Ich warte auf dich, Haru - Dustin Thao - E-Book

Ich warte auf dich, Haru E-Book

Dustin Thao

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein hochemotionaler Roman über Freundschaft, Liebe und Verlust

Nach dem Tod seines besten Freundes zieht Eric Ly sich zurück in eine Traumwelt. Bis plötzlich Haru Tanaka wieder in sein Leben tritt, ein Junge, den er letzten Sommer in Japan kennengelernt hat. Zum ersten Mal seit Langem hat Eric jemandem, der für ihn da ist. Die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander. Nur kann niemand sonst Haru sehen. Die Grenzen zwischen Realität und Traum verwischen für Eric, und er merkt, wie er die Kontrolle verliert. Doch sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, würde bedeuten, dass er Haru für immer verliert.

Dustin Thaos hochemotionaler Debütroman »Bleib bei mir, Sam« stürmte auf Anhieb die New-York-Times- und die SPIEGEL-Bestsellerliste und ist eine weltweite TikTok-Sensation.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Autor

Dustin Thao ist ein amerikanischer Autor mit vietnamesischen Wurzeln. Er hat Politikwissenschaften studiert und promoviert nun an der Northwestern University. Sein Debüt Bleib bei mir, Sam stürmte auf Anhieb die New-York-Times- und die Spiegel-Bestsellerliste und entwickelte sich zur TikTok-Sensation. Inzwischen hat der Roman Millionen Leser*innen auf der ganzen Welt zu Tränen gerührt.

Von Dustin Thao ist außerdem bei cbj erschienen:

Bleib bei mir, Sam (16650)

Übersetzerin

Bernadette Ott begeistern die Wortspiele und der Drive in Jugendromanen, aber auch die Erzählfantasie und poetische Verwandlung der Wirklichkeit in Kinderbüchern. Ihr Dank gilt allen Autor*innen, in deren Sprache, Gedanken, Gefühle und Lebenswelten sie als Übersetzerin eintauchen darf.

Mehr zu unseren Büchern auch auf Instagram

Dustin Thao

Ich warte auf dich, Haru

Aus dem amerikanischen Englisch vonBernadette Ott

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2024 Dustin Thao

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel:

»When Haru Was Here«

bei Wednesday Books, einem Imprint der Verlagsgruppe St. Martin’s Publishing Group, New York

Übersetzung: Bernadette Ott

Lektorat: Ulla Mothes

Coverkonzeption: Suse Kopp, Hamburg,

unter Verwendung der Vorlage von Kerri Resnick

Covermotiv: © Zipcy

kk ∙ Herstellung: UK

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30888-9V001

www.cbj-verlag.de

An mein sechzehnjähriges Ich.

Du hast’s geschafft.

Herbst

Vorher

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die uns immer ­wieder einfallen. Zum Beispiel, dass Jasmin nie ein Buch bis zu Ende liest, aus Angst, dass es schlecht ausgehen könnte. Oder dass sie immer die Sinnsprüche aus den Glückskeksen aufbewahrt, wenn sie will, dass sie wahr werden. Oder dass sie keinen Regenschirm mitnimmt, auch wenn sie weiß, dass es regnen wird. Oder dass sie sich von mir Sachen ausleiht und vergisst, sie mir zurückzugeben.

»Ist das nicht meine Jacke?«

Ich sitze in ihrem Zimmer auf dem Boden und schaue ihr dabei zu, wie sie den Rest ihrer Klamotten fürs College einpackt. Es ist Herbstanfang. Sie wird ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen und an der University of Michigan studieren. In ein paar Stunden fährt sie mit meinen Eltern los. Mit dem Auto werden sie fünf Stunden unterwegs sein. Wir wohnen in Skokie, Illinois. Eigentlich sollte ich ihr dabei helfen, ihre Umzugskartons im Auto zu verstauen. Stattdessen wühle ich neugierig darin herum, weil ich wissen möchte, was sie alles mitnimmt.

Jasmin dreht sich zu mir. »Du hast gesagt, du leihst sie mir aus.«

»Wie lange dauert ausleihen bei dir denn?«

»Wenn du sie zurückhaben willst, nimm sie einfach«, sagt sie. Ihre langen Haare streifen mein Gesicht. Man sollte meinen, dass ich als jüngerer Bruder sicher davor bin, ungewollt Kleidungsstücke an sie abgeben zu müssen. So ist es aber nicht. Jasmin findet immer wieder den Weg zu meinem Schrank und nimmt sich einfach raus, was ihr passt.

Der Duft von Zitronengras erfüllt das Haus. Mom kocht in der Küche. Dad sitzt im Wohnzimmer vor dem Fern­seher. Sobald alles gepackt ist, werden meine Eltern mit ­Jasmin nach Ann Arbor fahren und dort übers Wochenende bleiben. Ich würde auch gern mitkommen, um zu sehen, wo meine Schwester die nächsten vier Jahre ihres Lebens verbringt. Aber im Auto ist nicht genug Platz für alle. Ich schaue auf die Jacke. Sie ist blau, mit Karomuster, aus einem dicken Stoff. Ich habe sie vor ein paar Jahren in einem Secondhandladen entdeckt. Jasmin zieht sie viel häufiger an als ich. »Nein, du kannst sie behalten«, sage ich und lege sie zurück. Außerdem ist es in Michigan kälter als bei uns.

Ich mache eine Schachtel auf. Ganz oben liegt ein Foto von uns beiden. Wir stehen auf der Treppe vor unserem Haus, es ist Halloween und wir sind als Lilo und Stitch verkleidet. Jasmin hat den Arm um mich gelegt, unsere Wangen berühren sich, ihr grasgrüner Rock streift meinen blauen Kunstpelz. Ist das wirklich schon sieben Jahre her? Manchmal wünsche ich mir, wir könnten wieder Kinder sein. Das Leben war damals viel einfacher. Es fällt mir schwer, meine Augen von dem Foto zu lösen. Als ich aufblicke, spüre ich Jasmin neben mir.

»Ich hab sie gestern durchgeschaut«, sagt sie und lächelt mich an. Sie streckt die Hand aus und zieht ein weiteres Foto aus der Schachtel. »Guck mal, das hab ich dabei auch entdeckt …«

Das Foto ist überbelichtet, mit grellem Blitzlicht aufgenommen. Ich schlafe auf der einen Seite des Sofas, während Jasmin sich auf der anderen Seite an Gracie kuschelt, unseren schwarzen Labrador. Gracie ist vor drei Jahren gestorben. Ihre großen dunkelbraunen Augen schauen direkt in die ­Kamera.

»Gracie fehlt mir«, sage ich.

»Ja, mir auch.«

Wenn ich an Gracie denke, muss ich immer lächeln. Ich habe immer noch ihren Lieblingstennisball oben auf meinem Kleiderschrank liegen. Wenn ich niedergeschlagen bin, lasse ich ihn manchmal gegen die Wand prallen. Nie würde ich es über mich bringen, ihn wegzuschmeißen.

