Ich träumte von Wellen - Ina Broich - E-Book

Ich träumte von Wellen E-Book

Ina Broich

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Beschreibung

Ein Unfall, auf dem Weg nach Hause von einer vielversprechenden Food-Messe, reißt Hannah aus ihrem erfolgreichen Leben. Schwere Verbrennungen stürzen sie in Selbsthass, die durch das Verlassen ihres Verlobten untermalt werden. In der Reha auf Norderney lernt sie, ihr neues Ich zu akzeptieren und dass sie es wert ist, geliebt zu werden.

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Katharina (Ina) Broich (geb. 1978) hat Touristik, Literatur und Gesang studiert. Sie lebte viele Jahre mit Mann und Kindern in Südafrika. Dort arbeitete sie als Opernsängerin und Sales-Agent.

Sie sieht sich als Afrika- und Gesellschaftsschreiberin. Ina Broich macht in ihren Kurzgeschichten und Romanen Ungesehenes sichtbar, will wachrütteln und sie kämpft um Aufmerksamkeit für Menschen, die sonst kaum jemand wahrnimmt.

Sie veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten auf www.story.one und schreibt den Fortsetzungsroman Bunkerkinder auf www.wattpad.de.

Da sie sich nicht auf ein Genre festlegt, wird sie von der Presse als Autorin der Gegensätze beschrieben. Mit ihren Poetry-Slams tritt sie regelmäßig auf und hält mit dem Neusser Autorenkreis Lesungen. Sie leitet Poetry-Slam-Kurse und Schreibworkshops in Schulen und führt das Lyrikforum im Bookerfly-Club.

Sie ist Speaker beim Umsetzungskongress für Autoren.

Weiterbildung „Schreiben in einfacher Sprache“.

Ausbildung und Weiterbildung zur Fach-Lektorin im Lektorat Unker.

www.inabroich.de

Lektorin/Autorin

Ich träumte von Wellen. Als sie brachen, tanzte ich.

Ich widme dieses Buch

Phoenix Deutschland - Hilfe für Brandopfer e.V. .

Dieser Verein leistet eine unbezahlbare Arbeit für all jene,

die Opfer eines Feuers wurden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Nachwort

Kapitel 1

Hannah schob die Tür der Hütte auf. Eiskalte Luft empfing sie und sie atmete tief ein. Gelbe Rechtecke malten sich in den Tiefschnee, aus dem Inneren drang Gelächter nach draußen. Hannah legte den Kopf in den Nacken. Über ihr erstreckte sich der sternklare Himmel, wie sie ihn im Rheinland nie zu sehen bekam.

„Unglaublich!“ Sie lief ein paar Schritte zwischen den Autos am Waldrand hindurch, um einen besseren Blick zu erhaschen. Den Weg erleuchtete eine Armee an Fackeln, das Romantischste, das sie je gesehen hatte. Sie ging näher an die Lichter heran und glitt auf dem Schnee aus und zwischen den Fackeln hindurch. Ein Lachen entrang sich ihrer Kehle. Es war ein befreites Lachen. Die Schneeraupe hatte den Weg zur Hütte Stunden zuvor freigelegt, doch im Laufe des Abends hatten dicke Schneeflocken die Straße erneut für sich eingenommen. Sie glitt abwärts in einem gemächlichen Tempo und stoppte vor einer Tanne.

Auf allen Vieren gluckste sie in sich hinein. Wenn Gero sie so sähe! Der Schneeball traf sie in den Nacken und sie stürzte erneut in die Schneeverwehung.

„Mensch, Sofia! Muss das denn sein?“ Die Kälte kroch ihre Wirbelsäule hinab, der Rollkragenpulli war völlig durchnässt. Hannah rappelte sich auf. Nach zwei Glühwein in der Hütte droben litt ihr Gleichgewichtssinn und sie schwankte leicht. „Den hast du dir verdient!“ Sofia kam neben ihr zum Stehen und zog die Kollegin auf die Beine. Hannah kräuselte die Stirn. „Womit denn?“

„Och, ich weiß auch nicht genau … vielleicht weil du die meisten Deals an Land gezogen hast? Oder weil du den knackigsten Freund der Welt hast? Oder …“

„Ja, ist schon gut, hab verstanden!“ Hannah klopfte den Pulverschnee vom Mantel, ein Weihnachtsgeschenk von Gero. Wenn sie den jetzt schon nach anderthalb Monaten ruinierte, war er sicher sehr enttäuscht.

„Rufen wir uns ein Taxi?“ Hannah beäugte den Weg ins Tal. Die Fackeln verströmten ein warmes Licht, aber sie traute dem Braten nicht. Am Ende stürzte sie den Berg herunter in eine Schlucht und dann hatte sie den Salat. Sofia hakte sich bei ihr unter und zog Hannah zurück in Richtung Hütte.

„In Ordnung, du Spielverderber, dann rufen wir ein Taxi. Aber solange können wir ja noch etwas mit den Jungs trinken, oder?“ Hannah nickte. Der Stress der vergangenen Tage fiel von ihr ab und endlich hatte sie Augen für die Landschaft. Über ihr erhob sich der Patscherkofl, unter ihr die Innenstadt von Innsbruck. Der Schnee glitzerte im Mondlicht und Hannah fühlte sich zurückversetzt in ihre Kindertage. Jede Osterferien war sie mit ihren Eltern in die Alpen in Urlaub gefahren. Mit dem Schlitten hatte sie jedes Wettrennen gegen ihren Vater gewonnen. Besonnen lächelte Hannah.

„Träum nicht!“ Sofia steckte das Smartphone weg und schob Hannah zurück in die Klause. Im Inneren empfing sie Luft, die zum Schneiden war.

„Das war doch eben nicht so schlimm mit dem Schneeball, oder?“ Hannah verzog das Gesicht. Sofia grinste. „Wenn du einmal raus gehst, bist du verloren!“ Hannah nahm auf einem der Hocker Platz und Tom drückte ihr einen Absacker in die Hand.

„Komm zur Feier des Tages! Das war eine super Messe! Prost!“ Die Gläser klirrten leise aneinander.

„Wir vier sind ein super Team! Unsere Firma hat

glorreiche Zeiten vor sich!“ Hannahs Mundwinkel zuckten.

„Du übertreibst! Aber wir sind auf dem richtigen Weg!“

Erneut stießen die Vier an.

„Die Messe ‚Food & Style‘ war ein glatter Erfolg!“ Stan, der Zahlenmensch im Team, schob die Papiere auf dem Tisch zusammen.

Tom runzelte die Stirn.

