Hüter der Elemente - Feuer und Tod - Neleh K. Mersmann - E-Book

Hüter der Elemente - Feuer und Tod E-Book

Neleh K. Mersmann

0,0

Beschreibung

In einer Welt, die sich in Hüter und Nicht-Hüter einteilt, sieht Eila sich mit der Aufgabe betraut, sich um ihren todkranken Bruder zu kümmern. Doch als Oskar eines Tages von einem mysteriösen Fremden entführt wird, zerbricht ihre Welt. Sie setzt alles daran, ihn zu retten, und begibt sich auf eine gefährliche Reise, auf der sie nicht nur das Geheimnis der Krankheit ihres Bruders enthüllt, sondern auch Dinge aus ihrer Vergangenheit hochkommen, die sie lieber vergessen wollte. Und auf einmal steckt Eila mitten in einer Welt aus Intrigen, Rache und Hass, die sie an die Grenzen ihrer Liebe bringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 953

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch:

In einer Welt, die sich in Hüter und Nicht-Hüter einteilt, sieht Eila sich mit der Aufgabe betraut, sich um ihren todkranken Bruder zu kümmern. Doch als Oskar eines Tages von einem mysteriösen Fremden entführt wird, zerbricht ihre Welt. Sie setzt alles daran, ihn zu retten, und begibt sich auf eine gefährliche Reise, auf der sie nicht nur das Geheimnis der Krankheit ihres Bruders enthüllt, sondern auch Dinge aus ihrer Vergangenheit hochkommen, die sie lieber vergessen wollte. Und auf einmal steckt Eila mitten in einer Welt aus Intrigen, Rache und Hass, die sie an die Grenzen ihrer Liebe bringt.

Über die Autorin:

Neleh Kirsten Mersmann lebt mit ihrem Hund und Verlobten am Rande von Nordrhein-Westfalen, wo sie ihre Freizeit mit dem Lesen und Schreiben von Büchern verbringt. Die Idee zu Hüter der Elemente – Feuer und Tod entstand bereits zu Schulzeiten, doch das Schreiben des Buches verzögerte sich auf die Zeit nach dem Studium. Jetzt ist ihr Debutroman endlich erschienen und verführt in fantastische und romantische Welten, die ihre Charaktere vor komplizierte Probleme und komplexe Strukturen stellt, die nicht immer einfach zu navigieren sind. Auf ihrer Website www.booksbyneleh.de befindet sich für Leser:innen eine Liste an Trigger-Warnungen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel \34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Epilog

Danksagung

Prolog

Unendlicher Schmerz. Sie wachte auf und spürte nur unendlichen Schmerz. Er legte sich über ihren gesamten Körper und raubte ihr den Atem. Ihre Augenlider flatterten und sie musste gegen die Ohnmacht ankämpfen, die sofort wieder von ihr Besitz ergreifen wollte. Die Schwärze kroch in ihren Geist und wollte sie von dem unerträglichen Leid erlösen. Vorsichtig schaute sie an ihrem nackten Leib herunter und obwohl sie ihren geschundenen Körper nicht zum ersten Mal sah, erschrak sie der Anblick noch immer. Rotes, rohes Fleisch blitzte unter ihrer blasenwerfenden Haut und den feuchten, weißen Verbänden hervor und Wundflüssigkeit glänzte nässend auf ihren Gliedmaßen. Tränen rannen ihr über die Wangen und ihre Muskeln zitterten panisch. Sie wusste, dass sie auf der Schwelle des Todes stand und ihr Überleben ein Glücksspiel war, das ihr in den wenigen Minuten, in denen sie wach war, immer wieder vor Augen geführt wurde. Doch wenn der Schmerz sie einnahm, war sie sich nicht sicher, ob sie dieses Spiel gewinnen wollte.

Sie hatte aufgehört, vor Schmerz zu schreien, da ihr die wenigen keuchenden Atemzüge, die sie tun konnte, nicht ausreichend Luft dafür gaben. So drang nur immer wieder ein gequältes Wimmern über ihre Lippen. Vorsichtig hob sie einen Arm an, doch ließ ihn sofort wieder sinken. Heiser ächzte sie, als ihre verbrannte Haut spannte und der frische Schorf riss. Es erinnerte sie an den Schmerz, den sie jedes Mal empfand, wenn eine Schwester ihr Zimmer betrat und ihr die Krusten und Hautschuppen vom Körper zog, um ihr danach neue feuchte Tücher und Verbände auf die Haut zu legen. Meist sprachen sie kein Wort mit ihr und in ihren Augen erkannte sie Ablehnung und Zorn, wenn sich ihre Blicke kreuzten. Jedes Mal wunderte sie sich, warum die Ordensschwestern sich überhaupt um sie kümmerten. Doch sie waren ihre einzige Verbindung zur Außenwelt, da sie seit Wochen keine anderen Personen mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ganz allein harrte sie in dem feuchten Keller aus, in dem sie bewegungsunfähig auf dem harten Bett lag. Das Brennen ihres Körpers war ihr einziger Begleiter und sie konnte sich kaum mehr an einen Tag ohne Schmerzen erinnern.

In ihrem Herzen war nichts als Einsamkeit und Trauer. Es war eine weitere Qual, die sie einnahm, und meist fragte sie sich, warum sie nicht einfach sterben konnte.

Behutsam drehte sie ihren Kopf nach rechts und betrachtete den kleinen Schacht hinter dem winzigen Fenster, der nach oben führte. Von dort fiel ein sanfter, schwacher Lichtstrahl in ihr Gefängnis und diente ihr immer wieder als Erinnerung daran, dass es eine Welt dort draußen gab. Fern ab von dieser Hölle. Fern ab von ihrem Schmerz. Der Staub tanzte wie goldener Schnee in dem Licht und der Anblick war so absurd schön, dass sie zu schluchzen begann. Ihre Lippen zuckten und die Tränen fielen unkontrollierbar auf die dreckigen Laken unter ihr. Dieser winzige Fleck reiner Schönheit stand in krassem Kontrast zu dem kühlen grauen Stein, der sie umgab, und ihr wurde klar, dass er nicht hierhergehörte. Er hatte sich hierhin verirrt oder war gekommen, um sich über sie lustig zu machen. Er verhöhnte ihre Aussichtslosigkeit und ihr elendiges Leben, das ihr so wertlos erschien. Und dann erinnerte sie diese Schönheit an ihr Leben vor dem Schmerz und ihr Herz zog sich zusammen.

Enttäuschung und Verrat schlichen sich in ihren Verstand und legten sich wie schwere Fesseln um ihre Seele. Alles, was ihr wichtig gewesen war, hatte sie verlassen und zum Sterben zurückgelassen. Sie waren der Grund, warum sie allein war und in ihrem Schmerz ertrank. Ihre Kiefer verkrampften sich und in ihre Augen legte sich der Hass. Sie wusste, wer Schuld hatte an ihrem Leid und als sie es zum wiederholten Male realisierte, kehrte der Zorn und die Wut zurück in ihren Geist. Das Gefühl war ihr vertraut und sie spürte es nicht zum ersten Mal in sich aufkochen. Es brodelte und siedete in ihren Adern und pochte in all ihren Wunden.

Sie fühlte den unerträglichen Schmerz ihres Körpers und ihrer Seele und sie vereinten sich zu einer einzigen Qual, die ihr Leben bestimmte. Kaum konnte sie es ertragen und unwillkürlich verdrehten sich ihre Augen nach hinten. Sie warf den Kopf in den Nacken und stöhnte schmerzerfüllt. Ihr Körper zuckte unter ihrer Bewegung und als der Schmerz verebbte, breitete sich Kälte über ihr aus. Es war die Kälte des Todes, dessen war sie sich sicher.

Ein Wimmern drang ihr über die Lippen und sie versuchte, die neuen Stellen ihres Körper auszublenden, die auf einmal mit dem Laken in Berührung gekommen waren. Sie pulsierten und schickten brennende Wellen des Schmerzes über ihren Leib. Erschöpft schloss sie die Augen. Die wenigen Minuten der offensichtlichen Qual hatten sie bereits so sehr geschwächt, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder schlafen zu dürfen. In das traumlose schwarze Nichts einzutauchen, war eine Erleichterung, die sie brauchte wie die Luft zum Atmen.

Doch gerade als der Schlaf sie übermannen wollte, hörte sie Schritte vor ihrer Zellentür. Ihre Ohren zuckten, als sich ihr Gehör ganz auf das Geräusch vor der Tür konzentrierte. Sie hörte klimpernde Schlüssel und Angst legte sich in einer Gänsehaut über ihren Körper. Überall kribbelte es an ihr und ihre Zähne klapperten panisch. Dann knarzte die Tür und eine flackernde Flamme erleuchtete warm den Raum. Als sie das Feuer sah, schnürte ihr die Panik die Luft ab. Mit offenem Mund rang sie nach Atem, doch ihr Hals war verschlossen. Tränen verklärten ihre Sicht und sie nahm das goldene Flackern vor ihren Augen nur noch verschwommen wahr.

