Ich fand mein Herz durch dich - Stephanie Doench - E-Book

Ich fand mein Herz durch dich E-Book

Stephanie Doench

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Beschreibung

Die 20-jährige Isabella aus dem Bundesstaat Louisiana, USA leidet unter einer chronischen Herzmuskelentzündung, die bei ihr fast zum Tod geführt hätte. Erst durch die Transplantation des Herzens einer bei einem Autounfall verstorbenen Haushälterin aus Mississippi bekommt Isabella ein zweites Leben geschenkt. Schon vor der Operation verspürte sie dieses intensive Gefühl in ihrem Herzen jemanden zu vermissen. Dieses Gefühl bringt sie auf die Idee, nach ihrer unbekannten Großmutter zu suchen und führt sie schließlich in den Nachbarstaat Mississippi. Dort lernt sie die 80-jährige Ava kennen. Eine lebenserfahrene, bekannte Schriftstellerin mit trauriger Vergangenheit, wovon niemand ahnt. Erst durch Isabellas Suche nach der leiblichen Großmutter dringt Avas Vergangenheit langsam an die Oberfläche hervor und wird, wenn auch nicht ganz freiwillig, dank Isabellas Hartnäckigkeit gelüftet.

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Inhaltsverzeichnis

Der Prolog

Kapitel 1 Die Krankheit

Kapitel 2 Der letzte Roman

Kapitel 3 Wer ist meine Oma?

Kapitel 4 Das lange Warten

Kapitel 5 Nichts ist mehr wie es war

Kapitel 6 Die Herztransplantation

Kapitel 7 Die Beerdigung

Kapitel 8 Der nächste Morgen

Kapitel 9 Der Brief

Kapitel 10 Nach der Operation

Kapitel 11 Mississippi

Kapitel 12 Streit mit Jack

Kapitel 13 Der Traum

Kapitel 14 Ich will sie finden

Kapitel 15 Entscheidungen treffen

Kapitel 16 Amt für Adoption

Kapitel 17 Der Privatdetektiv

Kapitel 18 Der zweite Besuch

Kapitel 19 Zwei Herzen werden eins

Kapitel 20 Ava und Jacob

Kapitel 21 Annabelle

Kapitel 22 Der Abschied

Der Epilog

»Alle Menschen sind äußerlich unterschiedlich. Doch innerlich sind wir alle gleich. Jeder von uns trägt ein Herz in sich, das schlägt. Und eine Seele, dass es trägt.«

Stephanie Doench

Der Prolog

Heute in Mississippi, USA

Es ist ein verregneter Tag, der Himmel ist dunkel, als ob das so sein müsste. Denn als sie gegangen ist, hat der Himmel angefangen zu weinen. Jede einzelne Träne gilt dir, meine Liebste.

»In der Dunkelheit der Trauer leuchten die Sterne der Erinnerung für die unter uns, die dich schmerzhaft vermissen. Gott möge dir deine letzte Ruhe geben. Der Herr behüte und beschütze dich, sodass du nun Ruhe und Frieden findest in Ewigkeit. Die Engel nehmen dich in Empfang. Geduldig wartest du auf die, die du liebst. Herr gebe ihnen allen ein langes Leben und wenn sie bereit sind zum ewigen Tode, dann nimmst du sie mit offenen Armen entgegen, so wie sie einst dich in deinem Leben mit offenen Armen empfangen haben«, spricht der Pastor.

Viele Menschen sind auf die Beerdigung gekommen. Es ist schön zu sehen, wie beliebt sie war. Doch in mir ist tiefe Trauer. Glücklich, sie noch kennengelernt zu haben und doch traurig, sie verloren zu haben. Die anwesenden Menschen heute und hier sind alle in Schwarz gekleidet. Sie sind alle da, jeder will ihr die letzte Ehre erweisen. Ich bin traurig, ja, das bin ich. Mum hält mich im Arm, auch sie ist traurig. Bei ihr kann ich es noch am meisten verstehen. Aber ich, ich muss sagen, dass ich sie unendlich geliebt habe. Sie hatte nicht nur Klasse, sondern auch Stil, Würde, Anmut und zeitlose Eleganz. Wenn ich nur ein bisschen von ihr hätte, würde mir das reichen bis ans Ende meines Lebens. Doch im Endeffekt kann ich zu ihr sagen: Welch ein Glück, dass ich dich kennenlernen durfte.

Im Haus von ihr ist es erst still und bedrückend. Doch dann sehe ich in die Gesichter der Menschen, und immer mehr erkenne ich das Strahlen in ihren Augen. Das Strahlen vor Glück, sie gekannt zu haben und ein Teil ihres Lebens gewesen zu sein. Auch ich gehöre dazu. Und Mum, Dad, Benjamin, seine Eltern und alle anderen, die sie auch in ihr Herz geschlossen haben. Schwarze und weiße Leute, alle vereint. Alt und Jung, alle sprechen miteinander. Sie unterhalten sich über ihr gelebtes Leben und über die Göttlichkeit vom Leben im Allgemeinen. Das Glück, am Leben zu sein, Gesundheit zu erleben, Brot auf dem Tisch zu haben und seine Liebsten bei sich Wissen zu dürfen, ist ein großes Geschenk. Auf einmal wird gelacht und bei Gott auch getratscht. Lord, im Himmel, verzeih uns das. Wir sitzen alle zusammen in der Gemeinschaft. Das macht mich stolz, irgendwie dazuzugehören. Sie fangen an, in die Hände zu klatschen, den Lord zu preisen und mit ihren kräftigen Stimmen zu singen. Ich bekomme Gänsehaut. Dad stupst mich an. Er will mich ermutigen mitzusingen. »Sing, so laut, du kannst. Sing für sie, sing für Gott und für den Himmel. Mach es für sie, sie würde sich freuen!« Selbst Benji klatscht und singt mit der Gruppe. Schüchtern sitze ich da und weiß nicht, ob ich mich so weit öffnen kann. Ich bin in Trauer, wie all die anderen Leute auch, und trotzdem finden sie den Mut und singen einen herrlichen Lobpreis. Dann sieht Mum mich an, sie sagt nichts, doch ich weiß, es ist jetzt Zeit für mich. Zeit loszulassen und mich dem Leben hinzugeben, so wie sie es getan hat. Also nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und klatsche erst mal in die Hände. Die anderen Trauergäste werden immer euphorischer; sie klatschen wild und laut in die Hände, sie tanzen und sie feiern das Leben. Mir kommt es so vor, als ob sie ihr vollbrachtes Leben feiern. Ich steige beim Wort Halleluja mit ein. Ich mache weiter, nichts, hält mich davon ab, ich singe mit der Einheit, ich bin nicht allein, ich gehöre dazu. Meine Bedenken lasse ich fallen und mache einfach mit. Letztendlich singe ich, als wenn es keinen Morgen gäbe. Und bei Gott, es macht mir Spaß. Am tollsten ist es für mich, dass ich nicht darauf achte, mich gut zu benehmen, sondern in diesem Moment einfach lebe. Dafür danke ich dir im Himmel. Der Gesang kommt mir so vor, als hätte er einige unter den Gästen in Ekstase gebracht. Doch das macht nichts, es ist eine Zusammengehörigkeit, die ich vor einigen Jahren so ausgeprägt noch nicht kannte.