„Kannst du nicht einmal die Zahlen Zahlen sein lassen und mit uns feiern?“ Stan rieb sich den Nacken. „Ohne die guten Zahlen, sind wir in einem Jahr mit unserem neuen Produkt nicht mehr auf dem Markt, aber du hast recht.“ Er seufzte leise, dann schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen.

„Na dann Prost, Leute!“ Die Kellnerin näherte sich dem Tisch mit einem Tablett.

„Nein, danke, nichts mehr für mich!“ Hannah reichte der jungen Frau zwei Scheine. Um ihren Kopf schlangen sich Bauernzöpfe

„Stimmt so!“ Sie deutete auf den Haarkranz. „Das gefällt mir, sieht hübsch aus!“ Die Kellnerin schenkte ihr ein Lächeln und verschwand in der Menge.

„Hier, dein Rucksack!“ Tom hielt ihr den Lederbeutel entgegen und Hannah schwang ihn sich auf den Rücken. „Dann lass uns mal in die bitterkalte Nacht hinaus gehen. Erneut!“ Die Männer winkten den Kolleginnen zu.

„Wir sehen uns in der Firma, schlaft gut miteinand’!“

Sofia stupste sie auf dem Weg nach draußen in die Seite. „Bist du jetzt unter die Tiroler gegangen, oder was?“ Hannah zog sich den Schal fest um den Hals, dann traten sie ins Schneegestöber hinaus. Die Flocken fielen dichter als zuvor. „Ich mag die hiesige Mundart! Alles klingt so weich, und freundlich und die freundliche Art der Menschen liegt mir!“ Sie stapften auf das Taxi zu.

„Gut, dass mir Gero noch die Schnürstiefel aufgeschwatzt hat, ich würde mir alle Zehen abfrieren.“ Sofia sah an sich hinab. Ihre Füße bekleideten blaue Sneaker. Für eine Messe von fünf Tagen sicherlich angebracht, aber hier draußen? Hannah schüttelte den Kopf.

„Du Großstädter! Mach das du ins Auto kommst, sonst wirst du zur Eiskönigin!“

Die beiden Frauen nahmen hinten Platz.

„Einmal das Tirol-Inn für mich und für die Lady hier das Plaza, bitte.“ Der Fahrer grummelte ein paar Worte in seinen grauen Bart und nickte.

„Wunderschön! Schade, dass wir morgen schon wieder weg sind. Jetzt wo wir Zeit hätten, zwischen den Tannen spazieren zu gehen oder Ski zu fahren!“ Hannah legte ihren Kopf an die Autoscheibe. Das kalte Glas zog ihr die Hitze aus dem Gesicht und sie schloss die Augen. Morgen würde sie Gero wiedersehen. Sie waren noch nie lange voneinander getrennt gewesen und sie freute sich, ihn in die Arme zu schließen. Nur noch eine Nacht, eine siebenstündige Autofahrt und sie lag in seinen Armen.

Die Einrichtung des Hotels gestaltete sich rustikal. In der Lobby gruppierten sich Sofas und Sessel um einen Kamin, gedimmte Leuchten und Kerzen auf einem Geflecht von Ästen schenkten dem Raum ein Wohlgefühl, das Hannah sich für ihre Wohnung wünschte.

„Guten Abend, Frau Keil, Ihre Zimmerschlüssel. Bitte sehr! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und eine erholsame Nacht!“

Hannah erwiderte das Lächeln der Rezeptionistin.

„Vielen Dank!“ Am Bund hing neben dem Schlüssel ein bronzener Keil mit ihrer Zimmernummer 24 darauf eingraviert. Hannah durchschritt die Lobby und eilte auf den Zweipersonenaufzug an der Rückwand zu. Ihr Blick fiel auf die Treppe zur rechten und kurzerhand entschied sie sich, zu laufen. An den Wänden hingen Portraits aus Zeiten des Kaiserreiches in goldenen Rundrahmen. Kleine Schildchen erzählten über die abgebildeten Persönlichkeiten. Heute blieb sie nicht stehen, um eines davon zu lesen. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und wählte Geros Nummer.

„Hi, Schatz, wie geht es dir?“ Gero hatte bereits nach dem zweiten Klingeln abgehoben und Hannah klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Hals, um die Tür ihres Zimmers aufzuschließen.

Sie streifte die Stiefel von den Füßen und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. „Mir geht es gut. Ich bin froh, dass die Messe zu Ende ist und ich nach Hause kommen kann.“ Sie stopfte sich das Kissen unter dem Kopf zurecht.

„Ich freue mich, wenn du wieder da bist!“ Hannah lächelte ins Telefon. „Was macht der Kater?“

Gero schnaubte in die Leitung. „Was wohl? Er hat deine Bettseite belegt, mal sehen, ob du das Bett zurückerobern kannst!“

„Blödes Vieh!“, sagte Hannah. „Keine Ahnung, warum der mich so hasst. Aber ich habe die Lösung: Ich schlafe auf deiner Seite und du gehst aufs Sofa! Du wolltest diesen Kater unbedingt aufnehmen. Jetzt musst du schauen, wie du mit dem Stinkstiefel klarkommst.“ Sie drehte sich auf ihre rechte Seite und nahm einen Schluck Wasser aus der Flasche auf dem Nachtkästchen.

„Das kannst du mir nicht antun, Schatz.“ Gero schniefte theatralisch in den Hörer und Hannah lachte auf.

„Doch! Ich kann und ich werde. Ich muss jetzt schlafen, ich fahre morgen früh gegen 8 Uhr los.“

„Fahr vorsichtig, Hani! Ich freue mich auf dich, schlaf gut!“

„Du auch!“ Hannah beendete das Gespräch mit einem Kussgeräusch.

Die Kleidung stank nach Rauch und sie rümpfte die Nase. „Das kommt in einen extra Sack!“ Sie zog den Wäschebeutel des Hotels aus dem Kleiderschrank und stopfte die Jeans und den Rolli samt Unterwäsche hinein. Dann schlüpfte sie zwischen die Decken und wählte erneut. Sie legte den Kippschalter an der Wand um und löschte das Licht.

