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Familie ist richtig schön (und manchmal richtig schön anstrengend!) Die 14-jährige Martha muss sich wieder einmal an einen neuen Freund ihrer Mutter Fritzi gewöhnen. Dabei hat sie mit drei Stiefvätern, ihren Halbbrüdern Tobi und Justus sowie diversen Großeltern schon genug um die Ohren. Doch es kommt noch schlimmer: Fritzi beschließt über Marthas Kopf hinweg, mit den Kindern zu ihrem neuen Freund Clemens nach Frankfurt zu ziehen. Geht's noch?! Aber nicht mit ihr, schließlich geht es auch um Marthas Leben … Leseprobe: »Ich bin nicht hysterisch. Ich bin auch nicht egoistisch! Ich bin vierzehn! Und ich will nicht schon wieder einen neuen Vater bekommen. Den fünften! Okay, ich übertreibe. Den vierten. Also Stiefvater. Und dazu womöglich noch einen Bruder oder eine Schwester. Zumindest noch mehr Großeltern und Onkel und Tanten und weiß der Geier, wer an diesem Clemens noch so alles dranhängt. Als hätte ich nicht schon genug Verwandte an der Backe!« Freundschaft, Familie und die erste Liebe unter einen Hut zu bringen, ist eben gar nicht so einfach für die 14-jährige Martha – besonders, wenn man es allen recht machen will. Witzig, rasant und liebevoll erzählt Michaela Beck von den Herausforderungen, die das Leben in einer durchgetakteten Patchworkfamilie mit sich bringt.
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Seitenzahl: 235
Originalcopyright © 2024 Südpol Verlag GmbH, Grevenbroich
Autorin: Michaela Beck
Umschlaggestaltung und Illustrationen: Corinna Böckmann
eBook Umsetzung: Leon H. Böckmann
ISBN: 978-3-96594-269-1
Alle Rechte vorbehalten.
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können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
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Oma Soundso und Onkel Dingsbums
Ich bin nicht hysterisch. Ich bin auch nicht egoistisch! Ich bin vierzehn! Und ich will nicht schon wieder einen neuen Vater bekommen. Den fünften! Okay, ich übertreibe. Den vierten. Also Stiefvater. Und dazu womöglich noch einen Bruder oder eine Schwester. Zumindest noch mehr Großeltern und Onkel und Tanten und weiß der Geier, wer an diesem Clemens noch so alles dranhängt. Als hätte ich nicht schon genug an der Backe! Als wäre unsere Familie nicht schon groß genug! Denn seit Mama und ich vor 14 Jahren unsere Familie starteten, ist sie immer größer und breiter geworden, explodiert wie ein Kefirpilz, auf den man täglich Milch schüttet.
PENG!
Ja, wir sind eine Patchworkfamilie und bei diesem Wort huscht den meisten Erwachsenen so ein seltsam verständnisvolles Lächeln übers Gesicht, denn es ist ja auch zu schön, wenn sich alle miteinander vertragen. Die Ex mit der Neuen. Die Neue mit seinen Kindern. Ihre Kinder mit seinen Kindern. Besonders bei Familien-feiern. Ganz besonders zu Weihnachten. Alle unter einem Baum! Dabei ist doch klar: Selbst der nettesten Patchworkfamilie geht eine zerbrochene Familie voraus. Echt, ich weiß, wovon ich rede. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Wort Patchwork so putzig klingt. Ganz im Gegensatz zu dem Begriff Kernfamilie, der ins Englische übrigens mit nuclear family übersetzt wird, was ja wohl eher an die Zerstörungskraft einer Atombombe denken lässt. Vielleicht hat deshalb niemand mehr Lust auf die nuclear family. Klar, dass da alle lieber patchworken wollen. Nur hey, da steckt das Wort Arbeit nicht umsonst drin.
Vielleicht sind die Leute auch deshalb so in Patchworkfamilien vernarrt, weil sie da an diese schönen Bettdecken aus bunten Stoffen denken müssen. Aber für mich und meine Halbbrüder Tobias und Justus bedeutet Patchworken eher das, was die Übersetzung aus dem Englischen nahelegt: ein Flickwerk aus Resten. In unserem Fall aus sehr egozentrischen Resten. Dazu zähle ich nicht nur die Väter meiner Halbbrüder, Georg und Jack, sondern auch deren Eltern und deren Ex-Männer und Ex-Frauen und ihre Geschwister und, und, und ... Da verlieren nicht nur wir drei manchmal den Überblick.