Sie hatte keine Angst vor dem Mann, der ihr Gefängnis betrat. Sie hatte Angst vor dem Feuer, das ihn begleitete. Und diese Angst schien ihr den Verstand zu rauben und ihren Körper zu lähmen. Verkrampft lag sie dort und achtete nicht mehr auf den pulsierenden Schmerz, den das Anspannen ihrer Muskeln ihr über den Körper schickte. All ihre Sinne konzentrierten sich auf das Feuer, das vor ihrem Gesicht brannte. Der Mann, der dahinterstand, verschwamm vor ihr und sie erkannte ihn nicht. In ihren Ohren dröhnte das bedrohliche Knacken und Knistern der Flammen, die verzehrend an der Holzfackel leckten und sie unbarmherzig verschlangen. Die Hitze legte sich auf die Haut in ihrem Gesicht und brannte unerträglich in ihren weit aufgerissenen Augen. Bei ihrem nächsten Atemzug roch sie nur noch verbranntes Holz, Asche und die Derbheit des Feuers und der Geruch legte sich schwer auf ihre Zunge. Unwillkürlich musste sie würgen. Dann begann der Mann zu sprechen und seine Stimme legte sich warm und vertraut um ihren Verstand. „Wer hat dir das angetan?“

Seine Frage kam ihr bekannt vor und mit einem Mal realisierte sie, dass er sie nicht zum ersten Mal hier besuchte. Sie schluckte und sah das Gesicht ihres wahren Peinigers vor ihrem inneren Auge. Wunderschön und bedrohlich. Vertraut und beängstigend. Endlich steckte ihr Besucher die Fackel in eine Wandhalterung und obwohl ihr die Anwesenheit des Feuers weiterhin bewusst war, entspannte sich ihr Körper etwas. Doch als die Angst wich, kochte der Zorn in ihr hoch. Je klarer das Bild von den Menschen, die Schuld an ihrem Elend hatten, in ihrem Verstand wurde, desto mehr verlor sie sich in ihrer blinden Wut. Der Mann vor ihr betrachtete sie nur und ihre Reaktion musste ihm als Antwort genügen, denn er wiederholte seine Frage nicht.

Wutentbrannt weiteten sich ihre Nasenflügel und ihre Zähne knirschten. Die Tränen des Schmerzes waren verebbt. Nun weinte sie vor Zorn und vor tiefer Abneigung. Sie spürte den Riss in ihrem Verstand und gewährte dem Wahnsinn Einlass. „Ich werde sie umbringen“, zischte sie und auch dieses Versprechen kam ihr nicht zum ersten Mal über die Lippen. Doch es war die erneute Versicherung, dass sie dem Tod den Triumph über ihren Körper nicht gönnen und diese Qual überleben würde. Sie würde ihre Rache bekommen. Der Mann vor ihr lächelte und beugte sich sanft zu ihr herunter. Sein Gesicht war nun nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt und sie konnte das selbstgefällige Grinsen auf seinen Lippen sehen. Der zitronige Duft, der von ihm ausging, legte sich über sie und verdrängte das Feuer. Eine sanfte Hand strich durch ihr Haar und hielt ihr Gesicht sanft fest.

„Braves Mädchen“, hauchte er ihr liebevoll entgegen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Sie war wieder allein in ihrem Verlies.

Sie wusste, dass sie diesen Schmerz nicht das letzte Mal gespürt hatte. Die Schwärze kroch zu ihr zurück und empfing sie sanft. Sie war ihr Erlöser und ihr Folterknecht. Sie ließ sie vergessen und schenkte ihr sanfte Erleichterung. Doch sie war auch der Grund, warum sie dazu verdammt war, denselben Schmerz immer und immer wieder zu spüren – jedes Mal, wenn sie aufwachte und die Augen wieder aufschlug. Aber für den Moment hatte sie genug gekämpft und sie gab sich dem Nichts hin.

1

Sie rollte sich auf das pickende Stroh zurück und ihr nackter Körper glänzte von dem feuchten Schweiß, der sich in einem dünnen Film über ihre Haut zog. Keuchend starrte sie an die Decke der kleinen Scheune und fragte sich, wie lange es die Höflichkeit vorgab, noch hier neben ihm liegen zu bleiben. Sie hörte sein Keuchen und spürte seinen Blick, der auf ihren kleinen Brüsten ruhte. Dann grinste er und drehte sich auf die Seite.

„Ich mag unsere kleinen Treffen hier sehr“, hauchte er und streckte die Hände nach ihr aus. Bevor er sie in seine Arme schließen konnte, stand sie rasch auf und schaute auf ihn herunter. Seine Brust hob und senkte sich schnell und auch sein Körper war von einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Das blonde Haar fiel ihm nass in die Stirn. Er rümpfte gekränkt die Nase, als er ins Leere griff und sie über sich stehen sah.

„Eila“, stöhnte er und rollte mit den Augen. „Es wird dich nicht umbringen, wenigstens noch ein paar Minuten bei mir zu bleiben.“ Sie zog sich ihre Hose wieder an und starrte ihn ausdruckslos an. Dann zuckte sie mit den Schultern und suchte nach ihrem Hemd auf dem Boden.

„Weißt du, du könntest ruhig mal ein Kleid zu unseren Treffen anziehen“, neckte er sie, als sie ihm nicht antwortete. Wütend drehte sie sich zu ihm und funkelte ihn an.

„Du könntest ruhig mal aufhören, mich zu beleidigen, nachdem ich mit dir geschlafen habe“, fauchte sie ihn an und zog sich ihr Hemd über den Kopf. Er ließ sich von ihrem Zorn nicht beeindrucken und erwiderte nur achselzuckend: „Ich meine ja nur, du könntest so hübsch aussehen in der richtigen Kleidung.“

„Könnte?“, zischte sie ihn an und ihre Lippen spitzten sich pikiert. Er lachte.

„Du weißt schon, wie ich das meine.“ Es waren halbherzig dahingesprochene Worte, die ihr keine Erklärung für seine Aussagen gaben. Dennoch wusste sie, was er meinte, und es stieß ihr sauer auf.

„Das weiß ich allerdings!“, knurrte sie ihn nur an und griff nach dem Korb mit Lebensmitteln, die sie auf dem Markt von den wenigen Talern gekauft hatte, die sie mit dem Verkauf des gepökelten Schweinefleischs verdient hatte. Er wälzte sich aus dem Stroh und fand seine Hose neben sich. Lässig streifte er sie über und knöpfte sie langsam zu. Dann vergrub er die Hände in den Hosentaschen und schaute zu ihr herüber.

„Naja, es sieht jedenfalls nicht so aus, als würdest du dich für etwas Besonderes herrichten“, flüsterte er dann und scharrte mit seinem Fuß auf dem Boden herum. Eila drehte sich zu ihm und schaute ihn überrascht an. Er sah beinahe verlegen aus. Sie ging einen Schritt auf ihn zu.

„Thomá“, erwiderte sie fest. „Ich komme nicht hierher, weil ich dich so sehr mag.“ Bei ihren Worten zuckte er kurz zusammen, grinste dann aber und fasste sich theatralisch an die Brust.

„Ist mein Charakter denn wirklich so unausstehlich?“, scherzte er und zwinkerte. Dennoch merkte Eila, dass ein Funken gekränkten Stolzes in seiner Stimme mitschwang.

„Daran liegt es nicht und das weißt du genau“, antwortete sie ihm. Er nickte und zog sich nun auch sein Hemd an. Sie begann ihre Worte zu bereuen, als sie ihn so sah, wie er sich schweigend anzog und sie nicht mehr anzuschauen traute.

„Hör zu“, begann sie dann und ihre Stimme klang nun sanfter.

„Ich treffe dich wirklich gerne hier, Thomá.“ Etwas widerwillig ließ sie sich wieder auf das Stroh sinken und klemmte ihre Hände unbeholfen zwischen ihren Beinen ein. Thomá setzte sich neben sie und legte seine Hand wie selbstverständlich auf ihren Oberschenkel. Sanft streichelte sein Daumen sie.

„Das weiß ich“, murmelte er grinsend und schien wieder ganz der Alte zu sein. Beinahe ärgerte Eila sich darüber, dass sie Mitleid mit ihm gehabt hatte. Doch ihre Konversation spiegelte die Art von Beziehung, die die beiden führten, in allen ihren Facetten wider. Eila bekam von ihm die wenigen Minuten Zeit, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren und etwas zu tun, was einzig allein ihr und ihren Bedürfnissen diente. Und genau diese wenigen Minuten ließen sie die Kraft schöpfen, um den restlichen Tag den Bedürfnissen von Oskar gerecht zu werden.

