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Neurodermitis ist eine enorme Herausforderung - nicht nur für das Selbstbewusstsein, auch für die körperlichen und seelischen Kräfte und die eigene Lebensfreude. Iris Seidenstricker hat nach über 45 Jahren mit dieser qualvollen Hautkrankheit einen verblüffend einfachen Weg zu heiler Haut gefunden. Mit Mut und Entschlossenheit, mit immer neuer Hoffnung und unermüdlicher Geduld ist sie ihn trotz vieler Rückschläge gegangen und am Ende mit gesunder Haut und neuer Lebensqualität belohnt worden. Dieses Buch erzählt von einer beeindruckenden Genesung, gibt tiefe Einblicke in das tägliche Leben mit Neurodermitis und bietet inspirierende Impulse für den Umgang mit sich selbst.
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Seitenzahl: 208
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Einleitung
Es gibt ein Leben ohne Neurodermitis
Kapitel 1
Überleben. Irgendwie.
Kapitel 2
Globuli, Cremes und Kliniken
Kapitel 3
Ich bin dann mal die Haut retten
Kapitel 4
Was ich heute tun kann
Gedankenhygiene: Ich bin, was ich (über mich) denke
Stressmanagement: Die Lebendigkeit balancieren
Ernährungskonzept: Essen, was gut tut
Hautgesundheit: Pflege, Streicheln und Vertrauen
Schluss
Ende und Anfang
Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Franz Kafka
Ich wache auf, ein kurzer Check: nichts brennt, nichts juckt. Keine Stelle am Körper, die sich feucht oder heiß anfühlt. Die Finger kleben nicht aneinander, ich kann sie krümmen, ohne dass die Haut mit fiesem Schmerz einreißt.
Frische Morgenluft weht aus dem geöffneten Fenster kühl über mein Gesicht. Was für ein wunderbarer Tagesbeginn!
Neurodermitis ist ein quälendes, belastendes, oft nur schwer erträgliches und bisher als unheilbar geltendes Leiden. Aber ein Buch darüber schreiben, dass ich mich nach 45 Jahren mit dieser Erkrankung in meiner Haut pudelwohl fühle?
Wozu? Es gibt doch schon unendlich viel Literatur zu diesem Thema. Und man kann sich jederzeit in Internetforen oder auf speziellen Plattformen darüber austauschen, wie es sich mit Neurodermitis, die als häufigste chronische Hauterkrankung gilt, lebt und wie man sie behandeln kann.
4,5 Millionen Menschen leiden laut Deutscher Dermatologischer Gesellschaft an ihren Symptomen. Man geht auch in Österreich und der Schweiz davon aus, dass etwa 5 Prozent der Erwachsenen und 10 bis 20 Prozent der Kinder betroffen sind. Die Krankheitsfälle sollen sich in den letzten 60 Jahren in den Industrieländern vervierfacht haben und den Prognosen nach werden sie sich auch in Zukunft weiter erhöhen. Kaum eine andere Erkrankung zeigt diese Steigerung. Wobei nicht ganz klar ist, ob es tatsächlich mehr Fälle von Neurodermitis gibt als früher oder ob sie einfach nur öfter diagnostiziert wird, weil sich die Wahrnehmung von ÄrztInnen und Betroffenen verändert hat. Man nimmt die Neurodermitis heute sehr ernst und AtopikerInnen, wie NeurodermitikerInnen auch genannt werden, suchen sowohl in der Schulmedizin als auch bei alternativen Heilmethoden Hoffnung, Hilfe und Heilung. Was dazu geführt hat, dass sie von der Pharma- und Kosmetikindustrie entdeckt und aktiv umworben werden. Inzwischen gibt es in den Regalen der Apotheken und Drogeriemärkte ein üppiges Angebot an Cremes, Salben und Lotionen für die speziellen Hautbedürfnisse von Neurodermitiker-Innen. Denn nach Meinung vieler MedizinerInnen wie auch WissenschaftlerInnen ist die konsequente, permanente und tägliche Pflege mit allem, was den Fett- und Feuchtigkeitsgehalt der Haut erhöht, bei Neurodermitis das A und O.