Aber das Krasseste ist, dass ich all diese Personen, bevor sie unserer Familie beigetreten sind, weder gekannt noch von ihnen gewusst habe, geschweige denn ahnte, dass sie überhaupt existieren. RUMS! – plötzlich gehören sie zu meiner Familie und ich zu ihrer. Und in Ermangelung anderer Kinder und Enkel konzentrieren meine plötzlichen neuen Verwandten nicht nur ihr Geld, ihr Wissen und ihre Liebe auf mich und meine Brüder, sondern leider auch ganz viel Zeit.
Klar, das ist auch schön, wenn sich so viele um einen kümmern. Und ja, unsere Wunschlisten zu Weihnachten oder zu unseren Geburtstagen können gar nicht lang genug sein, geschweige denn die Ferien. Aber Chillen und mit Freundinnen ins Kino gehen? Fehlanzeige! Die Ferien von meinen Brüdern und mir sind minutiös durchgetaktet und in lauter kleine Einheiten zerhackt, damit auch jeder unserer Angehörigen zu seinem Recht kommt: Zehn Tage mit Georg, dem Vater von Tobias, in Italien. Zehn Tage mit Jack, dem Vater von Justus, in Irland. 14 Tage mit Mama plus ihrem aktuellen Freund in Frankreich. Vier Tage mit Oma Marlis und Opa Gerd an der Ostsee. Vier Tage und keinen mehr mit Jacks Eltern in Dublin, weil sonst Oma Marlis und Opa Gerd glauben, benachteiligt zu sein und schmollen. Und genauso viele Tage mit Oma Doris und Uroma Tick-Tack im Thüringer Wald. Im fliegenden Wechsel sozusagen. Denn während alle einen Hin- und einen Rückflug für ihren Urlaub buchen, haben wir Kinder Rundflüge quer durch ganz Europa. Das ist zeitsparender, sagt Mama. Auch umweltfreundlicher, finde ich. Natürlich würde ich aus Klimaschutzgründen lieber Zug fahren, doch das ist Mama nicht zuverlässig genug, da stünden wir angeblich nur auf den Bahnhöfen rum, und das brächte die ganze Organisation durcheinander. Aber da muss ich noch mal mit ihr drüber reden.
Allein die Planung der Ferien verschlingt bei uns ein ganzes Wochenende und bedarf höchster diplomatischer Kunst, sowie eines immensen taktischen Gespürs aller Beteiligten. Wer darf mit uns zuerst in den Urlaub fahren, wenn wir noch frisch und voller Tatendrang sind? Wer ist zuletzt dran, wenn uns keine einzige Sehenswürdigkeit, nicht mal mehr ein Freizeitpark mit einer noch so aufregenden Achterbahn lockt? Und überhaupt: Wer darf mit uns dorthin, wo wir noch nicht waren?
An diesen Wochenenden, an denen die Ferien geplant werden, geht es bei uns immer zu wie in diesem Rätsel, in dem ein Fährmann einen Wolf, ein Schaf und einen Kohlkopf über den Fluss setzen soll und immer nur einen von ihnen mitnehmen kann und gleichzeitig verhindern muss, dass die beiden zurückbleibenden sich nicht gegenseitig fressen. Zwar bekommen Mama und die anderen das mittlerweile ganz gut hin, aber wie sollen da noch die Eltern von diesem Neuen, diesem Clemens, reinpassen? Wie, bitte schön, soll ich da noch Zeit für meine Freundinnen finden, wenn mir dauernd Oma Soundso, Onkel Dingsbums oder Opa-wie-hieß-der-noch-gleich die Zeit stehlen? Und obwohl sich Mama schon vor Jahren von den Vätern meiner Halbbrüder Tobi und Justus getrennt hat, sind die beiden dauernd bei uns, praktisch permanent, um nichts von der Kindheit ihrer Söhne zu verpassen. Hätten sie gleich bei uns wohnen bleiben können. Dann müsste ich die Jungs nicht auch noch dauernd zu ihnen durch ganz Berlin schleppen. Aber das ging dann doch nicht, aus Rücksicht auf Norbert, Mamas letzten Freund, meinem dritten Stiefvater. Der war aber nur ein Übergangsfreund von Mama, denn jetzt redet sie nur noch von Clemens. Über meinen Vater spricht sie allerdings nie. Den kennt niemand. Der ist aus irgendeinem Grund tabu. Das ist einfach nicht fair, auch wenn es mir bisher an tollen Vätern nicht gemangelt hat.
Was auch nicht hinhaut, ist diese Sache mit der Liebe. Ich meine, wenn die tatsächlich so wäre, wie die Erwachsenen immer erzählen, dann gäbe es so was wie Patchworkfamilien ja gar nicht.