»Hier … da ist noch eins …«

Jamie reicht mir das nächste Foto. Wir sind darauf neun und zehn, haben die gleichen Schlafanzüge an und spielen auf Jasmins Spielzeugklavier.

Als ich das Klavier sehe, werden Erinnerungen wach. »Oh weh«, seufze ich auf. »Ich musste stundenlang dasitzen und dir zuhören.«

»Ich hab für dich Konzerte gegeben. Kostenlos. Du solltest mir dankbar sein.«

»Dass ich traumatisiert bin?«

Wir müssen beide lachen. Jasmin stupst mich mit der Schulter an. In Wahrheit spielt sie großartig. Schon mit sieben hat sie mit Klavier angefangen und komponiert sogar eigene Stücke. Manchmal liege ich in ihrem Zimmer auf dem Bett und höre ihr zu, wenn sie übt. »Warum nimmst du dein Keyboard nicht mit?«, frage ich nach einer Weile.

Sie seufzt. »Ich hab Mom und Dad versprochen, mich ganz aufs Studium zu konzentrieren.«

»Ich hab gedacht, du willst Musik studieren?«

Jasmin wirft hastig einen Blick zur Tür und hält den rechten Zeigefinger an die Lippen. Okay, also keine weiteren Fragen. Unsere Eltern hätten es lieber gehabt, wenn sie zum Studium nicht weit weg gehen würde. Dann muss das ein Zugeständnis an sie sein. Aber die University of Michigan liegt nicht am anderen Ende der Welt. Deshalb bin ich mir sicher, dass wir uns weiter häufig sehen werden. Als wir noch ein Foto anschauen, vibriert mein Handy. Ich schiele auf das Display, lächle unmerklich.

Jasmin blickt mich fragend an. »Wer hat dir da geschrieben?«

»Ach, nur Daniel«, sage ich.

»Jetzt erzähl mir nicht, dass du ihn nachher triffst. Kommst du deshalb nicht mit?«

»Im Auto ist nicht genug Platz.«

Jasmin mustert mich streng.

»Wir haben nichts ausgemacht!«

»Alles klar, wie du meinst«, erwidert sie achselzuckend. Danach blickt sie auf die Uhr, steht auf.

Ich sende Daniel hastig eine Antwort und suche nach noch mehr Fotos. Da sticht mir auf einmal ein weißer Umschlag ins Auge, auf dem mein Name steht.

An Eric

»Und was ist da drin?«

Jasmin versucht, mir den Umschlag aus der Hand zu nehmen. »Nichts, leg ihn zurück …«

Ich ziehe meine Hand mit dem Umschlag weg. »Da steht mein Name drauf.«

»Ich wollte dir einen Brief schreiben.« Sie seufzt. »Aber ich bin noch nicht fertig. Gib ihn mir zurück.«

»Einen Brief? Warum denn?«

»Keine Ahnung. Vielleicht weil mir die Vorstellung gefällt?« Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, schnappt sich den Umschlag. »Ich wollte dir schreiben, wenn ich in Ann Arbor bin. Sobald ich nicht mehr hier bin, hab ich dir bestimmt mehr zu sagen als jetzt.«

»Es ist ja nicht aus der Welt.«

»Trotzdem, fünf Stunden Autofahrt«, entgegnet sie. »Da kann ich nicht einfach mal so zu Hause vorbeischauen.«

Ich antworte darauf nichts. Aus irgendeinem Grund war ich mir immer sicher, dass alles mehr oder weniger so bleiben würde wie jetzt. Ich blicke mich noch mal in ihrem Zimmer um. Zum ersten Mal stelle ich es mir völlig leer vor. Ohne meine Schwester wird es im Haus viel ruhiger sein als jetzt. Sie ist so etwas wie der Soundtrack zu unserem Familienleben. Ihr Klavierspiel füllt jeden Raum des Hauses. ­Jasmin muss etwas gespürt haben, denn sie kauert sich wieder neben mich und sagt: »Natürlich werde ich ab und zu nach Hause kommen. Und du kannst mich auch jederzeit besuchen.«

»Ich hab aber kein Auto«, sage ich.

»Fahr doch mit Kevin«, schlägt sie vor. »Er kommt nächstes Wochenende. Wir könnten zu dritt was unternehmen.« Kevin Park ist seit drei Jahren Jasmins Freund. Aber sie kennen sich schon viel länger. Irgendwie gehört er bei uns zur Familie. Er wird hier in Chicago an der University of Illinois studieren. »Ich sag ihm, dass er mit dir was ausmachen soll.«

»Und wie wollt ihr das in Zukunft machen?«, frage ich. Wie so eine Fernbeziehung funktioniert, interessiert mich.

Jasmin blickt zur Tür, dann wieder zu mir. Dann flüstert sie: »Erzähl es noch niemand, aber Kevin will versuchen, nächstes Frühjahr an die Michigan zu wechseln. Wir haben uns schon nach einer Wohnung umgesehen.«

»Ihr wollt zusammenziehen?«

»Ist alles noch in der Schwebe«, sagt sie leise. »Aber es muss ein Geheimnis bleiben, versprichst du mir das? Mom und Dad dürfen davon nichts erfahren.«

»Jaz …«

»Versprich es mir«, wiederholt sie und streckt mir den kleinen Finger hin.

Ich schaue sie an und halte ihr meinen kleinen Finger hin. »Okay, versprochen.«

Wir haben uns schon immer Geheimnisse anvertraut. Jasmin war damals die Erste, der ich erzählt habe, dass ich schwul bin. Das war vor ein paar Jahren. Ich glaube, sie hat aber schon immer geahnt, dass ich auf Jungs stehe. Hoffentlich können wir auch, wenn sie nicht mehr da ist, weiter alles miteinander teilen, was uns wichtig ist. Irgendwann taucht Dad im Türrahmen auf und ermahnt uns, dass wir uns mit dem Packen beeilen sollen. Jasmin und ich schauen uns an, reden wortlos miteinander.

Du wirst mir fehlen, sagt sie zu mir.

Du mir auch.

Dann stehen wir beide auf und fangen an, die Kartons zum Auto zu tragen. Hoffentlich gefällt es ihr in Michigan.

Dad hat bereits den Motor angelassen. Das Auto steht abfahrbereit in der Einfahrt. Mom macht sich noch in der Küche zu schaffen und räumt Geschirr weg, obwohl Dad und Jasmin bereits draußen auf sie warten. Auf dem Herd steht ein Topf Essen für mich bereit und im Kühlschrank eine Schüssel mit Obstsalat. Sie kommen morgen zurück, aber Mom macht sich immer Sorgen, ich könnte verhungern. »«, sagt sie. Denk daran, später den Herd auszuschalten.

»Ja, mach ich.«

».« Und lass keine Fremden ins Haus.

