und griff nach seiner Hand, ohne ihn auch nur einmal dabei anzusehen. Verwundert und leicht verwirrt ging Finn mit ihr in Richtung der Eingangstür der Schule. Joey zog an seiner Hand, schlug einen Schlenker nach rechts und schmiss den Zettel in den kunstvoll verzierten Mülleimer, der unweit der Schuleingangstür stand. Ein komischer Abfalleimer, schoss es Finn in den Kopf, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Gemeinsam überschritten sie die Türschwelle, kamen aber nicht im Schulgebäude an.

Ein beißender Geruch stieg Finn in die Nase. Er blinzelte einige Male hektisch, um dem, was er sah, doch noch entfliehen zu können. Er sowie seine Schwester standen mit beiden Füßen in einem stinkenden Schweinestall. Finn hielt sich reflexartig die Nase zu, als er begriff, wo er sich befand, und sah sich suchend um. Wo war die Schule und wo waren sie?

»Was zum Uhu ist jetzt los?«

Er sah erschrocken zu seiner Schwester hinunter, die genauso erstaunt in den Stall starrte. Joey fand ihre Beherrschung schneller wieder als ihr Bruder und rannte sofort auf eine der Stallbox zu, in der es am lautesten und fröhlichsten grunzte und quiekte.

»Oh, Finn schau mal. Hier sind ganz viele Babyschweine. Klitzekleine rosa supersüße Ferkelchen. Wie superobermegasüß«, quietschte Joey und unterschied sich kaum von dem Gequieke der Schweinchen. Finn verstand kein Wort von dem, was seine Schwester da sagte. Sie hatte sich im Laufe der Zeit verschiedenste Wortneuschöpfungen ausgedacht und alles, was sie super fand, drückte sie in ihrer eigenen Sprache aus. In einigen Situationen - dazu zählte auch, urplötzlich in einem Schweinestall zu landen - ging ihm das unfassbar doll auf die Nerven. Manchmal fand er die ausgedachten Superlative allerdings passend, weil ein normales süß oder ein das sieht großartig aus, eben nicht ausreichte.

»Joey ich weiß nicht. Wir sollten schnell wieder gehen. Komm schon, lass uns gehen.«

»Aber Finn …«

»Was macht ihr in meinem Stall. Raus da, aber schnell. Verschwindet!«, schrie jemand von draußen herein.

Finn packte seine Schwester am Arm, riss sie von der Stalltür los und zog sie hinter sich her. Er rannte mit ihr im Schlepptau so schnell über den Hof, dass sie immer wieder stolperte. Im Vorbeirennen entschuldigte er sich rasch bei dem wütend dreinblickenden Bauern. Er hatte die Augen furchteinflößend eng zusammengekniffen und seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. Erst nach einigen Metern vom Bauernhof entfernt, auf einem Feldweg, blieb Finn stehen. Seine Atmung war viel zu schnell und sein Herz pochte wie wild in seiner Brust. Auch Joey japste neben ihm nach Luft und stemmte ihre Hände in ihre Seite.

3. Von magischen Mülltonen, Türen und Wünschen

Joey und Finn

»Träume ich?«, fragte er seine Schwester, die ihn daraufhin mit ihren kleinen Fingern in den Arm kniff. »Aua. Das tat weh«, sagte er leise und checkte die Umgebung sorgfältig ab. »Wo sind wir?«

Sich seinen schmerzenden Arm reibend, sah er seine Schwester an, die aufgeregt neben ihm hin und her trippelte.

»Keine Ahnung. Aber voll supergalaktischmegacool. Eben habe ich meinen Wunschzettel in den Mülleimer geworfen. Auf dem stand drauf, dass ich so gerne nochmal ein Schwein sehen möchte und dann stehe ich wie durch Zauberei in einem Schweinestall.« Joey strahlte über ihr ganzes Gesicht, das ihrer Mutter in so einem Augenblick ähnlichsah. Sie fühlte sich leicht und glücklich. War sie etwa in der Lage, sich Wünsche zu erfüllen, indem sie es auf einem Blatt Papier aufschrieb, es zerknüllte und anschließend wegwarf? Oder besser noch, war sie eine Hexe, die sich mit Gedankenmagie an andere Orte beamen konnte?