„Das ist eben so“, war Mamas Erklärung, als Norbert ausziehen musste, weil sie sich nun in diesen Clemens verliebt hat. „Es passiert einfach. Das ist die Liebe, Martha!“
„Aber wieso passiert es dir so häufig, Mama? Erst Georg, dann Jack, dann Norbert und jetzt dieser Clemens!“
„Ich will doch auch nur ein bisschen glücklich sein!“, hat sie da geantwortet und theatralisch beide Hände auf ihr Herz gelegt, und dagegen kann ich ja schlecht etwas sagen. „Außerdem kann man sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt, weißt du, Martha.“
Egal. Mich wundert vielmehr, dass es alle scheinbar so hinnehmen, dass Stiefvater Nummer vier bald hier einziehen und alles wieder anders wird und wir noch mehr Großeltern haben werden. Jedenfalls, wenn dieser Clemens auch so eine weitverzweigte Familie wie Jack hat, dann brauche ich eine neue Memory-Technik!
„Vielleicht hast du ja Glück und Clemens‘ Eltern waren schon so alt, dass sie längst tot sind“, sagte meine Freundin Paula neulich in der Schule.
Sie kann meinen Frust verstehen, weil sie mindestens genauso viele Angehörige wie ich hat, weswegen wir uns auch so gut wie nie nach der Schule treffen können. Denn jedes Mal, wenn wir uns verabreden wollen, lädt uns einer unserer Angehörigen ins Kino, in den Zoo, auf die Kirmes oder einfach zu sich selbst ein. Widerstand zwecklos! Man kann sie einfach nicht abschütteln. Niemals lassen sie einen in Ruhe. Wollen wir miteinander rodeln gehen, sitzen sie plötzlich hinten auf unserem Schlitten. Nach der Schule ein Eis essen? Sie sind schon da und geben eins aus. Einfach nur zusammen Hausaufgaben machen? Irrtum. Sie können alles viel besser erklären. Und wenn nicht, suchen sie es sich im Internet zusammen. Oder belegen einen Chinesisch-Kurs an der Volkshochschule, damit sie uns Vokabeln abfragen können.
Genau deshalb habe ich auch keine Zeit, geschweige denn ein eigenes Leben! Weil ich immer viel zu freundlich zu allen bin! Ich gehe für Oma Doris einkaufen, helfe Opa Gerd im Schrebergarten, fahre für Oma Marlis mal eben zur Post, hole für Uroma Tick-Tack das Rezept vom Arzt … Und anstatt mit meinen Freundinnen auf Partys oder Konzerte zu gehen, gehe ich mit meinem Stiefvater Georg, der Schauspieler ist, auf Theaterpremieren!
Die langweiligen Theaterpremieren sind bei Weitem noch nicht alles, was mir mein Leben versaut. Ich schleppe meine Brüder tagtäglich durch die Stadt, als wäre ich ein Begleitservice. Echt mal. Hallo, ich bin Martha, der Babysitter, der nichts kostet!
Tobi, der mit fast zehn Jahren schon komplette Passagen aus dem HAMLET auswendig kann, muss ich jeden zweiten Nachmittag ins Theater bringen, weil Georg ihn, wegen seines so gänzlich anderen Tagesablaufs, den er und sein Freund Tino haben, sonst nie unter der Woche zu Gesicht bekäme.
Justus, ganze fünf Jahre erst, ist das Mathegenie unserer Familie und muss dauernd zu einem anderen Förderunterricht, was ich völlig unnötig finde. Wieso muss er gefördert werden, wo er doch schon ein Genie ist? Egal. Also bring ich ihn zum Schach, zum Mathespezialkurs und zur musikalischen Früherziehung, während die Mädchen aus meiner Klasse shoppen gehen oder schön entspannt zusammen abhängen.
Immerhin kann Justus mir manchmal was in Mathe erklären. Er ist nämlich nicht nur blitzgescheit, Zahlen sind seine Leidenschaft. Dauernd muss er etwas zählen. Die Fliesen des Fußbodens, die Kacheln in der Schwimmhalle, die Blätter an den Bäumen. Es ist wie ein Zwang und die Therapeuten sagen, dass er das macht, um sein Gehirn zu beschäftigen. Damit fing er schon als Baby an. Und wenn man Oma Doris glauben darf, waren Justus‘ erste Worte nicht Mama oder Papa, sondern vier, sieben und Primzahl. Hallo?! Welches Kleinkind weiß denn, bitte schön, was eine Primzahl ist?