»Nein, lass ich nicht.«

Mom gibt mir einen Abschiedskuss und schließt die Tür hinter sich. Ich sehe dabei zu, wie das Auto in die Straße einbiegt und aus dem Blickfeld verschwindet. Dann drehe ich mich um, gehe ins Wohnzimmer und nehme die ungewohnte Stille in mich auf. Daran werde ich mich jetzt wohl gewöhnen müssen. Eine Sekunde später vibriert mein Handy wieder. Mehrere neue Nachrichten von Daniel.

HalloooWas ist los?Gib Zeichen

Ich grinse und schreibe ihm zurück.

Sorry, war beschäftigtKannst kommen!

Zwanzig Minuten später klopft es an der Tür und Daniel kommt rein. Er hat ein rotes Sweatshirt und darüber eine Jeansjacke an. Die Kombi trägt er, seit wir uns zu Beginn der neunten Klasse kennengelernt haben. Mit dem einen Arm umarmt er mich, mit dem anderen zieht er die Jacke aus. Er marschiert sofort in die Küche weiter und hängt sie dort über eine Stuhllehne.

»Was hat deine Mom für uns zum Essen gekocht?«

»Mein Lieblingsessen«, sagt er.

»Aber das kennst du doch gar nicht«, sage ich.

»Egal, schmeckt alles super, was sie kocht.«

Daniel hebt den Deckel hoch, beugt sich über den Topf und schnuppert. Ich lehne an der Küchenzeile und sehe ihm dabei zu, wie er sich eine Schale füllt. Seine braunen Haare wirken in der Herdbeleuchtung heller als sonst. Er schiebt sich ein Stück Schweinebauch in den Mund und dreht sich zu mir: »Was läuft heute Abend?«

Ich zucke mit den Achseln. »Wir könnten eine Serie gucken oder so«, sage ich.

»Ist Samstagabend. Lass uns was unternehmen! Mit mehr Fun.«

»Zum Beispiel?«

Daniel zieht sein Handy raus. »Zach hat mir vor ’ner Stunde geschrieben. Kommen heute ein paar Leute zu ihm. Lass uns auch hin.«

»Wohnt er nicht in Rogers Park?«

»Wir nehmen die Bahn.«

Ich starre die Wand an, denke nach. »Ich hab meinen Eltern gesagt, dass ich heute Abend zu Hause bleibe. Bestimmt rufen sie an.«

»Zieh einfach den Stecker raus. Wirkt dann so, als wär aus irgendeinem Grund die Leitung tot.«

Ich verdrehe die Augen. »Du hast keine Ahnung, oder? Sie werden glauben, dass ich tot bin, und einen Riesenaufstand machen.«

Daniel stöhnt genervt auf. »Und was sollen wir hier anstellen? Wieder mal auf dem Dach abchillen?«

Ich antworte darauf nicht. Weil ich nämlich genau das vorschlagen wollte. Ab und zu stehlen wir uns aufs Dach hoch, und es fühlt sich dort oben jedes Mal an, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Aber Daniel scheint darauf heute Abend keine Lust zu haben. »Du kannst ja zu Zach gehen, wenn du willst«, schlage ich vor.

»Du meinst, ohne dich?«

»Warum nicht? So schlimm ist das auch wieder nicht.«

»Aber wir haben uns die ganze Woche nicht gesehen.«

»Wir können ja morgen was gemeinsam unternehmen.« Ich hatte mich darauf gefreut, mit ihm zusammen zu sein. Aber ich möchte nicht, dass er sich gezwungen fühlt, bei mir zu bleiben, wenn er nicht will. Vor allem dann nicht, wenn er was Besseres vorhat.

Daniels Handy fängt zu vibrieren an. Er blickt auf das Display, liest die neu eingetroffene Nachricht.

»Willst du wirklich nicht zu Zach?«

»Ich kann heute Abend nicht«, sage ich.

Sein Handy vibriert wieder. Daniel blickt zur Tür, dann wieder zu mir. Einen Moment herrscht Stille zwischen uns, während er nachdenkt. Eine Sekunde lang glaube ich, dass er gleich aufsteht und geht. Aber mit einem Seufzer legt er das Handy weg. »Okay, du hast mich überzeugt. Ich bleibe.«

Eine Brise streicht über das Dach, kräuselt die Baumwipfel ringsum. Wir lümmeln seit Stunden hier draußen und schauen zum Himmel empor. Neben uns liegen ein leerer Pizzakarton sowie Chipstüten, das Ergebnis unseres Ausflugs in den Supermarkt vor einer Weile. Nach ein paar Episoden von Twin Peaks haben wir beschlossen, hierher raufzugehen. Daniel hat sich sein zusammengelegtes Sweatshirt als Kissen unter den Kopf geschoben. Ich schaue ihn einen Moment lang an. Seine Blicke schweifen umher, als würde er nach etwas suchen. Schließlich zeigt er zum Himmel und sagt: »Da ist noch einer. So etwas kriegt man wirklich selten zu sehen.«

»Wovon redest du?«

»Der Stern da blinkt tatsächlich.«

Ich starre in die Richtung. »Ja, ist wirklich seltsam.«

»Ich sag dir, das ist ein glitch.«

»Was?«

»Hast du Matrix nicht gesehen? Das alles ist eine riesengroße Simulation. Ich hab mir gerade erst ein Video dazu reingezogen.« Daniel setzt sich auf und blickt in alle Richtungen. »Siehst du die orangefarbene Katze da drüben auf der anderen Straßenseite? Und die Häuser ringsum? Mit den erleuchteten Fenstern? Alles ein binärer Code.«

Ich denke kurz darüber nach. »Du behauptest, dass alles eine Simulation ist?«

»Genau.«

»Schließt das uns auch mit ein?«

»Nein, natürlich nicht«, sagt er. »Wir sind die Protagonisten.« Er lässt sich wieder auf den Rücken sinken, verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Du und ich sind das Einzige, was wirklich ist, soweit ich weiß.«

Ich muss lächeln. Wir schauen wieder zum Himmel, suchen schweigend nach noch mehr glitches im Universum. Nach einer Weile dreht Daniel wieder den Kopf und sieht mich an. »Woran denkst du gerade?«

Ich antworte nicht.

»Jasmin?«

»Ja, schon.«

»Bist du deswegen traurig?«

Ich denke nach. »Nein«, sage ich dann. »Ich freue mich für sie. Das hat sie sich wirklich gewünscht. Von Chicago weggehen und so. Meine Eltern wollten, dass sie bleibt. Sie musste echt viel Überzeugungsarbeit leisten, weißt du.« Ich schweige kurz. »Aber es wird alles anders sein, wenn sie jetzt weg ist.«

»Du hast ja mich«, sagt Daniel.