»Komm Joey. Wir gehen mal den Weg weiter und gucken, ob wir eine Straße und eine Bushaltestelle finden. Dann wissen wir, wo wir sind, und können zurück zur Schule fahren. Einverstanden?«

»Ja! Finn? Meinst du ich habe Zauberkräfte und kann mir wünschen, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen?«

»Natürlich nicht! Und nun komm, kleines Schweinchen.«

Zusammen spazierten sie den Feldweg weiter. Sie wanderten durch eine schmale Baumansammlung und gelangten an dessen Ende zu einer Straße. Am Straßenrand hielten sie an und sahen sich nach rechts und links um. Nichts. Hier war einfach gar nichts. Kein Haus, kein Schild und nicht die erhoffte Bushaltestelle.

Finn war noch ruhiger, als er es von Natur aus war und versuchte, sich in dieser merkwürdigen Situation zurechtzufinden. Ihm wollte es nicht recht gelingen. Nichts von alledem hier ergab einen Sinn. Wie waren sie hierhergekommen und was würde passieren, wenn sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht wieder zuhause waren? Wo sollten sie schlafen und wo Essen herkommen? Sie waren nicht einmal warm genug angezogen, um die Nacht im Freien zu verbringen. Schließlich war es Anfang Mai.

Er wurde durch einen lauten markerschütternden Schrei aus seinen Gedanken gerissen. Mit weit aufgerissenen Augen sah er nach oben und entdeckte einen überdimensional großen gelben Vogel. Erst kreiste dieser für einen Moment über ihnen, dann begab er sich in den Sturzflug, direkt auf die beiden zu. Die Augen des Vogels glühten vor Zorn wie heiße Kohlen und seine Schwingen stießen bei jedem Schlag eine Qualmwolke hervor. Dabei konnte Finn erkennen, dass einzelne Federn in Flammen zu stehen schienen, denn das Gelb des Gefieders glühte bei jedem Flügelschlag orangerot auf. Die Krallen waren spitz wie Speere und darauf aus, sie zu packen. Sein Schnabel glich einem tiefen dunklen Loch, das sich nichts sehnlicher zu wünschen schien, als Joey und Finn zu verschlingen.

Finns Augen suchten einen Ausweg, einen Fluchtweg, eine Waffe, doch egal, wohin er schaute, er hätte sich nicht bewegen können. Dieser Vogel war entsetzlich und er vor Angst wie festgewachsen. Seine Hand schloss sich enger um die seiner Schwester, die versuchte, sich aus ihr herauszuwinden. Ihr gelang es aber nicht und sie fing leise an zu wimmern, weil sein Griff ihr wehtat. Doch er ließ nicht los. Er musste sie um jeden Preis beschützen und festhalten.

»Steht da nicht so rum. Kommt schon.«

Finn zwang seinen Kopf, sich zu der Stimme umzudrehen und entdeckte ein Mädchen in der Richtung stehen, aus der sie vor nicht einmal fünf Minuten gekommen waren.

»Los jetzt«, schrie diese ihnen noch einmal zu. Dieses Mal reagierte Finn, packte seine Schwester und schmiss sie sich auf seinen Rücken. Joey umklammerte sofort seinen Hals und schluchzte vor Angst in seine Haare. Um ihr das Gefühl von Sicherheit zugeben, und damit sie nicht abrutschen konnte, hielt er ihre Beine fest. Panisch und sich oft umguckend, rannte er zu dem Feldweg zurück und auf den Wald zu, an dessen Rand das Mädchen stand und auf sie wartete.

»Was war das da am Himmel und wer bist du?«, fragte Joey, als sie eine wohlverdiente Pause, mitten im Wald einlegten. Das Mädchen hatte es sich auf einem umgefallenen Baum gemütlich gemacht und musterte die zwei Neuankömmlinge mit schiefgelegtem Kopf. Finn japste immer noch nach Luft und versuchte, die Seitenstiche wegzuatmen, als das Mädchen anfing, Joeys Frage zu beantworten.

»Ich bin Ottilie. Hüterin und Schützerin der Durchquerlandtür.« Sie stockte kurz und fragte anschließend verwundert: »Was guckt ihr denn jetzt so?«

Joey und Finn standen vor dem umgefallenen Baum und starrten das blauhaarige Mädchen an.

»Wer bist du?«, fragte Finn, weil er glaubte, sich die Antwort nur eingebildet oder sich verhört zu haben.