Wenn ich jemanden nach längerer Zeit treffe, höre ich oft, dass ich so verändert aussähe, so entspannt und – wie schön – so jung …
Neue Frisur? Neuer Job? Oder vielleicht eine neue Liebe?
Weder noch.
Aber es stimmt, ich sehe anders aus. Wenn ich dann erzähle, was ich gemacht habe, sind die meisten baff. Und können nicht glauben, dass die bloße Entscheidung, von einem Moment auf den anderen alle Cremes wegzulassen, einer der wesentlichen Gründe für mein entspanntes Aussehen ist.
Meine über Jahrzehnte immer wieder schwer entzündete und von Neurodermitis gezeichnete Haut vollbrachte das Wunder, sich innerhalb weniger Monate nur aus sich selbst heraus komplett zu regenerieren.
Ich, die von klein auf »cremen, cremen, cremen« lernte, damit Juckreiz und Krankheitsschübe in Schach gehalten werden können, benutze heute weder nach dem Waschen noch nach dem Aufenthalt in kalter Winterluft oder heißer Sommersonne eine Creme, Lotion oder ein anderes Produkt. Mein Gesicht, mein Hals und meine Hände, wo die Neurodermitis immer am stärksten war, finden dies wunderbar und danken es mir mit einer gesunden und stabilen Haut.
»Sind Sie komplett verrückt geworden?«, hätte so manche Dermatologin und so mancher Dermatologe bestimmt fassungslos gesagt, wenn ich ihm von meinem Projekt »null Creme« erzählt hätte.
»Ihre Haut bildet nun einmal weniger Talg als eine gesunde und leidet außerdem unter einem Mangel an bestimmten Fettstoffen. Die Bindung von Wasser ist reduziert, die Schweißabsonderung wahrscheinlich auch. All diese Veränderungen führen dazu, dass die Hautbarriere gestört ist und Ihre Haut anfälliger für Infektionen und durchlässiger für Schadstoffe und Allergene wird. Wenn Sie nicht wollen, dass die eindringen, dann müssen Sie cremen! Nur so können Sie die Schutzfunktion Ihrer Haut verbessern.«
Die Dermatologin oder der Dermatologe hätten eine kurze Pause gemacht, sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und dann im Brustton der Überzeugung ergänzt: »Und Cremen, das können Sie mir nun wirklich glauben, ist immer noch die allerbeste Methode, um Schübe zu verhindern.«
Ich weiß. Nicht zu cremen widerspricht komplett dem, was Medizin, Kosmetik- und Pharmaindustrie zum Schutz und zur Pflege der angegriffenen Neurodermitis-Haut empfehlen. Mal ganz abgesehen davon, dass die Beschäftigung mit der eigenen Haut erwiesenermaßen Körper und Seele gut tut. Seit meiner Kindheit habe ich mich deshalb ja auch ununterbrochen mit Cremes und Fettsalben versorgt. Bis mein Leiden über Jahrzehnte trotz ständigen Schmierens so groß wurde, dass ich einen anderen Weg suchen musste, um meine Haut zu retten. Und diesen paradoxerweise in der totalen Creme-Abstinenz fand.
»Das Außergewöhnliche geschieht nicht auf glatten, gewöhnlichen Wegen«, schrieb Johann Wolfgang von Goethe einst.
Wie wahr. Denn so einfach sich mein cremefreier Weg anhört und so wenig er im Gegensatz zu vielen anderen Neurodermitis-Therapien kostete – nämlich gar nichts –, so steinig und mühsam war er auch. Ich brauchte unendlich viel Mut, Geduld, Hoffnung und Vertrauen, ihn durchzuhalten und bis zum Ende zu gehen.