Ich lächle wieder. »Das stimmt.«

»Und wir beide werden auch aus Chicago weggehen«, sagt er. »Außerdem werden wir im selben Wohnheim wohnen. Ist eh klar.«

»Und wohin wollen wir?«

»Ach, darüber lass uns später reden.« Er seufzt kurz auf, wischt den Gedanken daran weg. »Erst einmal müssen wir den Rest des Junior-Jahres hinter uns bringen. Und dann gibt es schließlich noch unsere Japanreise. Lass uns lieber ­daran denken.« Der Internationale Club an unserer Schule organisiert jedes Jahr eine Reise nach Japan. Jasmin war letztes Jahr dort und hat davon geschwärmt.

»Jasmin hat uns eine ganze Liste gemacht, was wir alles anschauen sollen.«

»Ich freu mich jetzt schon auf das Essen«, sagt er.

Als ich eine Handbewegung mache, streifen meine Finger zufällig seine. Wärme durchströmt mich bei der Berührung. Aber ich lasse mir nichts anmerken.

»Sorry«, sagen wir beide.

Wir liegen wieder schweigend nebeneinander. Dann checkt Daniel sein Handy. »Es ist elf Uhr elf. Schnell, wünsch dir was.«

Ich blicke ihn an. »Glaubst du an so was?«

»Manchmal. Du nicht?«

»Nie.«

»Warum nicht?«

»Keine Ahnung«, sage ich. »Kommt mir idiotisch vor, mir jeden Abend um dieselbe Zeit etwas zu wünschen. Glaubst du wirklich, dass es sich dann eher erfüllt?«

»Ich stell mir es als ein Spiel mit Zahlen vor«, meint ­Daniel. »Je mehr du in das Universum hinaussendest, desto größer ist die Chance, dass etwas geschieht. Die Herausforderung besteht darin, die richtigen Zahlen zu wählen, verstehst du?«

»Wäre es nicht sinnvoll, sich ein und dasselbe zu wünschen?«

»Hängt davon ab, ob du es wirklich willst.« Er schaut mich an. »Was würdest du dir denn wünschen?«

Die Frage lässt mich verstummen. Wenn ich Daniel anschaue, weiß ich genau, was ich mir wünschen würde. Aber ich drehe den Kopf weg. Behalte es für mich. »Hab ich nicht drüber nachgedacht.«

»Doch, hast du. Sag’s mir.«

»Nein, hab ich nicht.«

»Dann sag ich dir meinen Wunsch auch nicht.«

Wir hören uns an wie kleine Kinder auf dem Spielplatz und müssen lachen. Daniel und ich bleiben noch eine Weile auf dem Dach liegen, hören auf der Straße Autos vorbeifahren. Irgendwann bellt der Hund des Nachbarn. Um nicht länger zu zittern, verschränke ich die Arme vor der Brust, schließe einen Moment die Augen. Als ich mir sicher bin, dass Daniel eingeschlafen ist, öffne ich sie wieder und drehe den Kopf. Er schaut mich an. Schweigend schauen wir uns beide eine Weile an. Seine braunen Augen strahlen sogar im Dunkeln. Ich weiß nicht, warum, aber heute Abend sieht er noch schöner aus als sonst. Am liebsten würde ich ihm durch seine Haare streichen und ihn noch näher an mich heranziehen. Aber ich verscheuche den Gedanken. Ich will zwischen uns nichts kaputt machen. Dann fragt er mich etwas, worauf ich nicht gefasst bin.

»Darf ich … dich küssen?«

Ich halte die Luft an. Einen Moment lang glaube ich, mich verhört zu haben. Aber er schaut mich dabei so zärtlich an, dass ich mir wünsche, ihm ganz nahe zu sein. Ich rücke näher und schließe die Augen. Dann spüre ich, wie sich seine Lippen auf meine drücken. Ein Kribbeln durchströmt mich. Eine Million Mal habe ich von diesem Augenblick geträumt. Mein Herz klopft, als er seinen Arm um mich legt. Der Kuss dauert nur einen Augenblick. Aber das Gefühl, das mich durchströmt, bleibt noch eine ganze Weile. Wir liegen wieder ausgestreckt nebeneinander. Versuchen, ruhiger zu atmen. Keiner von uns beiden sagt ein Wort. Wir liegen den Rest der Nacht einfach nur da und schauen zum Himmel hoch.

Vielleicht, wenn ich früher gewusst hätte, wie unsere Geschichte enden würde. Vielleicht würde es dann nicht so schmerzen.

Sommer

Vorher

Blütenblätter schweben vom Himmel, als die Zugtüren sich öffnen und ich auf den Bahnsteig hinaustrete. Ich pralle gegen die Sommerhitze wie gegen eine Wand. Unsicher drehe ich mich nach rechts und nach links, mustere die fremden Schilder. Daniel und ich sind im Hotel verabredet. Aber ich scheine mich wieder einmal verirrt zu haben. Wir sind auf unserer Reise durch Japan. Unser letzter Tag in Tokio, dann geht es zurück. Ich bin früh am Morgen los, um für mein Filmprojekt ein paar Aufnahmen von der Stadt zu machen. Jasmin hatte mir von einem Café am Fluss erzählt, das ich unbedingt noch sehen muss. Wahrscheinlich bin ich auf dem Rückweg in den falschen Zug eingestiegen. Um rauszukriegen, wo ich mich befinde, ziehe ich mein Handy heraus.

Eine Nachricht von Daniel.

Wo steckst du?

Ich schicke ihm kurz eine Antwort.

Sorry. Hab schnell noch was gefilmt. Bin gleich wieder da!

Daniel hat noch eine kleine Überraschung geplant. Er will mit mir auf eine Fähre, die uns übers Wasser an einen Ort bringt, von dem er mir nichts verraten will. Abfahrtszeit ist erst in ein paar Stunden, aber ich muss vorher noch ins Hotel zurück und mich umziehen. Seit unserem Kuss auf dem Dach ist fast ein Jahr vergangen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass unsere Freundschaft sich zu etwas Neuem, Aufregendem weiterentwickeln würde. Jedenfalls hätte ich mir das gewünscht. Aber seither war nicht wirklich viel geschehen. Vielleicht würde die Reise uns ja einander näherbringen. Gemeinsam eine fremde Stadt zu erkunden, ist etwas so Romantisches. Doch irgendwie war es bisher nicht dazu gekommen. Nie waren wir nur zu zweit unterwegs gewesen. Als ob wir es vermeiden würden.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und bahne mir den Weg aus der U-Bahnstation. Die Straßen sind voller Menschen. Während ich gehe, starre ich beinahe ununterbrochen auf mein Handy, verwirrt von den Richtungsangaben. Keines der Gebäude kommt mir bekannt vor. Als ich den Kopf drehe, bleibe ich auf einmal wie vom Blitz getroffen stehen. Mein Blick ist an jemandem in der Menge hängen geblieben. Er ist größer als alle anderen, sein dichtes schwarzes Haar fällt ihm in Wellen bis über die Ohren. Er hat breite Schultern, trägt ein weißes Hemd mit dünnen blauen Streifen, das sich im Wind bauscht. Ich staune ihn wie eine Erscheinung an, während er auf mich zukommt. Einen Moment lang vergesse ich, dass ich mich verirrt habe.