„Hey!“ Olympia strahlte sie auf dem Display an. „Du treulose Tomate! Seit fünf Tagen hast du dich bei deiner besten Freundin nicht gemeldet!“

„Sorry, tut mir leid, Liebes, aber wir hatten auf der Messe echt viel zu tun! Du wirst es nicht glauben, aber zuckerfreie Lebensmittel sind total im Trend! Ich weiß, das gilt nicht für dich, Olli, aber ich habe unzählige Deals abgeschlossen, wir können unsere Schokolade in großer Stückzahl produzieren und einige neue Geschmackssorten herausbringen! Ich bin total ausgepowert, aber glücklich. Jetzt brauche ich ein paar Nächte Schlaf und alles ist wie immer.“

„Das freut mich für dich, Hani, aber das mit der Schokolade … hmm, ich weiß ja nicht, für mich ist das nix!“

„Weiß ich doch, Olli. Deshalb habe ich für dich die traditionelle österreichische Schokolade besorgt!“

„Das macht auf jeden Fall deine fehlenden Anrufe wieder wett!“ Die beiden Frauen grinsten sich an.

„Morgen Abend bin ich wieder zu Hause, kommst du rüber zum Pfannkuchen backen? Ich habe dir nämlich auch noch Marmelade besorgt mit Erdbeeren aus ganzen Stücken!“

„Och Mensch, Hani, jetzt habe ich Hunger!“ Olympia verzog ihr Gesicht und Hannah lachte.

„Ich muss jetzt schlafen, Liebes!“

„Gute Nacht, Hani, bis zum Backen!“

„Bis zum Backen!“, wiederholte Hannah und legte auf. Sie schob das Smartphone unter das Kopfkissen und zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch.

Das schrille Klingeln riss Hannah am nächsten Morgen um 6 Uhr aus dem Schlaf. Sie hockte sich auf die Bettkante und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann holte sie die Dusche nach, die sie am vergangenen Abend übersprungen hatte, und schäumte ihre Haare zu einem weißen Turban. Zufrieden, dass sie nicht mehr nach Rauch und Alkohol roch, schlüpfte sie in frische Kleidung und packte den Koffer. Den Laptop und die Mitbringsel schob sie in ihren Rucksack. Dieses Mal nahm sie den Aufzug, mit dem Gepäck füllte sie ihn in Gänze aus. An der Rezeption bezahlte sie mit ihrer Firmenkreditkarte und checkte aus. Sie zog ihren Rollkoffer über das Kopfsteinpflaster um das Hotel herum und lief die Rampe in die Tiefgarage hinunter. Sie verstaute ihr Gepäck und setzte sich hinters Steuer. Ihr Magen knurrte. Hannah hatte sich gegen ein Frühstück im Tirol-Inn entschieden, weil es so außerordentlich gut schmeckte und an Reichhaltigkeit nicht zu überbieten war.

Sie wollte vermeiden, mit vollem, schwerem Magen loszufahren. Sie liebte eine gute bodenständige Küche, nur nicht vor einer solch langen Autofahrt. Sie würde unterwegs anhalten und etwas zu Essen auf die Hand kaufen. Hannah warf einen letzten Blick auf die Bergkette zu ihrer linken. Die Sonne kratzte an den Gipfeln und goss ihren goldenen Schein in die Täler. Hannah fädelte sich in den Morgenverkehr ein und seufzte leise. Es stand in den Sternen geschrieben, wann sie diesen wundervollen Ort wiedersehen würde. Bis dahin würde sie das pittoreske Panorama tief in sich aufbewahren. Sie hatte unzählige Fotos geschossen und nahm sich vor, ein Fotobuch zu gestalten. Zeitnah.

Ein paar Minuten später fuhr sie auf die Autobahn auf und ließ Innsbruck hinter sich liegen.

Kapitel 2

An der Tankstelle, direkt hinter der Grenze bei Kufstein, holte sich Hannah einen Cappuccino und zwei Sandwiches in Zellophan verpackt. Ihr Magen knurrte wie ein Bär und sie riss die Folie auf. Sie biss hinein und verzog das Gesicht. Da hätte sie genauso gut in ein Stück Pappe beißen können. Sie lenkte das Auto zurück auf die Autobahn und drehte Bayern 3 auf volle Lautstärke. Ihre Finger tippten im Takt auf das Lenkrad und Freude stieg in ihr auf. Nur noch 500 km bis in ihr Heimatdorf. Ob Gero eine Bananen-Cremetorte für sie buk? Selbstverständlich zuckerfrei. Hannah lächelte vor sich hin. Ihr Freund mochte zunächst die Ernährungsumstellung nicht akzeptieren. Monatelange Überredungskunst und einige Kisten Bier hatten ihn schlussendlich umgestimmt. Gero mit Altbier aus Düsseldorf zu bestechen, war Hannahs Vater in den Sinn gekommen. Es hatte funktioniert.

Das Schneegestöber auf der Autobahn rund um München verdichtete sich und Hannah nahm den Fuß vom Gas. Sie wechselte zu einem Rocksender und wippte mit ihrem Kopf im Takt von Highway to Hell. Auf dem Föhringer-Ring reihte sich Auto an Auto und das Schritttempo zehrte an Hannahs Nerven. Sie gähnte laut. Sie schüttelte ihren Kopf, um die aufkommende Müdigkeit abzuwehren und ließ das Fenster einen Spalt runter. Kopfschmerz kroch ihr in die Schläfen. Sie bekämpfte ihn mit Kaffee, eine Alternative hatte sie nicht zur Hand. Hannah fluchte leise. Die Tabletten lagen ordentlich verstaut hinten im Kofferraum im Necessaire. Das Telefon klingelte und sie ging über die Lenkradschaltung dran. „Kind, wo bist du?“

„Hallo Mama! Ich bin fast um München rum. Es staut sich nur alles so furchtbar. Besser, ich wäre noch viel früher losgefahren.“ Hannah stöhnte leise.

„Geht es dir nicht gut?“ Bei dem Tonfall hatte Hannah sofort das besorgte Gesicht ihrer Mutter vor Augen.

„Alles in Ordnung, nur ein bisschen Kopfschmerzen. In 25 Kilometern kommt die nächste Tankstelle, da fahre ich raus und nehme mir eine Aspirin. Mach’ dir keine Gedanken. Papa ist doch früher auch mit uns diese Strecken gefahren, in ein paar Stunden bin ich da, und dann komme ich am Wochenende zu euch, okay?“

„Gut, Kind! Ich gebe dir noch kurz deinen Vater.“ Bevor Hannah protestieren konnte, hatte ihre Mutter den Hörer schon weitergereicht. Ein Hustenanfall erschütterte die Leitung und Hannah drehte den Lautstärkeregler ein wenig leiser.

„Dad, geh endlich zum Arzt! Wie lange willst du denn noch die Erkältung mit dir rumtragen?!“ Hannah wechselte auf den Beschleunigungsstreifen und gab Gas. Langsam lichtete sich der Berufsverkehr und machte Platz für die Reisenden.