Mut, weil ich nicht wusste, ob er mich wirklich zur heilen Haut führt. Hoffnung, weil ich schon so viel ausprobiert hatte, um die Neurodermitis zu heilen oder wenigstens zu lindern, und nichts langfristig geholfen hat. Geduld, weil es nur in winzigen Schritten vorwärtsging, die sich häufig anfühlten, als würde sich nichts verändern oder als würde alles sogar noch schlimmer: Jucken, neu aufflammende Hitze, Schwellungen. Und Vertrauen, dass mein Körper über mächtige und äußerst wirksame Selbstheilungskräfte verfügt und diese auch aktivieren würde.
Und – ganz wichtig: Ich brauchte Menschen. Die auch an diesen Weg glaubten und mir ihre Zuversicht schenkten, wenn meine gerade dahinschwand.
Ich kann nur von meiner eigenen Erfahrung mit meiner entzündeten Haut berichten, davon, was mir half und was nicht. Das heißt nicht, dass es für andere genauso sein muss. Wie oft bin ich ganz aufgeregt in die nächste Apotheke gelaufen und habe mir die Wundersalbe xyz besorgt. Weil jemand in einem Internetforum begeistert berichtete, mit ihr endlich DIE Lösung für seine Neurodermitis gefunden zu haben. Meine Haut hat dann meistens schon beim ersten Kontakt mit der neuen Salbe gebrannt oder unerträglich gejuckt. Und ich, wieder um eine Hoffnung ärmer, machte mich von Neuem auf die Suche nach dem Wundermittel, dem echten »Heiligen Gral«, der mir wirklich eine gesunde Haut schenken würde.
Neurodermitis ist eine Krankheit, die einem nicht nur sämtliche Kraft, sondern auch jegliches Selbstbewusstsein und immer wieder auch die Lebensfreude rauben kann.
Die Neurodermitis hat meine Entwicklung geprägt, meine Berufsentscheidungen, meine Beziehungen und Partnerschaften. Meine Tagesabläufe, mein Seltsam- und Kompliziertsein.
Ich habe Menschen gemieden, mich verabschiedet, wenn die anderen noch feierten oder gerade erst richtig damit anfingen. Und meine Verabredungen lange im Voraus getroffen, in der Hoffnung, dass sich die Haut in der Zwischenzeit beruhigt. Was sie aber nur selten tat. Im letzten Moment habe ich den Termin häufig abgesagt, weil ich mich nicht zeigen wollte. Ich fühlte mich in meiner Haut fast mein gesamtes Leben unwohl und krank, unansehnlich und unsicher. Sie war eine Grenze, die mich von anderen trennte und einsam machte. Weil sie mich in ein Gefängnis sperrte, mich immer wieder unter strengen »Haut-Arrest« stellte.
Bei einem Vortrag in einer Klinik sprach ein Arzt darüber, sich trotz Hautkrankheit nicht die Lebensfreude nehmen zu lassen.
»Vor allem«, appellierte er an uns NeurodermitikerInnen, Schuppenflechtler und Allergiker im Publikum, »ziehen Sie sich nicht zurück. Mischen Sie sich unter Menschen, nehmen Sie am gesellschaftlichen Leben teil!«
Ich wurde ärgerlich. Da forderte jemand mit kerngesunder Haut – zumindest wirkte es so – Menschen, die von ihrer kranken Haut gezeichnet waren, fröhlich dazu auf, das Leben doch einfach mal locker zu nehmen.
Ratschläge mochte ich noch nie. Aber Ratschläge von jemandem, der offensichtlich keine Ahnung hatte, welche Qual und massive Einschränkung Neurodermitis bedeuten kann, waren völlig daneben. Wie soll man mit einer Haut, die man ständig abwaschen, die man liebsten herunterreißen möchte, um sich von ihr zu befreien, das Leben genießen?
Ich kenne Menschen mit Neurodermitis, die, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen, sich als Erstes mit der Bürste blutig kratzen oder mit fast kochendem Wasser duschen. Weil der Schmerz der kaputten Haut oder des heißen Wassers den unerträglichen Juckreiz, der sich wie tausend Mückenstiche gleichzeitig anfühlt, für eine kurze Zeit betäubt.
Wie soll man Lust auf Menschen und Gemeinschaft haben, wenn die eigene Haut wie eine dicke, heiße, trockene Erdmaske auf dem Gesicht klebt und man weder die Kraft hat, sich selbst anzuschauen, noch die Blicke anderer aushalten kann und will?
