I would do it again - Kimberly Dorn - E-Book

I would do it again E-Book

Kimberly Dorn

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Beschreibung

Maddison Harley thront als Queen B der Ocean Side Highschool ganz oben an der Spitze. Geliebt oder gefürchtet, niemand würde es wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Niemand außer Sydney. Als Sydney auf die Schule wechselt und damit droht, Maddisons dunkelstes Geheimnis an die Öffentlichkeit zu tragen, beginnt Maddisons perfekte Fassade zu bröckeln. Schnell wird klar, der einzige Weg hier heraus ist es, Sydney loszuwerden. Und das um jeden Preis ...

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Maddison Harley thront als Queen B der Ocean Side Highschool ganz oben an der Spitze. Geliebt oder gefürchtet, niemand würde es wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Niemand außer Sydney. Als Sydney auf die Schule wechselt und damit droht, Maddisons dunkelstes Geheimnis an die Öffentlichkeit zu tragen, beginnt Maddisons perfekte Fassade zu bröckeln. Schnell wird klar, der einzige Weg hier heraus ist es, Sydney loszuwerden. Und das um jeden Preis …

Für mein erstes eigenes Zuhause das seit Kurzem, und für meinen geliebten Stoffbären, der von Anfang an an meiner Seite war.

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Inhaltsverzeichins

1. JUNI 2023 • MADDISON

6. JANUAR 2022 • MADDISON

6. JANUAR 2022 • SYDNEY

1. JUNI 2023 • MADDISON

13. JANUAR 2022 • MADDISON

13. JANUAR 2022 • SYDNEY

1. JUNI 2023 • MADDISON

MADDISONS PARTY • 14. JANUAR 2022 • CASEY

8. JUNI 2023 • MADDISON

1. FEBRUAR 2022 •MADDISON

8. JUNI 2023 • MADDISON

10. FEBRUAR 2022 •MADDISON

8. JUNI 2023 • MADDISON

24. FEBRUAR 2022 • SAM

28. FEBRUAR 2022 • SYDNEY

8. JUNI 2023 • MADDISON

15. MÄRZ 2022 • SAM

22. MÄRZ 2022 • SYDNEY

9. JUNI 2023 • MADDISON

25. MÄRZ 2022 •MADDISON

9. JUNI 2023 • MADDISON

28. MÄRZ 2022 •MADDISON

9. JUNI 2023 • MADDISON

28. MÄRZ 2022 • NOAH

29. MÄRZ 2022 • NOAH

31. MÄRZ 2022 • SYDNEY

9. JUNI 2023 • MADDISON

14. APRIL 2022 • SYDNEY

9. JUNI 2023 • MADDISON

14. APRIL 2022 • NOAH

9. JUNI 2023 • MADDISON

12. JUNI 2023 • MADDISON

17. APRIL 2022 • MADDISON

12. JUNI 2023 • MADDISON

21. APRIL 2022 •ADAM

12. JUNI 2023 • MADDISON

SPRING FLING • 28. APRIL 2022 • SYDNEY

12. JUNI 2023 • MADDISON

12. MAI 2022 • SYDNEY

14. MAI 2022 • MADDISON

12. JUNI 2023 • MADDISON

14. MAI 2022 • CASEY

12. JUNI 2023 • MADDISON

SUMMER BREAK • 21. JULI 2022 • MADDISON

18. AUGUST 2022 • SYDNEY

HOMECOMING • 19. AUGUST 2022 • MADDISON

13. JUNI 2023 • MADDISON

HALLOWEEN • 31. OKTOBER 2022 • MADDISON

13. JUNI 2023 • MADDISON

11. NOVEMBER 2022 • SYDNEY

17. NOVEMBER 2022 • SYDNEY

20. JUNI 2023 • MADDISON

18. NOVEMBER 2022 • MADDISON

21. NOVEMBER 2022 • MADDISON

THANKSGIVING • 24. NOVEMBER 2022 • SYDNEY

15. DEZEMBER 2022 • MADDISON

25. DEZEMBER 2022 • NOAH

21. JUNI 2023 • MADDISON

SILVESTER • 31. DEZEMBER 2022 • MADDISON

22. JUNI 2023 • MADDISON

26. JUNI 2023 • MADDISON

6. JANUAR 2023 • SYDNEY

26. JUNI 2023 • MADDISON

25. JULI 2023 • GOOD MORNING AMERICA

18. AUGUST 2023 • MADDISON

30. JUNI 2023 • AKTE 01.

18. AUGUST 2023 • MADDISON

1. JANUAR 2023 • MADDISON

18. AUGUST 2023 • MADDISON

7. JANUAR 2023 • MADDISON

18. AUGUST 2023 • MADDISON

EPILOG• DONNA

BONUSKAPITEL

CASEY JONES • ZEUGENINTERVIEW

TRIGGERWARNUNG

1. JUNI 2023 • MADDISON

Es ist heiß und stickig. Viel zu heiß, für das, was ich anhabe. Wenn ich aufstehe, wird man sehen, dass ich schwitze. Der Schweiß läuft sicher schon meine Arme hinab, tränkt meine weiße Bluse und lässt mich noch viel schlimmer aussehen, als ich es ohnehin schon tue. Warum habe ich mir heute Morgen überhaupt die Mühe gemacht, mich zu schminken? Warum habe ich das für eine gute Idee gehalten? Mittlerweile dürfte sich mein Make-up schon verabschiedet haben, zumindest ein Teil davon. Das passiert, wenn man sich nur das billige Zeug aus der Drogerie leisten kann. Das ist so ziemlich alles, was in letzter Zeit in mein Gesicht wandert. Für alles andere fehlt mir, seitdem ich keinen Zuschuss mehr bekomme, das Geld und mittlerweile auch der Mut. Denn ich werde tatsächlich eher bei Sephora erkannt als bei Walmart.

Die Uhr, die sicher fünf Meter über meinem Kopf hängt, tickt so laut, dass ich mich ernsthaft frage, ob ich die einzige Person im Gerichtssaal bin, der das auffällt. Ich kann ja kaum meine eigenen Gedanken, geschweige denn irgendwen in diesem Raum beim Sprechen hören. Dabei sollte ich zuhören. Ganz dringend. Mir Gedanken und vielleicht sogar Notizen dazu machen, was gerade passiert. Oder auch nicht? Schließlich werde ich nicht dafür bezahlt und es ist auch nicht meine Aufgabe. Mein einziger Job ist es, hier zu sitzen und nichts Falsches zu sagen. Manchmal wünschte ich, ich müsste gar nichts sagen. Mein Mund ist so trocken und ich bin mir sicher, dass ich eh kein Wort zustande bringen würde. Das wäre für alle Beteiligten wahrscheinlich eh besser so.

Die ganze Zeit habe ich nur nach vorn gestarrt und jetzt erlaube ich mir einen kurzen, aber gezielten Blick nach hinten. Ich will sehen, wer gekommen ist, wer heute dran ist, um nach oder vor mir zu sprechen. Doch ich erhasche nur einen kurzen Blick auf das Publikum, das jeden Tag größer zu werden scheint. Warum interessiert es diese Leute so sehr, was hier vor sich geht? Wer hat all diesen Menschen erlaubt, ein Teil meiner Geschichte zu werden? Ich kann schon verstehen, dass die Presse dieses Thema wie ein paar gefräßige, unterfütterte Piranhas im Amazonas aufschnappt. Aber alle anderen? Leben Piranhas überhaupt im Amazonas? Ich habe keine Ahnung. Absolut keine Ahnung von irgendwas. Ich bin gerade zu nichts zu gebrauchen. Wenn Donna nicht ihr Bestes gibt, dann werde ich es, nachdem das hier vorbei ist, auch nie wieder sein. So viel ist schon einmal sicher.

Alles, was ich weiß, ist, wer gestern an meiner Stelle saß. Das hat Donna mir erzählt. Sie erzählt mir nicht viel, doch ab und zu bekomme ich ein paar Details. Was sie mit mir zu besprechen hat, kommt dann als E-Mail, zum Auswendiglernen.

„Es ist wichtig, dass du bei einer Geschichte bleibst. Ein falsches Detail kann dir das Genick brechen.“

Sehr unterstützend, Donna, danke. Genau dafür überweise ich dir monatlich einen Teil meines College Funds. Na ja, ich überweise gar nichts. Mom überweist. Aber ich denke, solange wir keine Hypothek auf das Haus aufnehmen müssen, wird sie mir das Ganze nicht übel nehmen. Schließlich habe ich nur meine Zukunft zerstört und nicht ihre. Wozu überhaupt ein College Fund, wenn ich nie auf ein College gehen werde? Es ist also eine Win-win-Situation.