Jack ist überzeugt, dass Justus seine Leidenschaft für Zahlen natürlich von ihm, dem Statiker, geerbt hat, obwohl Mama als Architektin und Mutter von drei Kindern auch ziemlich gut rechnen können muss. Allerdings darf eine Architektin etwas kreativer mit den Zahlen umgehen, betont Jack gern. Beim Statiker hingegen müssen die Zahlen unbedingt stimmen. Denn ein Statiker ist dafür zuständig, dass die Kräfte, die in einem Haus wirken, immer ausgeglichen sind, sodass es nicht aus Versehen wie ein Kartenhaus zusammenklappt. Mama war bei Jack auch sehr ausgeglichen, was sie davor, als noch Georg bei uns wohnte, selten war. Georg machte wegen jedem bisschen Theater. Da musste Mama sich ja in Jack verlieben, dessen Familie übrigens aus Irland kommt und die ich kaum verstehe, wenn sie Englisch sprechen.
Mein Halbbruder Tobi hat sein Talent fürs Theater auch von seinem Vater geerbt. Er wusste schon in Mamas Bauch, dass er mal genau so ein Schauspieler werden will wie Georg. Und wahrscheinlich hat er schon in Mamas Bauch den halben HAMLET auswendig gekonnt, denn den spielte Georg damals und Mama hat ihn immer abgehört: „Tobi or not Tobi!“, soll es dann eines Tages aus Mamas Bauch geschallt haben, sagt Tick-Tack, und deshalb haben sie meinen Halbbruder dann Tobias genannt.
Was mir mein Vater an besonderen Talenten vererbt hat, weiß ich nicht. Habe ich überhaupt welche? Oder werden die erst später sichtbar?
Mein richtiger Vater ist Polarforscher in der Arktis. Heißt, er hat gleich nach meiner Zeugung die Flocke gemacht und ist ab ins Ewige Eis. Deshalb habe ich ihn noch nie gesehen. Deshalb meldet er sich auch nie, sagt Tick-Tack. Früher hat er mir ab und zu etwas zum Geburtstag geschickt. Damit ich nicht so traurig bin. Zum Beispiel einen Plüschpinguin als ich drei war. Vom Nordpol! Tja, für Leute, die sich auskennen, ist der Schwindel schnell durchschaut. Es gibt keine Pinguine am Nordpol!
Ich habe es erst mit sieben kapiert. Kurz nachdem mir Kira-Violetta Posch-Schmidt, die drei ältere Brüder hat, in der zweiten Klasse klarmachte, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt.
Ich wollte es zuerst nicht glauben. Das hätte ja geheißen, dass alle Erwachsenen meiner Familie – und das waren nicht wenige zu dieser Zeit, wenn auch noch nicht so viele wie heute – mich sieben Jahre lang belogen hätten! Doch da erinnerte ich mich, dass ich im Jahr zuvor tatsächlich in dem Weihnachtsmann in unserem Wohnzimmer kurz einen ehemaligen Studienfreund von Mama, nämlich Hans, vermutet hatte. Auch hatte die Stimme des Weihnachtsmannes ganz ähnlich wie Hans‘ Stimme geklungen, obgleich Mama und alle anderen, sogar der Weihnachtsmann selbst, mir das wieder auszureden versucht hatten. Konnte Kira-Violetta Posch-Schmidt also tatsächlich recht haben?
„Und nicht nur der Weihnachtsmann ist ein Schwindel“, erklärte mir Kira-Violetta Posch-Schmidt und holte zum nächsten Schlag aus, „sondern wahrscheinlich auch das Märchen, das sie dir über deinen Vater erzählen.“
„Das ist nicht wahr!“, rief ich sofort, aber irgendwas in mir flüsterte, dass Kira-Violetta Posch-Schmidt auch damit recht haben könnte.
„Ach ja? Und warum hast du ihn dann noch nie gesehen?“, hakte sie gehässig nach.
„Weil er am Nordpol arbeitet. In der Arktis! Da kann man nicht mal so schnell vorbeikommen! Da ist ringsum nur Eis. Packeis, wenn du es genau wissen willst, das ihn gepackt hält!“
Ich hatte nicht nur die Antworten geschrien, was schon mal ein schlechtes Zeichen war, sondern auch praktisch alles aufgezählt, was mir Oma Doris und Tick-Tack bis dahin immer auf meine eigenen Fragen zu meinem Vater gesagt hatten.
