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Für alle Frauen, die schon mal einen Kerl auf den Mond schießen wollten… Luisa ist jung und ehrgeizig, und sie hat einen hinreißenden Arsch, denkt Björn. Björn ist Chefredakteur, Luisas Boss, und ein echter Arsch, denkt Luisa. Zwei wie sie können gar nicht zusammenkommen – tun sie aber doch, und damit ist das Chaos vorprogrammiert, denn Luisa ist nicht das willige Weibchen, das sonst Björns Beuteschema ist. Und Björn, der geübte Womanizer, merkt auf einmal, dass er von Luisa mehr will als nur ihren Hintern …
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Seitenzahl: 354
Kerstin Hohlfeld / Leif Lasse Andersson
Ich heirate einen Arsch
Eine Liebe.Und ihre zwei Geschichten
Knaur e-books
Luisa ist jung und ehrgeizig, und sie hat einen hinreißenden Arsch, denkt Björn.
Björn ist Chefredakteur, Luisas Chef und ein echter Arsch, denkt Luisa.
Zwei wie sie können gar nicht zusammenkommen – tun sie aber doch, und damit ist das Chaos vorprogrammiert, denn Luisa ist nicht das willige Weibchen, das sonst Björns Beuteschema ist. Und Björn, der geübte Womanizer, merkt auf einmal, dass er von Luisa mehr will als nur …
»Willst du, Björn Bengt Becker, die hier anwesende Luisa Stein zur Frau nehmen, sie lieben, sie …«
Ja. Überraschenderweise wollte er das. Überraschenderweise wollte er nichts so sehr wie genau dieses hier. Zwar hatte sich Björn noch vor vier Jahren geschworen, nie, aber wirklich niemals wieder zu heiraten. Aber vier Jahre waren eine lange Zeit, wenn man sie nur in ausreichend hoher Geschwindigkeit lebte und wenn man genügend Frauen zwischen sich und seine dunkelsten Erinnerungen legte.
Seit Luisa war ohnehin alles anders.
Na ja, vielleicht nicht ganz seit Luisa. Ein bisschen Zeit hatte er noch gebraucht, um mit allen Verwicklungen seines Vagabundenlebens abzuschließen, und die letzten, überaus turbulenten Ereignisse waren noch keine 24 Stunden her.
Aber nun stand Björn hier und war sich ganz sicher: Er gehörte zu Luisa! Vor ihm lag die schönste Zeit seines Lebens. Kinder wollte er mit Luisa haben, die in ihrem Garten spielen würden, während Mama und Papa sich stolze, liebende Blicke zuwarfen. Und zum ersten Mal fühlte Björn sich wieder glücklich, frei und irgendwie ganz so innendrin.
Der Pastor hatte eine Pause gemacht, ein schneller Seitenblick erweckte in Björn den Verdacht, dass nun er dran sein könnte. »Ja, ich will«, sagte er versuchshalber und wunderte sich, dass seine Stimme ein wenig belegt klang.
Dann war Luisa an der Reihe. »Ja, ich will, mit Gottes Hilfe!«
Ihre Worte klangen hell und warm, und sie machten ihn stolz, denn sie kamen von der klügsten, schönsten, atemberaubendsten und wundervollsten Frau, die er je in seinem Leben getroffen hatte.
Björn lächelte. Und er fragte sich, warum sie nicht das Gleiche tat, sondern ihn mit einer fragend angehobenen Augenbraue anblickte. Ein Rippenstoß von rechts, dort, wo er seinen Bruder Bernhard vermutete, machte ihn auf sein Versäumnis aufmerksam. Die Ringe, verdammt, die Ringe! Immerhin ließ er seinen nicht fallen, sondern steckte ihn Luisa an den Finger.
»Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«
Luisa sah ihn mit ihren großen, blauen Augen an, und es fühlte sich an, als würde er einer kritischen Prüfung unterzogen. Doch dann lächelte sie, legte den Kopf ein wenig schräg und schloss die Augen, damit er sie küssen konnte, sanft und warm und voller Gefühl.
»Nein«, dachte Björn, als sie an seinem Arm durch den Mittelgang der Kirche schritt, »ich werde dich nicht enttäuschen. Ich war ein Arsch. Aber du hast aus mir einen anderen Menschen gemacht, und dich werde ich lieben bis zu meinem letzten Atemzug.«
Als sie aus der Kirchentür traten, traf ihn das Licht wie ein Schlag. Die Sonne war hellgelb, warm und leuchtend, ganz so wie das Kleid, das Luisa vor einem Jahr, zwei Monaten, neun Tagen, einer Stunde und etwa drei Minuten getragen hatte.
Ich bin Luisa Stein, 28 Jahre alt, Sternzeichen Krebs, und irgendetwas stimmt mit mir nicht. Wenn der Tag kommt, an dem ich begriffen habe, was das ist, werde ich mich ändern. Und von diesem Moment an wird nicht mehr alles, was ich anfasse, von null auf gleich zu Staub zerfallen.
Ich bin mies drauf. Ich bin verdammt mies drauf. Schlechter geht’s nicht. Das neue Kleid, in dem ich mich heute Morgen noch selbstbewusst vor dem Spiegel gedreht habe, kommt mir plötzlich albern vor. Eine bescheuerte, nutzlose Maskerade.
Die Wege im Verlag sind lang. Und damit meine ich nicht den Weg von der kleinen Praktikantin zur mächtigen Chefredakteurin. Nein, jetzt und hier, in diesem Augenblick meine ich den Weg vom Büro meines Ex-Chefs zur Kantine, den ich in diesem unsäglichen gelben Kleid zurücklegen muss und auf dem mir mindestens 200 Leute begegnen, die mich hämisch anstarren, abschätzig die Brauen heben oder herablassend lächeln. Was Leute eben tun, wenn ihnen jemand begegnet, der deutlich sichtbar ein Schild mit der Aufschrift »Loser« trägt.
Loser im gelben, schulterfreien Kleid und auf hohen Lackpumps, wohlgemerkt.
Da, die zwei Zicken in ihren grauen Escada-Kostümen, die jedes Mal starren und dann die Köpfe zusammenstecken und tuscheln, wenn sie mich sehen. Schon klar, dass sie mir ausgerechnet jetzt über den Weg laufen und – als sie mich in diesem verfluchten gelben Fummel sehen – den Mund beinahe nicht mehr zubekommen und kurz darauf anfangen zu kichern.
»Passt auf, dass ihr keine Fliege verschluckt«, sagt die innere Luisa frech.