Die französischen Dermatologen Louis Brocq und Lucien Jacquet haben 1891 eine Verbindung von chronischem Ekzem mit seelischen Verarbeitungen vermutet und diese »Neurodermitis« genannt.
In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde ein Zusammenhang zwischen Neurodermitis und Allergien hergestellt und die Bezeichnung »atopisches Ekzem« kam als neuer Fachbegriff hinzu.
Neurodermitis äußert sich durch entzündliche Hautveränderungen in Form von Ekzemen, starkem Juckreiz und roten, geschwollenen Hautpartien. Die Haut ist trocken und empfindlich, das Erscheinungsbild der Neurodermitis kann aber individuell sehr unterschiedlich sein. Warum jemand an Neurodermitis erkrankt, ist bis heute nicht exakt erforscht. Wissenschaftler-Innen haben zwar Gene identifiziert, die damit zu tun haben könnten. Doch das Erbgut alleine ist es nicht – Neurodermitis tritt auch ohne erbliche Vorbelastung auf. Sie ist daher keine Erbkrankheit, aber doch eine vererbte Neigung, an diesen Symptomen zu erkranken.
Man geht inzwischen davon aus, dass psychische Faktoren und Umwelteinflüsse den Ausbruch der Neurodermitis provozieren. Äußere Faktoren sind Allergene wie Pollen, Tierhaare, die Hausstaubmilbe oder Nahrungsbestandteile, das Klima, die Ernährung oder mechanische Reize. Die Psyche spielt wie bei allen Krankheiten eine entscheidende Rolle: Je nachdem, in welcher Verfassung man gerade ist und wie man Stress und die Belastung durch die Krankheit bewältigt, kann sich die Neurodermitis verbessern oder verschlechtern. Mehr dazu auch in Kapitel 4.
»Hast du schon mal einen richtig heftigen Sonnenbrand gehabt, auch im Gesicht?«, war meine Standardfrage, wenn jemand tatsächlich wissen wollte, wie sich Neurodermitis anfühlt. Die meisten hatten Erfahrung mit Sonnenbränden. »Okay«, sagte ich dann, »und damit sitzt du in der Sauna und kannst nicht raus. Du bist eingesperrt in der schwülen Hitze, es wird immer heißer, deine Haut brennt und du weißt nicht, wann die Tür wieder aufgeht. Und genauso fühlt sich mein Gesicht jetzt an.«
Heute würde mich die Aufforderung des Klinikarztes nicht mehr aufregen. Im Gegenteil, ich würde zustimmend nicken. Denn auch wenn es mir nicht gut geht, heißt das nicht, dass ich im Leid versinken muss und mein Leben komplett von der Neurodermitis abhängig mache. Wie ich es jahrelang getan habe. Arbeit, Beziehungen, Essen, Schlafen, Hobbys – alles ordnete ich ihr unter und versuchte trotzdem, leistungsfähig zu bleiben und zu funktionieren. Weil ich es so wollte und auch nicht wusste, wie ich es hätte anders machen können.
»Wir kommen nie aus den Traurigkeiten heraus, wenn wir uns ständig den Puls fühlen«, hat Martin Luther vor 500 Jahren erkannt. Und gesagt, was NeurowissenschaftlerInnen – die ForscherInnen, die sich mit Aufbau und Funktionsweise des Nervensystems und des Gehirns beschäftigen – mit ihren Forschungen inzwischen beeindruckend beweisen können: Körper und Geist sind eine Einheit. Wir sind, was wir denken. Wir denken, was wir fühlen. Und wir fühlen, was wir denken.
Wenn ich mich ständig mit meiner Haut beschäftige, damit, wie sie mich quält und beeinträchtigt, dann werden auch alle meine Gefühle und Gedanken nur um meine Haut und die Beeinträchtigungen kreisen, die ich durch sie empfinde. Und ich mache das, was mich stört, nur noch größer und stärker.