»Du bist doch nicht taub, Phineas, oder etwa doch?«, lachte Ottilie Finn an, dem die Kinnlade bei der Erwähnung seines Namens herunterklappte.

»Woher weißt du, wie ich heiße? Wer auch immer du bist, danke dass du uns vor dem Riesenvieh gerettet hast, aber wir müssen jetzt los. Komm Joey.«

Finn hielt ihr seine Hand hin und sah sie wartend an. Doch sie ergriff seine Hand nicht, sondern hüpfte neben Ottilie auf den Baum und ließ die Beine baumeln.

»Ottilie. Das ist aber ein komischer Name. Ich habe auch einen komischen und oberfiesen Namen; genau wie Finn, äh, Phineas.«

»Das weiß ich doch schon längst, kleine Jolanthe. Aber ich finde meinen Namen gar nicht oberfies. Es heißt nicht jeder so und das ist doch gut, oder? Und nun zu dir, Phineas. Ich bin die Hüterin und Schützerin der Durchquerlandtür. Aber das hast du wahrscheinlich verstanden und willst wissen, was die Durchquerlandtür ist, richtig?«

Ottilie beobachtete Joey eine Weile und ließ dann auch ihre Beine baumeln, lachte auf und sah wieder zu Finn, der sie skeptisch im Auge behielt. Er konnte das hier alles nicht glauben. Er wollte doch einfach nur seine Schwester zu ihrem Klassenraum bringen und dann selbst ins andere Gebäude gehen, anstatt mitten in einem Wald zu stranden, auf der Flucht vor einem gigantischen brennenden Vogel.

Trotzdem kam ihm all das so bekannt vor. Irgendwie heimisch vertraut. War er schon einmal hier gewesen? Er dachte kurz an das zurück, was Joey vorhin gesagt hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ging ihm ein Licht auf. Sie hatte gesagt, dass sie einen Zettel in einen Mülleimer geworfen hatte. Hatte dieser Mülleimer Ähnlichkeiten mit dem Tentakelmülleimer aus seinem Traum gehabt? Dieser und auch der vor der Schule, war blau-gelb-silber gewesen und hatte eher wie eine alte Vase ausgesehen. Wenn er weiter ganz tief in seinen Gedanken kramte, dann fiel ihm noch etwas ein. Dort vor der Tür, vor der Schule, hatte nie ein Mülleimer gestanden. Oder doch? Nein. Da war er sich sicher. Vor der Schule stand kein Mülleimer.

»Eigentlich will ich das alles doch nicht wissen, Ottfried. Sag uns einfach nur, wie wir wieder nach Hause kommen«, sagte Finn mit ernstem Gesichtsausdruck.

»Ottilie. Ich heiße Ottilie. So schwer ist das nicht, Phineas. Ihr wollt jetzt schon wieder nach Hause? Ihr habt doch eben erst hergefunden. Warum wollt ihr schon wieder gehen?«

»Weil wir müssen, Otto. Wir wissen nicht einmal, wo wir sind, und außerdem müssen wir in die Schule. Frau Mehlkorn hat hundertpro schon unsere Mutter angerufen. Und die hat mit Sicherheit schon einen Wutanfall, weil wir die Schule schwänzen.«

»Ottilie«, knurrte sie Finn leicht angesäuert an. Kurz darauf wurden ihr Blick und ihre Stimme wieder weich. »Na gut. Du hast mich überzeugt. Aber ihr müsst bald wiederkommen, ja?«

»Ich denke eher nicht, aber danke«, gab Finn zurück, ging zu dem Baum hinüber und hob Joey auf seinen Arm. Diese klammerte sich fest an ihn und gähnte. Gemeinsam sahen sie Ottilie an, die ein bronzefarbenes Blatt Papier aus ihrer Hosentasche zog, etwas darauf schrieb und es dann zerknüllte. Sie sprang elegant von dem Baum, schnippte mit dem Finger und der Mülleimer erschien, in die sie den Knüll hineinwarf. Sekunden später erschien mitten im Wald eine Tür, die der Tür der Schule zum Verwechseln ähnlichsah. Eine winzige Veränderung fiel ihm trotzdem auf. Sie war verblasst und hatte in den Ecken kleine Spinnenweben.

»Warum sieht die so anders aus?«, fragte Finn Ottilie, die den Kopf nach links und rechts drehte und die Tür von allen Seiten begutachtete.