„Hani, ich hab’ nichts. Mit so etwas muss man nicht zum Arzt! Ich war mein ganzes Leben lang gesund, frag Mama. Ich bin ein echter Dorfjunge und Dorfjungen werden nicht krank.“ Hannahs Finger krampften sich um das Lenkrad. „Dad, sei nicht so stur. Jeder wird einmal krank, auch du! Wir haben zwei Gemeinschaftspraxen im Dorf, eine davon muss dir doch passen? Sonst komme ich dich morgen abholen und wir fahren in die Stadt zum Arzt. Oder gleich in die Klinik.“ Ein neuerlicher Anfall ihres Vaters unterbrach ihren Vortrag.

„Sag Mama, sie soll einen Termin machen, ich fahre dich hin, keine Widerrede.“ Bevor ihr Vater eine Antwort in den Hörer husten konnte, hatte Hannah bereits aufgelegt. „Sturer, alter Mann, das kann doch nicht wahr sein!“

Das Schneegestöber erforderte ihre gesamte Aufmerksamkeit. Dicke Flocken klatschten auf die Frontscheibe und die Wischer liefen in der höchsten Taktung. Der Schnee blieb auf der Autobahn liegen und Hannah entschied, kein Risiko einzugehen und wechselte auf die rechte Spur.

Der Tag versank in einem Einheitsgrau, nur durchdrungen von dicken Schneeflocken. Der Winter in ihren Erinnerungen entsprach einem völlig anderen Bild. Trockener Pulverschnee, strahlender Sonnenschein, warmer Kakao.

Sie drehte das Radio lauter und wartete auf die Nachrichten und den Verkehrsservice zur vollen Stunde.

Die ganzen Neuerungen von der Messe schwirrten durch Hannahs Kopf. Lebensmittel produziert aus Algen, Nudeln aus Erbsen, Kichererbsen oder Linsen. Was Gero wohl dazu sagen würde? Von ihrer Schokolade hatte er gar nicht mehr lassen können. Sie hatte aus der Produktion Bruchschokolade mit nach Hause gebracht und Gero war darüber hergefallen. Erst später hatte sie ihm erzählt, dass die Schokoladenstückchen völlig ohne Zucker auskamen. Er hatte sie in den Arm gezogen und ihren Erfolg mit einem Glas Sekt gefeiert.

Mit der einen Hand hielt sie das Lenkrad, mit der anderen kippte sie den Kaffee von der Tanke runter. Noch 300 km bis nach Hause. Die Autobahn war weniger befahren als zuvor um München herum. Um diese Uhrzeit waren ein paar Trucker und Geschäftsreisende wie Hannah unterwegs. In Gedanken stellte sie für den morgigen Tag eine Telefonliste zusammen. Die wichtigen Neukunden möchte sie sofort am nächsten Tag sprechen. Hannah beschleunigte noch einmal das Tempo, der Tacho zeigte nun 80km/h.

Hannah tippte die Kurzwahl für Geros Büro ein. Es tutete, einmal, zweimal. Es klickte in der Leitung.

„Hier ist das Büro Haber und Haber, Annelie Gerling am Apparat, was kann ich für Sie tun?“ Hannah nahm einen tiefen Atemzug, dann einen weiteren. Mit Sicherheit hatte die Sekretärin die Nummer im Display erkannt.

„Hannah hier, könnte ich bitte mit Gero sprechen?“

„Herr Haber ist in einer wichtigen Besprechung, aber ich schaue gerne, was ich für Sie tun kann!“

„Danke!“, presste Hannah zwischen ihren Zähnen hervor. Sie trommelte mit ihren Fingern auf das Lenkrad.

„Gero hier, hi Schatz. Ich kann gerade nicht!“

„Ich weiß, ich wollte dir nur mitteilen, dass es später werden könnte. Der Schnee verlangsamt das gesamte Vorankommen, die Straßen sind nicht gestreut und ich muss mich echt konzentrieren!“

„Fahr’ doch die nächste Ausfahrt raus, such’ dir ein Hotel und dann sehen wir uns halt morgen. Okay? Ich muss dann wieder.“ Es klickte und die Leitung war tot.

„Verdammt!“ Hannah schlug auf das Lenkrad und Tränen verwischten ihre Sicht. Sie hatte sich so gefreut! Sie wusste, dass Gero zu arbeiten hatte, aber ein „Schade“ hätte doch noch drin sein können? Hannah fuhr sich über die Augen. Die Messe-Tage in Innsbruck hatten sie offenbar dünnhäutig werden lassen. Sie schluckte hart.

Ein ohrenbetäubender Knall erschütterte das Auto und es begann zu schlingern. Das muss der Reifen sein!, fuhr es Hannah durch den Kopf und sie trat auf die Bremse. Der Kaffee flog durch den Wagen und die Leitplanke näherte sich in rasender Geschwindigkeit. Sie riss am Lenkrad. Ein harter Aufprall schleuderte Hannah hart in den Gurt nach vorn und ihr Kopf flog gegen die Seitenscheibe. Schnell verengte sich ihr Sichtfeld und sie wusste, dass sie den Kampf gegen die Schwärze verlieren musste.

„Sie haben die Operation gut überstanden!“ Die Stimme an Hannahs Ohr holte sie aus der unendlichen Schwärze. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen. Ihr Körper forderte weiteren Schlaf, ihr Wille drängte ans Tageslicht. Ihr Geist fühlte sich an, als hätte eine Nebelmaschine Schwaden überproduziert. Es waberte in ihrem Gehirn und Schwindel übermannte sie. Die Welt existierte weit von ihrem Körper entfernt und sie versuchte sich vorzukämpfen.

Hannahs Mund war trocken, die Zunge pelzig. „Wasser!“, krächzte sie. Ihre Stimme klang heiser, die Stimmbänder fühlten sich an, als wären sie mit einem Reibeisen behandelt worden. Hannah wollte tief einatmen, stattdessen quoll ein Hustenreiz aus den Tiefen ihrer Lungen hervor. Es schüttelte sie, bis in die Eingeweide. Weit fort hörte sie Stimmen, doch sie vermochte sich nicht darauf zu konzentrieren. Ihr Oberkörper krampfte ein ums andere Mal, bis die Erschütterungen schließlich nachließen. Erschöpft sank Hannah zurück. Der Nebel in ihrem Kopf mischte sich mit Schwärze und Hannah hieß sie willkommen.