Im Gegenzug dazu wurde Thomás viel zu großes Ego von ihren Treffen herausgefordert und gepflegt. Die Konversationen, die er danach mit ihr anfing, dienten einzig und allein seiner Bestätigung. Eila fand diese Charaktereigenschaft widerlich, doch wusste genau, dass sie sich gegenseitig benutzten und ihm auch seinen Part zusprechen musste, damit sie ihn weiter in Anspruch nehmen konnte. Deswegen lächelte sie ihn jetzt zuckersüß an und legte ihre Hand auf seine. Thomá legte den Kopf schief und zog seine Hand unter ihrer weg. Vorsichtig berührten seine Finger die Narbe in ihrem Gesicht. Eila schlug ihn wütend weg.

„Du hast mir noch nie erzählt, wie du diese Narbe eigentlich bekommen hast“, sagte er fordernd.

„Das werde ich auch nicht!“ Ihre Worte waren hart und eiskalt.

Für sie war die Konversation damit beendet und sie stand wieder auf.

„Komm schon!“, lockte er sie süß. „Meinst du nicht, wir könnten wenigstens Freunde werden?“ Freunde. Das Wort hallte in ihrem Kopf wider. Sie hatte keine Freunde und sie konnte sich nicht vorstellen, wie eine Freundschaft mit ihr aussehen sollte. Vor ihrem inneren Auge sah sie unbeschwertes Lachen und wand sich bei dem Gedanken, dass sie ein Teil dieser Gelassenheit sein könnte. Ihre Ernsthaftigkeit würde eine Freundschaft mit ihr eher zu einer Last machen.

„Ich glaube nicht, dass du mit mir befreundet sein willst“, entgegnete sie ihm deswegen trocken. Er schnurrte herausgefordert und grinste sie breit an. Sie seufzte und musste mit aller Kraft ein Augenrollen zurückhalten.

„Bis nächste Woche!“, sagte sie dann und verschwand ohne einen weiteren Blick auf ihn aus der Scheune. Sie tauchte in die Menge ein und fragte sich wie jedes Mal, ob Thomá auch tatsächlich warten würde, bevor auch er die Scheune verließ, sodass niemand mitbekam, was genau die beiden eigentlich trieben. Doch sie hörte ihn hinter sich nicht und wand sich schnellen Schrittes durch die Menge ihren Weg.

Wegen des Marktes heute waren die Straßen von Karto voll und Eila musste sich Mühe geben, nicht mit ihr entgegenkommenden Menschen zusammen zu stoßen. Sie hasste es, wenn es auf den Straßen so überfüllt war und fühlte sich zwischen so vielen Menschen nicht wohl. Es kostete sie jedes Mal Überwindung, ihre kleine Hütte zu verlassen und sich unter die Menge zu mischen. Auch ihr Verkaufstalent hielt sich in Grenzen, weswegen sie sich immer über die wenigen Taler freute, die ihr die Menschen eher aus Mitleid für ihr Schweinefleisch zusteckten, als dass sie sie mit der Qualität ihrer Ware oder ihres Auftretens verdient hätte.

So schlich sie sich, sobald es möglich war, von den überfüllten Straßen auf die kleinen matschigen Pfade zwischen den weniger glorreichen Häusern, die schief aus dem Boden ragten. Zwar würde dieser Weg länger dauern, aber Eila spürte gleich, wie die Unbehaglichkeit von ihren Schultern fiel.

Betrübt schaute sie dann in den kleinen Korb mit Lebensmitteln, die sie auf dem Markt gekauft hatte. Die wenigen Kartoffeln darin würden ihnen kaum eine Woche reichen und das Gemüse sah beinahe aus wie Abfälle. Die Karotten wurden von einer schrumpeligen Schale überzogen und der Lauch ließ kraftlos die Blätter hängen. Zwar hatte es schon sehr viel schlimmere Ausbeuten gegeben, doch ihre Großmutter wäre hiermit sicherlich auch nicht zufrieden. Auch wenn ihre hämischen Worte und Spott Eila egal waren, störte es sie, dass Oskar ihren Hohn nicht einfach so abschütteln konnte. Schuldgefühle beschlichen sie wie jedes Mal, nachdem sie sich mit Thomá getroffen hatte. Die Zeit, die sie ihn mit ihrer Großmutter allein ließ, war für Oskar eine Qual und sie wusste, dass er die Sekunden zählte, bis sie wieder da war. Eila beschleunigte ihre Schritte und sah in der Ferne die kleine Hütte mit dem Strohdach, die sie ihr Zuhause nannte. Sie schritt den engen Kiesweg hoch zu der schweren Holztür, die den einzelnen Raum von der Außenwelt abschottete. Im Inneren hörte sie keine Geräusche.

Sie runzelte die Stirn und wunderte sich, dass ihre Großmutter nicht das Abendessen vorbereitete und sie die vertrauten Laute des Kochens durch die Tür vernehmen konnte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit und als sie die Klinke der Tür hinunterdrückte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.

Das sanfte Licht der Abenddämmerung legte sich wärmend auf ihren Rücken und würde bald durch die eisige Kälte der Nacht abgelöst werden. Der Übergang zum Herbst hatte diese warmen letzten Tage mit den eisigen Nächten hier an sich. Eila öffnete langsam die Tür und schlich sich in die Hütte. Der Gestank im Inneren verschlug ihr den Atem und sie erstarrte im Eingang.

Lange Sekunden konnte sie nichts anderes tun, als in die Mitte des Raumes zu starren. Dann wurde sie aus ihrer Trance gerissen und schlug die Tür hinter sich zu, um niemandem auf der Straße einen Blick zu gewähren. Der Korb mit den Lebensmitteln fiel herunter. Die Kartoffeln kullerten über den schiefen Holzboden und wurden von der Blutlache auf dem Boden ausgebremst.

„Verdammt Oskar, was hast du getan?“, entfuhr es ihr entsetzt, doch der Junge stand nur schweigend da. Er betrachtete entsetzt die Szene, die sich ihm darbot, als würde er aufrichtig nicht wissen, was hier passiert war. Doch das Blut, das ihn über und über benetzte, verriet Eila, dass er es war, der ihre Großmutter umgebracht hatte. Er stand mit weit aufgerissenen Augen über ihr und von seinen zitternden Händen tropfte das Blut auf den Boden. Seine Muskeln verkrampften sich. Die Kleidung, die von seinem dürren Körper hing, war schwer von der rubinroten Flüssigkeit, die sie tränkte. Das Shirt klebte an seiner Brust und verkrustete schon an einigen Stellen. Langsam drehte Oskar den Kopf und blickte sie an. Sein Gesicht zierten Tropfen und Linien aus Blut, die hier und da von fremden Fingern verschmiert worden waren. Lautlos liefen ihm Tränen über die verkrusteten Wangen und wuschen sich einen Weg über seine blasse Haut frei. Sein Körper schüttelte sich grotesk, als endlich das erste Schluchzen über seine Lippen kam. Sie wusste, dass er wieder bei Verstand war und mittlerweile realisiert hatte, was er vor wenigen Minuten noch getan hatte.

„Eila“, hauchte er gequält und bevor er zu Boden fallen konnte, machte sie zwei große Schritte auf ihn zu und fing seinen mageren Körper auf. Sein Gesicht vergrub sich an ihrer Schulter und dämpfte sein lautes Aufheulen. Ihre Hand legte sich an seinen Kopf und strich durch sein blutverklebtes Haar. Sie wagte es nicht, noch einmal ihren Blick auf ihre tote Großmutter zu lenken und schloss ihre Augen stattdessen. Ihre Gedanken rasten und während Oskar noch fassungslos war, dachte Eila schon darüber nach, wie sie den Leichnam ihrer Großmutter unbemerkt aus der Hütte schaffen konnte.

„Verdammt!“, fluchte sie dann noch einmal und Oskar hob schweigend den Kopf.

„Ich weiß nicht…“, setzte er heiser an. „Es tut mir leid.“ Eila schüttelte den Kopf. Das Fluchen hatte nicht ihm gegolten, sondern ihr selbst. Wäre sie nach dem Markt direkt nach Hause gekommen, hätte sie wahrscheinlich verhindern können, was passiert war. Schuldgefühle stiegen in ihr auf und die Bilder aus der Scheune liefen ihr wie eine Anklageschrift durch den Kopf.

„Mir tut es leid, Oskar“, flüsterte sie dann und legte eine Hand an seine Wange. Immer noch liefen ihm stumme Tränen über das Gesicht. Wie hatte sie das zulassen können? Ihre eigene Schuld schnürte ihr die Kehle zu und Schwindel machte sich in ihr breit.