Eigentlich sollte ich gerade in Miami am Strand sitzen. Dort wollte ich meine Sommerbräune nachholen, die ich in den letzten Monaten in Schulgebäuden und Bibliotheken nicht aufrechterhalten konnte. Doch mich beschleicht das Gefühl, dass ich dieses Jahr Miami höchstens auf meinem Instagram Account bewundern werde; dem Account, den ich wahrscheinlich schon längst hätte löschen müssen. Donna hat es mir zumindest empfohlen, zu meinem eigenen Schutz. Aber mein Instagram Account ist das Einzige, was mich noch an eine Zeit „davor“ erinnert, wo ich noch einmal ich sein kann. Ich, in Miami, auf dem Boot meines Dads. Ich, in Florida, im türkis strahlenden Wasser. Ich und meine Freundinnen, an unserem ersten Tag als Sophmores.

Mittlerweile sieht mein Instagram Feed nicht mehr so rosig aus. Die Bilder sind geblieben, doch die Erinnerungen wurden von der Kommentarfunktion eingenommen und vergilbt. Der rote Bikini, das türkisfarbene Wasser und der goldene Sandstrand wirken nicht mehr so perfekt, wenn sie von Hass überschüttet werden. Doch ich sollte es positiv sehen. In den letzten Wochen ist mein Account von 4.000 Followern arg schnell auf 60.000 Follower gesprungen. Ein riesiger Schritt, wären doch nur die Umstände andere.

Vor nur wenigen Monaten war mein größtes Problem die College-Bewerbungen, auf die ich nicht besonders große Lust hatte. Viel lieber wollte ich reisen und die Welt sehen. Ein Jahr Paris zum Beispiel, oder einfach in Spanien entspannen und das Leben vorbeiziehen lassen. Genau das war der Plan. Meinetwegen auch einfach zu Hause bleiben und am Pool liegen. San Diego im Sommer ist immer noch besser, als hier in diesem Raum zu stecken, angestarrt zu werden und meine weiße Bluse durchzuschwitzen.

Ein Geschenk meines Dads. Mein Dad – ein ganz anderes Thema. Genauso wie meine Likes auf Instagram hat auch er sich in letzter Zeit rar gemacht. Natürlich verstehe ich, dass es für ihn nicht so einfach ist, jedes Mal dabei zu sein. Doch man würde schon erwarten, dass der eigene Vater es vielleicht zumindest zu einer der Verhandlungen schafft.

„… Maddison Harley, bitte in den Zeugenstand …“

Meinen Namen zu hören lässt mich zusammenfahren. Sofort bin ich wieder hellwach und schlagartig in der Realität angekommen. Jetzt ist keine Zeit mehr, von Stränden und Likes auf Instagram zu träumen. All dies hat schon lange keine Relevanz mehr. Doch alte Gewohnheiten legt man nicht so einfach ab.

„Miss Harley, haben Sie mich verstanden?“

Jetzt bin ich wirklich wieder ganz da. Ich schweife viel zu einfach in eine andere Welt ab. Eine Welt meiner Gedanken, wo mir ganz und gar nichts passieren kann. Ich stehe auf und bin mir sicher, dass jeder einzelne Mensch in diesem Raum meine Schweißflecken sehen kann. Ich versuche es zu überspielen, richte meinen Dutt ein weiteres Mal und gehe stolz auf das Podium zu. Obwohl ich eigentlich keinen stolzen Gang haben sollte. Schließlich ist nichts, was hier diskutiert wird, auch nur im Geringsten etwas, worauf ich stolz sein könnte. All das hier wird weder im Jahrbuch noch in meiner College-Bewerbung stehen. Die Frage ist jedoch, ob das überhaupt noch eine Rolle spielt, da ich mich wahrscheinlich eh nicht für ein College bewerben kann. Außer es gibt so etwas auch für 17-jährige Straftäterinnen.

Ich setze mich hinter das Podium und sehe nach vorn. Ich war noch nie besonders gut in Mathe und auch das Überschlagen gehört nicht zu meinen größten Stärken, doch ich gehe davon aus, dass das Publikum die 100er-Marke längst überschritten hat. Der Gerichtssaal ist komplett überfüllt. Einige „Zuschauer“ stehen bereits hinten an den Türen und ich bin mir sicher, dass hinter den dicken Wänden noch einmal das Doppelte an Schaulustigen und Menschen von der Presse auf mich warten. Sie sind hier, um das Geschehen von vorn bis hinten durchzukauen. So macht man das heute. Man ist live dabei und wartet nicht zu Hause auf dem Sofa auf Neuigkeiten. Sollte man es nicht in die erste Reihe geschafft haben und doch draußen warten müssen, gibt es die „Live Twitter Moments“ aus dem Gerichtsaal oder die detaillierte Berichterstattung auf TikTok. Denn jeder Wannabe Crime Influencer hat heutzutage etwas zu uns zu sagen, ob es stimmt oder frei erfunden ist, scheint egal zu sein. Alle warten sie darauf, dass jemand die Schuld auf sich nimmt oder sie in die Schuhe geschoben bekommt. Laut der letzten Twitter-Umfrage hoffen 87 Prozent darauf, dass ich es bin. Doch das versuche ich mir in diesem Moment nicht anmerken zu lassen. Lieber blende ich all dies noch für ein paar Stunden aus, als hier vor hundert Leuten in Tränen zu zerlaufen. Obwohl ich eigentlich niemand bin, der weint. Aber wer weiß. Ich erkenne mich seit einiger Zeit selbst nicht wieder. Ich weiß nur, dass jeder mich gerne heulen sehen würde. Diesen Gefallen tue ich ihnen aber ganz sicher nicht. Also richte ich den Blick starr nach vorn. Alles, was ich jetzt sehe, ist Donna, meine Anwältin, die nur wenige Schritte von mir entfernt neben meiner Mutter sitzt. Meine Mutter ist in meinem Verteidigungsteam. Zumindest sagt sie das immer. Wir sind „Team Harley“ oder so … Kein besonders kreativer Name, wenn man mich fragt. Aber sie gibt sich Mühe, das hier alles ein wenig erträglicher zu machen.

Jetzt, wo ich hier sitze, kann ich auch endlich einen richtigen Blick in die Runde werfen. Ich war die Erste hier. Weil Donna denkt, dass es gut ankommt, wenn man möglichst früh und vorbereitet erscheint. Ich halte das für absoluten Bullshit. Es ist völlig egal, wann ich hier auftauche. Es hat sich eh schon jeder eine Meinung zu mir gebildet. Da wird es mich kaum retten, als Erste in diesem Raum zu sitzen … aber sie ist die Anwältin. Sie hat ein halbes Vermögen ausgegeben, um fünf Jahre in Stanford zu studieren, nur damit sie jetzt einen so hoffnungslosen Fall wie mich vertreten darf. Bravo Donna! Ganz toll die Karriereleiter hochgeklettert bist du. Sie hat sich das sicher auch anders vorgestellt. Aber wenigstens ist mal einer ihrer Fälle in den Nachrichten. Das ist doch schon mal ein Anfang. Trotzdem kann ich immer noch nicht glauben, dass man sich so etwas hier freiwillig antut. Mom hingegen war absolut erleichtert, als der Anruf kam, dass Donna, damals noch Miss Achebe, sich meinen Fall gerne genauer anschauen will. Direkt beim ersten Treffen haben wir alle Formalitäten sein lassen. Mom war sofort „Fan“. Verständlich, denn ohne Dad war sie völlig aufgeschmissen bei der Anwaltssuche. Nur eines war klar: Es muss schnell gehen. Ich habe immer noch nicht verstanden, warum man sich dazu entscheidet, den Flug von Michigan auf sich zu nehmen, Lebenspartnerin und Familie hinter sich zu lassen und das alles nur hierfür? Aber ich hatte auch nicht gerade die Qual der Wahl, was kompetente Vertretung angeht.

Der Nachteil am frühen Hiersein ist, dass man die Nachzügler verpasst. Einmal angekommen, kann ich schlecht noch einmal durch die Reihen gehen und genau studieren, wer heute ebenfalls an meinem Platz sitzen wird. Doch jetzt, wo ich hier vorn bin, kann ich sie sehen. Ich sehe sie alle, Audrey, Casey, Hannah, Paige, Adam, Noah, Isaac … und sogar Sam. Auch, wenn ich nicht weiß, was Sam hier macht. Befragt wird er sicher nicht. Das wird er nie. Er hat mit der Sache ja auch nichts zu tun. Zumindest weiß ich nichts davon und ich weiß eine ganze Menge. Schließlich habe ich alles von Anfang bis Ende hautnah miterlebt. Doch Sam ist immer hier. Fast, als könnte er mit seiner Anwesenheit irgendetwas ändern. Vielleicht sollte ihn mal jemand aufklären. Was passiert ist, lässt sich schlecht rückgängig machen. Er verschwendet also Zeit.

Den Anwesenden nach zu urteilen, wird das heute ein langer Tag werden. Nur selten befinden wir uns alle an einem Ort. Wir sprechen generell kaum noch miteinander, sollen wir ja auch nicht. Anordnung des Gerichts. Obwohl Regeln ja keinen von uns je davon abgehalten haben, etwas zu tun. Aber auch das scheint sich mittlerweile geändert zu haben.