Geräusche drangen an ihr Ohr und sie quälte die Lider auf. Dieses Mal fiel es ihr ein wenig leichter. Über ihr sah sie eine weiße Decke aus vielen einzelnen Platten. Sie wendete den Kopf nach rechts, dort zeigte sich ein Quadrat aus strahlend-blauem Himmel mit vereinzelten Wölkchen. Hannahs Hände krallten sich zusammen, ihre Finger ertasteten etwas Weiches.

„Ich verstehe nicht …“ Ihre Worte brachen ab, sie hatte Mühe die Augen offen zu halten. Ihre Glieder fühlten sich schwer an wie Blei.

„Was zur Hölle …“ Sie hob mit viel Anstrengung den Kopf und sah an sich hinab. Schläuche überall. Sie verschwanden in ihren Armen und in ihrem Hals. Verbände schlangen sich um ihre Hände und Arme und ihrem Gefühl nach auch um ihren Kopf. Sie versuchte, sich zu erinnern. Was war geschehen? Wo war sie? Eine Hand tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf und hielt ihr eine Schnabeltasse an die Lippen. Hannah nahm einen vorsichtigen Schluck und musste husten. Die Berührung mit dem Plastik schmerzte und sie verzog ihr Gesicht.

„Langsam!“ Die Stimme hatte sie bereits zuvor gehört, wann war das gewesen? Es fiel Hannah schwer, sich zu orientieren. Ihr Gesicht fühlte sich seltsam an, tumb und die Lippen ganz spröde. Sie hob den Arm, um nach ihrem Kopf zu tasten, doch ein reißender Schmerz im Schulterbereich hielt sie zurück. Hannahs Herz raste und das Piepen neben ihr verstärkte sich.

In ihrem Sichtfeld erschien eine Schwester. Der Nebel lichtete sich für einen kurzen Moment und Hannah fiel es ein: Das musste die Frau sein, zu der die Stimme gehörte. Sie war schon zuvor an ihrem Bett. Aber wieso lag sie in einem Bett? Hannah folgte den Mundbewegungen der Krankenschwester, verstand aber nichts.

Die Frau im blauen Kittel redete auf Hannah ein. Es rauschte in ihren Ohren, als stünde sie am Meer, einem Meer, über das ein Sturm hinwegfegte.

Sie versuchte, ruhiger zu atmen, um sich zu beruhigen. Stattdessen begann sie zu zittern. Eine Träne lief über ihre Wange und versickerte im Verband. Hannah wollte nicht weinen, doch ihre Seele schrie. Sie schluchzte laut auf. Das alles musste bedeuten, dass sie im Krankenhaus lag. Aber wieso hatte sie permanent den Gedanken an einen Kaffee im Kopf. Wo war da der Zusammenhang?

Die Schwester tupfte mit einem Taschentuch über Hannahs Lider und Oberlippe, wo sich die Tropfen sammelten.

„Nicht weinen, Frau Keil, nicht weinen.“ Die Stimme erinnerte sie an die ihrer Mutter und ein erneutes Schluchzen stieg in ihr auf. Hart schluckte sie dagegen an. Es schmerzte, jedes Mal Schlucken tat weh. Die Schwester schenkte ihr ein Lächeln.

„Sie machen das schon, geben Sie allem Zeit, dann wird es schon wieder.“ Was würde wieder? Hannah versuchte sich an einem Lächeln, ein Schmerzenslaut entrann stattdessen.

„Was …?“ In ihren Gedanken formulierte sie die Frage völlig klar, doch ihre spröden, gerissenen Lippen weigerten sich, sie auszusprechen.

„Sie hatten einen Autounfall. Ein LKW-Fahrer kam rechtzeitig an die Unfallstelle und hat sie herausgezogen aus dem Fahrzeug. Es hat lichterloh gebrannt. Die Feuerwehr kam fünf Minuten später, ebenso der Hubschrauber. Aber der LKW-Fahrer hat ihr Leben gerettet!“

Die Schwester zog eine umfangreiche Akte unter Hannahs Decke hervor.

„Sie hatten Brandverletzungen. In einer achtstündigen Operation wurde Ihnen Haut transplantiert. Dennoch …“ Sie machte eine Pause und Hannahs Magen drehte sich um.

„Bitte!“, flehte sie die Krankenschwester an.

„Die plastische Chirurgie ist weit fortgeschritten und die Spezialisten haben ihr Bestes gegeben. Trotzdem müssen Sie sich darauf einstellen, dass Ihr Aussehen nicht mehr wie früher sein wird.“

Eine Explosion hätte Hannahs Herz nicht schlimmer zerreißen können.

„Das kann nicht …“ Die Monitore schlugen Alarm und eine Frau in einem weißen Kittel stürzte in den Raum.

„Bitte, Frau Keil, Sie müssen sich beruhigen, so schwer dies auch für Sie sein mag. Die Haut ist frisch transplantiert, Bewegungen schaden den Stellen und Sie riskieren eine Ablösung! Schwester Anna, geben Sie ihr Adenosin als Bolus gegen die Tachykardien und etwas zur Beruhigung.“ Die Schwester zog eine Spritze auf und injizierte sie in den Beutel am Ständer. Die Ärztin zog einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett.

„Guten Tag, Frau Keil! Mein Name ist Dr. Brocker und ich bin die diensthabende Ärztin auf der Intensivstation. Ich bin sehr froh, dass Sie endlich wach sind. Sie befinden sich in der Uniklinik Frankfurt. Ein Hubschrauber hat Sie hergeflogen. Wir sind spezialisiert auf Brandopfer, aber das hat Ihnen Schwester Anna sicherlich schon alles erzählt.“

„Aber wie konnte das passieren? Wieso wäre ich beinahe verbrannt?“ Hannah kämpfte die Müdigkeit zurück, sie wollte Antworten.

„Weiß mein Freund Bescheid?“ Ihre Lider wurden schwerer. Die Ärztin wechselte einen Blick mit der Krankenschwester.

„Wir haben Herrn Haber informiert, er war in Ihrem Handy als Notfallkontakt angegeben.“ Hannah konnte ihre Augen kaum noch aufhalten, ihr Sichtfeld verwischte und ihre Glieder entspannten sich. Hannah wendete ihr Gesicht zur Tür. „Ist er …?“ Ihre Augen schlossen sich und sie fiel in einen traumlosen Schlaf.

Schmerzwellen pulsierten durch Hannahs Körper. Mit einem Schlag war sie wach und stöhnte laut. Schweißperlen bildeten sich unter dem Verband im Gesicht und zu dem Schmerz gesellte sich ein unangenehmes Jucken. „Tut weh“, brachte sie heraus.