»Weil schon lange niemand hindurch gegangen ist und nun los. Geht hindurch und ihr seid wieder in der Schule. Viel Spaß und beim nächsten Treffen erzähle ich dir, was es mit der Durchquerlandtür auf sich hat«, rief sie Finn im Gehen zu und saß auch schon wieder auf dem Baum, ließ die Beine baumeln und winkte zum Abschied.

Finn marschierte geradewegs zur Tür und legte die Hand auf den Holzbalken, der als Türöffner diente. Er drehte sich noch einmal zu Ottilie um, öffnete dabei langsam die Tür und stand mit dem nächsten Wimpernschlag schon in der Schule.

»Was für ein merkwürdiger Tag, oder Joey?«, fragt Finn seine Schwester auf dem Weg nach Hause. Niemand hatte in der Schule irgendetwas gesagt oder gemerkt. Sie waren pünktlich zur ersten Stunde in ihren Klassenräumen angekommen. Der Unterricht war wie immer verlaufen, niemand hatte sich anders als sonst benommen und trotzdem hatte weder Joey noch Finn aufpassen können. Ihre Gedanken hingen bei ihrem Erlebnis und dem geheimnisvollen Mädchen namens Ottilie fest. Die Schulstunden waren nur so dahingeschritten und als der Schlussgong endlich erklang, war Finn zum Gebäude der Grundschüler hinübergelaufen und hatte ungeduldig auf seine Schwester gewartete.

Joey hatte vor lauter Gedanken an den Wald und den Vogel nicht eine der Gemeinheiten der Mitschüler gehört und war das erste Mal seit langem, nicht weinend aus dem Gebäude gegangen.

Sie fühlte sich besonders und einzigartig. Sie hatte etwas erlebt, das ihre Klassenkameraden bestimmt noch nicht erlebt hatten und niemals erleben würden. Dieser Gedanke machte sie stärker und durch ihn fühlte sie sich nicht mehr einsam in der Schule.

Ein Gedanke allerdings blieb auch für den Rest des Tages in ihrem Kopf. Er war auch noch da, als sie abends zuhause in ihrem Bett lag, ihre Mutter ihr eine gute Nacht wünschte und Finn ihr, wie jeden Abend, einen Kuss auf den Scheitel gab. Es war der Gedanke, dass sie um jeden Preis wieder in dieses Land zurückkehren wollte. Sie wollte Ottilie wiedersehen, denn sie war sich sicher, dass sie bestimmt gute Freundinnen werden und ganz viele Abenteuer erleben würden.

Und etwas noch viel Wichtigeres musste sie in diesem Land tun. Sie musste zu dem Bauernhof zurückgehen, denn dort hatte sie etwas verloren. Etwas sehr Bedeutsames. Etwas, das ihr das Liebste auf der Welt war. Ihr schlechtes Gewissen darüber, gerade DAS verloren zu haben, war so groß geworden, dass sie sich schlimme Vorwürfe machte. Doch dass sie es überhaupt verloren hatte, war ihr erst am Abend aufgefallen. Sie sollte ihre Hosentaschen leeren, weil ihre Mutter die Hose mit in die Waschmaschine stecken wollte. Und der Gegenstand war nicht auffindbar. Weder in der linken noch in der rechten und auch nicht in den hinteren beiden Hosentaschen. Joey hatte sich diesen Abend in den Schlaf geweint und nichts und niemand konnte sie mehr davon abhalten, nach dem Portal zu suchen und erneut hindurchzugehen, um ihren Schatz zu finden.

4. Ein Hauch Magie und beste Freundinnen

Finn und Vans

Am nächsten Tag war Samstag und einer dieser wunderbaren Tage, an denen Frieda Finn Geld neben den Flyer des Pizzalieferdienstes auf den Tisch legte. Es war einer dieser Tage, an denen sie ihn verschmitzt ermahnte, keine Party mit Alkohol und pubertierenden Mädchen zu feiern, ihn liebevoll und zärtlich in ihre Arme zog und ihm sagte, dass er auf sich aufpassen solle. Es war einer dieser Tage, an denen Frieda und Joey auf sechszehn Uhr zu Frau Mehlkorn und Tim fuhren, dort den Nachmittag ausklingen ließen und Frieda anschließend zur Nachtschicht aufbrach. Am nächsten Tag würde Finn demnach angemessen lange im Bett lungern, ohne dass ihm jemand sagte, dass vierzehn Uhr zu spät zum Aufstehen und zum Frühstücken war.