Ich, also die wirkliche, echte Luisa, schlage die Augen nieder und überlege, ob ich mein Handy aus der Tasche ziehen und so tun soll, als hätte ich eine hochwichtige SMS bekommen. Überhaupt die Hände. Wohin mit ihnen? Noch etwa 50 Meter, dann kann ich ein Tablett nehmen und bin wenigstens dieses Problem los.
Warum gehe ich überhaupt noch hier essen? Warum nehme ich nicht meinen ganzen Kram, packe ihn in einen Pappkarton – so wie die das in den Hollywoodfilmen immer machen –, baue mich vor meinem Ex-Chef auf und sage ihm ins Gesicht, dass ich die bescheuerte Stelle in seiner beknackten Redaktion sowieso nicht haben will?
Warum? Weil es eine glatte Lüge wäre!
Ein paar Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln und lauern auf eine günstige Gelegenheit, mir meine Wimperntusche zu verschmieren. Obwohl ich gar nicht traurig, sondern wütend bin. Ich war so dicht dran.
Jetzt und hier, mitten im Verlag, im Angesicht der Escada-Zicken anfangen zu heulen? Niemals! Ich habe meinen Stolz, obwohl ich das Gefühl nicht loswerde, dass ich seit einiger Zeit das Pech nahezu magisch anziehe.
Abgesehen davon: Ich will keinen verdammten Pappkarton packen. Ich will hierbleiben! Hier in meinem Traumverlag, in meiner Lieblingsstadt und in meinem Lieblingsjob.
Seit fünf Minuten weiß ich, dass das ein frommer Wunsch bleiben wird. Mein Praktikum bei der Marion endet, ohne in eine Festanstellung umgewandelt zu werden.
Den feuchtkalten Händedruck des Chefs, als er mir mitteilte, dass ich ab übermorgen wieder auf Arbeitssuche sein werde, spüre ich immer noch. Angewidert wische ich meine rechte Hand an meinem Kleid ab.
Ich sollte jetzt lieber eine Toilette aufsuchen. In der Kabine könnte ich ein paar unbemerkte Tränchen fließen lassen, mir dann Hände und Gesicht mit eiskaltem Wasser waschen, damit mir niemand ansieht, dass ich geheult habe.
Wenn ich nicht so blöde gewesen wäre, könnte ich mich sogar vom Paradiesvogel zum Spatzen zurückverwandeln. Doch mein graubraunes Kostüm und die weiße Bluse habe ich heute zu Hause gelassen. Nachdem der Chef mich sechs Monate lang weitgehend ignoriert hat, wollte ich ihm unbedingt noch eine optische Entscheidungshilfe geben, bevor er die letzte offene Stelle besetzt.
Er hat mich nicht mal angesehen. Seine einzige und ausschließliche Aufmerksamkeit, während er meine Zukunft mit einem Vorschlaghammer in winzige Stücke zertrümmerte, galt einer 24er-Pappschachtel Schaumküsse, die er – statt meiner schrill gewandeten Wenigkeit – mit Blicken verschlang.
Wie süß, hab ich gedacht, als ich hoffnungsvoll lächelnd in sein Büro stöckelte und die kleinen Kalorienbomben auf seinem Schreibtisch sah.
Ekelhaft und unmännlich, dachte ich, als ich es eine Minute später wieder verließ. Männer, die Schaumküsse essen, bah! Aber dieser Gedanke half mir leider nicht weiter, als ich wie ein geprügelter Hund aus seinem Büro schlich und mich nicht entblödete, mit zitternder Stimme auch noch »Danke schön, das macht doch nichts« zu sagen. Meine Mutter hat es mit meiner Erziehung zum anständigen Töchterchen wirklich maßlos übertrieben.
Leute, die es so weit nach oben geschafft haben wie Schmidt, mein baldiger Ex-Chef, haben eine Ausstrahlung, die mich einschüchtert.
Ich bin eine ehrgeizige und durchaus hartnäckige Journalistin. Wenn es um eine Story geht, um eine wirklich heiße Geschichte oder schlicht um die Wahrheit, über die ich berichten will, dann habe ich keine Scheu, kritische Fragen zu stellen, immer wieder nachzuhaken oder mich mit Gott und der Welt anzulegen. Diese quälende Unsicherheit, die meine Stimme zittern lässt, meine Schritte lähmt, mir in den unpassendsten Augenblicken die Tränen in die Augen schießen lässt – die fällt ungerechterweise nur dann über mich her, wenn es um mich geht: um Luisa Stein, um mein Leben, um meine Zukunft und um mein Glück.
Schon an der Uni habe ich die Kommilitonen aufrichtig beneidet, die sich locker und ohne Scheu mit den Professoren unterhielten und sogar ein Bier mit ihnen trinken gingen. Mein Ding war das nie.
Trotzdem war ich eine ausgezeichnete Studentin, und wenn es drauf ankam, behielt ich die Nerven und zeigte, was ich drauf hatte. Auf mein Einser-Examen bin ich echt stolz.
Genauer gesagt, ich war stolz. Denn schon ziemlich bald musste ich feststellen, dass ich – statt pulitzerpreisverdächtige Artikel zu schreiben – abends im Hamburger Nobelschuppen East Prosecco-Gläser abräumen durfte. Kellnerin Summa cum laude. Am Anfang fand ich das nicht schlimm, aber nach einem Jahr vertrödelter Lebenszeit war mir nicht mehr zum Lachen zumute.
Das unterbezahlte, sechsmonatige Praktikum hier im Verlag war mir wie eine Erlösung vorgekommen. Zwar musste ich an zwei Abenden in der Woche noch immer ins East, um die Miete für mein WG-Zimmer zusammenzukratzen, aber ich tat es von Stund’ an mit dem guten Gefühl, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis mein Leben als Kellnerin eine lustige Anekdote wäre und weiter nichts.
In ein paar Jahren würde ich dann meinen unsicheren, von einem Fuß auf den anderen tretenden Praktikantinnen sagen: »Wissen Sie, Kindchen, so habe ich damals auch angefangen. Und jetzt bin ich hier. Nur Mut also, und zeigen Sie mir, was Sie draufhaben.« Ja, so eine nette, faire und kluge Chefredakteurin wäre ich, und auf meinem Schreibtisch würden niemals Pappschachteln mit Schaumküssen ihr Unwesen treiben.
Die erste Träne hat es geschafft. Sie läuft meine Wange hinunter. Ich wische sie eilig mit dem Handrücken weg und reiße mich zusammen.
Wenn ich jetzt anfange zu heulen, bin ich geliefert. Frauen in gelben Kleidern weinen nicht. Frauen in gelben Kleidern weinen nicht. Das ist eine Übung aus der Psychotherapie. Positives Programmieren nennt man das. Wenn man viel übt, soll sie richtig gut helfen.