„Ganz ruhig, Frau Keil.“ Eine andere Schwester als vom Vortag - war es der Vortag gewesen? - beugte sich über sie. „Ich gebe Ihnen jetzt etwas gegen die Schmerzen, Sie können aber auch selber hier drücken.“ Die Krankenschwester schob ihr eine schmale Bedienung zwischen die Finger.

„Bis zu einem gewissen Grad können Sie selber bestimmen, wieviel Sie von dem Dipidolor bekommen. Sie können nicht überdosieren.“ Die Schwester drückte für Hannah und die Spritze am Ständer zu ihrer rechten Seite entleerte sich in die Kanüle. Hannah wurde beinahe sofort schummrig.

„Das fühlt sich nicht gut an. Kann ich bitte etwas zu trinken haben?“ Die Schwester nickte und lief aus dem Raum. Hannah folgte ihr mit den Augen und stellte fest, dass eine riesige Fensterscheibe zu ihrer Linken in den Flur hinaus ging. Dort herrschte reges Treiben, es ging zu wie in einem Ameisenstock. Die Wirkung des Schmerzmittels setzte ein und Hannah sackte in die Kissen zurück.

Sie blinzelte gegen das Drehen der Welt an. „Mir ist immer so schwindelig!“, sagte sie zu der Schwester, die mit einem Becher ins Zimmer kam. Der Duft von Minze stieg in die Luft. „Hm, das riecht lecker!“

„Extra für Sie mit Empfehlung aus der Küche.“ Die junge Schwester grinste Hannah an.

„Der Schwindel kommt von dem Schmerzmittel, aber auch von dem niedrigen Blutdruck. Viele Verbrennungsopfer leiden darunter, wie auch unter dem Herzrasen, das Sie gestern hatten.“

„Ah, okay.“ Hannah hatte nur die Hälfte verstanden, aber nachzufragen, empfand sie im Augenblick als zu anstrengend. In ihrem Hinterkopf geisterte ein Gedanke, doch sie bekam ihn nicht zu fassen. Irgendetwas hatte sie wissen wollen. Sie schüttelte ihren Kopf.

„Vorsichtig, Frau Keil.“ Die Schwester hielt ihr den Tee an die Lippen. „Achtung, der ist heiß! Ich habe Ihnen etwas Zucker hineingetan, denn Ihre Zuckerwerte sind sehr niedrig. Bevor ich Ihnen Glukoseinfusionen gebe, versuchen wir es erst einmal hiermit, in Ordnung?“ Hannah schwirrte der Kopf. Mit Glukose konnte sie durchaus etwas anfangen, nichtsdestotrotz wurden ihr all die Zusammenhänge nicht klar. Sie nahm einen kleinen Schluck, dann einen weiteren. „Oh, das tut gut. Mein Hals schmerzt so.“ Wie aufs Wort begann sie zu husten und die Schwester zog den Becher beiseite und stellte ihn ab.

„Moment, Frau Keil, ich helfe Ihnen, sich ein bisschen aufzurichten, dann fällt Ihnen das Husten leichter.“ Sie schob Hannah ein weiteres Kissen aus dem Schrank neben dem Bett in den Rücken.

„Die Schmerzen in der Lunge und im Hals stammen von einem Inhalationstrauma. Sie haben zu viel Rauch und Gase eingeatmet. Zudem haben Sie eine Verengung im oberen Rachen gehabt, sodass ein Luftröhrenschnitt notwendig war. Deshalb fällt Ihnen nun auch das Reden so schwer. Aber davon bleibt nur eine hauchfeine Narbe. Geht es wieder?“ Hannah nickte. Sie fühlte sich, als hätte sie ein Kleinwagen überrollt. Ihre Augenlider flatterten.

„Schlafen Sie ruhig, ich schaue später noch einmal nach Ihnen, Frau Keil.“ Bevor Hannah antworten konnte, riss sie die allumfassende Schwärze mit sich.

Kapitel 3

„Guten Morgen, Frau Keil!“ Hannah blinzelte. Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und sie schloss schnell die Augen. „Ein Moment, ich schließe die Vorhänge, dann wird es angenehmer und Sie sind nicht so geblendet.“

Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht und Hannah schlug die Augen auf.

Frau Dr. Brocker und Schwester Anna standen an ihrem Bett. Der Geruch von Kaffee lag in der Luft.

„Ich hatte einen Unfall!“ Die beiden Frauen nickten. „Also, das haben Sie mir ja schon gesagt, aber ich erinnere mich gerade. Ich hatte mir an der Tankstelle einen Kaffee geholt, und dann …, dann … ich weiß es nicht mehr.“

„Die Erinnerungen werden wiederkommen, das nennt sich retrograde Amnesie. Das ist völlig normal nach einem Trauma, wie Sie es erlitten haben. Psychisch wie körperlich.“ Eine Hilfsschwester öffnete die Tür und schaute hinein. „Möchten Sie einen Kaffee oder Tee?“

„Tee, auf jeden Fall Tee!“

„Bringe ich Ihnen sofort, welche Sorte möchten Sie?“ „Kräutertee oder Minze, was Sie dahaben.“ Die Frau nickte und verließ das Zimmer.

„Frau Keil, wir sind hier bei Ihnen, weil wir Sie gerne verlegen möchten. Nach fünf Tagen auf der Intensivstation sind Sie soweit stabil, dass wir Sie auf Normalstation verlegen können. Was halten Sie davon?“ Hannah nickte, was sollte sie auch sonst tun.

„Bisher haben wir Ihre Verbände gewechselt, wenn Sie schliefen. Wir haben Sie zusätzlich betäubt, damit Sie keine Schmerzen haben. Je fitter Sie werden, umso weniger häufig werden Sie schlafen. Da wir die Verbände weiterhin in regelmäßigen Abständen wechseln müssen, empfehle ich eine Kurznarkose für die Wundversorgung. Der Stationsarzt wird mit Sicherheit mit Ihnen noch einmal darüber sprechen. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.“

„Dann komme ich jetzt also woanders hin?“ Frau Dr. Brocker nickte.

„Die Schwestern oben auf Station sind angepiept. Es ist im Moment viel los, daher können Sie Ihren Tee noch in Ruhe trinken!“ Hannah lächelte matt. Das kurze Gespräch hatte bereits sehr angestrengt und ihre Gedanken taten ihr Übriges hinzu.

„Kann ich nicht verlegt werden, nach Hause?“ Tränen sammelten sich in Hannahs Augenwinkeln.