Kira-Violetta Posch-Schmidt schien jedoch zufrieden, obwohl ich mich im gleichen Moment fragte, warum sich mein Vater nicht wenigstens mal übers Telefon oder – noch besser – über Skype meldete. „Bestimmt haben sie da in der Arktis noch kein Internet!“, hatte mich Oma Doris zu überzeugen versucht. Und Tick-Tack hatte immerhin zugegeben, dass Kira-Violetta Posch-Schmidt zumindest mit dem Weihnachtsmann recht hatte. Sie wollte es mir angeblich schon vor zwei Jahren sagen, dass hinter dem Weihnachtsmann Weihnachtsmann-Hans, wie ich ihn ab da nannte, steckte. Aber Oma Doris und die anderen hätten es immer wieder verhindert, um mir nicht die Illusion zu nehmen. Klaro!
Bleibt die Frage, ob mein Vater wirklich Polarforscher ist? Einer, der in der Arktis für Mama nach Beweisen sucht, dass tatsächlich keine Schneeflocke der anderen gleicht, wie Tick-Tack vorher mal behauptet hatte? Wohl kaum. Wahrscheinlich hat Tick-Tack sich das damals alles nur für mich ausgedacht, damit ich im Kindergar-ten etwas über meinen Vater erzählen konnte. Alle waren sie platt, als ich plötzlich mit dem Polarforscher herausrückte. Sogar meine Kindergärtnerin hörte endlich auf zu fragen. Heute ahne ich natürlich, warum Tick-Tack mir so eine wilde Geschichte erzählt hat. Denn es ist doch viel wahrscheinlicher, dass mein Vater ein ganz normaler, unzuverlässiger Typ war, der meine Mutter einfach sitzen ließ und sich noch vor meiner Geburt verdünnisierte. Was im Übrigen eine Tradition in unserer Familie ist. Schon Tick-Tack hat Oma Doris allein großgezogen und Oma Doris wiederum Mama. Das ist zwar eine von diesen Familientraditionen, die Oma Doris nicht unbedingt schätzt und auf die sie gern verzichtet hätte, aber trotzdem ist es eine Tradition und auf Traditionen steht Oma Doris sehr. Traditionen halten eine Familie zusammen. Traditionen sind das, was eine Familie ausmacht!
Komplett egal. Mama und ich sind bis jetzt auch gut ohne meinen Vater klargekommen! Wir sind ein eingespieltes Team. Ist doch logisch! Schließlich fing mit uns beiden alles an. Und natürlich mit Fräulein Li.
Das ist meine Siamesische Katze. Sie ist am Tag meiner Geburt zu uns gekommen. Oma Doris fand sie hinter den Containern in ihrer Laubenkolonie, päppelte sie mit einer Liebesperlenflasche auf und schenkte sie mir. Da war ich gerade sechs Wochen alt. Seitdem sind Fräulein Li und ich unzertrennlich. Bis wir drei Jahre alt waren, machten wir alles gemeinsam. Musste ich mir die Zähne putzen, musste es Fräulein Li auch. Sollte ich mehr Gemüse essen, sollte es Fräulein Li erst recht. Und als ich größer wurde und allein auf die Toilette zu gehen begann, da brachte ich ihr auch das bei. Echt. Sie stellt sich breitbeinig auf die Klobrille, macht ihr Geschäft und springt dann auf den Spülkasten, um abzuziehen. WUSCH! Fräulein Li ist weit und breit die gelehrigste Katze. Nur Lakritze mag sie nicht, während ich davon tonnenweise verdrücken könnte und die aus Dänemark am besten finde.
Georg wurde mein erster Stiefvater, pardon, Bonusvater. Ich soll ihn nicht vor anderen Stiefvater nennen, weil die Silbe Stief einen negativen Beigeschmack hat. In den Märchen sind nämlich die Stiefeltern ausnahmslos böse. Georg hingegen ist der beste Vater, den ich mir damals hätte wünschen können, außer vielleicht mei-nen leiblichen. Er hat mich wie seine eigene Tochter aufgezogen und manchmal habe ich ihn, heimlich für mich, Papa genannt. Aber das wollten Mama und Georg nicht und auch Tobias sagt, dass ein richtiger eigener Vater noch mal was ganz anderes ist als ein Bonusvater. Wie anders, kann er mir aber nicht erklären. Wahrscheinlich will er mich nur ärgern oder eifersüchtig machen. Denn meistens sagt er das, wenn ich ihn zwinge, seine Hausaufgaben zu machen.