Zusammengehörigkeit gab es zwischen mir und meinen Eltern, auch zwischen mir und Katy. Aber nicht mit so vielen anderen Menschen, wie sie heute hier auf ihrer Beerdigungsfeier sind. Und wenn ich das Gefühl doch kannte, dann habe ich es unterdrückt. Erst durch sie habe ich dieses Gefühl wieder offen ausgelebt. Ich danke ihr dafür.

Nachdem "Halleluja" und "Price the Lord" zu Ende gesungen wurden, stürzen wir uns gemeinsam auf das Buffet. Denn zu jeder Feier sei sie auch noch so traurig, gehört was Anständiges zu essen. Süßkartoffel-Auflauf, Mais, selbst gebackenes Brot und andere Köstlichkeiten gibt es zum Verzehr. Nun sitze ich da mit meinem vollen Teller und will essen, doch ich kann nicht. Ich bekomme keinen Happen herunter. »Nimm was zu dir. Du verhungerst sonst. Sie hätte nicht gewollt, dass du in Hungerstreik gehst«, sagt Mum zu mir. »Ich kann gerade nicht, ich muss immer zu an sie denken.« Mir ist schlecht, vielleicht mag ich lieber zu reden, anstatt zu essen. Benjamin und mein Dad sitzen neben mir und ich glaube, sie wollen mir sagen, dass ich etwas essen soll. Doch sie sprechen das nicht aus. Sie kennen mich eben viel zu gut und wissen, welch Sturkopf neben ihnen sitzt. Ich bin froh, als eine Nachbarin von meiner Großmutter anfängt zu sprechen. Ich höre gerne den Leuten zu, das lenkt ab. ›Ich brauche nichts zu essen und vielleicht erfahre ich so noch mehr über sie?‹, frage ich mich. Die Nachbarin scheint total nett, sie spricht in einer ruhigen Art, was wiederum mich beruhigt. »Ich wusste gar nicht, dass sie eine Tochter und eine Enkelin hat? Ich dachte, sie sei mit ihren Romanen verheiratet gewesen«, führt die Nachbarin aus und alle müssen lachen, weil dies, bevor wir in ihr Leben traten, auch so war. Anscheinend kennen die Leute sie gut, das zeigt, dass sie ein toller Mensch war und von ihren Mitmenschen gesehen wurde. Ich weiß nicht, was ich auf die Nachbarin antworten soll? Ich will so viel sagen und doch kann ich es nicht. Und in diesem Moment danke ich meiner Mum, denn sie kann Antworten im Gegensatz zu mir: »Wir haben sie vor Kurzem erst kennengelernt.« Der Mann von der Nachbarin scheint interessiert und will mehr über uns und die Situation mit meiner Großmutter erfahren: »Warum habt ihr sie so spät erst kennengelernt?«, meine Eltern und ich sehen uns schweigend an. Wir wollen antworten, denn wir sind glücklich und stolz über unsere fast unvorstellbare Zusammenfügung. Der Nachbar und seine Frau versichern uns, dass sie uns nicht zu nahe treten wollen.

»Es ist voll okay, dass ihr fragt«, alle Augen schauen auf mich. Denn ich bin diejenige, die diese Worte ausgesprochen hat. Aber ich habe das Gefühl, dass ich dies aussprechen muss. »Die Frage ist nicht, warum wir sie vor Kurzem erst kennengelernt haben? Sondern die Frage ist vor allem, wie wir sie kennengelernt haben?« Alle um mich herum schweigen und sind sichtlich verblüfft von meiner Art auf die Frage zu reagieren, denn sie lässt eine Antwort erhoffen. Andere Nachbarn, Kollegen von der Wohltätigkeitsorganisation und Freunde haben sich um die Couch herum versammelt und richten ihre Blicke gezielt auf meinen Mund. »Ja genau. Warum und wie habt ihr sie kennengelernt?«, will der aufgeschlossene und freudige Nachbar wissen. Die anderen Nachbarn nicken und stimmen dem zu, was darüber wissen zu wollen. Nur Mum schaut mich fragend an: »Du musst dazu nichts sagen, wenn du nicht willst. Es zwingt dich keiner!« Mir ist klar, dass ich damit die Neugier der Menschen geweckt habe, und was man anfängt, soll man auch zu Ende bringen. Das habe ich aus ihrer Geschichte gelernt. Bringe zu Ende, was du angefangen hast. Also schaue ich meine Mum mit ernster Miene an und bin mir sicher, dass ich nichts so sehr will, wie unsere gemeinsame Geschichte zu erzählen. »Es ist okay. Bitte lass mich. Es ist mir wichtig, das den anderen zu erzählen!« Mein Dad legt seine Hand auf meinen Rücken, dadurch kommt es mir vor, als würde seine Kraft in mir hinübergehen. Meine Mum schaut erst meinen Dad an und dann mich. »Okay Schatz. Wenn du reden möchtest, dann rede.« Die Leute starren mich an, doch in Wahrheit schauen alle auf sie, denn es ist ihre Geschichte und die meine. Die Trauergäste des Hauses versammeln sich um uns herum. Einmal tief Luft geholt schaue ich in Benjamins Augen; er zwinkert mir zu und flüstert leise: »Das machst du richtig und ich vertraue dir.« Kurz blicke ich noch einmal zu Großmutter ihr Schwarz-Weiß-Foto hinüber und beginne somit unsere Geschichte vor allen anderen zu erzählen. Ich mache sie zu Zeugen unserer unglaublichen und doch wahrhaftigen Story. Dies ist mein Wunsch und ich bin mir sicher, auch der meiner einzigartigen und geliebten Großmutter.