Der Typ, der plötzlich neben mir läuft und mich anschaut, hat der mich eben angesprochen? Frauen in gelben Kleidern.
Nein, hat er nicht, und falls doch, hat er irgendetwas Blödes gesagt. Über mein Kleid. Was sonst?
Wenn das nicht noch peinlicher wäre, dann würde ich es mir vom Leibe reißen, jetzt und hier. Diesen bescheuerten Fummel, der alles, was heute passiert ist, noch tausend Mal schlimmer macht. Frauen in gelben Kleidern …
Vor ein paar Minuten ist mir auf dem Weg in die Verlagskantine ihr fantastischer Arsch aufgefallen. Schmale Taille und ein wirklich verlockendes Schwingen der Hüften. Gesenkter Kopf, entweder nachdenklich oder auf ihre nächste Reportage konzentriert. Schöne Schuhe, bestimmt sechs Zentimeter, und laufen kann sie auch darauf. Irgendwas auffällig Gelbes als Kleid. Schulterfrei. Sieht geil aus. Mehr kann ich über Kleider beim besten Willen nicht sagen. Ich habe noch nie rausgekriegt, was außer dem Preis der Unterschied zwischen H&M und einem Designerfummel ist, was auch daran liegen mag, dass mir die Verpackung einer Frau eher egal ist. Obwohl es schön ist, wenn ich nach dem Aufwachen feststelle, dass das Kleid vom Vorabend in der Morgendämmerung zur Farbe meines Schlafzimmerfußbodens passt. Meistens passt es, zu diesem Zweck habe ich Eichendielen verlegen lassen.
Etwa zwanzig Meter lang sonne ich mich in der vagen Vorstellung, diesen Hintern heute Abend vor mir zu sehen, nackt und emporgereckt, während die Trägerin ihr Gesicht seufzend im Kissen vergraben hat.
Und ja, ich weiß, dass es äußerst unkorrekt ist, Frauen derart auf das Körperliche zu reduzieren. Aber ich bin ein Mann. Und was zum Teufel soll ich sonst mit ihnen tun?
Kurzer Kontrollblick beim Überholen. Noch nie gesehen. Ziemlich hübsch. Nicht klassisch schön, aber irgendwie besonders. Ich bringe meine bis eben ziemlich missmutigen Gesichtszüge in Ordnung und spreche sie an. Ich entscheide mich für die Lausbubennummer. Maximal ungewöhnlich, minimal unsicher und zum Abschluss mit einer ebenso harmlosen wie verblüffenden Frage gekrönt. Es ist prinzipiell die bestmögliche Eröffnung in diesem Spiel, denn es gibt nur wenige Frauen, die einem freundlich fragenden Mitmenschen eine Antwort verweigern würden. Die meisten tun es selbst dann nicht, wenn der Fragende ein Mann ist, von dem eigentlich jede Frau wissen sollte, welche Motive ihn tatsächlich treiben.
»Wahnsinnskleid! Können Sie mir sagen, wo Sie das gekauft haben? Sorry. Das klingt jetzt ein bisschen seltsam, oder? Ich heiße Björn.«
Für einen spontanen Frontalangriff gar nicht übel.
Wenn ich eine Frau anspreche, dann achte ich auf nichts anderes als auf ihre Körpersprache. Sieht sie auch nur ein kleines bisschen genervt oder gar ablehnend aus, entschuldige ich mich und suche das Weite. Ich habe einfach zu wenig Zeit, um sie an Frauen zu verschwenden, die nicht mit mir ins Bett gehen werden.
Doch die hier ist stehen geblieben und guckt mich an, ein bisschen verwundert, den Kopf leicht schiefgelegt, eher fragend als ablehnend und definitiv mehr traurig als fröhlich. Aus welchen Gedanken ich sie auch gerissen haben mag, es werden keine schönen gewesen sein.
Ich bleibe stehen und schaue den Typen verwundert an.
Ich habe keine Ahnung, was er gerade zu mir gesagt hat. Er lächelt, nur ein kleines bisschen, so um die Augen herum. Normalerweise würde ich jetzt ebenfalls freundlich dreinschauen. Aber heute ist nicht »normalerweise«. Heute trage ich ein gelbes Kleid. Bis vor etwa zehn Minuten das perfekte Styling für eine moderne, selbstbewusste Frau, die gerade ihre redlich verdiente Stelle als Redakteurin bekommen hat. »Willkommen im Team, Frau Stein!« Wie oft habe ich mir diese Szene ausgemalt. Schöne Scheiße!
Der Typ, der mich fragend anguckt, ist ein gepflegter, elegant gekleideter Mann. Anzugträger, aber keine Krawatte. Also weder Anzeigen noch Marketing oder Vertrieb, sondern Redaktion, da gilt weißes Hemd mit geöffneten zwei Knöpfen als schick. Um seine Augen spielen feine Lachfältchen. Ein Hauch von seinem Aftershave weht zu mir herüber. Riecht gut.
»Entschuldigen Sie bitte, was haben Sie gesagt?«, frage ich leise und zupfe mit meinen Fingern nervös an einer Haarsträhne, die sich aus meiner Hochsteckfrisur gelöst hat.
Verwirrt? Verzweifelt? Mir ist nicht ganz klar, was mit der Frau los ist, aber mich rührt ihre Art, an den blonden Haaren zu nesteln, als könnte sie dort ein wenig Halt finden.
Vergeblich, würde ich sagen, denn zumindest für mich gibt es jetzt kein Halten mehr.
»Oh. Sorry. Ich fange am besten noch mal von vorne an, oder? Also, meine kleine Schwester, die sucht ein Kleid. Sie will am Wochenende auf eine Hochzeit, und sie würde mich küssen, wenn ich ihr sagen kann, wo Sie Ihres herhaben. Das sieht echt cool aus und trotzdem so – anmutig?«
Nach der Wortkaskade halte ich ihr die Hand hin. Antiquierte Geste, aber in den meisten Fällen überaus hilfreich. Nach dem ersten Körperkontakt wird alles leichter.
Und nein, ich habe keine kleine Schwester. Aber in solchen Detailfragen darf man nicht kleinlich sein. Schließlich geht es ums große Ganze. In meinem Fall also darum, ganz viel großartigen Sex zu haben.
Was will der?
Seit ich gefeuert bin, fühle ich mich unsicher, und die Leute hier im Verlag, die meine Kollegen werden sollten, sind jetzt wieder so unerreichbar wie der Mond. Es wäre mir lieber, ich würde wenigstens mein graubraunes Mauskostüm tragen. Darin bin ich so schön unauffällig.