Frau Mehlkorn wohnte unweit vom Krankenhaus entfernt und Frieda wollte Finn nicht jedes Mal zumuten, auf seine Schwester aufzupassen. Er war mit seinen fünfzehn Jahren ein Jugendlicher und hatte andere Dinge im Kopf als Baby zu sitten.

Der Nachtschichtsamstag war für Frieda, Joey und Finn zu so einer Art Ritual geworden. Geld für Pizza und Knuddeln mit Finn, Kaffee und Abendessen bei Frau Mehlkorn und Tim mit Joey, Nachtschicht.

Als Finn den Motor des alten Familienautos aufheulen hörte, schnappte er sich den Haustürschlüssel und wartete angestrengt hinter der Tür, bis er das Fahrgeräusch nicht mehr hören konnte. Er wollte heute nicht mehr mit seiner Mutter sprechen. Er hatte sie zwar wirklich lieb, aber, wenn sie ihn mit dem Skateboard die Straße runter rasen sah, würde es wieder ein kräftiges Donnerwetter regnen. Besagtes Skateboard stand draußen neben der Haustür und griffbereit.

Er raste einige Straßen weiter, zu seinem geliebten Comicladen.

»Hey Finn. Auch mal wieder da?«, fragte das hellhäutige, aber dunkel geschminkte und noch dunkler gekleidete Mädchen hinter dem Tresen, mit einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck.

Wüsste Finn es nicht besser, hätte er Angst vor ihr. Sie sah aus wie ein Gespenst. Wie ein kleines, liebes Gespenst, denn das Mädchen war fast eineinhalb Kopf kleiner als er, aber es war auch kein Wunder. Er war ein gutes Stück größer als die anderen Jungs in seiner Klasse. Auch eines dieser Eigenschaften, die von seinem Vater auf ihn übergesprungen waren. Sein Vater war ein Riese gewesen und hatte mühelos alles überragt. Er konnte sogar über das Gebüsch schauen, das in ihrem Garten hinterm Haus stand. In diesem Gebüsch hatte sich Finn früher ein Versteck errichtet und alle seine Geheimnisse und Schätze aufbewahrt. Natürlich wusste er in seinem jetzigen Alter, dass sein Vater sein Versteck gekannt hatte, aber er hatte Finn immer in dem Glauben gelassen, es nie gefunden zu haben.

»Ja, endlich hat meine Mutter wieder Nachtschicht und ich kann mir ganz in Ruhe einen Film ausleihen und anschauen. Joey ist bei Tim. Was machst du denn später? Wollen wir zusammen einen Film schauen?«

Finn und das Mädchen kannten sich schon seit dem Sandkasten, wie Frieda immer zu sagen pflegte – wann auch immer das gewesen sein soll. Finn war sich immer nicht ganz sicher, auf welches Alter sich die Aussage bezog. Ab wann spielt man gemeinsam im Sandkasten? Mit eins, zwei oder doch erst mit drei? Oder war dies einfach nur eine Angabe für ›Wir kennen uns schon unser ganzes Leben?‹ Finn hatte sich dafür eine einfachere Definition ausgedacht, die seiner Meinung nach besser passte. Sie waren Freunde seit Anbeginn seiner Erinnerungen! Das Mädchen war sein ältester und bester Kumpel.

»Klar. Ich freu mich drauf. Ehrlich gesagt war ich schon wirklich traurig, dass wir jetzt so lange nichts zusammen gemacht haben. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Seit meine Eltern mich von der Schule genommen haben, zieht das Leben nur so an mir vorbei und ich kriege gar nichts mehr mit. Ich bin nur noch in dieser Hölle von Schule und in dieser hier. Ich glaube, lange kann ich den Job hier auch nicht mehr machen. Die Kunden bleiben uns aus.«

Sie legte beide Arme auf den Tresen, bettete den Kopf in die Hände und blinzelte Finn an. Sie war schon immer in ihn verliebt, seit sie denken konnte, hatte sich aber nie getraut, ihm das zu sagen, da sie um ihre Freundschaft bangte. Sie wollte lieber für den Rest ihres Lebens mit ihm befreundet sein, als ihn nie wiederzusehen, nie wieder mit ihm zu sprechen und nie wieder mit ihm zu lachen.