Ein weiteres Mal lasse ich meinen Blick über die Zuschauer schweifen und bleibe an einem Gesicht hängen. Ganz hinten an der Tür, neben zwei breiteren, wahrscheinlich zum Gericht gehörenden Security-Männern, steht er. Bis heute ist er noch zu keiner Verhandlung erschienen, in der ich eine Rolle gespielt habe. Doch jetzt ist er da und starrt mich an. Direkt in mein Gesicht, das jetzt sicher langsam rot wird. Nun schäme ich mich, hier in verschwitzter Bluse und Drogerie Make-up zu sitzen.

„Miss Harley, würden Sie dem Gericht bitte noch einmal im Detail die Geschehnisse des sechsten Januars dieses Jahres schildern?“

Der 6. Januar 2023 – was für ein Scheißtag. Ich würde diese Erinnerung gerne aus meinem Kopf löschen. Doch leider ist mein Kopf nicht so aufgebaut und der sechste Januar kein banaler Instagram Post. Der sechste Januar hat den Ball ins Rollen und mich heute hierhergebracht.

Denn der sechste Januar ist der Tag, an dem Sydney Reed sich das Leben nahm.

6. JANUAR 2022 • MADDISON

Obwohl wir in San Diego leben, ist es im Januar meistens ziemlich frisch. Für eine Winterjacke reicht es jedoch nicht, weswegen ich den Kauf meiner Canada Goose Jacke jetzt schon ein wenig bereue. Als wir aber über die Winterferien in Minnesota waren, erwies sich diese Investition durchaus als sinnvoll. St. Cloud Minnesota – der Ort der Landeier und zerbrochenen Träume. Ein Fleckchen Land, wo es völlig in Ordnung ist, seinen Cousin zu vögeln … und ebenfalls die Heimatstadt von Mom. Viel lieber wäre ich zu Dad nach Miami geflogen. Weihnachten unter Palmen, so wie sich das gehört. Ich hätte die Zeit auch bei Casey und ihrer Familie verbracht. Alles wäre besser gewesen, als sich beim Scheißeisfischen den Arsch abzufrieren. Aber so lief es dieses Mal eben. Denn ich bin ja auch kein Unmensch und Mom hatte es sich so sehr gewünscht, dass ich dieses, wahrscheinlich vorerst letzte Familienweihnachten, mit ihr feiere. Nächstes Jahr bin ich nämlich ganz sicher weg aus San Diego. Und in der Zukunft sehe mich in einer richtigen Stadt studieren. Irgendwo, wo auch wirklich etwas aus mir werden kann. Nicht so wie Wannabe L.A. hier. Vielleicht manage ich irgendwann den Social Media Account von einem Modemagazin, oder werde am Big Apple die zweite Michelle Obama. Ich habe mich schon immer in einer Führungsposition gesehen und ich bin dazu geboren, Menschen herumzukommandieren. Aber bis es so weit ist, muss ich mich erst einmal durch mein bald letztes Jahr der Highschool hindurchquälen. Augen verdrehend parke ich meinen Wagen auf dem Schulparkplatz und suche ein paar Bücher zusammen, die unter den Sitz gerutscht sind. Heute ist der erste Tag nach den Winterferien und ich bin offiziell ein Stückchen näher am Ende meiner Schulkarriere. Was von Grund auf schon ziemlich aufregend ist, wären da nicht die endlosen Tage und Stunden, die ich in die Vorbereitung für die SATs werde stecken müssen. Seufzend öffne ich die Tür und steige aus, meine Tasche über der Schulter und ein paar Schulbücher unter den Armen.

„Maddison – hey, wie geht’s dir? Wie ich sehe, hast du den Winter auch bei minus 20 Grad gut überstanden“, fällt mir Casey ganz ausgelassen in die Arme. Sie hat ihre Haare geschnitten, was ein fataler Fehler war. Ich sage ja nicht, dass sie besonders hässlich mit kurzen braunen Haaren aussieht, aber ich denke, dass es ihr rundes Gesicht nicht gerade positiv betont.

„Auch schön, dich wiederzusehen“, sage ich sarkastisch und lege an Tempo zu. Ich war noch nie ein besonders großer Fan von belanglosen Gesprächen und mit Casey meine Ferien auf dem Bauernhof zu diskutieren, bringt keinen von uns beiden sonderlich weiter.

Als Casey ebenfalls schneller wird, wechsle ich das Thema.

„Wie läuft es eigentlich bei dir und Adam? Hast du es endlich hinter dich gebracht?“

Jetzt ist der Fokus wieder auf ihren Problemen, was es für mich einfacher macht, abzuschalten und mich auf meine Gedanken zu konzentrieren.

„Du meinst, ob ich ihn schon gefragt habe?“

Zum zweiten Mal an diesem Morgen verdrehe ich die Augen.

„Ja, natürlich meine ich das. Casey … was haben sie die Ferien über mit dir gemacht? Dich zu lange unter Wasser gedrückt, oder was?“

Eigentlich bin ich nur sauer, dass sie ihren Sommer am Strand verbracht hat, während ich bibbernd neben meinen Cousins auf einem gefrorenen See stand, aber das muss sie ja nicht wissen.

„Also, noch habe ich ihn nicht gefragt. Aber ich mache es noch vor dem Spiel am Freitag.“

Casey ist ein hoffnungsloser Fall, wenn es um das Thema Adam geht. Was ich verstehen kann, da er schließlich nicht nur irgendwer ist. Doch dieses Hin und Her zwischen den beiden strapaziert meine Nerven.

„Mach wie du willst. Ich denke nur, dass es sinnvoll wäre, wenn du es noch vor dem Anpfiff klärst.“

Bedrückt schaut sie zu Boden und ich fahre fort.

„Du sollst ihn ja nicht darum bitten, der Vater deiner Kinder zu werden, sondern nur nachfragen, ob er Freitag dein Date zu meiner Party sein will. Außerdem steht der total auf dich. Das siehst du an den Blicken, die er dir hinterherwirft.“

Zwar gibt es die Blicke nicht, von denen ich spreche, doch das muss Casey ja nicht wissen. Mit dem gewonnenen Selbstbewusstsein durch meine Worte wird sie es entweder endlich schaffen, etwas mit Adam anzufangen, oder aus der ganzen Sache wird ein guter Lacher für mich rausspringen. So oder so ein voller Gewinn.

„Bist du dir sicher, dass er mich so anguckt?“

Ihre großen, hoffnungsvollen Augen reichen fast aus, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber halt nur fast.

„Ja, verdammt nochmal. Sonst hätte ich sowas ja wohl kaum gesagt, oder? Wir sehen uns in Englisch. Ich gehe vorher noch etwas im Sekretariat abholen.“

Mit diesen Worten wende ich mich ab.

„Was willst du denn abholen?“

Und schon wieder nervt sie mich.

„Das kann dir doch echt egal sein … ach ja, bevor ich es vergesse, schöner Haarschnitt. Ich finde das total mutig von dir. Nicht jede Frau würde ihr Gesicht freiwillig noch runder aussehen lassen. Aber dir gibt das die richtige Fülle.“

Damit trennen sich unsere Wege.

6. JANUAR 2022 • SYDNEY

Ich war noch nie ein besonders großer Fan von Neuanfängen und bleibe immer lieber in meiner gewohnten Umgebung. Doch dieses Mal habe ich nicht wirklich ein Mitspracherecht. Nachdem das mit Mom letzten Herbst zu Ende ging, war mir eigentlich klar, dass Dad relativ schnell einen Neustart brauchen würde.

Ich verstehe nur nicht, warum dieser Neustart komplett auf der anderen Seite der Welt sein muss. Zumindest fühlt es sich so an. Von Richmond nach San Diego scheint mir schon ein relativ großer Sprung zu sein. Manchmal frage ich mich, ob Dad sich einfach eine Landkarte genommen hat, um einen Dartpfeil draufzuwerfen und das zu nehmen, was das Schicksal für ihn aussucht. Hauptsache möglichst weit weg von allen Erinnerungen, die wir haben. Ich bin selbst niemand, der eine gute Verdrängungstaktik verschmäht, jedoch gibt es Dinge, mit denen man sich lieber auseinandersetzen sollte, als sie zu vergessen … zum Beispiel mit der Leukämie seiner ersten großen Liebe oder der hinterbliebenen Tochter. Das wäre eine bessere Lösung, als sich komplett zurückzuziehen. Aber ich nehme es ihm nicht übel. Ich kann ja selbst nicht damit umgehen. Wie soll er es dann?

Darüber nachzudenken, hilft mir momentan auch nicht weiter, also schalte ich lieber auch auf Verdrängungsmodus um. Ich fahre auf den Parkplatz meiner neuen Schule und suche mir den erstbesten Platz. Auch nicht gerade gewöhnlich, in der Mitte meines Sophmore-Jahres die Schule zu wechseln. Aber „gewöhnlich“ steht eh schon lange nicht mehr in meiner Lebensbeschreibung.