Georg wurde also mein erster Bonusvater und seine Eltern, Oma Marlis und Opa Gerd, wurden meine ersten Großeltern, mit denen ich genetisch natürlich nicht verwandt bin. Damals war unsere Familie noch überschaubar. Leider kann ich mich daran nicht mehr erinnern, denn als ich viereinhalb war, kam Tobi zur Welt. Zuvor hatten sich Mama und Georg bereits getrennt, weil Mama sich in Jack, den irischen Statiker, verliebt hatte und er sich in sie. Also wurde Jack mein zweiter Bonusvater und Grandpa Connar und Grandma Kate wurden unsere nächsten Großeltern. Genau, Jacks Familie kommt wie gesagt aus Irland und wie viele Menschen dort haben mein Bruder Justus und sein Vater Jack rote Haare. Ob Opa Connar auch mal rote Haare hatte, weiß ich gar nicht, dessen Haare sind schon grau.
„Wer ist der beste Opa in ganz Europa?“, fragt Opa Connar immer, wenn er mit Oma Kate vor der Tür steht. Das ist definitiv sein Lieblingssatz auf Deutsch.
„Du, Opa!“, müssen Tobi, Justus und ich dann im Chor rufen und dann freut er sich jedes Mal ein Loch in den Bauch.
Zum Glück leben Opa Connar und Oma Kate in Dublin und können nicht jeden Tag vor der Tür stehen. Genau wie der Rest von Jacks weitverbreiteter Sippe. Als älteste Cousine von allen würde ich sonst aus dem Babysitten nicht mehr herauskommen.
Mein dritter Stiefvater Norbert brachte Oma Hilde und Opa Herbert mit, über ihn gibt es nur wenig zu sagen. Viel spannender war zu der Zeit sowieso Georgs Coming-out. Er hatte sich in Tino verliebt, einen Tänzer aus seinem Theater, mit dem er immer noch zusammen ist.
Natürlich wüsste ich zu gern, was mit meinem Vater los ist und warum Mama nicht über ihn reden will. Aber das ist leider ein großes Geheimnis und ich stelle mir manchmal vor, dass er vielleicht ein Geheimagent oder ein verfolgter Umweltschützer, aber mindestens ein bedrohter Journalist bei Reporter ohne Grenzen ist, der aus so einem Schurkenstaat über die Missstände berichtet.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben
„Man kann über alles reden, Martha, hörst du? Manchmal braucht es ein wenig Mut, aber generell ist nichts zu unwichtig, nichts zu peinlich, nichts zu banal, um nicht mit mir darüber zu reden.“
Ich glaube, Mütter oder Eltern müssen solche Sätze zu ihren Kindern sagen, weil sie sich selbst nicht als autoritäre Tyrannen sehen wollen. Wie sie es dann umsetzen, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt Papier.
Als Mama heute Abend zu mir ins Zimmer kommt, um Gute Nacht zu sagen, habe ich endlich den Mut, sie auf ihren neuen Freund anzusprechen. Ich habe mich gut vorbereitet und auch versucht, nicht nur meine Seite zu sehen – bin ja weder hysterisch noch egoistisch. Ich habe auch die Seite der neuen Großeltern und die von diesem Clemens in Betracht gezogen. Sogar ein paar Gegenargumente, die von Mama kommen könnten, habe ich vorher durchgespielt. So wollte ich zum Beispiel auf Mamas möglichen Einwand, dass es ihren Freund Clemens und die neuen Großeltern verletzen könnte, dass ich sie nicht kennenlernen will, antworten, dass sie ja behaupten könne, ich wäre gerade in einem schwierigen Alter, also in der Pubertät, und deshalb den neuen Großeltern nicht zumutbar. Wenn Mama dann sagen würde, dass sie die neuen Großeltern nicht anlügen wolle, würde ich sie mit ihren eigenen Waffen schlagen und erwidern, dass es auch eine Lüge sei, zu behaupten, ich würde Clemens und seine Eltern gern kennenlernen.
Aber klar, als es dann so weit ist, läuft wieder mal nichts so, wie es soll, und auf meinen Einstieg, dass ich auf keinen Fall noch mehr Großeltern in meinem Tagesablauf unterbringen könnte, sondern mich lieber auf mein Leben konzentrieren wolle, antwortet Mama: „Ich mute dir ganz schön was zu, ja?“
Im ersten Moment glaube ich, mich verhört zu haben. Im zweiten bin ich überzeugt, Mama hat es ironisch gemeint. Denn natürlich hatte sie eine viel schwerere Kindheit als ich. Eine, in der es weder Bananen noch Telefone, geschweige denn Handys oder Computer gegeben hatte.