Natürlich kann ich mich mit einer akut entzündeten Haut nicht gut fühlen. Entzündungen rauben Lebenskraft, man ist müde, friert oder hat vielleicht sogar Fieber. Man ist schlichtweg krank. Sich dann nur das zuzumuten, was man sich zumuten möchte, und ansonsten für einen Raum des Rückzugs und Schutzes zu sorgen gehört zu der Fürsorge, die das mindeste ist, was man während eines Neurodermitisschubs für sich tun kann und tun sollte.
Aber es gibt auch Phasen der Erkrankung, die die Teilnahme am Leben durchaus ermöglichen. Was allerdings einer Entscheidung bedarf. Die man gegen die Krankheit – »Ich gehe jetzt auch so, wie ich bin, raus« – oder für sie – »Ich sehe keinen anderen Weg und leide weiter« – treffen kann.
Neurodermitis ist ein Joker für all die Dinge, Termine und Aufgaben, die man sich gern ersparen möchte. Mit ihr hat man immer eine Entschuldigung. Und das ist nur einer der vielen Vorteile, die sie bietet. Vor allem Kinder beziehen Aufmerksamkeit aus ihr, als Erwachsener gönnt man sich vielleicht nur wegen der entzündeten Haut endlich Ruhe. Die man zwar schon lange braucht, sich aber nicht zugesteht. Oder andere nehmen endlich einmal Rücksicht, die man ansonsten bei ihnen vermisst. Und wenn man sich nur noch um seine Neurodermitis kümmern muss, bleibt weder Zeit noch Energie für all die anderen kleinen und großen Themen, die auch noch da sind. Aber wer wollte es einem verübeln?
Als ich mich damit auseinandergesetzt habe, welche Vorteile mir die Neurodermitis brachte, weil ich mich unangenehmen Situationen entziehen konnte, verstand ich zum ersten Mal, welchen Gewinn ich durch sie auch hatte.
Krankheitsgewinn ist eine gewaltige Macht. Ihn aufzugeben muss man wollen. Ich musste über Jahre enorm viel lernen, um der Neurodermitis ihre Bedeutung, die sie für meine Lebensbewältigung hatte, zu nehmen. Strategien im Umgang mit Stress zum Beispiel. Oder mehr auf mich selbst und mein Bauchgefühl zu hören. Auch wenn es dann unbequem werden und zu Konflikten kommen kann.
Ich musste lernen, mich selbst anzunehmen, zu unterstützen und wertzuschätzen. Und endlich die Form der Ernährung finden, die meiner Seele und meinem Körper gleichermaßen gut tut. Aber vor allem musste ich begreifen, dass ich – egal wie ich gerade aussehe – dazugehöre und mich Menschen zumuten darf. Was ich immer als eine ziemliche Herausforderung empfand, weil hier auch vererbte Ängste und Erfahrungen unserer Vorfahren eine Rolle spielen. In früheren Kulturen hielt man sich nämlich von Menschen mit Hautanomalien fern und grenzte sie absichtlich aus. Was für diese wie ein Todesurteil war, denn allein, fern von der Sippe, war das Überleben kaum möglich. Neben Scham hielt mich vielleicht auch diese tief im Unterbewusstsein verankerte Urangst vor Ablehnung davon ab, mich Menschen zu zeigen.
Inzwischen erfahre ich täglich, wie mein Fühlen und Denken mein Leben lenken. Und wie wichtig Freude, Dankbarkeit und innerer Frieden für meine Gesundheit und damit auch für den Zustand meiner Haut sind. Allerdings kann ich mir nicht leisten, darauf zu warten, dass mir die guten Gefühle in den Schoß fallen. Wenn ich mich wohlfühlen will, muss ich mich zuerst dafür entscheiden. Und dann etwas dafür tun.