Zwar sitze ich nicht in meinem eigenen, sondern in Dads Truck, was daran liegt, dass ich kein eigenes Auto habe. Aber lieber das, als im Schulbus unterwegs zu sein. Ich schalte den Motor ab und stecke mir meine Haare zu einem hohen Zopf zusammen. Hauptsache, das Zeug hängt mir gleich nicht wieder wie wild im Gesicht. Oh Gott, jetzt klinge ich schon wie Mom. Ich glaube, sie hat in ihrem Leben die Haare kaum einen Tag offen getragen. „Praktisch“ stand bei ihr immer über „hübsch“. Dabei hätte sie die Haare auch immer unter einer Mütze verstecken können und wäre dennoch die schönste Person gewesen, die ich kenne. Gleich nach ihrem Tod habe ich meine Haare eine Weile ausschließlich offen getragen. Ich habe alles dafür getan, möglichst nicht so auszusehen wie sie. Mittlerweile freue ich mich, wenn mich mein Spiegelbild an Mom erinnert. Denn irgendwann, auch wenn es ganz schleppend ist, fangen Erinnerungen an zu verschwimmen. Den Moment möchte ich möglichst herauszögern. Nachdem meine Haare an Ort und Stelle baumeln und ich wieder frei sehen kann, ziehe ich meinen Rucksack unter einem Haufen noch nicht ausgepackter Kartons hervor. Ups, da hat wohl jemand gestern lieber auf der Couch gelegen, als das Auto auszupacken …

Dann mache ich mich auf den Weg.

Als ich zum Ende des Parkplatzes komme, sehe ich ein Mädchen aus einem roten Camaro steigen. Mir bleibt die Sprache weg. Nicht nur bei dem Auto, das sie fährt, sondern auch bei ihrem Anblick. In Richmond sind auch hübsche Mädchen unterwegs gewesen, doch sie ist von einem ganz anderen Kaliber. Alles, was sie tut, jeder Schritt, das einfache Zuknallen ihrer Autotür, wirkt mühelos und fließend. Als sie sich das lange, dunkelbraune Haar über die Schulter wirft und ganz kurz in meine Richtung schaut, bereue ich es, in meinen durchgelaufenen Lederstiefeln, Jeans und Flanellhemd hergekommen zu sein. Das hier ist Kalifornien, hier kannst du nicht mehr herumlaufen wie so ein Landei, meckere ich mich in Gedanken an.

Ich setze mich in Bewegung und sehe aus den Augenwinkeln ein genauso hübsches Mädchen mit einem karamellbraunen Bob auf das Supermodel zu laufen. Im Vorbeigehen schnappe ich ein paar Worte der beiden auf, doch ich bleibe nicht stehen. Es ist zu früh, um sich in fremde Gespräche einzumischen. Also lasse ich es lieber bleiben. Ich habe nicht vor, mir direkt am ersten Tag Feinde zu machen.

1. JUNI 2023 • MADDISON

Der Gerichtssaal leert sich langsam und ich streiche meine Bluse zum hundertsten Mal glatt. Durch die Feuchtigkeit in der Luft werde ich die immer wiederkehrenden Fältchen einfach nicht los. Mom steht neben Donna und diskutiert den weiteren Verlauf der Verhandlung. Heute ist es gut gelaufen. Zumindest habe ich bis jetzt noch nicht diese enorme Enttäuschung in Moms Augen gesehen. Ein Ausdruck, den sie seit Wochen mit sich trägt. Ihr neues Lieblingsaccessoire, könnte man meinen.

So oder so, ich habe mein Bestes gegeben und bin die ganze Zeit bei meiner Story geblieben. Was nicht sonderlich schwer ist, da wir seit Beginn dieser Verhandlung immer wieder und wieder die gleichen Tage besprechen. Unter anderem der Tag, für den ich absolut keine Erklärung habe. Ich weiß, was ich am 6. Januar 2023 getan habe, und ich weiß, was man mir über Sydney sagt. Doch ich war weder dabei, noch kann ich in Sydneys Kopf gucken und die Antworten geben, die jeder von mir zu erwarten scheint. Ich bin ein Teil in der Maschine, aber ich bin ohne Bauplan unterwegs. Wie soll ich bitte die Frage beantworten, warum Sydney es für eine gute Idee hielt, sich die scheiß Pulsadern aufzuschneiden oder was auch immer es war? Waren es die Pulsadern? Wir sind diesen Kram jetzt schon so oft durchgegangen, dass ich so langsam vergesse, was man mir erzählt hat und was ich durch Instagram, TikTok und die Nachrichten zugetragen bekommen habe. Jeder scheint ein kleines bisschen mehr zu wissen als derjenige davor. Vielleicht wird es Zeit, diese Leute zu befragen und nicht mich wieder und wieder in den Zeugenstand zu rufen. Sie sollen mir Fragen stellen, wenn es etwas gibt, was auch wirklich mich betrifft. Ich finde es sowieso affig von den Reeds, eine Gruppe von Schülern zu verklagen, nur weil unser sensibles Bambi den 0815 Schulterror nicht mehr ausgehalten hat. Für das ganze Gefühlsthema bin ich nämlich die falsche Ansprechpartnerin. Außerdem sind wir alle für unsere Entscheidungen immer noch selbstverantwortlich. So selbst reflektiert hätte sie mal an die Sache herangehen sollen.

Natürlich kann ich erklären, was mein Teil in diesem Prozess ist. Ich bin ja auch nicht völlig verblendet oder auf den Kopf gefallen. Ich erinnere mich an letztes Jahr und die letzten Wochen. Doch ich weiß auch, dass man gerade einen Schuldigen zwischen uns sucht, und ich bin mir zu 100 Prozent bewusst, dass dies nicht der Platz ist, denn ich einnehmen will. Schön wäre es, wenn man mich einfach heraushalten würde …

Während Mom und Donna noch über den Unterlagen hängen, schaue ich mich um. Die meisten „Zuschauer“ sind bereits draußen. Wir müssen aber eh noch ein wenig warten, bevor wir das Gebäude verlassen. Denn ich habe nicht vor, morgen auf der nächsten Tageszeitschrift zu stehen, obwohl sie uns wahrscheinlich eh wieder abdrucken. Wir sind die „Monster von San Diego“ oder die „Teenager des Grauens“. Wenn sie das aus uns machen wollen, meinetwegen, aber dann bitte mit einem hübschen Foto. Ganz sicher trete ich nicht nass geschwitzt, mit klebrigen Haaren und zerknitterter Bluse, vor die Presse. Schon affig, worüber ich mir den Kopf zerbreche. „Mörderin“ bleibt „Mörderin“, egal wie hübsch die Bluse. Manchmal frage ich mich, warum ich mir darüber überhaupt noch Gedanken mache …

Als wir endlich alles zusammen räumen und ich meinen Wuschelkopf unter Kontrolle gebracht habe – es wird Zeit, mal wieder einen Schnitt reinzubekommen –, verlassen wir den Gerichtsaal. Donna spricht noch ein paar letzte Details mit Mom ab und ich gehe zu einem der Snackautomaten herüber. Anscheinend wird man hungrig, wenn man sich den ganzen Tag über tote Mädchen unterhält. Vor ein paar Monaten wäre ich noch ganz strickt an diesen Maschinen vorbeigegangen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. So viel Zucker ruiniert nicht nur meine perfekte Sommerfigur, sondern auch die Haut. Doch nachdem ich seit über einem Monat in Gerichtssälen herumhänge, mir Make-up aus der Drogerie ins Gesicht klatsche und seit Wochen kein Fitnessstudio von innen gesehen habe, kommt es auf die eine Packung M&Ms jetzt auch nicht mehr an. Also stecke ich meinen Fünfer in die Maschine und drücke auf die Sieben. Doch bei meinem Glück und dem Karma, das ich wahrscheinlich sogar verdient habe, schluckt die Maschine mein Geld und entscheidet sich dazu, mir im Gegenzug keine Schokolade, sondern nur ein unausgesprochenes „Fuck You“ zu schenken. Tja, so spielt das Leben, für Straftäterinnen gibt es wohl keine M&Ms. Frustriert schlage ich mit der flachen Hand gegen das Glas. Doch bis auf einen brennenden Schmerz in meiner Handfläche bekomme ich nichts zurück.

„Hat dir der Automat etwas getan?“

Ich schaue erschrocken auf und sehe in seine braunen Augen mit den schimmernden goldenen Flecken. Mir bleibt die Sprache weg. Was dieses Mal nicht an meinem trockenen Hals liegt. Auch, wenn ich mich so langsam frage, warum mir noch niemand ein Wasser angeboten hat. Da redet man sich den ganzen Tag den Mund fusselig und niemand ist bereit, mal schnell zum nächsten Supermarkt rüberzuhuschen, um mir eine Flasche Fiji hinzustellen? Doch die Frustration über die mangelnden Manieren meines Verteidigungsteams wird von seinem Räuspern unterbrochen.