»Also, das war so …«

1.

Zweieinhalb Jahre zuvor in Louisiana, USA

Nach unzähligen Jahren voller Schmerzen, Ungewissheit und auch Angst lag ich wieder im Krankenhaus. Es schien mir, als hätte ich zwei Leben. Ein Leben zu Hause und ein Leben im Krankenhaus. Welches davon ich lieber mochte, scheint jedem eindeutig, der schon mal länger im Krankenhaus lag. Manchmal kam es mir so vor, als ob die meiste Zeit meines Lebens im Krankenhaus stattfand. Ich las Bücher, besonders gerne Romane; die drehen sich um Liebe und davon hätte ich gerne mehr gehabt. Denn mein Freund Jack, (ich weiß gar nicht mehr, wieso ich überhaupt noch mit ihm zusammen war?), den ich schon seit der Schule kannte, war mir in letzter Zeit eher Last wie Freude. Mein Name ist Isabella, ich bin 20 Jahre alt und litt etliche Jahre an einer chronischen Herzmuskelentzündung. Dadurch war ich oft schlapp und müde, hatte nicht immer die Power, die ich gerne haben wollte. Durch die Krankheit musste ich mehr Jahre, als ich zählen konnte, in Krankenhäusern und Spezial-Kliniken verbringen. Ich war jung und wollte mein Leben führen, Sport machen, auf Konzerte gehen, mit Freunden abhängen, studieren und vieles mehr. Doch das meiste konnte ich nicht machen, weil mein Herz diese Anstrengung nicht mitmachte. Zumindest nicht immer und in vollem Umfang. Meine Eltern liebten mich, ich hatte viele Freunde, die mich auch immer besuchten und mein Freund Jack, er war auch immer da, obwohl ich spürte, dass er lieber mit seinen Jungs Sport machen würde und einfach seine Zeit genießen wollte. Obwohl ich krank war und es immer schlimmer wurde über die Jahre und ich damit eigentlich genug zu tun hatte, spürte ich seit langer Zeit, dass ich irgendetwas vermisste und dass etwas nicht stimmte. Es war so, als würde ein Teil von mir fehlen, etwas oder jemand, der zu mir gehört, den ich vermisste. Und ich spürte, dass dieses Gefühl erst aufhört, wenn ich finden würde, was ich suchte. Meine Eltern und die Ärzte sagten, das gehöre zu meiner Krankheit. Die chronische Herzmuskelentzündung und das Ständige im Krankenhaus liegen, ließen mich zu sehr nachdenken. Sie nahmen mich alle nicht ernst mit meinen Gedanken und Gefühlen. Ich meinte, dass da draußen auf der Welt noch jemand ist, der zu mir gehört und den ich vermisse. Das verstand niemand auf empathische Art und Weise. Ich kam mir schon vor wie eine Verrückte. Letztens sagten die Ärzte zu meiner Mutter, dass Sie meinen Frohsinn, meinen Witz und meine Art, mit der schweren Situation umzugehen, immer hoch angesehen haben. Ich war ihnen stets ein Zeichen von Unerschütterlichkeit. Doch langsam waren sie zu der Vermutung gekommen, dass ich eine leicht depressive Störung in mir tragen könnte. Mein Dad fragte mich auch, wo denn sein Power-Mädchen geblieben wäre? Was sie aber alle nicht erkannten, dass ich immer noch ich war, dass ich weiterhin und trotz meiner Krankheit stark war. Und dennoch hatte ich eine so starke Verbindung zu meinem Herzen, das es mir sagen wollte, nicht und niemals aufzugeben. Außerdem sagte mein Herz mir: Das, was du fühlst, ist richtig. Höre auf mich, denn ich lebe noch und will dir was zeigen.

Was genau mir mein Herz zeigen wollte, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber meine innere Stimme sagte mir, auch wenn sie dachten, dass ich verrückt geworden bin, dass ich nicht aufhören sollte, zu hoffen, dass mein Herz eines Tages das findet, wonach es sucht. Und bis dahin konnten sie alle von mir denken, was sie wollten. Mein Körper war mittlerweile so geschwächt, dass ich zu Hause nicht mehr in der Lage war, Sport zu machen, geschweige denn die Treppen in unserem Haus hochzugehen, ohne die pure Anstrengung zu empfinden. Es war sogar so schlimm, dass ich kurz vor der letzten Stufe meiner Krankheit angekommen war. Kaum einer bekam ein neues Herz eingesetzt. Da bei mir aber alles immer dramatisch ablaufen musste, schien klar, dass ich in diesem Leben nicht ohne ein Spenderherz auskommen würde. Dieser Gedanke machte mir Angst. Denn er war mit Hoffnung verbunden. Würde ich wirklich eine Herztransplantation benötigen und wenn ja, würde es ein passendes Spenderherz für mich geben? Frage um Frage drängte sich in meinen Kopf und schien das kluge, selbstsichere Mädchen aus Louisiana zu verunsichern. Mein Traum vom Studium war in diesem Moment auf Eis gelegt. Meine Krankheit, die Ängste, die damit zusammenhingen und das Gefühl, jemanden zu vermissen, waren zu dem Zeitpunkt meine Realität. Ein weiterer Fakt, meine Freunde und Familie, sie verstanden mich nicht. Verstand ich mich denn? Ich wusste es nicht genau. Meine Blutwerte wiesen deutlich auf den Kampf hin, den mein Körper mit meinem Herzen führte. Ein Kampf, den ich nicht kämpfen mochte. Ich wollte diese Schlacht nicht austragen. So oft hatte ich mich gefragt, warum mir das alles passiert? Warum ausgerechnet ich? Bisher hatte ich die Antwort noch nicht darauf gefunden. Obwohl meine Freundinnen ständig sagten, dass sie meinen Ehrgeiz und meine positive Art bewunderten. Doch was brachte mir das? Mein Zimmer im Krankenhaus war voll mit Blumen, Fotos und weiteren Geschenken. Jack brachte mir letztens ein Stofftier mit. Es sollte mich aufheitern, wenn ich wieder denke, dass ich jemanden vermisse. Und so was sollte mein Freund sein? Gerade von ihm dachte ich, dass er zu mir hält und meine Gefühle ernst nimmt. Ein leises Gefühl in mir sagte: Jack ist nett, aber sein Herz schlägt nicht in derselben Sprache wie mein Herz. Wo unser gemeinsamer Weg uns hinführen sollte, konnte ich aus damaliger Sicht noch nicht sagen. Denn leider wusste ich nicht einmal genau, ob ich nächstes Jahr überhaupt noch lebe? Traurig, aber wahr. Gerne mochte ich meinen Wissensdurst stillen und wissen, was die Zukunft für mich zu bieten hatte? Ob Jack und ich zusammenbleiben, ob ich jemals gesund werden würde, studieren könnte und das Wichtigste, ob ich jemals finden würde, was mein Herz zu suchen versuchte?