Wenn sie sah, dass Oskar so sehr litt, dann hörte sie die Worte ihrer Mutter in ihren Ohren, die ihr das Versprechen abgerungen hatte, auf ihren Bruder aufzupassen. Eila hatte schon immer gewusst, wie man mit ihm umzugehen hatte, und sie überraschte es jedes Mal aufs Neue, wie schnell sie Grausamkeiten ausblenden konnte, wenn es um Oskar ging. Und als sie aufstand und ihm die Hand entgegenstreckte, existierte der grausam verrenkte und blutende Leichnam ihrer Großmutter nur noch im Hintergrund ihrer Gedanken, wenn sie darüber nachdachte, wie sie ihn loswerden konnte.

„Steh auf!“, flüsterte sie ihm sanft zu und ergriff seine Hand, als er keine Anstalten machte ihre ausgestreckten Finger selber zu nehmen. Widerwillig ließ sich Oskar von ihr hochziehen. Sie führte ihn weg von ihrer Großmutter und setzte ihn in eine Ecke des Raumes, sodass seine Augen die Szene in der Raummitte nicht mehr betrachten mussten.

„Es ist meine Schuld“, hauchte sie zärtlich und wischte ihm mit dem Daumen eine Träne von der Nasenspitze. Sein Atem ging schnell und flach und Eila sah ihm die Anstrengung an, die ihm seine Taten abgerungen hatten. Seine Muskeln zitterten nicht nur vor Entsetzen, sondern auch vor Erschöpfung.

„Wo warst du denn nur?“, fragte er mit so viel Verzweiflung in der Stimme, dass Eila schmerzhaft das Gesicht verzog. Obwohl in seiner Stimme kein Vorwurf lag, versetzten ihr seine Worte einen Stich. Ihre eigene Dummheit, zu denken, dass die wenigen Minuten mit Thomá nichts ändern würden, rächte sich an ihr und war der Grund für den Tod ihrer Großmutter und Oskars Leid.

„Es tut mir so leid“, flüsterte sie nur anstatt einer Antwort und legte liebevoll ihre Stirn an seine. Das Licht in der Hütte wurde immer spärlicher, als sich die Sonne immer weiter senkte und Eila wusste, dass sie diese Nacht dafür nutzen musste, um in der Hütte wieder Ordnung zu schaffen. Doch gerade als sie damit beginnen wollte, klopfte es an der Tür. Panisch fuhr sie herum und schaute sich nach einer Möglichkeit um, zu verschwinden.

Doch die gab es nicht. Als eine Faust erneut gegen die Tür hämmerte, legte sie Oskar eine Hand über den schluchzenden Mund und zerrte ihn mit sich in die dunkelste Ecke des Raumes.

Dann flog die Tür krachend auf.

2

Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und war beinahe überrascht, dass die Tür nachgab. Ein letztes Mal schaute er sich um und, als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, schlüpfte er durch die Tür. Als er sie hinter sich schloss, würgte er. Der beißende Geruch von geronnenem Blut und Urin stieg ihm in die Nase. Mühsam schluckte er das Erbrochene in seinem Mund herunter und presste sich erneut den Saum seines Mantels vor Mund und Nase. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das spärliche Licht in dem Zimmer gewöhnt hatten. Es schenkte ihm genug Sicht, um das grausame Spektakel vor sich erkennen zu können. Vor Schreck trat er wieder einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken an die Holztür. Er wandte sich von dem Horror in der Raummitte ab. Als er seinen Atem wieder reguliert hatte, drehte er sich langsam um und betrachtete zögernd die Szene, die sich ihm darbot. Er trat einen Schritt an die alte Frau heran, die grotesk verdreht in der Raummitte lag, und hockte sich neben sie. Mit der anderen Hand suchte er am Hals der Frau nach einem Puls – vergebens. Nicht, dass ihn das überrascht hätte.

Die Greisin lag in einer Lache ihres eigenen Blutes, das ihr Gesicht und ihren Torso verkrustete. Er betrachtete ihr verzerrtes Gesicht und wusste, dass sie mit einem Schmerzensschrei auf den Lippen verstorben war. Er ließ seinen Blick von ihrer schaurigen Grimasse weiter zu ihrem Hals und Brustkorb wandern. Ihr Körper war von so vielen Stichwunden übersät, dass Kyro sich nicht die Mühe machte, sie zu zählen. In einer der Wunden steckte ein geschwungenes Kräutermesser. Er zog die sichelförmige Klinge aus dem Körper der alten Frau und hörte das Schmatzen der Wunde, als sich die Haut wieder zusammenzog. Wieder musste er den Würgereiz unterdrücken, um sich nicht zu übergeben.

„Ich hasse Blut“, murmelte er und untersuchte den leblosen Körper weiter. Ihre Kleidung war von den Stichen restlos zerfetzt worden, sodass nur noch Fäden die Lumpenteile zusammenhielten. Er hob den schlaffen Arm der Frau an und hielt sie an ihrer Hand fest.

„Verdammt“, zischte er fluchend und ließ die Hand los.

Platschend fiel sie zurück in die Blutlache. Eine grausige Geruchswelle schlug zu ihm hinauf und er konnte das Eisen schwer auf seiner Zunge schmecken. Er schaffte es gerade noch, sich von der Frau abzuwenden, und erbrach sich dann lautlos vor den Eingang der Hütte. Erschrocken wirbelte er herum, als er ein Hüsteln aus der hintersten Ecke des Raumes vernahm.

„Wer ist da?“, knurrte er und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Zwei weit aufgerissene eisblaue Augen starrten ihn panisch an. Das Gesicht, zu dem sie gehörten, war ebenfalls benetzt mit geronnenem Blut. Es klebte die Strähnen hellbraunen Haares fest an die Stirn des Jungen. Alles in diesem Gesicht schien ihn anzuschreien, zu flehen und zu verzweifeln.

Doch bis auf das Hüsteln hatte er nichts gehört, da sich eine fremde Hand fest auf den Mund presste. Sein Blick wanderte höher und er bemerkte, dass hinter dem blassen Jungen eine Frau hockte, die das Kind mit einer Hand fest an sich drückte und mit der anderen den Mund des Jungen verschlossen hielt. Er betrachtete noch einmal die alte Frau in der Raummitte und verstand sofort.

„Du wirst ihn noch ersticken“, flüsterte er sanft in die Dämmerung hinein. In ihrem Gesicht sah er Überraschung über seine beinahe liebevollen Worte. Sie lockerte ihren Griff leicht, nahm ihre Hand jedoch nicht vom Mund des Jungen. Vorsichtig presste sie sich und das Kind, soweit es ging, an die kalten Wände der Hütte.

„Wie heißt du?“, fragte er und machte einen Schritt auf die beiden zu. Er stand jetzt mit seinen Stiefeln in der Blutlache.

Seine Nase kräuselte sich vor Ekel, als er es riechen konnte.

Doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, um sich zu beherrschen, dann sah er den Jungen und die Frau wieder an.

Aber sie regte sich nicht und machte keine Anstalten, ihm zu antworten. Er musste sie irgendwie dazu bringen, den Jungen loszulassen. Die Frau hatte genauso blaue Augen wie der Junge und auch ihr Haar fiel ihr ebenso braun ins Gesicht. Aufgrund des Altersunterschieds vermutete er, dass die beiden Geschwister waren.

„Hat dein Bruder das getan?“, versuchte er es erneut und deutete auf die Greisin. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich noch weiter.

Sie schien zu hadern, war sich nicht sicher, ob es clever war, ihm zu antworten oder weiter zu schweigen.

„Was weißt du denn schon?“, zischte sie dann so leise und so misstrauisch, dass er sie kaum verstehen konnte. Doch in dem Moment, in dem sie sprach, zog etwas unwiderruflich an seinem Herzen und er erschrak vor diesem vertrauten und doch fremden Gefühl, das sie in ihm auslöste. Es war, als würde ihre Stimme etwas tief in seinem Inneren rufen, das zu ihm gehörte, aber doch nicht seins war. Kurz schluckte er und ignorierte die Wärme, die sich in seinen Adern ausbreitete. Die Wärme, die ihm sagte, dass er ihr vertrauen konnte.

„Du kannst ihn jetzt loslassen“, hauchte er und deutete auf ihre Hände, die das Kind immer noch fest umklammerten. Sie beugte sich zögernd vor und schaute in das Gesicht ihres Bruders. Als sie sah, dass seine Augen nicht mehr panisch aufgerissen waren und sein Mund keinen Schrei mehr kundtun wollte, ließ sie langsam ihre Hand sinken. Die Lippen des Jungen waren noch immer geöffnet, doch kein Laut entwich ihnen. Er saß starr und regungslos da. Sein Blick haftete immer noch auf der Greisin und der Panik war Entsetzen gewichen.

„Wie heißt du?“, fragte er jetzt an den Jungen gewandt.