»Warum arbeitest du überhaupt so viel? Du bist doch erst sechszehn. Da muss man noch kein Vermögen verdienen. Wann hast du denn Feierabend?«

»Na, um acht, Dummerchen. Das weißt du doch. Welchen Film willst du gucken?«, sagte und fragte sie lachend. Dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernster und sie sah Finn fest entschlossen an. »Und Finn, ich muss mit achtzehn auf jeden Fall von zuhause ausziehen und dafür brauche ich Geld. Möbel und eine Wohnung finanzieren sich nicht von allein.«

»Wie wäre es, wenn du den Film aussuchst und ich noch schnell in den Supermarkt laufe, und Popcorn, Chips und Cola kaufe? Meine Mutter hat wie immer Geld dagelassen, damit ich mir Pizza bestellen kann. Oder willst du Pizza? Dann laufe ich nicht in den Supermarkt«, überspielte Finn Vans letzten Satz ungeschickt und überschlug sich fast beim Sprechen. Er konnte nicht verstehen, warum sie sich andauernd mit ihren Eltern in die Haare bekam, und fand dieses Thema unangenehm. Er mochte ihre Eltern und sie konnte sich glücklich schätzen, noch beide Elternteile zu haben, auch wenn sie anders waren als seine Mutter. Doch Vans fand ihre Eltern schrecklich und wollte schon mit dreizehn ausziehen. Sie war sogar mal von zuhause weggelaufen und alle hatten sie gesucht, sich totale Sorgen gemacht. Dabei schlief sie seelenruhig in dem Gebüsch, in dem geheimen Versteck hinter Finns Haus, eingekuschelt in ihre geliebte Kuscheldecke.

»Pizza klingt gut. Ist dir egal was wir gucken?«

»Ja, auch wenn es bestimmt wieder ein schrecklicher Film wird«, fügte er mit zusammengebissenen Zähnen hinzu, was ihm einen böse funkelnden und grinsenden Blick bescherte. »Ich muss dir auch noch was Abgefahrenes erzählen, Vans. Das wirst du mir niemals glauben. Also, bis gleich.«

Finn klopfte Vans im Vorbeigehen freundschaftlich und ungeschickt auf die Schulter und öffnete die Tür. Das gewohnte Geräusch der Türglocke ertönte, dann war er schon aus dem Laden raus.

Wieso fühlte er sich eigentlich immer so komisch in Vans Gegenwart? Er konnte das Gefühl, das sich in seiner Magengrube ausbreitete, nicht deuten. Das erste Mal, als er das komische Gefühl bemerkte, war er am nächsten Tag im Bett geblieben und hatte Fencheltee für seinen Magen getrunken. Danach war das Gefühl wieder verschwunden gewesen. Doch auch die nächsten Male war es wiedergekommen. Genau wie jetzt. Er versuchte das Kribbeln und das flaue Gefühl in seinem Bauch zu ignorieren und die erfrischende Mailuft zu genießen. Die eine Hand in die Hosentasche gesteckt, mit der anderen die Achse seines Boards fassend, schlenderte er die Straße entlang.

Kurz bevor er in die Straße einbiegen konnte, von der aus er in seine Wohnsiedlung gelangte, huschte etwas Schnelles über die Kreuzung und verschwand hinter einem gelb blühenden Strauch. Es war nicht klein und auch nicht groß gewesen. Das, was da über die Straße gehuscht war, hatte eher so Joey-Größe gehabt. Finn blieb stehen und beobachtete seine Umgebung. Neben dem Strauch, hinter dem es verschwunden war, stand eine Bushaltestelle. Es war jene Bushaltestelle, an der er und Joey bei schlechtem Wetter auf den Schulbus warteten.

Er sah sich kurz nach links und rechts um und ging dann hinüber zur Haltestelle. Er blieb stehen und starrte verdutzt auf eine ganz bestimmte Stelle. Die Stelle, die ihn für einen Augenblick in seinen Bann zog, war neben dem Busfahrplanschild. Dort, direkt neben dem Schild und unter dem Glasdach mit der Sitzbank, stand dieser komische Mülleimer. Der, der aussah wie eine Vase. Obwohl das nicht stimmte, wie Finn für sich kritisch feststellte.