„Überrascht, mich hier zu sehen?“

Das wäre die Untertreibung des Jahres. Ich bin überrascht, dass ich ihn überhaupt wiedersehe. Ich war mir sicher, dass er nie zu einer Verhandlung kommen würde. Und nachdem ich ihn heute bei der Tür habe stehen sehen, war mir klar, dass es das letzte Mal war, dass ich ihn zu Gesicht bekommen würde. Zumindest für eine Weile. Nachdem, was hier über mich gesagt wird und so ziemlich jeder in ganz Kalifornien über mich zu denken scheint, könnte ich es ihm nicht einmal verübeln. Wer besucht schon ein skrupelloses „Monster“ wie mich.

„Was machst du hier?“, ist das Erste, was ich frage, nachdem ich meine Sprache wieder gefunden habe. Er stellt sich zu mir, kramt einen Fünfer aus seinem Portemonnaie und steckt ihn in die Maschine.

„Die Sieben, oder?“

Ich nicke stumm. Bei ihm geht es ganz einfach. Er steckt das Geld rein, drückt die Taste und Sekunden später fällt unten eine Packung M&Ms heraus. Doch die M&Ms interessieren mich schon längst nicht mehr. Stattdessen starre ich ihn an.

„Gabriel, was machst du hier?“, wiederhole ich meine Frage. Er starrt weiterhin auf die Maschine.

„Du weißt, was ich hier mache.“

Langsam bückt er sich, greift nach der Packung Schokolade und reicht sie mir.

„Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte.“

Ich nehme sie entgegen und spüre sofort einen Schauer, der durch meinen Körper fährt, als sich unsere Hände berühren. Zwar nur für einen kurzen Augenblick, aber ich bin mir sicher, dass das kein Versehen war.

„Warum heute? Warum nicht schon vor Wochen?“

Jetzt flüstere ich fast. Am Anfang, als alles noch neu und gruselig war, habe ich gehofft, ihn hier zu sehen. Damals war der Gedanke an sein Lächeln das Einzige, was mich über Wasser hielt. Doch nach den ersten Wochen voller Fragen, Gerichtssaalaufenthalten und Anwaltsbesprechungen habe ich aufgegeben, darauf zu hoffen. Die Enttäuschung war zu groß.

„Weil wir beide wissen, dass es eine verdammt dumme Idee ist und ich absolut nicht hier sein sollte.“

Ich schlucke schwer. Natürlich weiß ich das. Er darf nicht hier sein. Sollte nicht mit mir sprechen. Aber er ist der einzige Mensch, den ich bei mir haben möchte. Ich würde es nie zugeben, aber seine Nähe und die Gedanken an ihn helfen mir, das hier durchzustehen. Doch ich komme nicht dazu, auch nur eines dieser Dinge zu ihm zu sagen, denn nur Sekunden später taucht meine Mutter neben mir auf.

„Mr. Anderson, ich wusste gar nicht, dass Sie heute auch da sind.“

Ihre Stimme wirkt freundlich und sanft, doch ich bemerke die Anspannung und den Unterton sofort.

„Mrs. Harley, schön, Sie zu sehen. Ja, ich bin heute tatsächlich einmal selbst dabei. Ich kann es immer noch nicht begreifen, durch was Sie alle gerade durchmüssen.“

Ihr Mund lächelt, doch ihre Augen tun es nicht. Wenn sie das macht, sieht das Lächeln meiner Mutter immer fast so aus, als würde sie eine Grimasse schneiden.

„Wir können es auch selbst noch nicht so ganz verstehen. Aber ich finde es gut, dass Sie sich auch einmal hier zeigen. Schließlich sind dies hier Ihre Schüler … genauso, wie Sydney eine ihrer Schülerinnen war.“

Der Name trifft mich wie einen Schlag. Zuhause sagen wir nie ihren Namen. Wir sprechen immer von „dem Unfall“ oder nennen sie „das Mädchen“. Diesen Namen jetzt aus dem Mund meiner Mutter zuhören, bereitet mir Bauchschmerzen. Es macht alles noch einmal so viel realer.

„Ja, das weiß ich, Mrs. Harley. Ich wünschte, ich hätte gewusst, was in ihr vorgeht, um rechtzeitig eingreifen zu können. Als Lehrkraft hört man natürlich nie auf, sich so etwas vorzuwerfen. Aber niemand wusste, dass es ihr so schlecht geht … ich selbst bin nie davon ausgegangen, dass sich eins meiner ersten Lehrjahre so entwickeln könnte.“

Mehr haben die beiden sich nicht zu sagen. Mom nickt und greift dann nach ihrer Tasche.

„Es war nett, Sie wiederzusehen, Mr. Anderson.“

Gabriel schüttelt ihre Hand. Dann nickt er mir kurz zu.

„War schön, dich wiederzusehen, Maddison.“ Ich nicke zurück.

13. JANUAR 2022 • MADDISON

Ich kann das Gelaber von Casey einfach nicht mehr ertragen. Seit Stunden kommt sie nicht mehr von dem Thema Adam weg. Adam hier, Adam da. Ich kriege die Krise. Audrey, Claire und Paige hingegen hängen an ihren Lippen, was ich absolut nicht verstehen kann. Wir reden hier über einen Typen aus unserer Schule und nicht Harry Styles. Trotzdem ist die Begeisterung groß. Auch wenn noch nicht wirklich etwas zwischen den beiden passiert ist, geht das Gerücht rum, Adam würde Casey zum Spring Fling Dance einladen. Lag ich mit meiner Intuition als doch richtig. Dieser ganze Hype geht mir aber trotzdem tierisch auf die Nerven. Bei Audrey kann ich es ja vielleicht noch nachvollziehen. Sie ist völlig allein und will sich durch das Liebesleben der anderen so fühlen, als wäre sie ein Teil davon. Aber Paige zum Beispiel ist in einer „Beziehung“ und sollten wegen diesem Grundschulgeflirte, was sich zwischen Casey und Adam abspielt, nicht so begeistert sein. Doch was soll man machen … solange sie glücklich ist, halte ich mich heraus. Viel schlimmer ist es, nächtelang mit ihr am Telefon zu hängen, um ihre Probleme auszudiskutieren. Da drehen wir uns nämlich nur noch im Kreis. Also lasse ich sie tratschen und kichern, als wären sie dreizehn – solange man mich aus der Sache heraushält. Dieses Gegacker macht mir nämlich Kopfschmerzen. Ich beginne, mir die Schläfen zu massieren, als mein Blick auf Sydney fällt. Sie ist erst seit ein paar Tagen hier und spielt in meinem Leben keine sonderlich große Rolle. Trotzdem weiß ich gerne, was um mich herum passiert und wer hier durch die Hallen stolziert. Bei ihr war die Typfrage relativ einfach zu beantworten. Sie kommt aus Richmond und sieht auch so aus. Ein typisches Landei eben. Ihre Cowboyboots schreien schon „absolut hilflos“ und ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Wenn sie ihr Ding macht und mir nicht in die Quere kommt, toleriere ich sie. Ich kann nur nicht verstehen, warum Mädchen wie sie so herumlaufen. Ja, natürlich hat sie es nicht anders gelernt, doch hässlich ist sie nicht. Das wird ihr ja wohl auch schon mal aufgefallen sein? Ein paar neue Schuhe und vielleicht nicht immer dieses ätzende Flanellhemd und ich würde sie vielleicht sogar fragen, ob sie bei uns sitzen möchte. So hingegen muss sie allein essen. Plötzlich wird das Getuschel neben mir lauter. Ich schaue auf und sehe, dass Isaac die Cafeteria betreten hat, wie immer dicht gefolgt von Noah und Adam. Wenn ich möchte, dass sich diese aufgeregten Hühner neben mir endlich wieder einkriegen, muss ich handeln. Doch bevor ich aufstehen kann, gehen die Jungs zu Sydney hinüber, deren Namen ich mir übrigens nur gemerkt habe, weil Australien mein nächstes Reiseziel ist. Irritiert sehe ich ihnen zu. Sie sprechen miteinander, aber stehen mit dem Rücken zu mir, sodass ich nichts sehen und nichts hören kann. Mein Tisch ist leise geworden. Ich schaue zu Casey und kann ihr den Schock ansehen. Jetzt, wo sie endlich so nah an ihrer „Zukunft“ mit Adam ist, spielt die Neue ihr in die Karten. Da ich eine gute Freundin bin, lasse ich das Ganze natürlich nicht so weiterlaufen.

„Hey, Adam!“, rufe ich. Doch er ist anscheinend sehr viel mehr an der Unterhaltung mit Sydney interessiert.