„Sprich nicht mit ihm!“, fauchte die Frau und funkelte ihn mit ihren eisblauen Augen böse an.

„Warum nicht?“ Die Neugierde in seiner Stimme war echt. Die beiden faszinierten ihn und das Band, das zwischen ihnen war, war beeindruckend stark – das konnte er fühlen. Zu schade!

Seine Frage stand eine Weile zwischen ihnen, da sie ihm nicht sofort antwortete. Doch er wartete geduldig und betrachtete die Frau, wie sie über seine Worte nachdachte. Ihre Brauen zogen sich tief in ihrem Gesicht zusammen und ihre eisblauen Augen musterten ihn skeptisch. In ihnen lag eine Kälte, die ihm einen Schauer den Rücken hinab schickte und dennoch hielt sich das Gefühl der Wärme in seinem Bauch. Leicht legte er den Kopf schief und ein sanftes Lächeln erschien auf seinen Lippen. Doch bei seiner Reaktion auf sie legte die Frau den Kopf schief und presste den Jungen wieder näher an ihren Körper. Sie leckte sich über die trockenen Lippen und presste sie dann zu einer schmalen Linie zusammen. Vorsichtig beugte sie sich nach vorn und betrachtete ihren Bruder. Ihre Augen wurden mit einem Mal sanfter und die Kälte schien zumindest teilweise zu verschwinden. Er betrachtete die beiden Geschwister fasziniert und erkannte die Sorge in ihrem Ausdruck. Sie wusste von seinem Zustand. Doch dennoch lag in ihrem Blick wieder Abscheu und Skepsis, als sie ihn wieder von ihrem Bruder abwandte und ihn betrachtete.

„Was willst du von uns?“, fragte sie dann mit seltsam ruhiger Stimme. Er ging einen Schritt auf die beiden Geschwister zu und das Lächeln in seinem Gesicht wurde noch sanfter. Mit einem Finger deutete er auf den Jungen in ihren Armen und streckte dann die Hand nach ihm aus.

„Lass mich deinen Bruder mitnehmen“, beantwortete er dann ihre Frage langsam und versuchte, sie mit seiner Forderung nicht zu schockieren. Doch obwohl er sich sicher war, dass sie ihn verstanden hatte, stand Unverständnis in ihrem Gesicht und sie starrte ihn aus leeren Augen an.

„Was?“

Er wiederholte seine Antwort in dem gleichen ruhigen Tonfall wie zuvor, obwohl er wusste, dass dies nicht notwendig war. Die Frau vor ihm schindete Zeit. Ihre Augen suchten den Raum nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Überrascht hob er seine Brauen und beobachtete sie dabei, wie sie die Tür hinter ihm musterte und dann ihren Blick zu dem geschlossenen Fenster über den beiden legte. Doch sie schien mit den beiden Optionen nicht zufrieden zu sein. Clever! Beide Fluchtwege konnte er binnen Sekunden abschirmen und dabei den Jungen an sich bringen. Aber dennoch bewunderte er, dass sie überhaupt nach einem Ausweg suchte. Es war nicht das erste Mal, dass er jemanden aus seinem Zuhause riss, doch es war das erste Mal, dass seine Angehörigen so sehr darum kämpften, ihn zu behalten.

„Warum willst du ihn mitnehmen?“, fragte sie, obwohl sie nicht das geringste Interesse an seinen Motiven zeigte. Aber er ließ sich darauf ein und runzelte die Stirn, während er nach einer Antwort suchte. Dann fiel sein Blick auf die tote Greisin in der Mitte des Raumes.

„Schau dich um!“, fordert er sie auf. „Du bist mit ihm überfordert.“

Die Frau zog die Augenbrauen zusammen und schnaubte ein verächtliches Lachen in den Raum hinein. Scheinbar hatten seine Worte nicht die Wirkung gehabt, die er sich erhofft hatte. Er war nur einen kurzen Moment verwirrt darüber, dass diese Begegnung mit den Familien seiner Entführungsopfer so gänzlich anders verlief als all die anderen. Dann kräuselte ein Lächeln seine Lippen und er dachte für einen einzigen Augenblick, dass er verstand, warum die Wärme in seinem Körper ihm zeigte, dass er ihr vertrauen konnte.

„Lass mich raten!“, spottete sie dann. „Bei dir würde es ihm besser gehen?“ Selbst wenn er den Hohn in ihrer Stimme bemerkte, ließ er sich dies nicht anmerken. Seine Stimme blieb ruhig und gelassen, als er aus tiefer Überzeugung sagte: „Das würde es tatsächlich.“

Mit seinen Worten kam er noch einen Schritt auf die beiden zu.

„Du kennst ihn doch gar nicht“, erwiderte sie und klang dabei nicht einmal vorwurfsvoll. Er schien sie genauso zu faszinieren, wie sie ihn, denn in ihrer Stimme lag aufrichtige Verwunderung über seine Worte.

„Ich weiß mehr über ihn als du“, flüsterte er und log sie damit zwar nicht an, aber er enthielt ihr auch einen Teil der Wahrheit, den sie über ihren Bruder noch nicht kannte. Die Wahrheit über seine Krankheit, über seinen Zustand und seine Wutausbrüche, die in eben dem Massakar enden konnten wie das auf dem Boden hinter ihm. Die Frau schluckte mühsam und räusperte sich geräuschlos. Sie verengte die Augen zu Schlitzen. Die Überraschung und Bewunderung wich aus ihrem Gesicht und machte Platz für eisigen Zorn, der ihm aus ihren Augen entgegen flackerte. Ihre Nasenflügel weiteten sich unter ihren schnaubenden Atemzügen und auf ihrer Stirn standen Falten der Wut. Wäre er sich nicht bewusst gewesen, was er ihr antun würde, hätte ihr Ausdruck ihm beinahe ein Kichern entlockt, so unwiderstehlich niedlich sah die drohende Haltung der zierlichen Frau aus.

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“, fauchte sie bedrohlich und gerade als er ihr auf die rhetorische Frage eine Antwort geben wollte, sprach sie weiter. „Du platzt einfach hier herein, untersuchst den Leichnam meiner Großmutter und hast jetzt die Dreistigkeit zu behaupten, dass du meinen Bruder besser kennst als ich?!“

Er hielt seinen Blick starr auf das Gesicht der Frau gerichtet, doch erkannte in seinem Augenwinkel die Bewegung ihres Arms, der hinter ihrem Rücken nach etwas tastete. Ein Hauch eines überlegenen Grinsens kräuselte ihre Lippen, als sich ihre Hand scheinbar um das schloss, wonach sie gesucht hatte. Aber was sie nicht wissen konnte, war, dass er Angriffe gewohnt war und eine kleine Frau, die mit einer Waffe in ihrer Hand auf ihn losging, nichts war, womit er nicht mit Leichtigkeit umgehen konnte. Es überraschte ihn jedoch, dass sie keine Anstalten machte, ihn anzugreifen. So lächelte er sanft.

„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen“, entschuldigte er sich und dann schwieg er. Lediglich sein Blick ruhte noch auf ihr und verweilte dort, während er hoffte, er könnte sie mit der Gutmütigkeit in seinen Augen überzeugen. Doch ihr Gesichtsausdruck blieb hart und sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Ich überlasse dir meinen Bruder nicht!“, schnaubte sie und schob den mageren Körper des Jungen sanft hinter sich. Er war eingeschlafen und bemerkte von der Auseinandersetzung seiner Schwester und dem fremden Eindringling nichts. Die Frau hockte nun vor ihrem Bruder und konnte jeden Moment aufspringen, um auf ihn zuzustürmen. Doch er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Lange konnte er nicht mehr hier bleiben.

„Es tut mir leid“, flüsterte er aufrichtig. In drei schnellen und großen Schritten stand er vor ihr und packte sie am Arm. Doch anstatt sich von ihm hochziehen zu lassen, sprang sie ihm entgegen und spuckte ihm ins Gesicht. Ihr Arm verdrehte sich schmerzhaft und er ließ sie los. Perplex schaute er ihr in die Augen, die so sehr loderten vor Überzeugung und Willenskraft, dass es ihn beeindruckte. Ihre Wangenknochen schauten spitz hervor und auf der linken Seite ihres Gesichts zog sich eine lange gezackte Narbe von ihrem Augenwinkel bis zum Kieferknochen herunter. Man konnte ihr ansehen, dass sie schlecht verheilt war und deswegen nun für immer gut sichtbar in ihrem Gesicht prangen würde. Während er weiterhin ihre Narbe fixierte, schloss sie ihre freie Hand zu einer Faust und rammte ihre Knöchel in seinen Bauch, während sie mit der anderen Hand ausholte, um ihm das Messer in die Seite zu stechen. Doch schon beim Schlag in seinen Bauch regte er sich kaum und es war beinahe lächerlich, wie wenig Kraft in ihrem abgemagerten Körper steckte. Aber er bewunderte ihre Taktik hinter ihrem Angriff. Es war clever, ihn mit einem Schlag in die Magengrube von dem Messer ablenken zu wollen, dass ihm nun entgegen schnellte.