Es sind schon die ganz kleinen Dinge, die meine positiven Gefühle zum Fließen bringen und dadurch mein Immun- und Hormonsystem stärken und im Gleichgewicht halten. Dankbarkeit zum Beispiel. Für alles Mögliche. Für das Vogelzwitschern am Morgen, die kühle Luft auf meiner Haut, den Lebensmenschen an meiner Seite, das leckere Frühstück, den Tag überhaupt. Für meine Arbeit, die ich mit meinen Ideen, meiner Kreativität und nach meinem Zeitplan gestalten darf. Freude gehört dazu, Lachen, Genießen und Entspannen. Wie auch Menschen um mich zu haben und die kostbare Zeit zu genießen, die ich mit mir allein verbringen kann.
Ich habe langsam und durch viele schmerzliche Rückschläge gelernt, dass Gesundheit und die Gewissheit, mich in meiner Haut wohlzufühlen, keine statischen Zustände sind, die ich – nach so vielen Jahren endlich erreicht – nun auch für alle Zukunft weiter haben werde. Das war immer meine Vision. Und wie gern hätte ich es gehabt, dass irgendwann einmal der letzte Schub gekommen wäre, mit dem sich die Neurodermitis dann ein für alle Mal aus meinen Leben verabschiedet. Aber so war und ist es nicht.
Es geht mir heute hautmäßig so gut wie noch nie. Aber kann ich wissen, was die Zukunft bringt? Der Gedanke an sie hat mich früher sehr beunruhigt. Heute bin ich einverstanden, dass ich keine Ahnung habe, was kommen wird. Weil ich inzwischen fest darauf vertraue, dass ich mit all den Aufgaben, die mir das Leben noch stellen wird, gut klarkommen werde.
Ich habe mittlerweile verstanden und akzeptiert, dass meine Haut immer auf Gefühle, auf Umwelteinflüsse und das reagieren wird, was in meinem Leben gerade passiert. Und darauf, wie ich mit mir umgehe. So wie ich ab und zu erkältet bin oder Kopfschmerzen habe, zu viel Kaffee trinke, in Süßigkeiten schwelge oder zu wenig zur Ruhe komme, so ist auch meine Haut mal röter oder trockener, es juckt ein Finger oder es schuppt eine Stelle am Kinn. Aber das ist nichts im Vergleich zu der Zeit, als die Neurodermitis mein Leben beherrschte.
Ich fühle mich heute gesund. Ganz in dem Sinne, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit definiert: »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und ist nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«
45 Jahre Neurodermitis. Die Arbeit an diesem Buch hat mich noch einmal die ganze Schwere und Tragik der letzten Jahrzehnte erleben lassen. Wie viel Kraft es mich gekostet hat, die Neurodermitis immer wieder auszuhalten – und noch mehr, weil ich sie ablehnte, sie hasste und einfach immer nur »weghaben« wollte.
Mein Freund Ferdinand, ein Lehrer, erzählte mir von einem Schüler, der von klein auf schwerste Neurodermitis hatte. Tapfer kämpfte er sich durch die Schulzeit, die von vielen Klinikaufenthalten unterbrochen war. Kurz vor dem Ende seines Studiums nahm er sich das Leben. Obwohl ich diesen jungen Mann nicht kannte, hat mich die Nachricht von seinem Tod erschüttert. Weil ich weiß, welch unendliche Kraft der Alltag mit Neurodermitis kostet, wie unglücklich und verzweifelt man immer wieder ist und wie ausweglos einem oft alles erscheint.
»Finden Sie sich damit ab«, sagte eine Ärztin zu mir, »dass Sie Ihr Leben lang mit Neurodermitis zu tun haben. Wenn es gut geht und Sie Ihre Haut ordentlich pflegen, dann können Sie die Symptome lindern. Das ist dann schon sehr viel. Aber Heilung? Die gibt es nicht.«
Doch, die gibt es. Zumindest für mich. Ganz ohne Pflege. Oder eben gerade wegen des Verzichts auf das täglich mehrmalige Eincremen. Genau dadurch ist meine Neurodermitis zum Stillstand gekommen. Heile, gesunde und entspannte Haut ist inzwischen nicht mehr die seltene Ausnahme, sie ist mein Alltag. Aber dennoch alles andere als alltäglich.