Ach, zum Teufel mit dem Dresscode! Haben frisch gekündigte Praktikantinnen nicht Narrenfreiheit? Hier im Verlag arbeiten mehrere tausend Leute. Der Typ kann nicht wissen, wer ich bin und dass ich mich gerade fühle, als wäre ich in einem Bunny-Kostüm zum Bundespresseball gegangen. Er sieht vielleicht einfach nur eine Frau in einem gelben Kleid, das ihm gefällt.
Gefällt ihm das Kleid?
Oder gefalle ich ihm?
Und ist das nicht eigentlich scheißegal?
Ich lass ihn jetzt stehen.
Oder?
Die wohlerzogene Tochter in mir gewinnt fast immer.
»Es ist von Zalando«, sage ich leise und setze zum Gehen an. »Sommerschlussverkauf. 49 Euro statt 89.«
Bisher habe ich mich vor ihm noch nicht blamiert. Und wenn es nach mir geht, wird es auch nicht dazu kommen. Na gut, die Info mit dem Ausverkauf hätte ich weglassen können. Ich bin keine leidenschaftliche Schnäppchenjägerin, die einen entzückten Schreikrampf kriegt, wenn sie ein Designerkleid zum halben Preis ergattert.
Im Grunde ist es doch egal, was der Typ von mir denkt.
So selbstbewusst, wie er wirkt, kommt er garantiert aus einer der vielen Chefetagen.
Jetzt hält er mir die Hand hin. Mein Herz beginnt ein wenig schneller zu klopfen. Meine nervige Ehrfurcht vor Leuten, die auf der Berufsleiter weit nach oben geklettert sind, meldet sich.
Im Märchen lösen sich die Leute einfach in Luft auf, wenn ihnen eine Situation zu brenzlig wird. Ich stelle fest, dass mir diese Fähigkeit in manchen Momenten mehr einbringen würde als mein summa cum laude im Examen. Irgendetwas habe ich bei meiner Berufswahl falsch gemacht. Vielleicht hätte ich, wie von mir als Sechsjährige angestrebt, doch lieber eine Blumenfee werden sollen.
Mein Selbstbewusstsein schwankt heute wie eine Nussschale im Ozean.
Ich hoffe, dass mein Händedruck weder schlapp noch feucht ist, als ich gezwungen lächelnd einschlage.
Der Typ ist bestimmt zehn oder fünfzehn Jahre älter als ich. Jetzt grinst er wie ein Lausbub und zückt sein Handy. Himmel! Will der meine Nummer?
War die Frage nach meinem Kleid nur ein Vorwand, um mich anzubaggern?
Also bitte, ich bin 28 und nicht 38! Und der hat graue Schläfen!
Sieht zwar nicht übel aus, und er ist außerdem der erste Mensch am heutigen Tag, der mir ein offenbar aufrichtiges Lächeln geschenkt hat.
Aber meine Nummer kriegt er trotzdem nicht.
Ich unterdrücke einen Seufzer.
Sally, meine WG-Mitbewohnerin mit Wespentaille und Körbchengröße D, hat kaum das Haus verlassen, da wird sie schon von einem Ölscheich oder Thronfolger angesprochen, mindestens jedoch von einem wallemähnigen Pianisten oder aufstrebenden Schauspieler.
Ich habe allenfalls Chancen bei uralten Verlagstypen.
Wenn er jetzt nach meiner Handynummer fragt, dann löse ich mich doch in Luft auf.
Und zwar subito!
Na also. Sie erklärt mir ihr Kleid.
Ich tippe brav alle Angaben in mein iPhone.
Phase eins ist abgeschlossen.
Jetzt muss ich nur noch die Frau kriegen – und zwar aus dem Kleid heraus, aber in dieser Hinsicht halte ich mich nicht für chancenlos. 40:60 würde ich sagen. Wäre ich ein Boxer, würde die Fachpresse mich für meinen beherzten Infight loben. Schwächen aus der Distanz, aber erst mal dran am Gegner, kaum zu halten. Außerdem bilde ich mir ein, dass sie soeben zaghaft gelächelt hat. Die Erfahrung aus vermutlich knapp 500 Versuchen, wildfremde Frauen ins Bett zu quatschen, sagt mir: Das Ding hier läuft!
Ich spreche alle Frauen an, die mir gefallen. Frauen bekommt man nicht ins Bett, indem man sie aus der Ferne anschmachtet, jedenfalls ich nicht. Ich sehe passabel aus, aber nicht überwältigend. Meine Schultern sind okay, aber nicht sonderlich breit. Die Bauchmuskeln sind vorhanden, tarnen sich aber unter etwa fünf Kilo speckähnlicher Substanz. Meine Geheimratsecken nerven, schüttere Stellen im Zentrum verberge ich, indem ich die Haare etwas länger und forsch nach hinten gegelt trage. Auch meine 1,86 Meter Körpergröße sind okay, aber nichts, was eine Frau auf den ersten Blick aus dem Höschen haut. Insofern bin ich auf das angewiesen, was ich mit Selbstbewusstsein, forschem Auftreten und Eloquenz zustande bringe.
Klar, ich könnte auch meinen Titel raushängen lassen oder mein Geld. Mach ich auch manchmal, was die Erfolgsquote signifikant steigert, aber dies tue ich eigentlich nur in emotionalen Notlagen, also nicht öfter als ein-, zweimal pro Woche.
Denn dummerweise interessieren mich genau die Frauen weniger, die ich auf der Macht-macht-sexy-Schiene kriege. Was nützt es meinem Ego, mit irgendwelchen Models zu schlafen, die sich von mir bloß Karriereschub oder einen Transfer auf die Sonnenseite des Lebens erhoffen? Ich bin Kämpfer. Und wenn ich Frauen haben wollte, die ich ohne ordentlichen Fight kriegen kann, dann könnte ich auch ins Bordell gehen. Dieses stelle ich mir ähnlich reizvoll vor wie die Nummern mit karrieregeilen Büroludern, nur dass die Motive der handelnden Parteien dort nicht so schamvoll verborgen werden.
Anders formuliert: Ich liebe die Jagd wegen der Jagd und nicht wegen der Trophäen. Meist lasse ich zum ersten Date sogar meinen Dienst-Benz und den Landrover stehen und nehme das uralte, schon relativ schäbig wirkende Käfer-Cabrio, welches ich mir in einem Anfall von nostalgischer Verschwendungssucht als Drittwagen zugelegt habe.