2.

Zur gleichen Zeit irgendwo in Mississippi, USA

Ein weißes Haus, die typisch weißen Säulen auf der Veranda zierten den Eingang. Vor dem Haus steht ein buntes Blumenmeer. Die Blumenpracht war so mächtig, dass die Schönheit des Hauses fast schon überdeckt wurde. Das Strahlen der Blumen leitete den Weg zum Eingang des mondänen Hauses. Vermischt mit dem Duft von selbst gemachter Zitronenlimonade und frisch gekochtem Essen, lud das Haus ein hineinzutreten. Überwältigt von den leckeren Gerüchen wurde man schon fast gezwungen, einzukehren, um zu schauen, ob sich der liebliche Geruch im inneren des Hauses wiederfand?

»Mensch Ava, dein wievielter Roman ist das jetzt?«, Mary konnte selbst kaum mehr mitzählen, während sie die Wäsche in Avas Schlafzimmer trug. »Der 51.«, sagte die Stimme aus dem Schreibzimmer. »Ich habe noch nie gesehen, dass du so lange für die Beendigung eines Romans benötigt hast!«, wunderte sich Mary schon seit längerer Zeit. Die Frau aus dem Schreibzimmer gab keinerlei Auskunft über ihren 51. Roman. Ava war gehemmt, irgendetwas schien ihr nicht zu passen. »Wenn du so weiter machst, dann bin selbst ich schneller im Schreiben als du«, lachte Mary über das nicht beenden können von Avas Roman. »Normalerweise schreibst du so schnell wie der Blitz, doch dieses Mal erkenne ich dich nicht wieder, du wirst doch nicht etwa alt?«, Mary kriegte sich vor Lachen nicht mehr ein. Ein Seitenhieb gegen ihre langjährige Freundin war für sie ein Aufmunterungsversuch, der sich positiv auf Ava und ihr Schreiben auswirken sollte. Stolz und erhobenen Hauptes saß Ava da und versuchte, ihren Roman zu Ende zu bringen. Sie spürte, dass es an der Zeit war, diesen Roman anders als die 50 davor zu gestalten. Doch sie konnte nicht, sie war beeinflusst, gehemmt und hatte Angst, sich so zu offenbaren. Denn jeder Roman, in dem es um Liebe ging, offenbarte ein Stück weit ihre eigene Geschichte. Eine Frau, die das Leben liebte und auch mal einen Mann geliebt hat. Wenn Sie es wirklich schaffen würde, den einundfünfzigsten Roman zu vollenden, und zwar nicht auf dieselbe Art und Weise, wie sie es vorher immer tat, dann wäre es ihre Lebens-Offenbarung. Würde sie das tatsächlich schreiben können? »Aber nicht, bevor wir eine Partie Scrabble gespielt haben«, das gehörte zum allabendlichen Ritual der zwei Frauen dazu. Die meiste Zeit gewann Ava bei dem Wörter-Spiel doch diesen Abend nicht. Mary gewann haushoch. »Ich fasse es nicht. Du hast dich gar nicht konzentriert. Hast du mich etwa mit Absicht gewinnen lassen?«, lachte und meckerte Mary aus Mississippi. ›Was ist denn heute bloß mit Ava los? Seitdem sie ihren letzten Roman schreibt, ist sie nicht mehr wiederzuerkennen‹, dachte Mary skeptisch. »Wir werden alt. Bis morgen Ava«, Mary nahm das Versagen ihrer Freundin aufgrund ihres hohen Alters in Schutz. An der Garderobe nahm Mary ihre Handtasche und ging in den Feierabend, bis sie am nächsten Morgen wieder in Avas Haus trat.