„Adam!“, rufe ich noch einmal, dieses Mal lauter. Die ganze Cafeteria wird leise und ein paar jüngere Mädchen schauen mich interessiert an. Ein scharfer Blick in ihre Richtung und sie drehen sich weg. Doch wenigstens sieht Adam endlich zu mir. Hat ja auch lange genug gedauert. Was denkt er denn, wer er ist? Wenn ich rufe, dann kommt man auch gefälligst zu mir.

„Adam, komm her.“

Trainiert wie ein gut erzogenes Hündchen, verabschiedet er sich und kommt angelaufen, begleitet von Isaac und Noah.

Ich würde nicht so weit gehen, uns alle „Freunde“ zu nennen, zumindest Noah und Isaac gehören nicht zu meinen engen Kontakten. Sie sind zwar die Ersten, die ich anrufe, wenn ich eine Party plane, aber ich würde nicht außerhalb eines Gruppentreffens daran denken, ihre Nummern zu wählen. Bei Adam ist das anders. Wenn ich jetzt sofort eine Person aus meinem Freundeskreis benennen müsste, der ich am meisten vertraue, dann ist das wahrscheinlich er. Irgendwann danach folgt dann Casey und dann eine lange Weile nichts mehr.

„Was ist los, Maddie?“

Jetzt sehe ich Adam scharf an. Niemand nennt mich Maddie, wenn ich es nicht ausdrücklich erlaubt habe.

„Ich möchte dich um etwas bitten. Casey findet dich unglaublich attraktiv und sie würde dich sehr, sehr gerne am Wochenende auf meiner Party vernaschen. Jetzt ist die Frage, ob du Interesse hast, oder ob du ihr das kleine Herz brichst?“

Ein kurzer Blick zu Casey bestätigt meine Vermutung, dass ihr gerade das besagte kleine Herz in die Hose gerutscht ist. Aber ich betrachte das Ganze so: Lieber das Pflaster in einem Ruck abreißen als wochenlang immer wieder ein kleines bisschen. So wissen wir zumindest Bescheid und das Getuschel kann aufhören. Adam sieht auch ein bisschen überfordert aus.

Doch das ist nicht mein Problem; wenn er so ein toller Typ ist, dann kann er doch jetzt auch bitte den Mund aufkriegen.

„Du bist aber auch echt gemein, Maddison!“

Isaac zieht sich einen Stuhl heran und betrachtet lachend die unangenehme Situation, die eindeutig auf meine Kappe geht.

„Wieso? Ich beschleunige den Prozess nur ganz gerne“, gebe ich unberührt zurück.

„Also Adam, hast du Bock oder eher nicht?“, höre ich von Noah, der Adam spielerisch in die Seite knufft.

„Äh … ähm, ja klar. Können wir … machen wir so, Casey.“

Ich stehe auf und greife nach Tasche und Smartphone.

„Na, sag ich doch. Dann ist das ja geklärt. Und euch zwei …“, ich deute auf Isaac und Noah, „… spreche ich nach der Schule noch einmal. Ihr meintet ja, dass ihr für Freitag ein, zwei Sachen mitbringen könntet.“

„Aye, aye“, sagt Isaac salutierend und ich verdrehe das dritte Mal an diesem Tag genervt meine Augen, bevor ich aus der Cafeteria stolziere.

13. JANUAR 2022 • SYDNEY

Die erste Woche ist fast rum und ich habe es geschafft, mich mit sicher zehn Leuten zu unterhalten, aber immer noch allein beim Mittagessen zu sitzen. Es ist fast so, als hätten sich alle gegen mich verschworen. Eine Vendetta gegen das Landei. Danke, Dad. Aber meine Frustration lasse ich mir nicht wirklich anmerken, zumindest hoffe ich das. Nachdem die Stunde zu Ende ist, suche ich gelassen meine Bücher zusammen. Ich habe es nicht unbedingt eilig, allein zu sitzen, also kann die Cafeteria auch gerne noch ein paar Minuten auf mich warten. Nachdem ich alles in meiner Tasche verstaut habe, sehe ich auf. Die einzige Person, die immer genauso lange braucht wie ich, um das Klassenzimmer zu verlassen, ist Sam. Er gehört zu den zehn Leuten, mit denen ich gesprochen habe und ist mir irgendwie als Einziger im Gedächtnis geblieben. Nur denke ich nicht, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Selbst wenn er sich noch an meinen Namen erinnert, war ich für ihn anscheinend nicht spannend genug, um noch ein weiteres Mal mit mir zu sprechen. Bis auf ein kurzes Nicken am Ende der Stunde sehe ich nie viel von ihm. Auch jetzt schaut er nur kurz lächelnd zu mir hinüber und ich lächle zurück. Seine braunen Haare sehen immer so durch gewuschelt aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Er wirkt ein bisschen verplant, als sei er in seiner eigenen Welt unterwegs. Aber irgendwie gefällt mir das. Hier in der Stadt ist alles so hektisch und er geht ein ganz anderes Tempo, nur fällt das niemandem auf, weil sie alle so fixiert auf ihr eigenes sind. Geradewegs nach vorn, ohne für Pausen zu halten.

Bevor ich aus dem Raum gehe, verabschiede ich mich noch schnell bei meinem Englischlehrer. Gabriel Anderson hat vor einem Jahr sein Referendariat beendet und wir sind seine erste eigene Klasse. Junge Lehrer sind immer so viel ambitionierter als die anderen. Er will, glaube ich, noch wirklich etwas verändern, das gefällt mir. Ich gehe gerne in seine Stunde, obwohl wir gerade über Shakespeare sprechen und ich eine absolute Niete im Sonettschreiben bin. Aber darum geht es bei ihm nicht. Vielmehr sollen wir das verarbeiten, was wir fühlen. Was sich gut trifft, denn verarbeiten muss ich da eine ganze Menge.

Als ich in die Cafeteria trete, sehe ich wieder viele besetzte Tische. Ich werde also einfach draußen essen. Oder den Mumm haben, mich zu einer Gruppe zu setzen? Eher nicht.

Ich sehe die Mädels aus meinem Englischkurs. Die hübsche Brünette erkenne ich sofort. Maddison, die Queen B der Schule. Sie thront über den anderen und ich kann die Dynamik der Gruppe auch von zehn Meter Entfernung sofort erkennen. Sie strahlt etwas aus, was einem nicht so einfach aus dem Kopf geht. Ich lächle sie an, doch von ihr kommt nichts zurück. Wie vermutet, werden wir wohl keine Freundinnen werden.

„Hey Sunshine, du bist Sydney, oder?“

Ich fahre herum und sehe zu Adam auf. Ein weiterer Kandidat meiner Zehner-Liste.

„Und du bist Adam. Wir haben montags in der ersten Sport zusammen.“

Er lacht. Er hat dieses Lachen, das die Frauenherzen höherschlagen lässt und das in wenigen Sekunden. Auch auf mich hat er diesen Effekt. Scheiß Herz.

Er ist dieser typische Sunnyboy. Dunkelblonde Haare, Surfertyp, größer als ich und Sport macht er auch. Aber so etwas reicht meistens nicht dafür aus, dass ich mich gleich Hals über Kopf verknalle. Trotzdem ist es schön, dass mal jemand meinen Namen kennt.

„Das ist richtig. Da bist du mir auch gleich aufgefallen.“

Er flirtet, was ich sofort bemerke. Die Frage ist – will ich das? Flirte ich zurück? Und vor allem, warum? Durch einen kurzen Seitenblick merke ich, dass Maddisons Tisch zu uns herüberschaut. Das Mädchen mit den kurzen Haaren sieht aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Dann verstehe ich. Dieser Adam scheint zu ihr zu gehören und spricht wahrscheinlich mit mir, um seine Spielchen mit ihr zu spielen. Zumindest wäre das meine erste Vermutung. Bei Highschool-Intrigen komme ich meist nicht mit, aus sowas hält man sich nämlich lieber heraus.

„Hey, Adam!“

Ich höre Maddison sofort, doch Adam ignoriert sie.

„Wenn du magst, kannst du dich gerne zu mir und den Jungs setzen.“

Wie gerne ich mich einmal zu einer Gruppe setzen würde, anstatt allein draußen zu essen.

„Adam!“

Dieses Mal kann auch Adam es nicht mehr ignorieren.

„Sorry, die Pflicht ruft. Darum sollte ich mich kümmern.“

Er seufzt und schaut mich entschuldigend an, bevor er sich umdreht und zu dem Tisch der Mädels trabt. Das ist mein Stichwort, um zu gehen. Die anderen zwei Jungs, die mit Adam die Cafeteria betreten haben, folgen ihm und ich stehe wieder allein vor der Essensausgabe.

So viel zu der Hoffnung, heute endlich ein paar neue, freundliche Gesichter kennenzulernen. Stattdessen entscheide ich mich dazu, auf das Mittagessen zu verzichten und lieber direkt den Weg nach draußen anzutreten.