Wenn meine Tagesform okay ist und ich eine ordentliche Performance hinlege, kriege ich in zwei von drei Fällen einen freundlichen Smalltalk hin, in zwei von vier Fällen springen E-Mail-Adresse oder Telefonnummer dabei raus, in zwei von zehn Fällen endet die Sache nach etwa hundert E-Mails, Facebook-Botschaften oder WhatsApp-Nachrichten mit einem hocherfreulichen Beischlaf. Was wiederum in zehn von zehn Fällen zu einem von mir initiierten »Ich-bin-einfach-noch-nicht-wieder-so-weit«-Gespräch führt.
Denn nach spätestens zwei Wochen werden Frauen kompliziert. Nach vier Wochen entdecken sie, dass du schnarchst, oder fangen an, an deiner Ernährung herumzunörgeln. Nach spätestens einem Jahr werden sie unerträglich – wenn man Glück hat. Wenn man Pech hat, werden sie schwanger, und dann haben sie einen am Arsch. Rund um 30 ist bei Frauen ein beschissenes Alter, man trifft auf komplizierteste Hormone, tickende biologische Uhren und geht mehr Risiken ein als ein Sprengmeister vom Bombenräumkommando, wenn er in die Grube klettert, um einen englischen Blindgänger zu entschärfen.
Schon süß!
Er wollte gar nicht meine Handynummer, sondern bloß notieren, wo ich das Kleid gekauft habe. »Haben Sie’s?«, frage ich und schicke mich zum Gehen an.
Er schiebt sein iPhone zurück in seine Jackentasche und grinst mich an. Endlich gelingt mir ebenfalls ein aufrichtiges Lächeln. Der Typ ist wirklich nett.
Und ich habe geglaubt, er würde mich anmachen! Was das anbelangt, bin ich ein bisschen vorgeschädigt. Er wäre nicht der erste Redakteur jenseits der 40 gewesen, der mir in den letzten sechs Monaten unangenehm dicht auf die Pelle gerückt ist oder gar angeboten hätte, sich abends bei ein paar Glas Wein intensiv um die Verbesserung meines Schreibstils zu kümmern. Journalisten scheinen in dieser Hinsicht besondere Plagegeister zu sein, vielleicht, weil ihnen auch sonst nie etwas peinlich sein darf, wenn sie einer Geschichte hinterherjagen.
Hammeraugen. Ich frage mich, warum die so besonders sind, ob sie größer sind als bei anderen, ob es an den langen Wimpern liegt oder daran, dass sie ein kleines bisschen glänzen? Die Frau hier geht nicht wirklich als perfekte Schönheit durch, aber sie ist ausgesprochen reizvoll. In Schulnoten ist sie, na ja, vielleicht ’ne 2.
Alte Angewohnheit von mir, allen Frauen Noten zu geben. Aber es hilft bei der Freizeitplanung. Habe in meinem Leben genau mit zwei Frauen geschlafen, die schlechter als 3 minus waren, und beide Male war ich hoffnungslos betrunken. War allerdings auch nur mit rund einem Dutzend Einser im Bett. Einser sind scheißgefährlich. Da verliebe ich mich regelmäßig und riskiere somit Kopf, Kragen und Kontostand. Am liebsten mag ich Frauen mit einem kleinen Makel. Gerade so, dass sie mich mit einem langen Blick ein bisschen geil machen. Aber nie so, dass ich nach dem Sex auch nur einen Gedanken an eine gemeinsame Zukunft verschwende, die länger als zwei Wochen dauern könnte. Halt so lange, bis ich was Neues habe.
Ich mustere die Frau, die vor mir steht. Megaschlank. Das Dekolleté nicht besonders üppig. Isst bestimmt nur Grünzeug. Also sage ich: »Na ja, sorry noch mal, dass ich Sie angesprochen habe. Und danke für das Kleid. Sie wollen bestimmt in die Kantine, oder? Ich geh jetzt raus und hole mir einen Salat.«
Ich hasse Salat. Aber man kriegt bei Frauen nicht besonders viele Gelegenheiten, einen passablen ersten Eindruck zu vermitteln.
Sie fragt: »Salat? Wo denn? Ich war immer bloß in der Kantine.«
Ich antworte: »Zwei Straßen da runter, gleich hinter dem Fischmarkt. Aber das hieß natürlich nicht, dass Sie jetzt mit mir Salat essen müssen.«
Sie lächelt schüchtern. Ihr Lächeln ist nun wirklich eine glatte Eins. Wenn sie jetzt auch Lust auf einen Salat hat, dann hat sie vermutlich auch Lust auf mich.
Sie hat!
Beim Rausgehen aus dem Verlag halte ich ihr die Tür auf. Bisschen Manieren schaden nie.
Schon wieder ein Pluspunkt. Er mag Salat. Das finde ich nun regelrecht sexy. Ich liebe Tiere, und deshalb lehne ich es ab, sie zu essen. Nicht jeder kann diesen radikalen Schritt nachvollziehen oder gar mitgehen, aber ich will als Journalistin meinen Teil dazu beitragen, dass die Leute ihren Fleischkonsum zumindest überdenken.
Als ich in meinem Volontariat eine ganze Seite im Blatt hatte, auf der ich über unsägliche Zustände in Hühnerhöfen berichtete, war ich so unglaublich stolz!
In der schwarzen Kluft mit Kapuze, Atemschutz und Fotoapparat, als ich zusammen mit Tierschutzaktivisten nachts in Ställe eingestiegen bin, habe ich mir tausend Mal besser gefallen als in dem langweiligen Outfit, das ich normalerweise tagsüber im Verlag trage. Genauso stellte ich mir mein Leben als Journalistin vor. Etwas riskieren. Etwas bewegen! Leute zum Nachdenken bringen. Die Welt ein bisschen besser machen.
Seit ich in Sachen Tierschutz recherchiere, sind Männer, die nicht in jeder Mittagspause ein blutiges Stück von einer Kuh herunterkauen, in meiner Beliebtheitsskala weit nach oben geklettert. Die anderen Typen, die noch nicht kapiert haben, dass es nichts mit Männlichkeit und Stärke zu tun hat, pausenlos Fleisch zu essen, tun mir leid. Denn erstens leben sie total ungesund, und zweitens sind sie, zumindest bei mir, gegenüber ihren denkenden und fühlenden Geschlechtsgenossen komplett chancenlos.
Was für ein verrückter Tag!
Kommt es jetzt noch darauf an, dass der Mann, mit dem ich aus dem Verlag spaziere, mich erst vor zwei Minuten angesprochen hat?