Der nächste Tag wurde von der lieblich warmen Sonne eingeleitet. Ava saß wie jeden Tag piekfein in ihrem Arbeitszimmer und versuchte, ihren derzeitigen Roman fertigzustellen. Eine warme Tasse Tee sollte sie dabei begleiten. Niemals hatte Ava in ihrem Leben den Mut verloren, doch seit sie versuchte, mit diesem Roman ein Stück weit ihr Leben aufzuarbeiten, wurde sie leicht nervös. Diesen Zustand mochte die alte Dame überhaupt nicht. Ihre Liebesromane waren in ganz Amerika berühmt und bei Frauen weltweit hoch im Kurs. Warum sollte sie ihren lebenslangen Ritualen nicht treu bleiben? Sie könnte es ganz einfach haben und so weiter machen, wie sie es bei allen anderen Romanen zuvorgetan hatte. So langsam, wenn die Tage sich dem Enden neigten, fragte sie sich mit ihren 80 Jahren, ob es in ihren letzten Tagen nicht Sinn ergeben würde, etwas vollkommen anderes auszuprobieren? Sie merkte, dass sie in ihrem Leben noch eine Rechnung offen hatte und nicht gehen wollte, bevor diese Rechnung beglichen war. Während Mary die Fenster im Hause von Ava sauber putzte, starrte sie heimlich auf Avas Notizen. »Hast du immer noch nicht die zündende Idee, oder was fehlt dir noch zu diesem Roman?«, mochte ihre gute Freundin Mary wissen. Ava schwieg zunächst, sie fühlte sich von Mary ertappt, denn keiner kannte sie so lange und so gut wie sie. Da Mary alles über ihre Freundin wusste, ahnte sie schon, dass dieses Mal irgendetwas nicht ganz in Ordnung war. Sie machte sich Sorgen und dachte, dass mit ihrer Gesundheit was nicht stimmte. Mary war halb so alt wie ihre engste Vertraute. Ihr war klar, dass man in einem so hohen Alter nicht allzu viele zündende Ideen mehr hat. Aber so eine intelligente Frau wie Ava hatte Mary in ihrem Leben noch nie zuvor gesehen. Bisher schien Ava immer topfit zu sein; geistig wie körperlich. Die stetige Veränderung, seit ihre Freundin diesen Roman schrieb und leider nicht zu Ende bekam, machte Mary große Sorgen. Die ernst gemeinten Sorgen ließ sie sich aber nicht anmerken. Zwei Wochen später war ihr Werk immer noch nicht fertiggestellt. Während Mary die Wäsche am Waschen war, bekam sie mit, wie nachdenklich ihre Vertraute zu wirken schien. »Was hältst du davon, wenn wir beiden Mal wieder zusammen spazieren gehen?« Mary dachte sich, dass die Bewegung an der frischen Luft ihre Freundin zum Schreiben inspirieren sollte. Ava war immer der gesundheitsbewusste Typ und hatte sich nie gehen lassen, selbst als sie älter wurde, nicht. Da musste sie Mary zu jeglicher Bewegung überreden, die außerhalb von Hausarbeit lag. Nun war es umgekehrt, diesmal wollte Mary sie überreden, mit herauszukommen. Doch Ava schien wie getrieben, so als ob sie die Lösung finden müsste, und fertigstellen, was fertigzustellen war. Benjamin, den alle nur Benji nannten, kam gut gelaunt zu Ava und Mary. »Hallo Ava, Hallo Tante Mary«, begrüßte er die beiden Damen. Die grüßten ihn auch liebevoll zurück. Der Neffe von Mary war oft bei Ava zu Besuch. Er hatte dasselbe fröhliche, sonnige Gemüt wie seine Tante. Und auch das große Mundwerk. Der Duft von frisch gebackenen Keksen zog Benjamin oft dorthin. Heimlich nahm er sich ein paar Kekse mehr, weil er kaum widerstehen konnte. Mit vollem Mund besuchte er Ava in ihrem Büro. »Vielleicht machst du ihr Mal Beine, damit sie diesen Roman fertig bekommt. An dem sitzt sie nämlich schon eine halbe Ewigkeit«, stiftete Mary ihren Neffen zu Fragen an. Benjamin mochte seine Tante sehr und auch die Frau, für die sie arbeitete. Die Romane der Vertrauten seiner Tante waren selbst ihrem jungen Neffen ein Begriff. Für ihn schien in dem Haus von Ava eine andere Zeit zu gelten, in der Schreiberei und Bildung noch eine große Rolle spielten. Dort war die Welt anders als die Welt da draußen, die zum größten Teil von Gewalt und Rassismus beherrscht wurde. Heimlich hatte er nicht nur die Kekse gegessen, sondern auch oft die Inhalte der Liebesromane von Ava durchgelesen. Dies hatte er natürlich nie bei seinen Kumpels durchdringen lassen. Er und Tante Mary lebten in einer anderen Welt als Ava. Die Schriftstellerin gab den Menschen in ihrem Haus einen Platz, egal wo sie herkamen, welche Hautfarbe sie hatten oder wie hoch ihr Vermögen war. Rassismus gab es in diesem Haus nicht. Ava machte nie einen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß. An diesem Tag war Benjamin, ohne es zu wissen, in ein Fettnäpfchen bei Ava getreten. »Darf ich mich zu dir setzen?« Benjamin wusste, dass er sich immer neben die Autorin setzen durfte, auch heute. Er kam sofort zum Wesentlichen. »Ava, deine Romane handeln immer von Liebe. Und zum Schluss gibt es ein Happy End zwischen Mann und Frau. Doch warum kommen in deinen Büchern und Geschichten eigentlich nie Kinder vor? Kinder gehören zum Leben dazu. Und wenn zwei Menschen sich lieben, dann wollen sie doch auch ein Kind haben oder nicht?«, fragte Benjamin interessiert. Das war zu viel für Ava. Sofort erhob sie sich von ihrem Bürostuhl, ging zum Fenster und schaute dort hinaus. Mit ruhiger Stimme sagte sie zu Benji: »Du solltest jetzt gehen, deine Eltern warten bestimmt schon auf dich!« Dabei schaute sie ihn nicht einmal an, ihr Blick richtete sich ziellos aus dem Fenster. Der junge Mann war irritiert, denn auch wenn Ava immer sehr kontrolliert und bestimmend wirken konnte, hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet. Dass sie nicht auf seine Frage antworten würde, das hatte er nicht erwartet. Völlig fassungslos fragte er seine Tante Mary, was im Moment mit Ava nicht stimmen würde? Besorgt schaute sie ihren Neffen an und meinte dasselbe wie ihre Chefin: »Du solltest jetzt nach Hause gehen.« Benji kam sich vor, als wäre er im falschen Film und beide Frauen würden ihm einen Streich spielen. Das war nicht unüblich. Denn in der Vergangenheit hatten die beiden Frauen schon öfters Streiche ausgeheckt, die aber meistens spätestens aufgedeckt, sobald Benjamin das Haus verlassen wollte. Doch dieses Mal rief ihm niemand hinterher: »Stopp. Halt an, das war ein Witz.« Nein, Benjamin verließ das Haus und wusste nicht, was mit Ava und seiner Tante los war?