Aber er ließ der Klinge seine Hand entgegenschnellen. Plötzlich brannte es. Ihre Augen weiteten sich, als die glühend heiße Flamme die Härchen ihrer Haut knisternd verglimmen ließen.

Doch das Feuer galt nicht ihr. Er widmete den heißesten Punkt dem Messer in ihrer Hand und als er seine Finger um die Klinge schloss, verbog sie sich und schmolz unter der Hitze, die er ausstrahlte. Ihre Waffe war unbrauchbar.

„Nein!“, schrie sie ihm ihren Frust entgegen und versenkte ihre Faust erneut in seiner Magengrube. Als er sich wieder nicht regte, verweilte ihre Hand an seinem Bauch, bis er auch ihren zweiten Arm packte und festhielt. Langsam öffnete sie ihre Faust um das Messer herum und die unbrauchbare Klinge fiel mit einem Klirren auf den Boden und zerbarst.

„Was bist du?“, spie sie ihm entgegen, obwohl er es ihr eindeutig gezeigt hatte. In ihren Augen loderte Hass. Er schnaubte verächtlich bei ihren Worten und hatte sie mit einer schnellen Bewegung herumgeschleudert, sodass sie nicht mehr zwischen ihm und dem Jungen stand. Sie wirbelte herum, griff nach seinem Mantel und zerrte an ihm, riss und zog, doch er bewegte sich kein Stück. Wie ein lästiges Tier wischte er ihre Hände von seiner Jacke und sie taumelte zu Boden. Er bückte sich herunter zu ihrem Bruder, der immer noch schlafend in der Ecke des Zimmers saß. Behutsam schob er seine Arme unter seinen Körper und hob ihn auf. In diesem Moment hatte sich seine Schwester wieder gefangen und stand hinter ihm. Sie schlang verzweifelt ihre Arme um seine Taille und hielt sich an ihm fest.

Mit all ihrem Gewicht versuchte sie, ihn herunterzuziehen und aufzuhalten. Genervt schnaubte er und legte sich den Jungen über die Schulter, während sie an ihm riss und schrie und zerrte. Mit seiner nun freien Hand packte er ihren Kopf und schob sie von sich weg. Dann zwang er ihren Blick nach oben und er schaute sie mit seinen kohlrabenschwarzen Augen direkt an.

„Ich bin Kyro. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen“, verabschiedete er sich lächelnd und sie starrte ihn perplex an.

„Nein“, stotterte sie dann und Tränen standen in ihren Augen.

Mit ihrem Bruder über der Schulter machte er einen schnellen Satz nach hinten und drehte sich um.

„Nein!“, brüllte sie ihnen hinterher. „Oskar!“ Er hörte, wie sie hinter ihm her stolperte und dann, wie ihr Körper mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkam. Noch einmal drehte er sich zu ihr um. Sie war in der Blutlache ihrer eigenen Großmutter ausgerutscht und schaute verzweifelt zu ihm auf.

Tränen rannen von ihrem Gesicht, die sich mit den Spritzern des Blutes vermischten und in hellroten Spuren von ihrem Kinn tropften. Ihr Anblick hätte ihn beinahe umgestimmt. Er verharrte in dem Eingang zur Hütte und beobachtete, wie sie kraftlos eine Hand nach ihm ausstreckte und den Kopf schüttelte.

„Nein…“, flüsterte sie und schluchzte, als er sich wieder umdrehte und durch die Tür verschwand. Als sie ins Schloss fiel, hörte er ihr Schreien und der Schmerz, den er in ihrem heiseren Brüllen hörte, lief ihm eiskalt durch die Adern. Auch wenn er das Richtige tat, würde es eine Weile dauern, bis er diese Begegnung aus seinen Erinnerungen verdrängen konnte.

3

Eila hatte ihn verloren. Sie hatte Oskar verloren und der Schmerz zerriss sie. Weinend und windend lag sie auf dem Boden und wartete darauf, dass der Verlust sie auffraß und sie sterben würde. Doch es geschah nichts. Sie existierte weiter und als sie erkannte, dass sie nicht weiter untätig herumliegen konnte, richtete Eila sich wieder auf und sah sich in dem leeren Raum um. Sie betrachtete ihre blutgetränkte Kleidung und dann die Greisin in der Zimmermitte. Erneut stiegen Tränen in ihr auf.

Doch sie vergoss sie nicht für ihre Großmutter, die Oskars Leben mit ihrem Aberglauben und Jähzorn noch schwieriger gemacht hatte, sondern aus Wut über ihre Unfähigkeit. Dass sie auch nur einen Moment gedacht hatte, den Fremden mit einem so einfachen Trick hatte angreifen zu können. Hatte sie überhaupt eine Chance gegen ihn gehabt? Der Gedanke, nicht zu wissen, was nun mit Oskar passieren würde, bereitete ihr eine solche Panik, dass es ihr die Brust zuschnürte, wenn sie längere Zeit darüber nachdachte. Leise schlich sie zu dem einzigen Fenster des Raumes, welches die weiten Wiesen hinter der Hütte überblickte, und kauerte sich darunter. Vorsichtig wagte sie einen Blick hinaus und konnte einen großen Schemen in der Dunkelheit erkennen, der sich Richtung Wald bewegte. Das mussten sie sein.

In diesem Moment verkrampfte sie ihren Kiefer in Entschlossenheit und wusste, dass ihre einzige Möglichkeit war, ihnen zu folgen. Irgendwann musste der Fremde mit dem seltsam klingenden Namen schlafen und dann konnte sie mit Oskar fliehen. Vorsichtig hob sie einen umgestoßenen Stuhl auf und ließ sich darauf sinken. Diesmal wollte sie ihren Plan besser durchdenken als den Angriff, den sie gegen Kyro unternommen hatte. Ihnen in der Dunkelheit über die offenen Weiden zu folgen, wäre ohnehin töricht gewesen. Wenn sie im Morgengrauen die ersten Bäume des Waldes erreichten, würde sie aufbrechen und am Rande der Weiden zu den Wäldern schleichen. Die Bäume mochten die Sicht auf sie verbergen, doch genauso verdeckten sie auch Kyro die Sicht auf die Wiesen.

Eila musste darauf hoffen, dass er bald, nachdem er den Wald erreicht hatte, eine Pause einlegte, da sie ihn ansonsten womöglich für immer aus den Augen verlieren würde. Dann müsste sie wahllos durch den Wald irren und darauf hoffen, Oskar irgendwann wiederzufinden. Doch daran konnte sie in ihrer Verzweiflung jetzt nicht denken. Sie klammerte sich an diesen Funken Hoffnung. Hektisch stand sie vom Stuhl auf, fühlte sich rastlos und tigerte von einer Wand zur anderen. Dann zog sie sich die blutige Kleidung aus und warf sich ein altes Hemd und Hosen in Erdtönen über. Ihre hellbraunen Haare flocht sie zu einem Zopf in ihrem Nacken zusammen. Bewusst verzichtete sie auf jegliches Gepäck, das sie ohnehin nur verlangsamen würde. Lediglich das geschwungene Kräutermesser hatte sie sich in den Gürtel gesteckt. Und dann wartete sie. Die Minuten krochen und mit jeder vergangenen Stunde wurde Eila ungeduldiger. Noch immer kauerte sie unter dem Fenster, sodass sie immer wieder einen Blick auf den stetig kleiner werdenden Schemen werfen konnte, um sich zu vergewissern, dass sie wusste, wo sie in der Dämmerung hingehen musste. Und als endlich die ersten Sonnenstrahlen auf die Weide fielen und den Tau auf den Grashalmen in goldenes Licht tauchten, schaute sie sich noch einmal die Gestalt an, die nun den Saum des Waldes erreicht hatte. Er verschwand zwischen den ersten Bäumen, als Eila sich Schal und Mantel anzog, und dann aus der Tür stob. Behutsam zog sie sie zu. Denn auch wenn jemand erkennen würde, was in der Hütte passiert war und man sie noch am Horizont erkennen konnte, würde sie sich und Oskar in Gefahr bringen. So gelassen, wie sie konnte, schlenderte sie den Weg hinunter zur Straße und schluckte, als sie zwei Soldaten in roten Hemden auf sich zukommen sah. Eila schloss die Augen und atmete tief durch. Dann senkte sie ehrfürchtig den Blick und blieb am Straßenrand stehen. So musste sie warten, bis die Soldaten an ihr vorbeigegangen waren und sie sie nicht mehr mit ihrer unwürdigen Anwesenheit stören konnte. Doch die Soldaten gingen nicht an ihr vorbei. Direkt vor ihr hielten sie an und musterten abschätzig ihre Kleidung. Eila knickste vornehm und hielt ihren Blick weiterhin gesenkt.