Die Ampel muss auf Grün gesprungen sein, weil die Menge sich wieder in Bewegung setzt. Als mein Handy vi­briert und mir einfällt, dass ich die Straße überqueren sollte, komme ich wieder zu mir. Eine weitere Nachricht von ­Daniel poppt auf. Er will wissen, wo ich bin.

Vielleicht ist es das grelle Sonnenlicht, das mir in die Augen sticht. Oder es liegt daran, dass ich durch die Mitteilungen auf meinem Handy abgelenkt bin. Jedenfalls sehe ich das Lastenfahrrad nicht kommen. Es ist einer der Momente, die wie in Zeitlupe vergehen. Eine Fahrradklingel schrillt, als ich bereits losmarschiere, ohne auf die Straße zu achten, ohne den heranschießenden Radfahrer zu bemerken. Der Zusammenprall steht unmittelbar bevor … Da taucht plötzlich jemand neben mir auf und fasst nach dem Lenker des Fahrrads. Er muss die Bremse gedrückt haben, denn das Rad kommt abrupt zum Stehen, und der Fahrer wird von seinem Sitz gerissen, aber der Fremde packt ihn an seiner Kapuze … und er landet auf den Füßen.

Mein Gehirn braucht eine Sekunde, bis es die Szene verarbeitet hat. Dann durchflutet mich Erleichterung. Ich hebe den Kopf, blinzle. Die Fahrradklingel schrillt mir immer noch in den Ohren. Ein Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld. Der Typ in dem blau gestreiften Hemd schaut mich an. Der, der mir einen Augenblick vorher aufgefallen war. Er steht neben mir, einen halben Kopf größer als ich. Seine gewellten schwarzen Haare wehen im Luftzug des Verkehrs. Er sagt ­etwas zu dem Radfahrer, zeigt auf mich.

Der Radfahrer nickt mir zu und sagt: »Gomen nasai.« Im vergangenen halben Jahr habe ich genug Japanisch gelernt, um zu verstehen, dass er sich bei mir entschuldigt. Dann packt er sein Fahrrad und fährt davon. Bevor ich ein Danke-dass-du-mich-gerettet-hast stammeln kann, dreht sich der Typ mit dem blau gestreiften Hemd zu mir und sagt etwas, das ich nicht verstehe.

»Wie bitte?«, frage ich.

»Du solltest besser auf die Fahrräder aufpassen.«

Ich nicke. »Ja, stimmt. Ich wollte sagen: Danke. Ich hab mich verirrt und grade nicht aufgepasst.«

»Wo willst du denn hin?«

»Oh … ähm …« Ich rufe auf dem Handy die Adresse auf. »Nur zu meinem Hotel zurück. Das muss hier in der Gegend sein.«

Er streckt die Hand aus. »Darf ich mal?«

»Ja, gern.« Ich reiche ihm das Handy.

Er blickt auf das Display. »Das Asakusa Hotel in Taitō?«

»Ja, genau.«

»Dann hast du dich total verirrt«, sagt er und reicht mir das Handy zurück. »Das ist die entgegengesetzte Richtung.«

»Wie, echt?«

Er nickt. »Taitō ist im Osten. Du bist hier in Asagaya.«

»Asagaya? Wo soll das denn sein?« Ich starre auf den Stadtplan auf meinem Handy und bin jetzt komplett verwirrt

»Du bist wahrscheinlich in den falschen Zug eingestiegen.«

»Und wie komme ich zurück ins Hotel?«

»Ich kann dich hinbringen«, sagt er.

Ich schaue auf. »Wirklich?«

Er lächelt. »Wie’s der Zufall so will, bin ich in dieselbe Richtung unterwegs.«

»Ein echt glücklicher Zufall«, sage ich, während ich den Schultergurt meiner Tasche zurechtrücke. »Das wäre meine Rettung.«

»Vorher muss ich nur noch ein paar Dinge erledigen«, sagt er. »Aber das wird nicht lange dauern. Du kannst mitkommen, wenn du willst.«

»Ähm … ich …«

»Außer du hast etwas sehr Dringendes und Wichtiges vor.«

Ich schaue ihn wieder an. Das Hemd umspielt locker ­seinen Oberkörper, die Sonnenstrahlen scheinen durch den dünnen Stoff. Ich weiß, dass Daniel im Hotel auf mich wartet. Aber ich will nicht allein weiterziehen und mich vielleicht noch einmal verirren. »Nein, ich habe Zeit«, sage ich.

»Dann lass uns los.«

Er dreht sich um, steckt die Hände in die Hosentaschen, marschiert, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, los. Ich zögere einen Moment. Dann stecke ich das Handy weg und folge ihm durch die Menge. Als wir die Straße überqueren, blickt er über die Schulter zu mir und sagt: »Ich bin übrigens Haru.«

»Und ich Eric.«

»Woher kommst du?«

»Chicago.«

»Und wie lang bist du schon hier in Tokio?«

»Paar Tage.«

»Herzlich willkommen.«

An der nächsten Straßenecke biegt Haru ab. Wir befinden uns jetzt in einer Einkaufsstraße. Vor den Eingängen der kleinen Geschäfte hängen Laternen. Alles ist geschmückt. Es sieht so aus, als würde ein Fest gefeiert. Lichterketten mit Papiersternen schwanken im Wind. Ich staune und frage: »Wird hier was gefeiert?«

»Das Sternenfest.«

»Und was hat es damit auf sich?«

Haru blickt nach rechts, wo ein Mann mitten auf der Straße auf einem Hocker sitzt und malt. Er deutet auf ihn und flüstert: »Siehst du, was er da malt?« Ein Mann und eine Frau in langen Gewändern schweben am Sternenhimmel und strecken die Hände zueinander aus. Hinter ihnen leuchtet der Mond. »Das sind Prinzessin Orihime und ihr Gatte Hikoboshi. Sie durften nicht mehr beieinander sein und wurden durch die Milchstraße getrennt. Orihime wurde ­daraufhin so liebeskrank, dass ihr Vater, der Himmelskaiser, ihnen erlaubte, sich einmal im Jahr wiederzusehen. Das geschieht am siebten Tag des siebten Monats im Jahr. Das Sternenfest feiert ihre Vereinigung.«

»Warum wurden sie getrennt?«

»Die beiden verbrachten zu viel Zeit miteinander«, erklärt er. »Sie haben ihre Pflichten gegenüber der Welt vergessen. Deshalb haben die Götter sie getrennt. Aber es ist nur eine Geschichte.«

Ich betrachte die Malerei. »Also, ich bin ziemlich froh, dass sie sich wenigstens einmal im Jahr wiedersehen.«

Haru lächelt mir zu. Wir gehen weiter und kommen an einer Reihe von Tischen vorbei, mit Spielen ähnlich wie auf Jahrmärkten. Kinder drängen sich um sie herum. Ich gucke ihnen über die Schultern, will wissen, was sie da treiben. An einem Tisch schwimmen bunte Plastikbälle in einem Behälter voll Wasser.