Meine Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ein Fremder! Um Himmels willen!
Sorry, Mum, aber ab und zu habe ich bei deinen Predigten einfach weggehört!
Er hält mir die Tür auf. Süß und ganz schön altmodisch!
Das gibt mir die Gelegenheit, einen Blick auf seine Hände zu werfen. Hoppla, schlanke und gepflegte Finger. Ich steh auf schöne Männerhände. Wenn mir die Hände eines Mannes gefallen, drängt sich mir beinahe automatisch die Vorstellung auf, wie es wäre, wenn sie über meine nackte Haut streichen würden.
Ich unterdrücke ein zufriedenes Grinsen.
Okay, es geht mir schon besser. Viel besser, als ich es mir vor ein paar Minuten noch habe träumen lassen. Nicht nur mein Selbstbewusstsein, auch meine Stimmung ist heute auf Autopilot.
Das gelbe Kleid sieht draußen gar nicht mehr so auffällig aus wie eben noch im Verlag.
Als ich an ihm vorbei durch die Tür laufe, spüre ich seinen Blick auf meinem Hinterteil. Soll mir recht sein. Meine Rückenlinie ist wirklich sexy, viel mehr als die Vorderseite.
Er heißt Björn, hat er gesagt. Oder?
Blöd, dass ich so abgelenkt war. Soll ich ihn nach seinem Namen fragen, auf die Gefahr hin, ziemlich neben der Spur zu wirken? Lieber nicht. Was der wohl macht? In Gedanken gehe ich alle Redaktionen des Verlages durch. Aber ich weiß nicht einmal, wie viele das sind.
Ich muss nachher mal Sandra fragen, die im Großraumbüro die Praktikanten-Insel mit mir teilt. Wir beide haben zeitgleich bei der Marion begonnen. Schon nach ein paar Tagen ertappte ich sie dabei, wie sie die Namen aller Chefredakteure auswendig lernte. »Um im Zweifelsfall für die richtige Entscheidung gerüstet zu sein«, sagte sie grinsend. Ich musste nicht lange darüber nachgrübeln, was sie damit meinte.
Die richtige Entscheidung heißt bei Sandra, bereit und willens zu sein, wenn ein Chef mit ihr ins Bett will. Sie glaubt, dass intensive Beziehungen mit höherstehenden Personen der Karriere überaus förderlich sein können. Die Namen der Redaktionsassistenten hat sie sich jedenfalls nicht gemerkt.
Ich finde so eine Denke fürchterlich, andererseits könnte man sie auch zielführend oder pragmatisch nennen. Denn Sandra hat letzte Woche eine Festanstellung bekommen. Und das hat definitiv nicht daran gelegen, dass ihre Artikel besser als meine gewesen wären.
Ich will so etwas nicht!
Ich bin eine gute Journalistin. Ich kann hart arbeiten, ich will viel lernen. Ich will zeigen, was ich draufhabe. Aber mit meinem Kopf, nicht mit meinem Körper!
Der Björn-Typ hier ist anders als Schmidt. Ich spüre das!
Der hat so freundliche Lachfältchen. Der hilft seiner Schwester, ein passendes Kleid zu finden. So supergepflegt, wie der ist, könnte er glatt vom anderen Ufer sein.
Was wäre, wenn ich hier im Verlag einen Freund finde? Einen tollen, harmlosen, schwulen Freund, der meine Arbeit schätzt und der nichts, aber auch gar nichts von mir will, außer einer genialen Journalistin ein bisschen auf die Sprünge zu helfen? Vielleicht ist genau so jemand mir gerade eben über den Weg gelaufen.
Bevor wir die vielbefahrene Straße queren, strecke ich den Arm aus, um sie sicher hinüberzugeleiten. Sind die kleinen Dinge, die sich auf deinem Konto bemerkbar machen. Habe genügend Frauen nach dem Sex gefragt, was genau sie ausgerechnet an mir mochten. Was die meisten übrigens auch mochten. Frauen mögen einfach gerne reden, vor allem über sich selbst.
Ich rede eigentlich nur vor dem Sex so viel. Danach bin ich ein guter Zuhörer. Nun ja, und ein analytischer Mensch, der seine Technik der Beischlafanbahnung mit jeder Affäre weiter perfektioniert.
Sechzehn Jahre Journalismus legt man nicht einfach zwischen den Laken ab. Wir müssen von Berufs wegen genau hinsehen, genau hinhören und hinterher analysieren, welche Information wir auf welche Art für eine Geschichte verwerten können.
Ich denke sogar dann noch über die nächste Story nach, wenn ich betrunken in einen Mülleimer auf der Reeperbahn kotze, was mir zuletzt im zarten Alter von dreißig Jahren passierte. Neben anderen, den unerfreulichen Dingen, schoss mir da durch den Kopf: »Wäre das nicht eine Geschichte? Ein Tag im Leben eines Mülleimers? Pfandflaschensammler, Zeitungsrauskramer, Heroinspritzenwegwerfer und Reinkotzer wie ich?«
Gleich am nächsten Tag legte ich mich trotz eines gewaltigen Katers mit einem Fotografen auf die Lauer. Das Ergebnis war meine erste Doppelseite im Monday, die sie noch heute in der Journalistenschule zu Lehrzwecken verwenden. In der Mitte ein großes Foto des Mülleimers, drum herum neun kleine und drei große Fotos mit Uhrzeiten und Leuten darauf, die uns in den Bildunterschriften erklären, was sie hier gerade getrieben haben. Wobei einer das lieber nicht erklären wollte. Er war die Zierde unserer Story, nämlich ein Taschendieb, der das Pech hatte, ausgerechnet in unserem Mülleimer eine erbeutete Geldbörse zu versenken. Als wir ihn ansprachen, hielt er uns für Zivilfahnder und rannte weg, was der Fotograf mit seiner Hochgeschwindigkeitskamera wunderbar festhielt. Diese Reportage bescherte mir den Durchbruch beim Monday, einen Nachwuchs-Preis für junge Journalisten sowie ein Gespräch mit Chefredakteur Blohm, der sagte: »Becker, solche Jungs wie Sie, die brauchen wir hier!« Er nahm mich unter seine Fittiche. Zwei Monate später war ich stellvertretender Ressortleiter für Nachrichten. Ein Jahr später Ressortleiter. Weitere zwei Jahre später Mitglied der Chefredaktion. Fünf Jahre danach wurde ich Blohms Stellvertreter. Und als er in Rente ging, setzte er mich im Verlag als Nachfolger durch.