Als er sich minutenlang vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, nahm er das Ding in gehörigem Sicherheitsabstand genau unter die Lupe. Es dämmerte mittlerweile und Finn kniff seine Augen immer wieder zusammen, damit er alles richtig sehen konnte. Die Büsche rund um die Haltestelle verschluckten das wenige Licht des Tages und legten Schatten auf den Mülleimer.

Das Ding besaß an den drei Seiten genau vier runde Einwürfe, die alle unterschiedlich groß waren und an verschiedenen Positionen lagen. Wenn dies wirklich ein Mülleimer war, dann waren die Einwürfe für unterschiedlich großen Müll gedacht.

Ihm fiel außerdem auf, dass die Löcher unterschiedlich umrandet waren. Ganz leichte Farben schimmerten ihm, trotz der eintretenden Dunkelheit, entgegen. Das kleinste Loch besaß einen Bronzerand, das danach war so blass silber eingefärbt, dass es kaum auffiel. Die andere Farbe konnte er nicht mehr richtig erkennen. Es könnte ein Braun- oder Orangeton sein. Vielleicht war er aber auch Gold. So genau konnte er es nicht sehen, denn er traute sich nicht näher an das Ding heran. Der Schock, plötzlich in einem Schweinestall zu stranden und von einem riesigen Vogel verfolgt zu werden, saß noch tief in seinen Knochen.

Finn wanderte das Ding mit seinen Augen bis zum Boden ab und stellte fest, dass es auch nirgendwo befestigt war. Keine Bolzen, die in die Erde geschlagen waren und auch keine Metallplatte, die auf den Teer festgeschraubt war. Das Mülleimerding besaß selbst einen großen runden Standfuß, der ihm Halt gab. Es wirkte alles so schwer und massiv, wie es dort auf dem geteerten Boden stand; und selbst ein Hurrikan hätte ihn nicht vom Fleck hätte bewegen können. Er wollte das Mülleimerding noch genauer beäugen und folgte der Spur seines vergangenen Blickes von unten nach oben. Finn hatte das Gefühl, jedes Mal etwas Neues zu entdecken, egal, wie oft er ihn anguckte. Von eben jenem massiven Standfuß aus, verlief es dreieckig und immer breiter werdend nach oben, wie eine umgedrehte Pyramide. Allerdings waren die Kanten des Dreiecks nicht scharf, sondern abgerundet, wie bei einem Spielwürfel. Auf Höhe seiner Hüfte endete es in einer dreieckigen Senke, in der sich der vierte Einwurf befand. Dieser war größer als alle anderen und schwarz umrandet. Wie ein tiefes dunkles Loch. Alles, was nur in die Nähe dieses Einwurfes gelangte, es würde keinen Halt finden und unaufhaltsam hineinfallen.

Die Verzierungen, die das Ding an allen Seiten schmückten, beeindruckten Finn am meisten. Zwar musste er, um alle sehen zu können, immer wieder hin und her laufen und kam sich dabei etwas blöd vor, aber er wollte sich alles ganz genau einprägen. Er drehte sich oft um und vergewisserte sich, dass ihn niemand dabei sah oder beobachtete. Dann ging er in die Hocke.

Die Farben Blau, Gelb und Purpur waren als Schattierungen auf verschiedenen Ornamenten verarbeitet. Sie ergänzten sich, als gehörten sie schon immer zusammen. Eine Trennung dieser Farben schien schier unmöglich.

Zu den Ornamenten zählten ein gelber, brennender, adlerartiger Vogel, der sich über dem bronzefarbenen Loch befand. Er hatte den Schnabel weit geöffnet und seine Klauen auf etwas gerichtet, das er fangen wollte. Seine Flügel waren weit geöffnet und nahmen den kompletten oberen Teil des Dreiecks ein. Dann richtete Finn seine Aufmerksamkeit auf einen blauen Seestern, der zu versuchen schien, den goldenen Rand des Einwurfs festzuhalten. Seine Arme oder Beine – ihm war nie klar geworden, warum es bei einem Seestern nur Arme geben sollte und keine Beine – verschwanden in dem Einwurf. Auch dieses riesige Wesen machte den Anschein, als stünde er in Flammen. Auf der rückwärtigen Seite erkannte Finn, dass sich ein pompöser purpurner Käfer unterhalb des silbernen Loches befand, der seine Flügel leicht geöffnet und seine vorderen Beine im Boden fest verankert hatte.