„Schau mich an!“, befahl einer der Soldaten streng und Eila gehorchte. Sie hob ihren Blick und versuchte, so emotionslos in das Gesicht des Soldaten zu blicken, wie sie konnte. Allerdings war sie sich schmerzlich bewusst, dass jedes Wort, das sie mit ihnen wechseln musste, sie wertvolle Minuten kostete. Sie spürte den entsetzten Blick der beiden Männer, die ungeniert auf ihre Narbe gafften.

„Was ist mit dir geschehen?“, fragte der Andere entsetzt.

„Eine Kindheitsverletzung, mein Herr.“ Ihre Stimme war untertänig gesenkt und sie versuchte, das Zittern ihrer Glieder zu unterdrücken. Genauso schnell wie das Entsetzen in die Augen der Männer getreten war, verschwand es auch wieder und Gleichgültigkeit legte sich in ihre Blicke.

„Wie dem auch sei“, erwiderte der Soldat mitleidslos. „Hast du einen Mann gesehen, der in der Nacht hier vorbeigekommen ist?“ Eila knickste noch einmal vornehm.

„Es tut mir leid, aber in diese Gegend verirren sich des Öfteren Männer, die für Euch von Interesse sein könnten. Könntet Ihr genauer sagen, wen Ihr sucht?“ Eilas Stimme säuselte höflich und schmeichelte dem Rang der Männer, wie es die gesellschaftliche Hierarchie von ihr verlangte.

„Er trägt einen dunkelgrauen Mantel, schwarzes schulterlanges Haar und hat Augen wie Kohlen“, antwortete ihr der erste Soldat nun wieder schroff. Eila atmete tief ein und hoffte, dass ihre Lüge nicht auffallen würde. Sie wusste, dass die Soldaten Oskar niemals finden durften und ihr deswegen keine Hilfe sein konnten. Im Gegenteil musste sie die beiden so weit wie möglich von Kyro und Oskar fernhalten. Wieder musste sie schlucken, dann nickte sie sacht.

„Wohin ist er gegangen?“, raunte der erste Soldat unwirsch und trat bedrohlich einen Schritt an sie heran. Eila musste nicht eingeschüchtert tun, um verunsichert zu wirken. Sie war nervös, hatte Angst, dass sie bemerkten, dass sie log. Vorsichtig hob sie einen zitternden Finger und zeigte in die entgegengesetzte Richtung des Waldes.

„Bist du dir sicher?“, fragte der Soldat und stand nun so nah an ihr, dass sie seine Worte an ihrem Ohr spüren konnte. Eila wurde stocksteif und traute sich nicht, ihren Finger wieder zu senken.

Stattdessen schloss sie die Augen und nickte sanft. Der Knoten in ihrem Bauch zog sich enger zusammen, als der Geruch von Schweiß ihr in die Nase stieg. Bitte! Er sollte einfach wieder verschwinden! Nach einer gefühlten Ewigkeit entfernte sich der Soldat wieder von ihr. Ihre Muskeln entspannten sich und sie ließ langsam ihren Arm sinken.

„Danke“, brummte der zweite Soldat leise. „Gott segne dich, mein Kind.“ Bei dem Abschiedsgruß zogen sich Eilas Eingeweide zusammen. Ihre heuchlerischen Segensgrüße hätten nicht zum ersten Mal ihre Gesichtszüge entgleisen lassen. Doch diesmal schaffte sie es, sich zu beherrschen, und hauchte stattdessen zuckersüß: „Gott segne unser glorreiches Heer.“

Dann knickste sie ein letztes Mal und senkte den Blick starr auf ihre Füße. Sie hörte, wie sich die Soldaten von ihr entfernten und schaute ihnen nur für einen Augenblick hinterher. Als sie zwischen den Häuserreihen des Dorfes verschwanden, drehte sich Eila um und rannte auf die Wiesen zu. Bei ihrem ersten Schritt versank ihr Stiefel beinahe komplett in der matschigen Erde und sie erkannte, dass ihr Weg schwieriger werden würde, als sie erwartet hatte. Mühsam zog sie ihren Schuh wieder aus dem Morast und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an den anderen Untergrund gewöhnt hatte und die Stellen erkennen konnte, an denen sie einsinken würde. Dann konnte Eila nach und nach ihr Tempo erhöhen, schritt immer schneller auf die Bäume zu, die sich immer noch in weiter Ferne vor ihr gen Himmel reckten.

Schließlich rannte sie, rannte und rannte, bis ihre Lungen brannten und die eisige Luft ihr die Atemwege zu verätzen schien. Während ihres Laufes hatte sie den Wald nicht aus den Augen gelassen und sich an die immer näherkommenden Stämme geklammert, als würden sie nur dort stehen, um sie anzufeuern, weiter zu rennen. Ihre Pupillen fixierten den Punkt, an dem der Fremde mit Oskar im Wald verschwunden war, damit sie sie nicht aus den Augen verlor, obwohl sie ihrem Blick schon längst entkommen waren.

Als ihre Finger endlich über die raue Rinde der ersten Bäume streichen konnten, sackte Eila in sich zusammen und stützte ihre andere Hand auf ihren Oberschenkel. Sie schnaubte und die Luft in ihren Lungen fühlte sich an wie Gift, das sich langsam, aber sicher in ihrem Körper ausbreitete. Von ihrer Unterlippe rann Speichel ihr Kinn herunter und sie musste an sich halten, sich nicht auf den Boden vor ihren Füßen zu erbrechen. Ein letztes Mal drehte sie sich um und sah ihre kleine Hütte weit am Horizont in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht – ein wundersam schöner Abschied eines Lebens voller Trauer, Angst und Sorge.

Dann verschwand sie immer noch keuchend in den Wald. Ihr Ziel hatte sie erreicht und war von nun an auf ihr Glück angewiesen. Die Realität, dass es sehr viel wahrscheinlicher war, dass sie Oskar und Kyro nicht finden und einholen konnte, schnürte ihr die Kehle zu und trieb eine Enge in ihre Brust, die ihr das Herz zu zerquetschen drohte. Eila zwang sich und ihren Körper zur Ruhe und blickte sich in dem Wald um. Das Laub zu ihren Füßen raschelte leicht und bewegte sich als wäre es ein Lebewesen für sich. Aus ihm ragten die Bäume empor und standen dicht beieinander. Ihre Blätter waren tiefgrün und die Kronen so dicht, dass sie kein Licht durchscheinen ließen. Eila roch die modrige Feuchte des Mooses unter ihren Füßen und den herben Duft des Holzes. Und gleichzeitig spürte sie etwas Bedrohliches, wusste, dass sie nie ganz allein sein würde in diesem Gehölz.

Wahllos schritt sie weiter nach vorn, da sie vermutlich wieder umgekehrt wäre, wenn sie sich noch länger an einer Stelle aufhielt. Vorsichtig lief sie im Slalom um die verschiedenen Stämme der Bäume. Unter anderen Umständen hätte sie die unterschiedliche Beschaffenheit der Rinde wahrscheinlich fasziniert, hätte über die rauen, glatten und rissigen Hölzer gestrichen und sich die Fasern genauer angesehen. Doch jetzt konnte sie nur daran denken, Oskar möglichst schnell wiederzufinden und aus den Fängen des seltsamen Fremden zu befreien.

4

Müdigkeit schlich in Kyros Knochen und er schaute sich zum Waldrand um, um abschätzen zu können, ob er schon weit genug von der Wiese weggelaufen war, um eine Pause zu machen. Er brauchte einen ruhigen Moment, bevor der Junge in seinen Armen aufwachte, sodass er ihm seine Situation erklären konnte.

In den vergangenen Minuten hatte sich das Kind immer öfter in seinen Armen geräkelt und Kyro glaubte, dass es keine gute Idee war, ihn in seinen Armen wach werden zu lassen. Ein weiteres Stöhnen entwich dem Jungen und seine Finger krallten sich schmerzhaft in Kyros Arm. Er konnte nicht länger warten. Neben einer großen Fichte setzte er sich auf den Boden und legte den Jungen sanft vor sich. Einige der Zapfen waren schon zu Boden gefallen und lagen dort teilweise von Tieren angenagt auf der Erde. Andere streckten ihre Köpfe noch nach oben und sehnten sich nach den letzten Sonnenstrahlen des Herbstes. Doch sie würden sie hier nie erreichen.