Die Wochen vergingen und die Belastung in Avas Kopf und Herzen wurde immer größer. Irgendetwas aus ihrer Vergangenheit versuchte sie zu verarbeiten, etwas, was sie immer verdrängt und weggeschoben hatte. Doch dieses Mal sollte es hochkommen. Die Frage von Benjamin, warum sie in ihren Liebesromanen lediglich über Paare, aber nie von Kindern schrieb, hatte sie aus der Fassung gebracht. Noch mehr wie zuvor. Und das Benjamin deutlich machte, dass, wenn zwei Menschen sich lieben, dann auch logischerweise Kinder möchten, schien für ihn selbstverständlich. Ava reagierte blockiert. Innerlich wie äußerlich. Jegliche Frage von Mary wies sie von sich. Sie verschloss sich ihrer besten Freundin und war sogar froh, wenn sie mal nicht nach dem aktuellen Stand des neuen Liebesromans fragte. Im Moment wollte sie einfach nur ihre Ruhe haben. »Wie, lange willst du dich noch verschließen und zu machen? Bist du vielleicht krank? Kann ich dir irgendwie helfen? Wir kennen und schon so lange und wissen beinahe alles voneinander. Sag mir doch, was ich für dich tun kann?«, flehte Mary ihre engste Vertraute an. Benjamin war seit einigen Wochen und seit jenem Tage, an dem er ihr im Büro die Fragen stellte, nicht mehr in ihrem Hause gewesen. Normalerweise war jenes Haus ein offenes Gebäude für jedermann. Freudig und herzlich wurde ein jeder von Ava und ihrer Haushälterin Mary empfangen. In Sachen Heimlichkeiten dienten sie lediglich einem guten Zweck, brauchte sich die Familie um Mary nicht zu verstecken. Ihr Neffe, der heimlich die Kekse aus der Küche stahl, nur weil sie so lecker waren, so heimlich rief Mary Doktor Houston Junior an, um ihn zu bitten, nach Ava zu schauen. Kurz darauf erschien Doktor Houston Junior in Avas Haus, das immer noch von bunten, duftenden Blumen umringt war. Ava war es sichtlich unangenehm, dass der Doktor extra ihretwegen angereist war. Sie wirkte leicht beschämt und sagte direkt, dass sie nichts habe und dass er umsonst gekommen sei. »Ich verstehe auch gar nicht Herr Doktor, wer sie eigentlich hierher gerufen hat?«, dabei hatte sie schon einen Verdacht. Ihre Augen fielen auf ihre beste Mary, die sich ertappt fühlte und wegdrehte. »Daher weht also der Wind«, fügte Ava hinzu. Doch der Doktor ließ sich nicht nehmen, Ava gründlich zu untersuchen. Die Lunge wurde abgehört, Blutdruck gemessen, des Weiteren stellte Doktor Houston junior einige Fragen an Ava. Zu guter Letzt nahm er ihr Blut ab. Ava reagierte sauer, denn schließlich sei sie immer gesund gewesen, habe Sport gemacht, stetig gearbeitet und sich fit gehalten. »Madame, Sie sind keine 20 Jahre alt mehr und wenn ich mir erlauben darf zu sagen, sind sie 80 Jahre alt und ich halte es darum für meine Pflicht, ihnen Blut abzunehmen. Selbst wenn Sie es für unnötig halten!« Doktor Houston Junior verabschiedete sich und fuhr in seine Praxis zurück. Mary ging sofort in die Küche, damit sie ihrer Freundin keinerlei Rechenschaft ablegen musste. Dies sollte Ava recht sein, sie zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Eine Woche später kamen die Ergebnisse vom Besuch Doktor Houston Junior an. »Ich wusste doch, dass ich kerngesund bin. Das hätte man sich auch sparen können«, sagte Ava selbstgefällig. Doch Mary wäre keine Freundin, wenn sie nicht dazu etwas zu sagen hätte: »Und, trotzdem hast du was. Du verhältst dich seit Wochen total komisch und jede Frage, die man dir stellt, weichst du aus oder ignorierst sie. Ich mache mir einfach Sorgen um dich!« Ava bekam ein schlechtes Gewissen und wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Entweder schrieb sie aus, was sie schon vor Jahren hätte ausschreiben müssen. Oder sie würde für immer Schweigen und ihr Schweigen akzeptieren, solange sie noch lebte. ›Das Schweigen kann ja schließlich mit einem Glas Wein am Abend erträglicher gemacht werden‹, dachte sie sich. ›Aber es muss eine Entscheidung getroffen werden; besser jetzt als irgendwann. Denn irgendwann kann vielleicht schon zu spät sein. In meinem Alter sollte man nicht so lange auf Entscheidungen warten, sondern sie treffen und zügig umsetzen‹, dachte sie sich ebenfalls. »Ich bin zu alt, um Entscheidungen aufzuschieben«, motivierte sich die feine alte Dame selbst. Ihr war nicht klar, ob dies ihr letzter Roman sein würde? Doch die Möglichkeit wäre in Betracht zu ziehen gewesen, darum stellte sie sich gedanklich selbst die Frage: ›Ist dies mein letzter Roman? Und wenn ja, kann und will ich mich in ihm offenbaren?‹ Noch bevor die Nacht anbrach, schlug Ava Mary vor, noch nicht nach Hause zu fahren, sondern ihr Gesellschaft zu leisten bei einem Gläschen Wein oder auch zwei. Dankend nahm Mary das Angebot an und zündete den romantischen Kamin mit einem Feuer an. Gemeinsam und so wie damals saßen die beiden Frauen am Kamin, während sie sich über das Leben und seine Freuden unterhielten. Dazu ein Glas Rotwein nach dem anderen und viel Gelächter ließen die Damen die ganze Flasche Rotwein bis auf den letzten Tropfen zurück, bevor sie sich voneinander verabschiedeten. Benjamin holte seine Tante mit dem Auto ab, damit sie nicht alleine und leicht beschwipst vom alkoholischen Getränk nach Hause fahren musste. »Du weißt, du kannst auch jederzeit hier bei mir schlafen«, bat Ava Mary an. Doch obwohl das Verhältnis der beiden Frauen so gut war, schlief sie jederzeit bei sich zu Hause.

Die Nacht schlief Ava tief und fest, beabsichtigte morgen aufzuwachen und eine Lösung für das Fertigstellen ihres Romans gefunden zu haben.

3.

Zurück in Louisiana, USA

Mittlerweile war Isabella nach ihrem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause angekommen. Extrem geschwächt und müde von ihrer chronischen Herzmuskelentzündung musste sie sich zu Hause weiter ausruhen. Die kleinste Anstrengung hätte zu einem Rückfall zurück ins Krankenhaus geführt. Jegliche Bewegung, die in Richtung Sport gegangen wäre, wurde ihr untersagt. Sie war 20 Jahre alt und wollte leben.

Spaß haben und das getan haben, was ihre gleichaltrigen Freunde taten. Ihre Eltern wollten sie immer Beschützen und hatten sie aus Liebe schon fast überbehütet. Das nervte Isabella zeitweise schon, doch war sie sich bewusst, wie schön es war, Familie und Freunde an der Seite zu haben. Ihr sonniges Wesen brachte viel Licht und Wärme in die Herzen von ihren Mitmenschen. Trotz ihrer Krankheit hatte sie sich die Lust am Leben nie nehmen lassen und war immer für einen Spaß zu haben. Doch die letzten Krankenhausaufenthalte hatten ihr zugesetzt. Viel zu oft war sie weg von zu Hause und musste immer mehr und mehr Zeit im Krankenhaus verbringen. Die Ärzte und Pfleger kümmerten sich unentwegt um Isabella und die anderen Patienten. Und trotzdem waren die letzten Aufenthalte in den Kliniken für Isabella kaum mehr zu ertragen. Sogar ihren Eltern war aufgefallen, dass sie ein Stück weit ihre positive Art verloren hatte, was die Eltern traurig und nachdenklich stimmte. Sie liebten ihre Tochter über alles und wollten nur eins: dass Isabella am Leben bleibt!