„So gerne ich Ihnen diesen Gefallen tun würde, aber ein Transport über 300 Kilometer ist nicht empfehlenswert. Haben Sie noch ein bisschen Geduld, es kommt der Tag, an dem Sie die Uniklinik verlassen können!“

„Hier ist Ihr Tee!“ Die Hilfsschwester hatte von Hannah unbemerkt den Raum betreten und die Schnabeltasse neben ihr auf dem Nachtschrank abgestellt.

„Danke!“, hauchte Hannah. Schwester Anna eilte an ihre Seite, und nahm die Tasse hoch.

„Ich weiß, wie schwer es mit verbundenen Händen ist, zu trinken, ich helfe Ihnen.“

„Wird mir oben auch geholfen?“

„Natürlich. Sie klingeln und dann kommt ein Pfleger zu Ihnen.“ Schwester Anna hob die Schnabeltasse an Hannahs Lippen. Krusten lösten sich und sie begann zu bluten. Mit einem Tupfer beseitigte die Krankenschwester die Tröpfchen und mit einem anderen Stück Gaze tupfte sie hauchdünn eine Salbe auf die Lippen.

„Das werden Sie später selber noch eine ganze Weile machen müssen. Ihre Haut muss ein Stück weit wieder an Elastizität gewinnen, sonst spannt sie sehr.“ Sie legte die Tube auf Hannahs Bettdecke.

„Nehmen Sie sie ruhig mit nach oben, wir haben hier genug davon.“ Auf dem Flur erklang ein lautes Schrillen und Schwester Anna hastete aus dem Raum.

„Ich verstehe das alles nicht“, flüsterte Hannah und starrte an die Decke. Wie konnte sich ihr Leben von jetzt auf gleich derart umstülpen? Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Hannah atmete langsam ein und wieder aus. Über ihr blinkte eine Armee von Lämpchen. Das Piepen hatte die Schwester abgestellt. Noch ein Atemzug, und noch einer. Hannah schloss die Augen. Einzelne Erinnerungsfetzen schossen wie ein BlitzlichtGewitter durch ihren Kopf, zu fassen bekam sie keinen davon. Es kribbelte in ihrer Lunge und Hannah stöhnte leise. Wie tausend Bläschen in einem Mineralwasser bahnte sich der Hustenreiz seinen Weg nach oben. Das Band um ihre Brust zog sich enger und der Hustenanfall presste sich heraus. Hannahs Mund füllte sich mit einer schleimigen Substanz und instinktiv spuckte sie sie aus. Ein schwarzer Gelee-artiger Klumpen landete auf der weißen Bettdecke. Die Lunge weitete sich und Hanna atmete auf. „Wo ist denn jetzt die verdammte Klingel?“ Hannahs Finger zuckten und ihr wurde schwindelig. Warum hustete sie schwarze Klumpen aus? Draußen am Fenster zum Flur lief Schwester Anna vorbei und riss die Tür zu ihrem Zimmer auf. „Ihr Monitor im Überwachungsraum hat angeschlagen, was ist passiert?“ Hannah nickte in Richtung des Klumpens. „Die Kontraktionen in Ihrer Lunge haben den Schleim gelöst und den Ruß heraufbefördert. Ich werde die Decke wechseln.“ In diesem Moment öffnete sich die Zimmertür erneut und ein Hannah unbekannter Pfleger betrat den Raum. Klein und drahtig gebaut, tiefschwarzes Haar und stechend blaue Augen. Und er hatte das breiteste Lächeln, das Hannah jemals gesehen hatte.

„Guten Tag! Ich bin Bonifacio und Ihr Pfleger für heute und morgen und übermorgen!“ Er strahlte Hannah an, als wäre sie der Mittelpunkt des Universums. Wärme breitete sich in ihren kalten Gliedern aus und ein Lächeln zupfte an ihren Lippen.

„Ich bin Hannah, Hanna Keil!“

„Freut mich, Sie kennen zu lernen!“ Er nickte ihr zu und löste die Bremse am Bett.

„Na, dann machen wir uns doch einmal auf den Weg nach oben. Und dieses Kunstwerk“, er deutete auf den schwarzen Klumpen „entfernen wir oben. Das braucht Schwester Anna nicht zu machen!“

„Das ist lieb!“, antwortete Schwester Anna und wandte sich an Hannah. Sie fasste nach ihrer Hand und sagte: „Ich wünsche Ihnen das Allerbeste! Kommen Sie in Ruhe wieder auf die Beine!“

„Dankeschön, dass Sie sich so um mich gekümmert haben!“ Gero! Das war es gewesen. Gleich oben auf Station würde sie Bonifacio fragen, wo ihr Freund war. Der Pfleger entstöpselte alle noch notwendigen Geräte und hängte sie an der Seite des Bettes und am Fußende ein.

„Na, dann machen wir uns mal auf den Weg!“ Er zog das Bett von der Wand und manövrierte es aus dem Zimmer. „Was meinen Sie, Frau Keil: Bisher wurden Sie ja intravenös ernährt. Haben Sie nicht Lust, mal wieder etwas Richtiges zwischen die Zähne zu bekommen? Wir fangen auch langsam an. Suppen, Cremes, Quark …“ Hannah lief das Wasser im Mund zusammen.

„Das hört sich fantastisch an!“

„Sag ich doch!“ Hannah hörte, wie Bonifacio hinter ihr leise lachte.

Die Türen der Intensivstation schlossen sich, sobald der Pfleger das Bett hindurch geschoben hatte. Er hielt auf die Aufzüge zu, die für Bettentransport gekennzeichnet waren. Er pfiff ein leises Lied, das Hannah als Hijo de la Luna erkannte.

„Das ist ein wunderschönes Lied! Immer, wenn Montserrat Caballé es gesungen hat, sind mir die Tränen gekommen!“ „Aber das wollen wir ja nicht.“ Der Aufzug setzte sich in Bewegung und Bonifacio stimmte ein anderes Lied an. Seine sanfte, warme Stimme ließ Hannahs Herz auflodern. Sie berührte tief in ihrer Seele einen Punkt, den schon lange niemand mehr berührt hatte.

„Wir sind da!“ Die Aufzugtüren schwangen auseinander und der Pfleger schob sie vorwärts. Station 5b las Hannah auf dem Schild neben der Tür, die sich soeben auf Knopfdruck öffnete.

„Wieso riecht es hier überall nach Kaffee?“ Bonifacio stieß ein Lachen aus.