»Es ist schwieriger, als es aussieht«, sagt Haru, als er meinen fragenden Blick bemerkt. »Die Netze sind aus Papier. Man muss die Bälle herausfischen, bevor das Netz reißt.«

»Macht bestimmt Spaß.«

Auf dem nächsten Tisch steht ein Glücksrad. Die Frau dahinter winkt uns heran und sagt etwas auf Japanisch. »Sie schenkt uns ein Mal«, erklärt mir Haru. »Du bist dran!«

»Warum ich?«

»Es ist dein erstes Sternenfest. Und mein Gefühl sagt mir, dass du Glück haben wirst.«

Ich blicke ihn an. »Bist du dir da ganz sicher?«

»Los, find’s raus!«

Ich beuge mich vor, drehe am Rad. Die Farben vermischen sich zu einem Strudel, bleiben dann auf Rot stehen. Die Frau hinter dem Tisch runzelt die Stirn. Mir wird klar, dass ich nicht gewonnen habe. Haru tritt an den Tisch und reicht ihr ein paar Münzen.

»Versuch’s noch mal«, sagt er aufmunternd zu mir.

Warum nicht. Ich gebe dem Rad wieder einen Schubs. Die Farben wirbeln herum, dann bleibt das Rad wieder auf Rot stehen. Ich seufze enttäuscht auf. Haru fingert in seiner Hosentasche herum, zieht weitere Münzen heraus und sagt: »Das hat nicht gezählt.« Ich will protestieren, aber er beharrt darauf, dass ich es noch einmal versuche. Also drehe ich noch einmal an dem Rad. Diesmal bleibt es auf Gelb stehen.

Ich werfe einen Blick zu Haru. »Was bedeutet Gelb?«

»Du musst noch einmal drehen.«

Scheint mir besser zu sein, als verloren zu haben. Ich drehe noch ein weiteres Mal an dem Glücksrad. Die Farben vermischen sich erneut zu einem Strudel. Das Rad bleibt auf Weiß stehen. Die Frau hinter dem Tisch klatscht und deutet auf den Korb mit den Preisen.

»Ich wusste, dass du Glück haben würdest«, sagt Haru mit einem Augenzwinkern.

Als Antwort schüttle ich nur den Kopf, muss lächeln. Gemeinsam mustern wir die Preise. Schlüsselanhänger, Radiergummis, Plastikfigürchen. Schließlich finde ich ein paar Freundschaftsbändchen, in die Holzperlen eingeflochten sind. »Die find ich ziemlich hübsch«, sage ich.

»Sie sagt, dass jeder von uns beiden eins haben kann.« Haru dreht sich zu mir. »Du kannst dir deins zuerst auswählen.«

»Okay.«

Ich entscheide mich für das blaue Bändchen. Haru nimmt das rote. Er lächelt mich an. »Lass uns tauschen.«

»Warum?«, frage ich verwirrt.

»Dann hat jeder von uns das Bändchen des anderen«, antwortet er und hält mir sein rotes hin. »Außerdem glaube ich, dass Rot dir besser steht.«

Ich muss lächeln. »Okay.«

Ich halte ihm das Handgelenk hin, damit er mir das rote Bändchen umbindet. Danach knüpfe ich mein Bändchen um sein Handgelenk. Das ist jetzt unser kleines Geheimnis, das wir miteinander teilen. Wir gehen weiter. Immer wieder muss ich dabei auf das Freundschaftsbändchen schauen. An den Straßenrändern sind jede Menge Buden aufgebaut, an denen Essen verkauft wird. Rauch von den Grillständen durchzieht die Luft. So vieles, das ich noch nie probiert habe. Eine Frau geht an uns vorbei, in der Hand ein Holzspießchen, an dem kleine Kugeln mit dunkler Glasur stecken. Haru bemerkt meinen neugierigen Blick. »Das ist dango«, sagt er. »Schon mal probiert?«

»Nein. Ist es eine Süßigkeit?«

»Warte einen Moment …«

Haru verschwindet zu den Essensständen. Einen Augenblick später kehrt er mit einem Dango-Spießchen zurück. Er reicht es mir und sagt: »Ist bei uns sehr beliebt. Probier mal.«

»Oh, danke.«

Ich beiße in eines der Bällchen. Es erinnert mich an Mochi, hat eine feste Konsistenz. Schmeckt süß, aber nicht zu süß, weil die Glasur leicht salzig ist. »Mmmh, wirklich gut«, sage ich.

Haru lächelt. »Noch irgendwas, das du gern probieren möchtest?«

»Oh, ähm.« Ich blicke mich um. Eine andere Frau, die vorbeigeht, hat einen gerollten Pfannkuchen in der Hand. Als ich mich zu Haru umdrehen will, steht er schon bei einem der Essensstände. Ich folge ihm, sage hastig, dass ich diesmal zahlen will. Man kann zwischen einem Dutzend Füllungen wählen. Wir entscheiden uns beide für Matcha-Eis und frische Erdbeeren. Setzen uns damit in den Halbschatten eines vergilbten Baldachins. Plötzlich ist Musik zu hören und eine Prozession von Männern in langen grauen Gewändern biegt um die Straßenecke. Sie spielen auf Bambusflöten. Haru und ich sehen ihnen nach, wie sie durch die Menge davonziehen. Die Flötentöne klingen in mir nach.

Wir gehen weiter. Bei einigen Geschäften stehen die Türen offen, die Waren werden davor auf dem Bürgersteig angeboten. Wir gehen daran vorbei, betrachten die Kleidungsstücke. Kerzen duften. Solche Gewänder habe ich während der Reise an vielen Leuten gesehen. Mit den Fingern streiche ich über den Stoff. Er ist papierdünn und knittert bei der Berührung. Die Ärmel bauschen sich wie bei einem ­Kimono.

»Probier es doch mal an«, schlägt Haru vor.

Ich schüttle den Kopf. »Nein, schon okay.«

»Man nennt das einen jinbei«, erklärt er und nimmt das Gewand in die Hand. »Das tragen wir im Sommer bei Festen. Könnte für heute also nicht besser passen.«

»Werde ich darin nicht wie ein verkleideter Tourist aus­sehen?«

»Nicht, wenn du mit mir unterwegs bist.«

Ich muss lächeln. »Gut, dann kaufe ich mir einen.«

Haru und ich mustern verschiedene Farben. Ich wähle schließlich ein Hellgrau mit Wellenmuster – wie Meereswogen. Von den Schultern herab verlaufen zwei rote Linien. »Das Rot passt gut zu deinem Armband«, sagt Haru, während er mir beim Anlegen des jinbei hilft.