Bewusst verzichtete Kyro auf ein Feuer und legte stattdessen seine rechte Hand auf die Taille des Jungen. Die Wärme fuhr in Oskars Körper und er stöhnte wohlig auf. Anspannung machte sich in Kyro breit, als er merkte, dass der Junge begann aufzuwachen. Er hatte dieses Gespräch schon viele Male führen müssen, doch nie wurde es leichter. Besonders der Teil, bei dem er erklären musste, dass die Familien der neuen Hüter sie bereitwillig hatten gehen lassen, fiel ihm am schwersten. Doch dieses Mal war es anders gewesen und diesem Kind sagen zu müssen, dass er seine Schwester zurückgelassen hatte, bereitete ihm noch größeres Unbehagen. Langsam öffnete der Junge seine Augen und nach anfänglichem Zögern schaute er sich schläfrig um. Dann riss er seine Augen panisch auf und kroch rückwärts von Kyro weg. Das Laub und die Äste knackten unter Oskar und er verlor das Gleichgewicht, sodass er nach hinten umfiel.

„Eila“, keuchte er ängstlich und saß mit einem Ruck senkrecht auf dem Waldboden. Hektisch zuckte sein Blick über die Bäume und blieb dann erschrocken an Kyro haften. Seine Augen weiteten sich und unbeholfen stieß er sich mit seinen Händen abermals einige Meter nach hinten. Kyro wartete seine Reaktion geduldig ab. Alle bisherigen Versuche, die von ihm abgeholten Personen, zu beruhigen und ihnen zu versichern, dass sie keine Angst zu haben brauchten, waren erfolglos geblieben. Kyro hatte gelernt, dass es leichter war, die Reaktion der Betroffenen einfach abzuwarten. Oskar starrte weiterhin auf den fremden Mann und seine Miene entspannte sich etwas. Dann zog der Junge verwirrt die Brauen zusammen und runzelte die Stirn.

Kyro lächelte geduldig und ließ Oskar Zeit, all die Emotionen zu durchlaufen, die ihn quälen mussten. Panik, Verwirrung, Trauer und eine seltsame Ruhe. Kyro kannte diese Gefühle selbst sehr gut. So wartete er geduldig, bis Oskars Augen ruhig auf ihm lagen und er keine Anstalten mehr zeigte, weiter vor ihm zurückzuschrecken.

„Ich bin Kyro“, stellte er sich dann höflich vor und lächelte gelassen, aber in seinem Inneren war keine Gelassenheit mehr übrig. Oskars Augen verengten sich zu Schlitzen und er musterte ihn argwöhnisch.

„Hallo?“, fragte er schließlich zögerlich und kroch langsam weiter rückwärts. Kyro lachte liebevoll und ließ seinen Blick weiterhin auf ihm ruhen.

„Wie heißt du?“, fragte er dann und Oskar schüttelte den Kopf.

„Das möchte ich lieber nicht sagen“, flüsterte er und betrachtete die Blätter, die auf dem Waldboden tanzten. Kyro lächelte sanft.

„Weil sie das nicht möchte?“, wollte er behutsam wissen und Oskar zuckte zur Antwort mit den Schultern.

„Sie wird einen Grund haben.“

„Ich weiß, wie das ist, von jemandem abhängig zu sein. Aber du kannst jetzt auf dich selbst vertrauen“, ermutigte Kyro ihn vorsichtig. „Was sagen dir deine Instinkte? Wäre es schädlich, mir zu antworten?“ Er wusste, dass das Element in Oskar mit seinem kommunizieren würde und Oskar in seinem tiefsten Unterbewusstsein das Bedürfnis hatte, ihm Vertrauen entgegenzubringen. Und wie er es erwartet hatte, schüttelte Oskar den Kopf. Doch er hob seinen Blick nicht, um Kyro erneut anzusehen.

„Na also“, entgegnete Kyro sanft und fragte ihn noch einmal.

„Wie heißt du?“

„Oskar“, murmelte der Junge zur Antwort leise und schlug sich im selben Moment eine Hand vor den Mund. Seine Augen weiteten sich panisch und er schüttelte den Kopf. Aber Kyro bot ihm ein weiteres zuversichtliches Lächeln und ließ seine schwarzen Augen sanft auf Oskar ruhen.

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Oskar“, antwortete er.

Oskar zuckte vor ihm zusammen und ließ seine Hand kraftlos sinken. Erneut sah er sich ängstlich in dem dunklen Gehölz um und fand nicht, was er suchte.

„Wo ist Eila?“, fragte Oskar zittrig und stützte sich vom Boden auf. Doch seine Arme versagten ihm den Dienst, als sie zu zittern begannen, und er auf dem Waldboden zusammenbrach.

„Sie ist nicht hier“, erwiderte Kyro nur und seine Stimme klang mit einem Mal hart.

„Wo ist sie?“ Oskar sprach mit einer gewissen Vorsicht in der Stimme und Kyros anfängliche Sorge vor diesem Gespräch zog sich zu einem engen Knoten in seinem Magen zusammen. Er schluckte, doch kontrollierte seine Stimme und Gesichtszüge.

„Ich habe ihr nichts angetan, falls es das ist, was du wissen möchtest“, stellte er emotionslos fest. Oskar hob seinen Blick wieder und schüttelte den Kopf.

„Ich will zurück!“, verlangte er und Tränen rannen ihm über die Wangen. „Bring mich zurück zu ihr.“ Panik erfasste seinen Körper und er fing an, unkontrollierbar mit den Gliedern zu zittern. Sein Atem rasselte und dennoch lief sein Gesicht vor Sauerstoffmangel blau an. Keuchend fiel sein Oberkörper vornüber und immer panischer rang er nach Luft. Mit weißen Lippen und schweißnasser Stirn schaute er zu Kyro auf und presste sich die Hände auf die Ohren. Aber Kyros Gesichtsausdruck lag sanft auf dem Jungen und ein seichtes Lächeln kräuselte seine Lippen.

„Hör dir erst einmal an, was ich zu sagen habe. Dann kannst du dich immer noch entscheiden“, sagte er ruhig und legte Oskar eine Hand auf seinen Rücken. Langsam ließ er Wärme durch seinen Körper fließen, bis der Junge erschöpft in Kyros Armen zusammensackte und dort zu schluchzen begann. Sanft ließ Kyro seine rechte Hand zwischen Oskars Schulterblättern kreisen und verteilte die beruhigende Wärme so auf seinem Rücken. Nach einiger Zeit rannen Oskar nur noch stumme Tränen über die Wangen.

„Ich kann ihr das nicht antun“, hauchte er benommen und schaute Kyro direkt in die Augen. Er erwiderte seinen Blick und strich ihm eine Träne von der Wange. Das Band der beiden Geschwister berührte ihn und ihm war die Grausamkeit der Trennung, die er ihnen aufgezwungen hatte, schmerzlich bewusst.

„Lass es mich erklären“, bat Kyro ihn und wartete geduldig die Reaktion des Jungen ab. Und auf seinem Gesicht zeichneten sich genau die Emotionen ab, die er erwartete. Irritation, dass sein Entführer sich überhaupt erklären wollte. Angst vor seinen Worten und Absichten. Unglaube, dass er tatsächlich bereit war, den Erklärungen seines Entführers Aufmerksamkeit zu schenken.

Und schließlich erneut diese seltsame Ruhe, der er nicht ganz trauen konnte, da er noch nie auf eins der Gefühle, die ihm sein Element gab, gesetzt hatte. Doch der Junge nickte und beugte sich leicht zu Kyro vor.

„Ich bin ein Elementhüter“, begann der unverfroren und ließ Oskar so keine Chance, sanft mit seiner neuen Realität vertraut zu werden. Der Junge schaute ihn fragend an. Kyro nickte sanft und fuhr dann fort.

„Das bedeutet, dass eines der sechs Elemente untrennbar mit meinem Körper verbunden ist. Das Feuer ist Teil von mir und ich bin Teil von ihm. Auch du bist ein Hüter eines dieser sechs Elemente.“

Oskars Blick veränderte sich und Sorge stand in seinen Augen.

„Ich lebe in Einklang mit dem Feuer. Deswegen greift mein Element meinen Körper und Geist nicht mehr an.“ Kyro pausierte seine Erzählung kurz und wartete Oskars Reaktion ab.

Dieser ließ sich nichts anmerken außer einem kleinen, mitleidigen Lächeln, das über seine Lippen huschte. Doch er senkte schnell den Blick und offenbarte Kyro nicht mehr als das.

„Dein Element kämpft allerdings noch gegen dich. Du hast noch keinen Einklang gefunden. Und darum bin ich hier“, fuhr Kyro fort und faltete seine Hände in seinem Schoß. Eine ganze Weile blieb Oskar ruhig vor ihm sitzen und starrte weiter auf den Boden. Dann hob er den Kopf und schaute ihn mitleidig an.

„Du hast den Verstand verloren“, entgegnete er sanft und Kyro hielt seinem Blick eisern stand. Oskars Reaktion war nichts, womit er nicht gerechnet hatte. Deswegen lächelte er sanft.