Im Bioladen, in den ich die Frau bei diesen Gedankengängen lotse, fällt mir auf, dass ich noch keine Ahnung habe, wie sie heißt. »Luisa«, sagt sie, während sie einen Rucola mit Tomaten bestellt und ich nach einer Extraportion Käse, Schinken und Eiern verlange, weil ich Grünzeug sonst echt nicht herunterkriege.
Ich sage: »Luisa, wie schön!«
Dann schlendere ich mit ihr zum Hafen runter.
Anstatt in der lauten Kantine werde ich die nächste halbe Stunde auf einer Bank sitzen, Schiffe vorbeiziehen sehen und die Vögel singen hören. Die Salate sind appetitlich in kleine Schalen verpackt. Frisch gepresster Orangensaft komplettiert die bevorstehende Mahlzeit im Freien.
Was für eine tolle Idee! Den schicken kleinen Bioladen mit der einladenden Salattheke hätte ich gern schon früher entdeckt.
Und den Björn-Typen neben mir ebenfalls.
Er hat eine Art, die mir total sympathisch ist. Er lächelt viel, ist aufmerksam, und mit der Bedienung im Bioladen redet er genauso freundlich wie mit mir. Ich mag Leute nicht, die andere von oben herab behandeln, bloß weil die einen einfachen Beruf haben. Wäre der Typ arrogant, würde ich den spontanen Ausflug zum Hafen bestimmt schon bereuen.
Björn punktet auf der ganzen Linie. Wäre er ein paar Jahre jünger, würde ich ihn auf Flirttauglichkeit untersuchen. So fühle ich mich einfach nur wohl neben ihm. Ein bisschen wie mit Papa, früher, beim Ausflug in Hagenbecks Tierpark, einen Meter vorm Löwenkäfig. Irgendwie aufgeregt, aber trotzdem sicher.
Papa war und ist immer zur Stelle, wenn seine Luisa wieder einmal aus dem Nest gefallen ist. Als ich klein war, kletterte ich auf seinen Schoß, wenn ich mir die Knie aufgeschlagen hatte. Er nannte mich »mein Spätzchen« und tröstete mich mit Karamellbonbons.
Heute raucht er bei unseren Gesprächen Zigarre, hört schweigend zu, wenn ich ihm von Sorgen berichte, die ein bisschen zu groß für die kleine Luisa sind. Danach erklärt er mir, was ich seiner Meinung nach zu tun habe.
Und ich? Ich bewundere seine Klugheit, weiß seinen Rat zu schätzen, doch am Ende treffe ich meine eigenen Entscheidungen. Alles andere fühlt sich weder gut noch richtig an.
Papa bietet regelmäßig an, mir einen ordentlichen Job zu besorgen. Die Kontakte dafür hat er. Rechtsanwalt und Notar Dr. Magnus Stein stellt etwas dar in dieser Stadt, und von den oberen Zehntausend gehören bestimmt zweihundert zu seinen Klienten.
Er hält nichts von dem Journalistenquatsch, wie er meinen Traumberuf nennt, und wollte mich zu Jura überreden, damit ich in seine Kanzlei einsteige und sie später übernehme. Er hat mir zum Abitur ein Firmenschild geschenkt: Stein, Stein & Partner. Rechtsanwälte und Notare.
Ach, mein Papa! Was haben wir gestritten, diskutiert, geschmeichelt, getobt und Türen geknallt. Am Ende musste er einsehen, dass er mich nicht zu seinem Leben zwingen kann. Eins haben er und ich nämlich gemeinsam: einen ziemlichen Dickschädel!
Papa will mir immer noch ein Nest bauen. Er kann gar nicht anders, ich bin sein Mädchen, sein einziges Kind.
Ein bisschen bange wird mir bei dem Gedanken, ihm meinen erneuten Flop zu beichten. Gar nicht mal seinetwegen. Er wird wortlos nicken, denn er hat tatsächlich schon immer gesagt, dass in der Zeitungsbranche im Moment weder Staat noch Geld zu machen ist. Ich fürchte mich meinetwegen. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem ich ihm womöglich recht geben und meine Pläne begraben muss.
Im Innern wappne ich mich für unser 350stes Streitgespräch.
Aufgeben kommt vorerst nicht in Frage, auch wenn ich mich langsam frage, für wie viele Praktikumsrunden meine Energie wohl noch reichen wird.
Luisa ist erst 28. Früher mal bestes Nachwuchsjournalistenalter. Doch der Markt sucht heutzutage nach allem, aber nicht mehr nach jungen Schreibern. Facebook, Google, Twitter und Tausende von Bloggern machen uns gnadenlos Konkurrenz. Die Auflagen der großen Blätter sinken seit Jahren. Wir wehren uns zaghaft, indem wir unsere Angebote im Internet verschenken und darum beten, dass künftige Werbeerlöse diesen digitalen Selbstmord auf Raten irgendwann mal rechtfertigen werden. Journalismus ist ein schwieriges Geschäft geworden. Vielleicht sollte Luisa sich nach einem anderen Job umsehen oder nach einem Kerl zum Heiraten.
Aber ich mag Luisas Art. Irgendwie sehr natürlich. Und trotzdem ganz schön dabei. Unaufdringlich, aber echt attraktiv. Ich korrigiere sie von Zwei auf Zwei plus mit Tendenz zur Eins. Dass sie noch keine glatte Eins ist, liegt ausschließlich an der Ungewissheit, was mich nach dem Auspacken erwarten wird. Wenn sie nicht allzu dreist schummelt, ist das vielleicht knappes »B«. Allerdings bin ich in Sachen Körbchengröße einigermaßen nachsichtig, es lässt sich ja alles korrigieren heutzutage. Jedoch sieht Luisa nicht aus wie eine Frau, die zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls zweimal 250 Gramm Silikon benötigen würde.
Hammer, wie sie strahlt in der Sonne, in dem Kleid und auf der Bank neben mir. Ich stehe auf Frauen, die ihre Schönheit so selbstbewusst mit sich herumtragen. War schon damals so bei Melanie. Ein Gedanke, bei dem sich meine Laune sogleich verfinstert.
Es gab kaum eine härtere Zeit für mich als das Jahr der Scheidung. Ehrlicherweise habe ich nie ganz herausbekommen, was mehr schmerzte: die Demütigung, dass meine große Liebe einen jugendlichen Lover hatte, oder die exakt 1,7 Millionen Euro meines hart ererbten Vermögens, die mich die Scheidung gekostet hat. Nicht dass es mich umgebracht hätte – ich stamme aus der alten hanseatischen Becker-Dynastie, und manchmal tauche ich in irgendwelchen Yellow-Listen auf, die mich als einen der hundert begehrtesten Junggesellen der Stadt ausweisen.