»Du meinst, zu deinem Armband, nicht?«, verbessere ich ihn. Wir hatten ja getauscht.

Haru grinst. »Ganz genau.«

Ich bezahle im Laden und behalte den jinbei gleich an. Obwohl es feucht-schwül ist, fühlt sich der Stoff auf der Haut angenehm an. Während wir unseren Spaziergang fortsetzen, fällt mir auf, dass Haru bisher noch kein einziges Mal ein Geschäft betreten und etwas gekauft hat. Ich will schon fragen, wohin wir überhaupt unterwegs sind, als er endlich vor einem Schreibwarengeschäft stehen bleibt.

Er dreht sich zu mir. »Warte hier auf mich. Ich bin in einer Minute zurück.«

»Ja, na klar.«

Ich sehe ihm nach, wie er im Laden verschwindet. Dann blicke ich die Straße entlang. Riesige Papiersterne sind aufgehängt, unter denen Girlanden flattern. Wie Sternschnuppen, denke ich. Sterne mit einem großen Schweif. Wäre ich Haru nicht gefolgt, hätte ich nie von diesem Fest und von dieser Straße erfahren. Meine Kamera fällt mir ein. Eigentlich wollte ich ja Aufnahmen für mein Filmprojekt im Abschlussjahr machen. Also krame ich sie heraus und filme die Straßendekoration, die Läden, die Menschen, die Essensstände. Auf der Tonspur sind dazu in der Ferne Flötenklänge zu hören.

Kurz darauf taucht Haru wieder auf. In der rechten Hand hält er eine kleine Papiertüte. Ich verstaue meine Kamera in der Tasche. Wische mir über die Stirn.

»Du schwitzt ja richtig«, stellt er fest.

»Muss am jinbei liegen«, sage ich. Die Sonne scheint heiß auf mich herunter. »Ich könnte jetzt echt was zu trinken gebrauchen.«

Haru nickt. »Ich weiß genau den richtigen Ort dafür.«

Am Ende der Straße befindet sich eine alte Buchhandlung. Haru geht mit mir hinein. Hinter der Ladentheke schläft ein Mann. Zuerst denke ich, dass Haru dort etwas abholen will. Aber dann steuert er direkt auf den hinteren Teil des Raumes zu, wo er einen Vorhang beiseiteschiebt, hinter dem sich eine schmale Wendeltreppe befindet. Wir steigen ein Stockwerk empor, Haru schiebt erneut einen Vorhang beiseite – und wir betreten ein kleines, verstecktes Café. Angenehme Kühle weht mir entgegen, die von einer Klima­anlage kommt. Die niedrigen Holztische sind durch Shoji-­Paravents voneinander getrennt. In der Luft liegt der Duft von Räucherstäbchen. Ich folge Haru an einen leeren Tisch. Es gibt keine Stühle. Wir sitzen mit untergeschlagenen Beinen auf Tatamimatten. Eine Frau kommt herbei, um unsere Bestellung aufzunehmen.

Als sie sich entfernt, mustere ich neugierig den ganzen Raum. »Wie heißt das Café hier?«

»Es hat keinen Namen.«

»Warum das denn?«

Haru beugt sich zu mir. »Damit keine Touristen herfinden.«

Ich nicke. »Verständlich«, sage ich. »Zum Glück bin ich mit dir zusammen.«

Wir lächeln uns an. Einen Moment später kehrt die Frau mit einer Teekanne zurück. Haru hebt sachte den Deckel hoch. In der Kanne sind über Eiswürfel grüne Teeblätter ­gestreut. »Das ist koridashi«, sagt er. »Statt mit heißem Wasser wird der Tee mit Eis zubereitet. Das trinken wir gern im Sommer.«

Haru schenkt mir eine Tasse ein. Der Tee schmeckt süß und erfrischend. Ich fühle mich sofort energiegeladener. An der Rückwand des Raums hängt neben einem Blumen­gesteck eine Kalligrafie. Haru lehnt sich etwas zurück und trinkt seinen Tee in kleinen Schlucken. Die Papiertüte liegt neben ihm. Ich bin neugierig, was er gekauft hat. Schließlich frage ich ihn: »Was hast du da drin?«

Haru dreht gedankenverloren den Kopf, als hätte er vergessen, was sich in der Tüte befindet. Er schiebt sie zu mir und sagt: »Schau rein.«

Ich öffne die Tüte. Drinnen steckt in einer Plastikhülle ein einzelnes Blatt Papier. Es hat ungefähr die Größe meiner Handfläche. Sonst befindet sich in der Tüte nichts. »Ist das alles, was du gekauft hast? Ein einzelnes Blatt Papier?«

Haru nickt.

»Nur ein einziges?«

»Ich brauche nur eines.«

Ich drehe die Hülle mit dem Papier in der Hand. »Ist ­daran irgendwas besonders?«

»Wir nennen diese Art Papier washi«, sagt er und beugt sich über das Blatt. »Siehst du die Fasern darin? Daran erkennst du, dass es handgefertigt ist. Die Verfahren werden von Generation zu Generation weitervererbt. Dieses Papier hier wurde in Echizen im Gebirge hergestellt.« Er lehnt sich wieder zurück und trinkt von seinem Tee. »Meine Familie führt in Osaka ein Papiergeschäft. Zusammen mit meiner Mutter helfe ich dort jeden Sommer aus. Sie sagt, es sei wichtig, solche Läden wie den unseren zu unterstützen. Deshalb kaufe ich immer etwas, und wenn es nur ein einzelnes Blatt Papier ist.«

Ich ziehe das Papier vorsichtig aus der Plastikhülle, streiche mit dem Finger darüber. »Fühlt sich wirklich anders an«, sage ich. »Macht ihr eure eigenen Papiere?«

»Heute kaum noch«, gesteht er. »Ich helfe vor allem im ­Laden. Aber mein Vater hat mir noch was anderes beigebracht. Warte.« Er nimmt mir das Blatt Papier aus der Hand. Neugierig sehe ich ihm dabei zu, wie er ein Quadrat abtrennt, es mehrmals behutsam faltet. Dann schiebt er es mir über den Tisch zurück. Das Blatt Papier ist zu einem Origami­stern geworden. Genauso einer wie die Sterne draußen auf der Straße.

Ich nehme ihn vorsichtig in die Hand. »Als Erinnerung an das Sternenfest?«

»Oder an unsere Begegnung.«

Ich schaue ihn an. »Komisch, wir sind uns gerade erst begegnet. Und jetzt sitzen wir hier und trinken miteinander Tee.«

»Das erste, aber hoffentlich nicht das letzte Mal«, sagt er.