Ironie ist in unserer Familie weit verbreitet, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass die, die sich am ironischsten geben, wie etwa Jack oder Mama, selbst überhaupt keine Ironie verstehen. Deshalb antworte ich nicht: Ach, wie kommst du denn darauf?, sondern halte die Klappe. Mama scheint sich nämlich auch vorbereitet zu haben, denn sie fährt, ohne überhaupt eine Antwort von mir abzuwarten, fort: „Ich meine, all diese Leute, mit denen du nicht einmal verwandt bist. Ständig reden sie dir in Dinge rein, die sie nichts angehen.“
Ich gebe mich kurz der Illusion hin, Mama würde mich endlich verstehen und Rücksicht auf meine Bedürfnisse nehmen, und werde dann aber doch hellhörig. Denn das sind ja meine Argumente, also kontere ich mit ihren: „Das ist doch toll, dass wir uns mit allen so gut verstehen! Das sagst du auch immer: Darauf können wir stolz sein, dass wir nicht mal Anwälte brauchen wie all die anderen Familien!“
„Das soll auch so bleiben, Martha. Aber was hältst du davon, wenn wir noch einmal ganz von vorn beginnen?“
„Hä? Wie soll das gehen?“ Ich bleibe besser auf der Hut.
„Wir könnten einfach wegziehen.“
Wie bitte?! Mir verschlägt es glatt die Sprache!
„Die ganze bucklige Verwandtschaft“ – Achtung, Ironie! – „einfach hinter uns lassen.“ Mama lächelt versonnen.
„Aber wieso?!“
„Du hättest endlich Zeit für dich, Martha, vielleicht sogar für richtige Freunde.“
Ja, das habe ich mir immer gewünscht, einfach mal alleine sein oder mit Paula stundenlang abhängen und quatschen. Dennoch behagt mir der Verlauf des Gesprächs nicht. Wieso kommt Mama plötzlich mit meinen Argumenten um die Ecke?
„Sie sind aber doch alle superlieb und ich kann so viel von ihnen lernen“, werfe ich wie ein ferngesteuerter Roboter ein. War das nicht immer Mamas Argument gewesen? „Und die meisten Mädchen in meiner Klasse sind ja doch nicht so mein Fall. Bis auf Paula natürlich.“ Verdammt! Irgendwer hat mich verhext.
„Du musst dich nur mal reden hören, Martha“, erwidert Mama und schüttelt betrübt ihre dunkle Lockenpracht. „Du hörst dich schon an wie Oma Doris oder einer der vielen Opas.“
Ja, warum wohl?! Der ständige Umgang mit ihnen färbt eben ab. Doch weil ich immer noch nicht weiß, worauf das Ganze hinausläuft, erwidere ich: „Ich bin so vernünftig, weil ich schon groß bin, beinahe erwachsen!“ Das hat Mama jedenfalls bisher immer gesagt, wenn ich irgendwas verstehen sollte, was ich partout nicht verstehen wollte.
„Du bist vierzehn, Martha. Und du hast ein Recht darauf, dein Leben mit Gleichaltrigen zu verbringen. Deshalb denke ich, du hättest von so einem Umzug die meisten Vorteile.“
Schon wieder fängt sie von diesem Umzug an. Was hat sie nur damit? Bisher hat sie immer gesagt, dass sie aus unserer Wohnung nur mit den Füßen voran ausziehen würde, was so viel heißen soll, dass man sie schon mausetot auf einer Bahre hinausschieben müsste. Niemand hatte es bisher geschafft, sie zum Umziehen zu bewegen, nicht einmal Jack, der natürlich nicht in die Wohnung seines Vorgängers Georg hatte einziehen wollen. Moment. Plötzlich dämmert mir etwas.
„Wo sollen wir denn überhaupt hinziehen?“, frage ich und noch bevor Mama irgendeinen Ort nennen kann, weiß ich es: „Dieser Clemens ist nicht aus Berlin, stimmt’s?“
Mama nickt erleichtert. Endlich hab ich es kapiert. „Clemens ist, wie du weißt, Banker in Frankfurt am Main und da kann er nicht weg“, sagt sie fast schuldbewusst. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass der Umzug besonders dir guttun würde, Martha.“
Ich bin geschockt. Ich fühle mich komplett überfahren und muss plötzlich an Georg, Jack und all die Omas und Opas denken, die ich noch vor ein paar Minuten gern aus meinem Leben rauskatapultiert hätte und die mir jetzt wie Rettungsanker erscheinen: „Das ... das werden Georg, Jack und die anderen niemals zulassen!“, stammele ich hilflos.