Es verschlägt mich in die Richtung des Sportplatzes. Einige Track Runner ziehen ihre Runden. Oder sind es Cross Country Runner? Ich weiß ehrlich gesagt nie, welche Season gerade ist, aber es scheint immer jemand am Laufen zu sein. Ich gehe zu den Tribünen am Rand des Footballfelds und schaue ihnen dabei zu.

„Auch kein großer Cafeteria-Fan, wie ich sehe?“

Erschrocken fahre ich hoch und sehe in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nur zwei Tribünen über mir sitzt Mr. Anderson. Wie sehr ich wohl in meinen Gedanken versunken war, um ihn nicht zu bemerken? Oder hat er sich gerade erst hinter mich gesetzt?

„Äh, doch eigentlich schon. Aber heute war mir nach frischer Luft“, stottere ich mir schnell eine Erklärung zusammen.

„Kann ich gut verstehen. Sieben Stunden in diesem Gebäude wären für mich, als Schüler, auch mehr als genug.“

Es ist komisch, sich außerhalb des Klassenraums mit einem Lehrer zu unterhalten. Sobald sie diesen Job annehmen, verliere ich das Verständnis dafür, dass es sich ja um ganz normale Menschen handelt.

„Na ja, könnte schlimmer sein. Eigentlich ist die Schule ganz in Ordnung.“

Wieder eine Halbwahrheit. Die Schule ist vielleicht in Ordnung, aber sich hier wohlzufühlen fällt mir schwer. „Gib dem Ganzen ein paar Wochen, dann lebst du dich hier ein. Bei mir hat es auch ein wenig gedauert und ich arbeite hier.“

Er lacht. Sein Lachen ist warm und aufmunternd, also lächele ich zurück.

„Ich denke auch.“

Mit einem Nicken greift er nach seiner Tasche, steigt die zwei Tribünen hinter mir hinunter und reicht mir eine Packung Reeces.

„Ich werde sie nicht mehr essen, aber vielleicht hilft dir ein bisschen Zucker, um den Tag herumzubekommen.“

Ich starre auf die Schokolade. Erst möchte ich abwinken, doch so langsam macht sich der Hunger bemerkbar, den ich vorhin bei der Essensausgabe noch gut ignorieren konnte. Also nehme ich sie dankbar an. Lächelnd schaue ich auf und Mr. Anderson nickt mir noch einmal zu, bevor er sich wieder auf dem Weg zurück zur Schule macht.

1. JUNI 2023 • MADDISON

Wir haben auf der ganzen Heimfahrt kein Wort miteinander gesprochen. Doch es stört mich nicht sonderlich. Wenn wir nicht sprechen, muss ich ihr nicht erklären, was passiert ist. Es ist echt anstrengend, wenn ich alle Fragen zweimal beantworten muss. Es ist fast so, als würde sie denken, dass ich im Gericht nur die halbe Wahrheit erzählen würde, um zu Hause auszupacken. Keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Wenn ich unter Eid stehe, bin ich gezwungen zu sprechen. Da muss ich das ganze Verhör nicht auch noch beim Abendessen haben. Ich glaube, sie wünscht sich, dass ich ihr irgendetwas vorenthalte, was mich unschuldig macht, damit sie endlich mal wieder ihre Tochter sehen kann und nicht nur das Monster, das alle aus mir machen. Ich sage nicht, dass ich schuldig bin, doch in ihren Augen bin ich mir da nicht mehr sicher. Trotzdem weiß ich nicht, was sie von mir hören will. Sie hat meine Akten sicher schon hunderte Male gelesen. Die Story wird sich nicht ändern, so sehr sie sich das auch wünscht.

„Das Mädchen“… Sydney ist tot. Sie wird sich nicht morgen früh dazu entscheiden, zurückzukommen, nur weil ich sage, dass es mir leidtut. Oder dass ich vielleicht das ein oder andere nicht hätte sagen dürfen. Wenn man mich fragt, war das eh abzusehen. Sie war eine tickende Zeitbombe. Man entscheidet sich doch nicht einfach, mir nichts, dir nichts dazu, alles zu beenden, weil jemand mal ein wenig gemein war? Wenn das so wäre, hätte ich sicher Massenmord in meinen Unterlagen stehen. Nur weil ich kein zartes Blümchen bin wie alle anderen, werde ich jetzt von einer ganzen Stadt verurteilt. Wo ist das denn fair?

Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke. Ich bin viel zu aufgebracht, um etwas zu essen und habe das Abendessen dementsprechend sofort boykottiert. In meiner Hosentasche steckt immer noch die Packung M&Ms, die Gabriel für mich gekauft hat. Technisch gesehen habe ich sie selbst bezahlt, aber ohne ihn wäre ich jetzt zuckerlos. Ich reiße sie auf und stecke mir eine Schokokugel in den Mund. Schmeckt genauso scheiße wie erwartet und ist sicher seit Jahrzehnten in diesem Automaten gefangen gewesen. Doch das ist mir jetzt egal. Ich kaue auf der Schokolade herum und schiebe die Gedanken an Sydney und den bevorstehenden Tag im Gericht, ganz weit nach hinten in meinem Kopf. So kann ich Platz für Gabriel schaffen. Seit sich unsere Hände berührt haben, fühle ich mich wieder ein kleines bisschen hoffnungsvoller, obwohl die Situation so hoffnungslos wie nie zuvor ist.

Ich hole mein Smartphone aus meiner Tasche hervor und tippe eine Nachricht an ihn. Eigentlich dürfte ich nicht einmal seine Nummer haben, geschweige denn eine Nachricht an ihn schicken. Doch das ist mir jetzt egal. Ich muss einfach wissen, wie es ihm geht und ob zwischen uns alles in Ordnung ist.

Du fehlst mir … - M

Dann werfe ich mein Handy auf die andere Seite des Bettes. So wie ich es immer tue, wenn ich eine riskante Nachricht schreibe. Zu meiner Überraschung vibriert es sofort. Hektisch rolle ich mich herüber und schaue aufs Display. Eine neue Nachricht auf Instagram. Komisch. Meine Freunde schreiben mir immer Textnachrichten … na ja, wenn ich noch Freunde hätte, würden sie mir Textnachrichten schreiben. Ich öffne Instagram und gehe in meine Privatnachrichten.

Lily_dear: Du bist so ein abartiges Miststück …

schämst du dich nicht …

Ich klicke so schnell aus der Nachricht heraus, wie ich sie geöffnet habe. Mir ist schlecht. Natürlich ist das nicht die erste Nachricht dieser Art. Wenn sie jedoch so unerwartet kommen, nehmen sie mir schon manchmal die Luft zum Atmen, nur würde ich das niemals zugeben. Schwer schluckend starre ich wieder an die Wand über mir. Diese Wand und ich haben unzählige Stunden zusammen verbracht. Den Großteil davon in den letzten zwei Monaten. Irgendwie hat sie etwas Beruhigendes und hilft mir, die Panik zu verdrängen, die sich manchmal durch Nachrichten und Tage wie diese bei mir einstellt.

Ich habe es gerade geschafft, mich wieder zu beruhigen, als meine Zimmertür geöffnet wird. Natürlich ohne anzuklopfen. Das Privileg habe ich mir mittlerweile wohl verspielt.

„Maddie, bist du dir sicher, dass du nichts essen willst?“, fragt mich Mom ein weiteres Mal. Ich schüttle den Kopf, für mehr fühle ich mich nicht stark genug.

„Der Tag war lang und anstrengend. Du solltest zumindest ein bisschen was essen.“

Warum versteht sie nicht, dass ich allein gelassen werden möchte?

„Ich habe keinen Hunger, Mom. Bitte geh.“

So langsam wird sie sauer, was ich sogar verstehen kann. Sie tut alles für mich, steht mir bei und ich schaffe es nicht einmal, eine kleine Portion Reis zu essen. So ist es nun mal, wenn man für fahrlässige Tötung oder wofür auch immer – für mich klingt alles einfach nach Mord –, vor Gericht steht. Da vergeht einem der Appetit.

Mein Handy vibriert wieder und ich denke gar nicht daran, danach zu greifen.

„Wer schreibt dir? Ihr sollt doch keinen Kontakt haben?“

Sie befürchtet, dass es sich negativ auf meinen Fall auswirkt, wenn ich nicht alle Regeln des Gerichts aufs Genauste befolge.

„Das ist niemand. Nur so ein Spinner auf Instagram“, gebe ich zurück, ohne sie anzusehen.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du diesen Mist löschen sollst.“

Das Fass ist am Überlaufen.

„Gib mir dein Handy, Maddison.“

Jetzt ist es übergelaufen. Ich will nach meinem Smartphone greifen, doch sie ist schneller. Für eine Sekunde starrt sie auf die Nachricht, dann hält sie mir empört das Telefon vor die Nase.

„Was ist das, Maddison?!“

Ich setze mich auf und schaue auf das Display.