Vater will mich seit Jahren zurück in die Firma holen, Becker & Becker, Immobilien und Projektentwicklung, aber das mache ich frühestens, wenn er sich zurückzieht, wonach es derzeit noch lange nicht aussieht: Mit seinen 72 Jahren ist er fit wie ein Bergsteiger, und ich habe nun wirklich keine Lust, mich wieder unter sein strenges Regiment zu begeben. Erstens ist er das Sinnbild eines hanseatischen Patriarchen, zweitens gehört er zu den Leuten, die schrecklich oft recht haben. Sogar bei Melanie lag er richtig. Bis zum Tag der Hochzeit hat er immer wieder verlangt, dass ich einen Ehevertrag aufsetze, und bis zuletzt habe ich dies in romantischer Verblendung verweigert. Dass Papa trotz allem ein guter Typ ist, bewies er an dem Tag, als Melanie die Scheidung einreichte. Da verzichtete er auf jegliche Rechthaberei und zog mich väterlich an seine Brust: »Wir zahlen alle mal Lehrgeld, Junge. Ist nur wichtig, dass wir auch daraus lernen.«
Ich habe aus der Ehe eines gelernt: dass ich mich nie wieder in dieser Form auf eine Frau einlassen werde!
Als Melanie immer kälter und liebloser wurde und immer öfter zu Cocktailabenden verschwand, die erst am nächsten Morgen um sechs Uhr endeten, habe ich rund drei Monate lang winselnd um ihre erloschene Liebe gekämpft, anstatt sie einfach rauszuwerfen. Die Folgen waren der komplette Verlust meines männlichen Selbstwertgefühls, 14-Stunden-Tage im Verlag – und Nächte, die ich auf der Couch im Büro verbrachte. Denn den Wodka vorm heimischen TV konnte ich genauso wenig ertragen wie die Depressionen, die mich beim Anblick händchenhaltend über die Straße schlendernder Menschen befielen.
Es hat mindestens fünf Frauen lang gedauert, bis ich über das Gröbste hinweg war. Und seien wir mal ganz ehrlich, bei nicht weniger als vieren von ihnen war ich drauf und dran, mich sofort wieder einfangen zu lassen. Weil ich mich schrecklich nach Zuneigung sehnte und den Sex eher als Dreingabe betrachtete.
Doch inzwischen bin ich wieder ganz gesund.
Ich bin einer der erfolgreichsten Chefredakteure des Verlages, ich werde möglicherweise irgendwann in den Vorstand aufrücken, und bis dahin widme ich mich entspannt meinem Single-Leben, was im Moment aus einem gelben Kleid besteht, bei dem ich mich aufmerksam erkundige, für welches unserer 27 Objekte sie wohl arbeitet. Ich registriere mit einer gewissen Vorsicht, dass Luisa Praktikantin bei der Marion ist, einer unserer zahllosen kleinen Frauentitel, was mich doch ein klein wenig abtörnt.
Praktikantinnen sind einfach schrecklich leicht zu haben!
Praktikantinnen rangieren knapp über den Frauen, die man bei Mediengalas abstaubt, nur weil man ein VIP-Bändchen trägt und eine beeindruckende Visitenkarte vorzuweisen hat.
Doch so richtig schlimm finde ich Luisas Status beim Blick auf ihr in der Sonne leuchtendes Kleid nun auch wieder nicht. Meine erotische Warteliste sieht aktuell ziemlich aufgeräumt aus, und ich kann für die nächsten sieben Tage kein einziges Date vorweisen, an dessen Ende ein erfüllender Beischlaf warten könnte.
Björn sitzt seitlich auf der Bank, mir ganz und gar zugewandt. Seine Schüchternheit von vorhin scheint weg zu sein. So wie wir hier traulich unseren Lunch verputzen, käme wohl niemand auf die Idee, dass wir uns erst vor einer Viertelstunde kennengelernt haben.
Und so wie er mich ansieht, während ich eine Cocktailtomate aufspieße und zum Mund führe, wird mir vollkommen klar, dass der ganz gewiss nicht schwul ist. Die Sache hier macht mir plötzlich Spaß.
Er hat mich drangekriegt. So schnell wie dieser Björn-Typ hat mich noch keiner auf eine Bank am Hafen gelockt. Der Mann ist originell, das muss man ihm lassen.
In meinem Kopf formt sich plötzlich die Idee für eine witzige Dating-Story. Woran erkenne ich welche Flirttypen und mit welchen Überraschungen muss ich rechnen?
Den schüchternen Dann-doch-bloß-Aufreißer?
Den Arroganz-getarnten-ich-trau-mich-nicht?
Den notgeilen Ich-tu-mal-ganz-Desinteressierten?
Oder den liebenswerten Scheiße-das-ist-ein-knallharter-Macho-Typen?
Das werde ich morgen in der Themenkonferenz vorschlagen.
Müsste den Leserinnen eigentlich gefallen, obwohl es ein bisschen ungewöhnlich für die Marion ist. Dort dreht sich die Welt um Diäten, Mode, Kochen, eine Handvoll Promis und äh … Diäten, Mode und Kochen.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich gar keine Themen mehr vorschlagen muss. Ich bin raus. Könnte die ganze Konferenz über in der Nase bohren. Oder auf dem Tisch tanzen. Und ab nächste Woche werde ich wieder in Vollzeit kellnern.
Trotz der unerfreulichen Gedankengänge genieße ich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut, den köstlichen Salat und die Aufmerksamkeit der netten Zufallsbekanntschaft. Er schaut mich an, die ganze Zeit. Er lächelt, als ich mein Baguette in kleine Krümel zupfe und damit die Spatzen füttere.
Auch ich lächele, und zwar zu Björn hinüber, und halte ihm das Brot hin. »Auch mal?«
Wir schweigen und beobachten die knopfäugige Bande, die sich um die Brocken balgt.
Ich frage mich, was genau Björn wohl macht.
Das heißt: Eigentlich frage ich ihn. Zwei, die zusammen Salat essen und Spatzen füttern, dürfen ruhig ein bisschen mehr voneinander wissen als ihre Vornamen und die Preise vom Zalando-Sommerschlussverkauf.
»Hm!«, antwortet er. »Ich arbeite für den Monday.«
Wow! Was für ein Hammer! Der Monday ist das Flaggschiff dieses Verlages. Andererseits bieten die Worte »ich arbeite für« relativ großen Interpretationsspielraum nach unten.
Ich erwäge, nachzuhaken und ihn zu fragen, was er nun genau macht.