„Niemand anders als du selbst bestimmt über dein Leben, Martha! Habe ich dir das nicht beigebracht?“
„Schon, Mama, aber ...“
„Also, wenn wir beide uns erst einmal einig sind und zusammenhalten, dann ziehen wir auch um. Egal was die anderen sagen.“ Mama schaut sich instinktiv zur Tür um, als könnten uns Tobi und Justus belauschen. Sie schlafen auf der anderen Seite des Flurs und wenn sie von Mamas Plänen wüssten, würde es ein ziemliches Geschrei geben.
„Also, was sagst du? Team?“ Sie hält mir wie gewohnt die Faust hin und ich dumme Nuss reagiere wie ein dressierter Hund mit Pawlowschem Reflex und kicke meine Faust gegen ihre: „Team!“, erwidere ich, als mir plötzlich Fräulein Li einfällt: „Aber was ist mit Fräulein Li? Die gewöhnt sich doch niemals mehr an ein neues Klo.“
„Wir werden ein Haus mit Garten haben. Sie muss nie wieder einen Spülknopf betätigen, wenn sie es nicht will“, frohlockt Mama, als hätte sie sich auch diese Antwort bereits zurechtgelegt.
Deshalb führe ich nun etwas an, worauf sie bisher immer peinlich geachtet hatte, es niemals zu sein: „Willst du jetzt etwa so ‘ne Spießertussi mit Haus und Garten werden?“
„Da besteht überhaupt keine Gefahr, Martha! Ein Haus und ein Garten bedeuten nicht zwangsläufig Spießertum.“
„Bisher schon!“
„War Pippi Langstrumpf etwa eine Spießerin für dich? Sie hatte ja wohl auch Haus und Garten.“
„Aber ...“
„Genau, es kommt auf das WIE an. Und schau: Wir zwei sind die Urzelle, Martha. Wir bestimmen, wie es mit unserer Familie weitergeht.“
„Und wir haben gesagt, wir ziehen niemals um!“, kontere ich.
Es ging ja nicht nur um Fräulein Li oder dass ich keinen Garten wollte. Es ging doch auch darum, dass mein Vater, wenn er dann doch irgendwann mal aus der Arktis – oder wo auch immer er gerade war – zurückkäme, uns nicht mehr finden könnte. Deshalb sind wir doch bisher nie umgezogen, oder?! Heißt, selbst wenn mein Papa irgendwann einmal auf die Idee käme, Mama wiedersehen zu wollen, er hätte keine Chance mehr! Denn wir wären ja dann in Frankfurt! Und dann würde er nie erfahren, dass er eine Tochter hat, nämlich mich, die ihre blonden Schnittlauchlocken, wie Tick-Tack meine glatten Fipselhaare immer nennt, von ihm hat.
Nein, ich muss den Umzug auf alle Fälle verhindern! Nur sagen darf ich nichts. Mama auf meinen Vater anzusprechen, wäre jetzt nicht besonders schlau. Dann ist die Laune sofort komplett im Keller und das Gespräch beendet, das kenne ich schon.
Ich suche nach neuen Argumenten, aber mir fällt absolut nichts ein. So quetsche ich nur verzweifelt meinen Plüschpinguin, was aber eher einem Würgen gleichkommt, so sehr kullern die Knopfaugen in seinem Schaumstoffkopf hin und her.
„Komm Martha, das wird toll! Weit weg von all den Omas und Opas!“
„Dieser Clemens wird ja wohl kaum ‘ne arme Waise sein.“
„Das nicht“, lächelt Mama. „Weder arm noch Waise. Aber seine Eltern leben im Ausland. Also, was sagst du?“ Sie kitzelt mich aufmunternd.
Ich knurre zurück. Warum habe ich nur das Gefühl, dass Mama mich gerade ganz schön ausgetrickst hat?
Müsli oder Brot?
Was für ein Zufall! Dieser Clemens hat gleich heute hier in Berlin zu tun und ist also in der Stadt! Das erzählt uns Mama aber erst nach unserem Zahnarzttermin, kurz bevor sie mit uns drei in ihrem Lieblings-Café auf einen Mann zusteuert, der aussieht wie Barbies Ken, den ich übrigens nie haben durfte, den Mama aber nun für sich selbst will. Und deshalb werde ich das Gefühl nicht los, dass auch der vorherige Zahnarztbesuch kein Zufall war. Denn nachdem Tobi und Justus ihre halbjährliche Kontrolle hatten, sollte ich von Dr. Willert Brackets angepasst bekommen.