Ich dich doch auch, Maddie … - G

Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich werde panisch.

„Gib mir mein Handy!“

Ich springe auf und fordere es zurück. Die falsche Reaktion. Jetzt weiß sie, dass sie auf etwas gestoßen ist. „Ich gebe dir noch eine letzte Chance, diese Nachricht zu erklären. Und dieses Mal will ich die Wahrheit. Wer ist G?“

Ein weiteres Mal greife ich verzweifelt nach dem Handy, doch sie zieht es zurück.

„Okay, Chance verspielt. Das bekommst du wieder, wenn du bereit bist mir zu sagen, was da los ist.“

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?“, brülle ich sie an.

„Das ist mein Handy. Ich habe es selbst bezahlt, verdammte Scheiße.“

Doch das zieht bei ihr nicht.

„Ja, mit dem Geld deines Vaters.“

Der abfällige Ton bleibt nicht unbemerkt. Ihr gefällt es ganz und gar nicht, dass Dad mir regelmäßig ein großzügiges Taschengeld überweist und sie immer diejenige ist, die sich um den Rest der Erziehung kümmern muss. Einer der Gründe, warum sie sich getrennt haben und Dad sie mit einem jüngeren Modell ersetzt hat. Während ich aufgebracht hinter ihr herrufe, verlässt sie mein Zimmer. Ihr ist das wirklich egal, wie ich mich gerade fühle … Wir wissen beide, dass diese Aktion auch nur ein verzweifelter Versuch ist, die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen.

News Flash: Dafür ist es zu spät. Doch jetzt hat sie mein Handy und ich damit keine Möglichkeit mehr, mich bei Gabriel zu melden.

„Scheiße“, ist alles, was ich dazu sage, während ich mich frustriert in mein Bett zurückfallen lasse.

MADDISONS PARTY • 14. JANUAR 2022 • CASEY

Ich kann es immer noch kaum glauben. Vor ein paar Monaten war ich noch nichts weiter als das bloße Anhängsel von Maddison, was an sich damals schon ein absoluter Gewinn für mich als Sophmore war. Doch heute gehe ich tatsächlich mit Adam Wright auf eine Party! Und das als sein Date?! Ich? Keine Ahnung, wie ich das verdient habe, aber ich freue mich schon ziemlich darüber. Strahlend ziehe ich meinen Lippenstift noch ein weiteres Mal nach. All das habe ich Maddison zu verdanken. Manch einer würde vielleicht sagen, dass sie mir keine gute Freundin ist und ja, manchmal sind ihre Worte vielleicht echt ein bisschen forsch. Doch tief im Inneren ist sie für mich da. Sonst hätte sie das mit Adam ja nie für mich klargemacht. Jetzt muss heute Abend nur noch alles richtig laufen. Aufgeregt greife ich nach meinem Handy und öffne Instagram. Dann suche ich nach ihm. Über beide Wangen strahlend tippe ich seinen Namen in die Suchzeile und scrolle durch die letzten Uploads. Seine blonden Haare sind seit dem letzten Sommer deutlich länger geworden und sehen mindestens zweimal so umwerfend aus. Gern würde ich mal tief hineingreifen, seinen Duft in der Nase und dann seine Lippen auf meinen … doch ich verliere mich schon wieder in meinen Fantasien. Lieber schaue ich weiter. Auf den meisten Bildern steht er neben Isaac und Noah. Die beiden sind ja auch ganz nett, aber nichts übertrifft Adams perfektes Lächeln. Verträumt starre ich auf die Bilder und stelle mir vor, wie ich neben ihm aussehen würde. Nicht länger nur als Mitschülerin, sondern als seine Freundin. Eines der Bilder zeigt ihn und Paige nach einem der Football-Spiele. Ich drücke meinen Daumen auf ihr Gesicht und füge in Gedanken mein eigenes ein. Das würde so viel besser dahin passen. Wenn Paige nicht schon seit Ewigkeiten mit Connor zusammen wäre, fände ich es ziemlich scheiße, dass er Bilder mit ihr postet.

Sie in ihrer engen Cheerleader-Uniform und den langen, dunklen Haaren. Aber so mache ich mir keinen allzu großen Kopf. Ich presse das Handy auf meine Brust und sehe aus dem Fenster. Es ist schon dunkel geworden und dauert sicher nicht mehr lange, bis ich endlich loskann. Als mein Smartphone vibriert, erwarte ich eine Nachricht von Maddison über die Outfits, die ich nicht und die, die ich auf gar keinen Fall tragen darf. Doch stattdessen blinkt eine unbekannte Nummer auf dem Display auf. Als ich die Nachricht öffne, erkenne ich schon an dem kleinen, verpixelten Profilbild, dass es Adam ist und mein Herz macht einen Satz – ganz weit in die Tiefe, als ich sie lese.

Hey Casey. Ich habe mir deine Nummer von Maddison geholt. Ich werde es heute Abend leider nicht schaffen, dich abzuholen. Ich denke, wir sehen uns dann auf der Feier.

Ich denke, wir sehen uns dann auf der Feier? Was soll das denn heißen? Er hat also doch kein Interesse. Sonst würde er ja nicht so etwas schreiben. Der Kloß in meinem Hals wird ganz schnell größer und ich möchte am liebsten alles hinschmeißen und für heute Abend absagen. Was soll ich denn auf einer Feier mit einem Typen, den ich ganz eindeutig viel lieber mag als er mich?

Ich blinzle schnell die Tränen weg, als ich meine Mutter von unten rufen höre. Sie fährt heute Abend noch Dad besuchen. Normalerweise komme ich immer mit, wenn Besuchszeiten sind, aber dieses Mal musste ich absagen. Ich dachte ja, dass ich ein sehr wichtiges Date haben würde.

„Schatz, ich mache mich auf die Socken, okay?“

Darauf antworte ich nicht. Der Kloß in meinem Hals ist zu der Größe eines Footballs angeschwollen und erlaubt mir nicht, zu sprechen.

„Baby?“

Als ich wieder nicht reagiere, geht die Tür auf. Sie ist schon komplett angezogen und hält einen Schuh in der rechten Hand, während sie balancierend versucht, in den anderen zu schlüpfen.

„Alles okay, Baby?“, fragt sie mich wieder. Schnell wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich kann sie nicht immer alle wegblinzeln. Dann setze ich ein Lächeln auf. Meine Mutter tut alles dafür, dass es mir gut geht. Ich weiß, dass ihr das mit Dad sehr zu Herzen geht, also versuche ich, mein Bestes zu tun, um glücklich zu sein. Wir brauchen ja nur einen Problemfall in der Familie und den Job übernimmt meistens er. Doch Müttern kann man nichts vormachen. Sie setzt sich zu mir und streicht mir übers Haar. Genauso, wie sie es seit Jahren tut.

„Egal, was es ist, wir können drüber reden, okay?“

Ich nickte.

„Das weiß ich doch.“

Sie hält kurz inne und mustert mich.

„Bist du sicher, dass du nicht drüber sprechen magst?“

Ich schüttele lächelnd den Kopf.

„Okay, aber wenn doch, dann rufst du mich an.“

Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und springt auf.

„Ich muss los, sonst macht sich dein Vater Sorgen. Und du solltest dir was Hübsches zum Anziehen raussuchen und dich für dein Date fertigmachen. Morgen möchte ich ganz viele Details.“

Dann geht sie, schließt die Tür hinter sich und ich falle schniefend in mein Bett zurück und ruiniere mein Make-up.

20:48 UHR • SYDNEY

Dieser ganze Abend fühlt sich wie ein riesiger Fehler an und trotzdem sitze ich jetzt in diesem Auto, mit einem völlig Fremden und führe eine belanglose Unterhaltung über Football oder Lacrosse, wovon ich übrigens auch absolut keine Ahnung habe. Ich bin durch und durch nicht so der Sporttyp. Aber was macht man nicht alles, um seine Pausen nicht mehr allein verbringen zu müssen. Eigentlich war der Plan für diesen Abend gewesen, sich mit einem Buch in meinem Bett zu verkriechen und das Popcorn aus der Mikrowelle zu essen, was Dad immer kauft. Wenn ich lese, habe ich immer einen eigenen kleinen Film im Kopf und zu jedem guten Film gehört nun einmal Popcorn.

Doch in dem Moment, als ich die Tüte aufreißen und in die Mikrowelle stopfen wollte, klingelte es an der Tür, ich in Jogginghose und „Friends“-Shirt, mit hochgebundenen Haaren und Lesebrille. Adam in Hemd und schwarzer Jeans, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Dann ging alles ganz schnell. Zwar wollte ich Nein sagen, doch Dad hielt es für eine grandiose Idee, dass ich auf eine Party mit meinen Mitschülern gehe. Er denkt ja auch, dass wir alle schon beste Freunde sind und ich ein Teil der Clique bin. Wie enttäuscht er gewesen wäre, wenn ich Nein gesagt hätte.