Meine »neue« Haut erlebe ich heute – auch Jahre nach der Wende zum Guten – immer noch als eine unglaubliche Erlösung, ich bin bestimmt gefühlte hundertmal am Tag erleichtert darüber, dass sich keine Stelle heiß anfühlt, nichts nässt, brennt und mein Gesicht klare Konturen hat. Weil keine Entzündungen da sind, die zu Schwellungen führen. Unzählige Male schwelge ich im Laufe des Tages in dem Glück, dass sich meine Haut nach »nichts« anfühlt, dass ich kühles Wasser auf ihr genieße, raus- und reingehe, ohne dass Temperaturunterschiede Unwohlsein und Juckreiz auslösen und mich der Blick in den Spiegel keine Überwindung kostet. Im Gegenteil: Ich genieße ihn!
Natürlich sind die kleinen und großen Herausforderungen meines Lebens nach wie vor da und ständig kommen neue hinzu. Auch der Umgang mit heiler Haut ist eine. Aber sie nun ohne die existenzielle Belastung der Neurodermitis angehen und meistern zu können – darüber freue ich mich immer wieder und dafür bin ich zutiefst dankbar.
Und genau darum gibt es dieses Buch. Weil ich jedem, der unter Neurodermitis leidet, Mut machen möchte, weiter nach dem eigenen Weg zu suchen und die Hoffnung nicht aufzugeben, sich eines Tages in seiner Haut und seinem Leben wieder richtig wohlzufühlen. Auch wenn es oft sehr schwer ist oder manchmal sogar unmöglich erscheint – in den Bildern und Gefühlen, die wir mit unserer Hoffnung verbinden, fließt jene geheimnisvolle und gewaltige Energie, die uns Stück für Stück unserem Ziel entgegentreibt.
So verschieden wir alle sind, so unterschiedlich und verschlungen sind auch die Wege, die dorthin führen. Manche hat der Glaube an ihren Gott gesund werden lassen. Andere schwören auf Rohkost und verzichten dabei oft auch auf Getreide. Wieder anderen tut die Ernährung mit gegarten Mahlzeiten nach der Lehre der Traditionellen Chinesischen Medizin gut – sie nehmen überwiegend warme Mahlzeiten mit gekochtem Getreide zu sich. Alle Wege funktionieren, alle haben schon dazu beigetragen, dass Menschen sich besser fühlten oder sogar geheilt wurden. Aber wohl keiner hat jedem helfen können.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit der Not der Neurodermitis und das unermüdliche Bemühen, sie zu bewältigen, immer wieder neue Perspektiven eröffnen und weiterbringen. Indem man interessante Anregungen und plausible Therapien ausprobiert, lernt man sich selbst auf eine so gründliche und Weise und in einer Tiefe kennen, wie es sonst wohl kaum möglich wäre.
Manches muss man vielleicht mehrmals versuchen, weil der Körper in jeder Lebensphase anders reagiert. Und auch die Bereitschaft, sich auf einen bestimmten Weg einzulassen, ist je nach Lebenssituation und Verzweiflungsgrad größer oder geringer. Ich habe drei Anläufe ohne Cremes gebraucht, bis ich wirklich bereit war, alles auf die Karte »null Creme« zu setzen und sämtliche Cremedosen und -tuben in der Kiste auf dem Dachboden zu verstauen. Um sie später zu entsorgen.
Dieser Schritt war der entscheidende zur Rettung meiner Haut. Eine die Haugesundheit unterstützende Ernährung, der liebevolle Umgang mit meinem Körper, konstruktive, gute Gedanken und wirksame Stressbewältigung gehörten und gehören aber ebenfalls dazu. Denn Genesung ist immer ein ganzheitlicher, andauernder Prozess und kann meiner Meinung nach nur gelingen, wenn alle Aspekte des Lebens einbezogen werden.
Meine Reise zu gesunder Haut, dem Wohlfühlen in meinem Körper und der Freude an meinem Leben war eine jahrzehntelange Suche mit Hochs und Tiefs, voller Rückschläge, Hoffnungen, Enttäuschungen und Leiden. Bis ich schließlich den versteckten, schmalen und kaum begangenen Pfad der Creme-Abstinenz entdeckte.