Weiter und weiter haderte Isabella mit ihrer Krankheit, den Gedanken um ihre Zukunft und dieses komische Gefühl, was sie in letzter Zeit immer häufiger aufsuchte. Das Gefühl war wie eine Art Kompass, ein Gespür, dass ihr sagen wollte, dass sie sich auf den Weg machen sollte, um zu suchen. Doch wen oder was war zu suchen?

Irgendetwas fehlte in ihrem Leben, sie vermisste jemanden und weiter fragte sich Isabella in Gedanken, als sie zu Hause auf ihrem Bett saß: ›Oder meine ich jemanden zu vermissen, weil ich in Wahrheit mich selbst vermisse? Weil ich mein Leben vermisse, dass ich gerne leben würde, aber nicht kann? Oder weil ich es vermisse, mit meinen Freunden Spaß zu haben und auszugehen, Sport zu machen und zu studieren?‹ Isabella stutzte und wurde traurig. Weiter dachte sie nach, was ihr das komische Gefühl in ihrem Herzen sagen wollte? Die folgende Nacht konnte Isa nicht schlafen. Sie wälzte und drehte sich in ihrem Bett hin und her. Die Schweißperlen liefen über ihre Stirn, ihr Pyjama war durchgeschwitzt. Ihre Eltern nebenan bekamen mit, dass es ihrer Tochter nicht gut ging, und kamen sofort zu ihr. »Schatz, was ist los? Kannst du nicht schlafen? Sollen wir den Doktor rufen?«, fragte die Mutter aufgeregt. »Mensch Mum, kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen?«, Isabella drehte sich weg. Manchmal hatte sie das Gefühl, durch die Fürsorge ihrer Mutter zu ersticken. Nun schaltete sich auch Isabellas Vater ein: »Isa, du bist nass geschwitzt, Mum hilft dir beim Umziehen und ich hole dir einen nassen Lappen für die Stirn.« Die ruhige Art ihres Vaters tat ihr gut. Sie wusste, dass ihre Mutter sich auch sorgte, doch dramatisierte sie mehr. Ihr Dad hingegen wirkte besonnen, besonders in seiner Stimme. Oft dachte sich Isabella mit einem Grinsen im Gesicht, dass ihr Vater nicht als Polizist, sondern als Hypnotiseur hätte arbeiten können. Seine beruhigende Stimme wog sie als Kind schon in den Schlaf. Aber es war einfach so, dass ihr Dad durch seinen Job als Polizist wusste, wie er schwierige Situationen zu entschärfen wusste. Nachdem Isabella sich umgezogen und der nasse Lappen auf ihrer Stirn verweilt war, lag sie bei ihrer Mutter im Arm. Ganz leise ging ihr ein Dankeschön über die Lippen, ihre Mutter streichelte ihr übers Haar, während Isabella einschlief.

Am nächsten Morgen machte sie sich klar, dass möglicherweise ein Grund wäre, warum ihr Herz jemanden vermisste, die Beziehung zwischen ihr und Jack sein könnte? Isabella hatte des Öfteren die Vorahnung (oder, man könnte auch sagen die energische Meinung), dass sie das Jack nicht mehr weiter antun mochte. Sie wusste nicht, ob sie ihm die Situation zumuten konnte? Die meiste Zeit lag sie im Krankenhaus und wenn sie mal zu Hause war, dann war sie geschwächt und konnte nichts machen, was andere 20-Jährige zur gleichen Zeit machten. Immer wieder redete sie sich ein, dass es das Beste für die beiden wäre, wenn nur einer von ihnen belastet sei. Es reichte, wenn sie krank war und damit leben musste. Sie wollte damit ihren alten Schulfreund Jack nicht belasten. Außerdem sprach er nicht mehr dieselbe Sprache wie sie. Jack verstand sie nicht mehr mit ihren Gefühlen.

Andersherum und positiv gedacht, schien er Isabella immer noch sehr zu mögen. Er besuchte sie regelmäßig, brachte ihr Geschenke mit und hatte noch niemals über eine mögliche Beendigung der Beziehung gesprochen. Was also sollte sie tun? Isabella beschloss, in diesem Fall noch nichts zu unternehmen und die Zeit ins Land ziehen zu lassen.

»Katy kommt heute, oder? Du freust dich doch, dass sie kommt? Und zur Feier des Tages, dass du wieder zu Hause bist und weil Katy kommt, backe ich gleich einen Apfelkuchen«, Isabellas Mutter war die Freude im Gesicht anzusehen. Isa freute sich auch, denn der Besuch ihrer besten Freundin plus Mamas heiß begehrten warmen Apfelkuchen waren gleich doppelter Trumpf. Isabella dachte sich, dass sie in letzter Zeit ungerecht ihrer Mutter gegenüber war und das, obwohl sie so viel für sie getan hatte.

Es wurde mal wieder Zeit für eine gemeinsame Mutter-Tochter-Aktion. Und was könnte da besser passen, als den Apfelkuchen gemeinsam zu backen? Um ihre Mutter zu überraschen, stellte sie sich ohne eine Ankündigung zu ihr in die Küche und zog sich eine Schürze drüber. Annabelle machte große Augen, als sie ihre Tochter mit Schürze in der Küche stehen sah. »Willst du mir helfen?«, war kaum ausgesprochen, da nahm Isa ihre Mutter in den Arm. Völlig überwältigt stand Annabelle sprachlos da und nahm ihre Tochter ebenfalls in ihre Arme. Anschließend backten sie gemeinsam den wohl besten Apfelkuchen aus ganz Louisiana.

Isa schälte die Äpfel, entkernte sie und schnitt sie in kleine Stücke, während ihre Mutter den Teig zubereitete. »So duftet die Mittagspause. Das sind meine Mädels. Darf ich mal naschen?«, kam der Vater von Isabella gut gelaunt in seiner Polizisten-Uniform nach Hause. »Dad, du musst ja gleich wieder zur Arbeit. Wir lassen dir aber ein Stück vom Apfelkuchen über«, meinte Isa, während ihr Vater sie mit lang gezogener Schnute ansah. »OK. Gut, dann lassen wir dir eben zwei Stücke über«, grinste sie. »Das ist meine Tochter«, sagte Thomas, während er sich ein Stück Apfel in den Mund schob und wieder raus in den Dienst ging. Zusammen backten Mutter und Tochter den Kuchen fertig und räumten die Küche auf. Im Hintergrund lief Swing-und Jazzmusik. Die Frauen hatten Spaß und bewegten die Füße im Takt der Musik. Ein toller Mittag zog vorüber, bis Isabella sich in ihr Zimmer zurückzog und auf ihre beste Freundin Katy wartete. Derweil kühlte der Apfelkuchen unten in der Küche ab. Sie merkte, während sie Zeit mit ihren Eltern verbrachte, dass das Gefühl, jemanden zu vermissen, außerhalb dieses Familienkreises liegen musste. Aber wo dann? Was wollte ihr Herz sagen? Schon bald würde sie die Antwort darauf finden.