„Ohne tägliche Kaffee-Infusionen würde der Betrieb hier ganz schnell zusammenbrechen.“ Hannah rümpfte die Nase. „Kaffee ist gerade nicht so mein Ding. Apropos Ding: Wo sind denn meine Sachen?“

„Was für Sachen? Die aus dem Auto?“

Bonifacio umrundete das Bett und hob am Fußende die Decke hoch. „Hier ist ein Beutel von uns, da sind ein paar Habseligkeiten von Ihnen drin. Im Zimmer können wir ja mal reinschauen.“ Hannah nickte. Das war alles, was übriggeblieben war?

Im Zimmer schob Bonifacio das Bett an die Wand, nahe des Fensters. „Schauen Sie!“ Der Pfleger zeigte aus dem Fenster.

„Sehen Sie da in der Ferne den kleinen blauen Streifen? Das ist der Main! Sie haben die Suiten-Aussicht gebucht, exzellente Wahl!“ Hannah verzog ihren Mund zu einem Lächeln. Ganz vorsichtig, damit die Lippe nicht erneut aufplatzte. Dann war es auch schon wieder weggewischt. Sie hatte nichts zu lachen, ganz im Gegenteil, fand sie. Bonifacio steckte alle Geräte ein und hängte den Katheter-Beutel ans Bett und die Infusionen mit Flüssigkeit an den Ständer.

„So, dann werden wir mal die Bettdecke wechseln!“ Er eilte aus dem Raum, um kurz darauf mit einem frischen Bettbezug wiederzukehren. Er lupfte die Decke.

„Haben Sie sich bereits gesehen?“

„Oh mein Gott, ist es so schlimm? Ich weiß nicht …“ Hannahs Hände zitterten.

„Ich glaube, ich will nichts sehen, können Sie schnell machen?“

Bonifacio nickte. „Null Problemo!“ Hannah fixierte einen Punkt an der Decke und der Pfleger hob die Decke sanft hoch. Kühle Luft strich Hannah über die unbedeckten Körperstellen. An mindestens genau so vielen erahnte sie Verbände. Sie kniff die Augen fest zusammen.

„Ich will das nicht, ich will das nicht.“ Die Worte turnten durch ihren Kopf.

„Ich bin jetzt fertig! Nicht jeder Patient mit Brandverletzungen toleriert die Decke. Sie machen das sehr gut, Frau Keil!“ Hannah senkte ihren Kopf und atmete auf. Bonifacio sah ihr in die Augen und ihr Puls verlangsamte sich.

„Das Dipidolor leistet hervorragende Arbeit!“

„Aber mir ist dauernd schwindelig, und manchmal sogar ein bisschen übel.“

„Ich hole Ihnen Vomex, wenn es wiederkehrt. Sollen wir jetzt in Ihre Tüte schauen?“

„Mhm“, machte Hannah und starrte auf die Tüte.

„Also: Hier haben wir das Handy - und das war es leider. Tut mir leid. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen im Schwesternzimmer das Telefon aufladen, dann können Sie Anrufe tätigen.“

„Ja, das wäre lieb! Aber wegen meinem Turban hier oben verstehe ich sowieso alles nur ganz dumpf. Ich schicke dann lieber Nachrichten, glaube ich.“ Bonifacio legte den Kopf schief.

„Eine Person brauchen Sie auf jeden Fall nicht mehr anrufen!“ Hannah zog die Augenbrauen hoch.

„Wen?“

„Den Herrn Haber. Er hat sich angekündigt für heute Nachmittag, pünktlich zu Kaffee und Kuchen!“ Er zwinkerte Hannah zu und drehte sich um.

„Ich gehe mal auf Suche nach Essen für Sie und stecke das Telefon an. Wir sehen uns später wieder!“ Hannah seufzte unhörbar. Bonifacios Gesellschaft hatte ihr gut getan. Sie drehte ihren Kopf zur linken Seite und sah aus dem Fenster. Der Main glitzerte im Sonnenlicht. Wie konnte das sein? Letzte Woche hatte es noch geschneit. Dichte Flocken hatten alles eingehüllt und das dunkle Grau den Himmel verhüllt. Jetzt erstrahlte die Welt und die Sonne versprach einen baldigen Frühling. Hannah runzelte leicht die Stirn. Hätte das Wetter am Tag ihrer Abreise nicht derart strahlend sein können? Ohne Schneegestöber?

„Dann wäre das alles nicht passiert!“, murmelte sie vor sich hin.

Es klopfte und ein Tablett schob sich herein und Bonifacio folgte. „Ich habe ein wunderbares Menü für Sie zusammengestellt, schauen Sie her!“ Er platzierte das Essen auf dem ausgeklappten Nachttisch und hob den Deckel.

„Hier haben wir eine lauwarme Karamellsuppe! Und eine klare Brühe!“ Er hob einen weiteren Deckel ab. „Wofür entscheiden Sie sich?“

„Ich glaube, erst einmal die Brühe. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich die Karamellsuppe nicht runterbekomme.“

„Gute Wahl! Wir lassen den Deckel offen, dann kühlt sie schneller ab und in fünf Minuten bin ich wieder da und helfe Ihnen.“

„Die Suppe war herrlich!“ Hannah fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Einfach lecker!“

„Ja, die einfachsten Sachen sind häufig die Besten!“ Bonifacio räumte ab. „Noch einen Tee? Gleich kommt ja schon Herr Haber!“

Hannah starrte auf die Uhr gegenüber an der Wand. „Geht die überhaupt vorwärts?“

„Tut sie, aber sie läuft in zwei Dimensionen! Ganz, ganz schnell für die Mitarbeiter des Krankenhauses, und ganz langsam für Patienten!“ Den letzten Teil des Satzes dehnte Bonifacio in die Länge. „Ich creme Ihnen jetzt noch die Finger. Sie haben Glück gehabt, junge Lady, dass Ihre Finger noch alle dran sind. Viele Menschen verlieren ihre Glieder durch einen Brand.“

„Ich fühle mich aber nicht, als hätte ich Glück gehabt.“ Der Pfleger schob die Verbände vorsichtig zurück und schmierte die Finger ein. Hannah schaute zur Decke.

„Das fühlt sich gut an, auch wenn es weh tut. Als würde meine Haut die Salbe einfach wegsaugen.“

„Ihre Hautschichten wurden in unterschiedlichen Ebenen verbrannt, hier an den Fingern haben Sie Verletzungen ersten Grades. Daher können wir mit Salben und Cremes arbeiten, um der Epidermis Feuchtigkeit zurück zu geben.“ Hannah blies sich eine imaginäre Strähne aus dem Gesicht.

„Ich habe in den letzten Tagen mehr Fremdwörter gelernt, als in meinem gesamten Leben vorher. Meinem Freund Gero hätte das gefallen!“