Von ihm und den vielen Wegen davor, die mich alle auf ihre Weise ein Stück weiter zu meiner Wohlfühl-Haut geführt haben, erzähle ich in den folgenden Kapiteln.
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Äußere Krisen bedeuten die Chance, sich zu besinnen.
Viktor E. Frankl
Mein Gesicht glüht. Meine Haut spannt und brennt, das linke Auge fühlt sich geschwollen an. In der rechten Wange pulsiert ein scharfer Schmerz, klebrig-feuchte Wärme kriecht den Hals hoch. Das Schlafzimmerfenster steht weit offen und ich kann den Wind in den Bäumen hören. Aber ich spüre die kühle Morgenluft nicht. Nur die schwüle Hitze in meinem Gesicht.
Liegt es am Tonerstaub? Oder am Ozon vom Drucker? Ich war gestern oft im Kopierraum. Papierstau, Toner leer, neue Tonerkassette eingelegt, auf die Ausdrucke gewartet.
Oder waren es die Tomaten in der Soße zum Mittagessen? Oder vielleicht doch die Rosinen im Salat? Ich hatte schon seit Jahren keine mehr gegessen und Trauben meide ich ja auch konsequent. Wie blöd, ausgerechnet in diesem Hautzustand Rosinen zu essen. Vielleicht sollte ich aber auch endlich auf meinen Frühstücksapfel verzichten. Die viele Fruchtsäure …
Die rechte Wade brennt, es fühlt sich nach blutigen Kratzern an. Und wieder dieses teuflische Jucken im kleinen Finger. Ich schubbere, bis die Hautoberfläche weggerieben ist und Lymphe fließt. Ein heißer Schmerz, aber der Juckreiz ist wenigstens weg. Mein schwüler Nacken brennt auch. Ich taste ihn ab, die große verschorfte Stelle ist nicht mehr da. Ich muss sie nachts aufgekratzt haben. Die Handschuhe, die ich seit einigen Tagen wieder nachts trage, liegen irgendwo im Bett herum. Sie nützen auch nicht wirklich etwas. Im Gegenteil, mit ihnen lässt sich die Haut sogar noch besser bis aufs rohe Fleisch aufreiben.
Ich bin todmüde, mein Körper fühlt sich schwer und bleiern an. Es ist erst halb vier, ich könnte noch liegen bleiben. Aber ich habe um neun einen Termin, ich muss aufstehen. Ich brauche die Zeit, um mich körperlich und geistig darauf vorzubereiten, auch heute wieder mit dem ganzen sichtbaren und unsichtbarem Elend der Neurodermitis unter Menschen zu gehen.
Ich greife nach der Fettsalbe auf dem Nachttisch, schmiere die Haut um den Mund herum ein und quäle mich aus dem Bett. Am großen Flurspiegel schleiche ich, ohne einen Blick hineinzuwerfen, vorbei ins Bad. Das Licht bleibt aus, der Schimmer des Morgengrauens ist hell genug, um Zahnbürste und Zahnpasta zu finden. Ich will mich nicht im Spiegel sehen. Wie ich mich fühle, reicht, um zu wissen, wie ich aussehe.
Seit Monaten lebe ich nun schon wieder mit Schummerlicht und ohne Spiegel. Wie schon unzählige Mal in meinem Leben.
Jeder Spiegel ist anders. Manche sind weich, manche hart. Manche ein wenig blind. Manche scharf und unbarmherzig. Viele Menschen merken das gar nicht. Ich sehe sofort, welchen ich vertrauen kann und welche mir wohlgesonnen sind. Es sind jene, die nicht jede Röte, jeden Riss oder Kratzer und jede Schwellung gnadenlos zeigen. Spiegel können ein Lebenselixier sein. Aber sie können Lebensmut auch töten. Wenn ich überleben will, muss ich die richtigen kennen. Und selbst sie immer wieder meiden.
Ein Blick aufs Handy. Noch fast vier Stunden bis zum Termin.
Vielleicht beruhigt die Haut sich ja noch?