Am Nachmittag erschien Katy dann endlich. Viele Briefe, Postkarten, Nachrichten und Geschenke von all ihren Freunden hatte sie für Isabella mitgebracht.

Nach und nach las sie die Karten durch und öffnete die Geschenke. Natürlich posteten die Mädels die fröhlich geschossenen Bilder für ihre Freundinnen in den sozialen Medien. Isabella beim Auspacken der Geschenke, beim Lesen der Briefe usw. Alles wurde per Foto dokumentiert und selbstverständlich hochgeladen, damit die anderen einbezogen wurden. »Schade, dass du beim Volleyballturnier nicht dabei warst. Du hättest dich kaputtgelacht, als Jeremy und Mike mit ihren Köpfen gegeneinandergestoßen sind. Das hat geknallt, das sag ich dir. Den beiden tat’s weh, aber die Menge hat gelacht. Jeremy war sogar so verletzt, dass er auf die Krankenstation musste«, berichtete ihre beste Freundin vom Campus. Die beiden mussten laut lachen über die Vorstellung vom Volleyball-Unfall. Die gute Laune hielt fortlaufend an. Isa fuhr wieder in alter Form auf und bewarf Katy mit ihrem Kissen. Die Kissenschlacht begann gleichzeitig, während Annabelle versuchte, in das Zimmer ihrer Tochter einzudringen, ohne von einem Kissen getroffen zu werden. »Wenn ihr mich trefft, dann muss auch leider euer Apfelkuchen dran glauben.

Oder wollt ihr ihn etwa vom Boden aufkratzen?« Einen Moment wurde es still und die Freundinnen beendeten kurzweilig ihre Kissenschlacht. Der Duft vom Kuchen ließ ganz klar die Prioritäten der jungen Damen erkennen. »Von der Kissenschlacht zur Kuchenschlacht. Na dann mal ran an den Kampf«, Isabella und Katy setzten sich aufrecht hin und genossen den leckeren, saftigen Apfelkuchen.

Isabellas Mutter zog sich zurück und überließ den Mädchen ihr Reich. Zwischen Spaß, Fotos machen, mit den anderen Freundinnen kommunizieren und Kuchen essen, dachte Isabella darüber nach, sich ihrer besten Freundin anzuvertrauen. Sollte sie es wagen? Schließlich hatte Katy immer zu ihr gehalten und konnte sie in jeglicher Lebenslage verstehen. Aber war dieses Thema vielleicht ein bisschen zu hoch und zu abstrakt für die junge Katy, die zwischen Uni, Sport und Job am Pendeln war? Isabella war sich nicht ganz sicher in diesem Fall, aber von allen, die sie kannte, würde sie am ehesten sich ihr anvertrauen. Während Katy am Plappern und plappern war, bekam Isa schon recht Ohrenschmerzen durch ihre Freundin. Sie erzählte ihr vom Campus, dem Stundenplan, den langweiligen Professoren und den alles andere als langweiligen Jungs an der Uni. Isabella fühlte sich dadurch zugehörig, so als würde sie nur Ferien machen und bald auch wieder zur Uni gehen. Doch die Realität sah anders aus. Ihre chronische Herzmuskelentzündung war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ein normaler Alltag in weiter Ferne blieb. »Mein Kopf ist voll leistungsfähig, nur mein Körper nicht«, war ihr wichtig zu äußern, obwohl das jeder wusste. Isabella war so reif und erwachsen durch ihre Krankheit geworden, dass sie sich selbst gut reflektierte und einschätzte. Doch konnte sie auch Katys Meinung realistisch einschätzen? Oder würde sie ihr am Ende sagen, so nach dem Motto: »Hör doch endlich auf rumzuspinnen! Nimm das Gefühl nicht ernst. Das kommt, weil du so lange krank bist. Du steigerst dich in was hinein. Es bedeutet nichts.« Würde sie ihr das so sagen? Davor hatte Isabella Angst, denn das mochte sie nicht hören. Sie wollte ernst genommen, vollumfänglich und fair behandelt werden. Und so hörte sie weiter ihrer Freundin beim Klatsch und Tratsch über das Uni-Geschehen zu.

Manchmal versuchte sie, Luft zu holen und den richtigen Moment zu erwischen. Immer wenn der richtige Moment zu kommen schien, dann war er genauso schnell wieder verflogen. Katy war beim Reden kaum zu stoppen, sie legte ein Tempo vor, das selbst die redegewandte Isabella nicht folgen konnte, geschweige denn sie zu unterbrechen. Also versuchte sie, in mehreren Anläufen einen Versuch zu wagen, doch es gelang ihr nicht. Isa schloss schon fast vor Ermüdung ihre Augen, nachdem ihre Kumpanin eine Stunde am Stück ununterbrochen kichernd geredet hatte. ›Ich glaube, ich komm heut nicht mehr dran‹, dachte sie sich. Das Kichern und Lachen der beiden Freundinnen nahm kein Ende.

Katy erzählte hingebungsvoll von ihrem Schwarm, dass sie nicht bemerkte, immer mehr zur Bettkante zu rücken und schließlich volle Kanne aus dem Bett stürzte. Das gab ein Krach. Doch der Schmerz war nicht allzu groß, denn die beiden Mädels lachten so laut, dass der Sturz aus dem Bett für Katy nicht so schlimm war. Annabelle wollte schauen, ob den beiden etwas passiert war, weil sie einen dumpfen Knall gehört hatte. Isabella klärte sie auf, dass ihre Freundin so am Schwärmen war, dadurch das Bettende übersah und vom Bett hinunterfiel. Das war für die Mutter keine große Überraschung, denn dass die beiden schon immer großen Spaß hatten, war kein Geheimnis. Sie ging wieder runter und konnte weiter das Gekicher der Mädchen von oben hören. Nach der lustigen Zeit war Isabella motiviert, sich Katy anzuvertrauen. Wie würde sie reagieren?