Wir lächeln uns wieder an. Haru fährt mit der Hand durch seine langen Haare. Ich trinke wieder von meinem Tee, spüre im Bauch ein leichtes Flattern. Ich achte nicht weiter darauf. Die Frau kommt zurück, füllt unsere Teekanne nach und geht wieder. Haru schenkt mir noch eine Tasse ein und fragt: »Wie gefällt dir Tokio bisher denn so?«

»Ich find’s super hier«, antworte ich. »Wir sind hier auf Schulreise. Heute Morgen bin ich allein losgezogen, um ein paar Sachen zu filmen. Für ein Projekt.«

»Einen Film?«

»Ach, ich weiß noch nicht«, sage ich achselzuckend. »Es ist für ein Projekt im nächsten Schuljahr. Ich muss noch jede Menge lernen, bevor da so was wie ein Film draus wird. Aber ich hab hier ein paar tolle Aufnahmen vom Fluss gemacht. Hauptsächlich durchs S-Bahn-Fenster, was eine coole Ästhetik geben wird. Hoffe ich jedenfalls. Eigentlich wollte ich noch ganz woandershin, aber dann habe ich gemerkt, wie weit es weg ist.«

»Wo wolltest du denn gern hin?«

Ich ziehe mein Handy raus, um es ihm zu zeigen. »In die Shikisai-Berge. Meine Schwester hat mir davon erzählt. Sie hat letztes Jahr ihre Schulreise auch nach Japan gemacht. Die blühenden Wiesen dort, sagt sie, haben sie an einen unserer Lieblingsfilme erinnert.«

Haru wirft einen Blick auf das Display. »Das wandelnde Schloss«, sagt er sofort. »Die Szene, als er ihr den Garten zeigt.«

»Ja, genau.«

Haru nickt zustimmend. »Ich war da auch noch nicht. Es soll im Sommer wunderschön sein.« Er lächelt mich an. »Wir sollten gemeinsam dort hinfahren.«

Einen Moment stelle ich mir vor, wie wir durch die Blumenwiese spazieren, und sage fast Ja. Aber ich kann Daniel nicht einfach so sitzen lassen. Mit einem Seufzer sage ich: »Ich wünschte, wir könnten gemeinsam dorthin. Aber im Hotel wartet mein Freund auf mich.« Ich schiele auf mein Handy, um zu sehen, wie spät es inzwischen ist. »Ich müsste mich jetzt ziemlich bald auf den Weg machen.«

»Wie lang bist du noch hier?«

»Wir fliegen morgen.«

Er reißt die Augen auf. »Morgen?«

»Geht mir genauso«, sage ich. »Wär schön, wir hätten noch ein paar Tage.«

»Was machst du heute Abend?«

»Da hab ich was mit meinem Freund geplant«, sage ich. »Dem, der im Hotel auf mich wartet. Wahrscheinlich treffen wir uns später auch mit dem Rest der Gruppe. Schließlich ist es ja unser letzter Abend.«

Zwischen uns herrscht einen Augenblick Schweigen. Dann nickt Haru und sagt: »Schade. Ich hätte dir gern noch mehr gezeigt. Aber ich bin froh, dass wir uns überhaupt begegnet sind.«

»Ja, darüber bin ich auch froh«, sage ich. »Ich sollte mich öfter mal verlaufen.«

Haru lächelt. Wenn wir uns bloß früher kennengelernt hätten. Ich würde so gern noch länger mit ihm zusammen sein, mit ihm das Sternenfest erleben. Schon komisch, wie manche Menschen einfach in dein Leben hineinspazieren. Vor ein paar Stunden haben wir uns noch gar nicht gekannt. Vielleicht will es das Schicksal ja manchmal, dass wir in den falschen Zug einsteigen.

Wir trinken unseren Tee aus und verlassen das Café. Auf der Straße dreht Haru sich zu mir und sagt: »Wenn du noch Zeit hast … da ist etwas, das ich dir unbedingt zeigen möchte. Es wird nicht lange dauern.«

»Das hast du auch schon vor zwei Stunden gesagt«, erinnere ich ihn.

Haru grinst. »Und, hat’s keinen Spaß gemacht?«

»Schon, aber ich muss jetzt wirklich zurück.«

»Die Chūō-Linie fährt alle zehn Minuten«, sagt er. »Ich verspreche dir, dass wir rechtzeitig zurück sind.«

Ich denke wieder an Daniel. Bestimmt macht er sich Sorgen, wo ich denn bin. Aber auf ein paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an. »Okay, wenn du es mir versprichst.«

Haru lächelt, während er mir winkt, dass ich ihm folgen soll. Wir biegen in eine Seitenstraße ein, drängen uns durch die schmale Gasse mit ihren kleinen Läden. Normalerweise würde ich einem Fremden nicht ohne Weiteres folgen, schon gar nicht durch eine finstere Gasse in einer unbekannten Stadt. Aber es fühlt sich an, als würden wir uns schon lange kennen, vielleicht aus einem anderen Leben, so was in der Art. Ich kann es nicht wirklich erklären.

Wir überqueren eine Straße, befinden uns dann auf einer Allee. Die Steinplatten des Wegs sind von roten Laternen gesäumt, die wie winzige Häuser aussehen. Neugierig blicke ich umher, frage mich, wohin er mit mir geht. Nach einer Weile tauchen vor uns die Tore eines Tempels auf. Die Bäume sind alle mit bunten Papierstreifen geschmückt, Hunderte, aufgerollt und mit weißen Fäden verknotet.

Am Ende des Steinpfads steht ein Holztisch. Haru tritt zu ihm und nimmt ein Papierchen. »Das heißt bei uns tan­zaku«, sagt er und gibt es mir. »Während des Sternenfestes schreiben wir Wünsche darauf und hängen die Papierchen dann in die Bäume. Du musst dir etwas wünschen, bevor du abreist.«

»Was für Wünsche denn?«

»Alles, was du willst«, antwortet er.

Haru nimmt sich selber einen Papierstreifen, beugt sich über den Tisch und schreibt etwas. Ich starre auf den Zettel und denke darüber nach, was ich mir wünsche. Es dauert einen Moment, bis mir etwas einfällt. Dann nehme ich einen Bleistift vom Tisch und schreibe meinen Wunsch auf. Haru wirft ein paar Münzen in eine Holzschachtel, geht danach zu den Bäumen, die den Weg säumen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er seinen Wunsch an einem der Zweige befestigt. Dann dreht er sich zu mir, wartet darauf, dass ich es ihm nachmache.

Während ich auf die Bäume blicke, erhebt sich ein leichter Wind. Vor meine Füße weht es weiße Blütenblätter. Ich hebe den Kopf, wundere mich, wo sie herkommen. An das Tor schließt ein Teppich weißer Blüten an. Sie bedecken die Steine wie ein Vorhang. Auch dort sind ein paar Papierstreifen mit Wünschen befestigt.

»Es ist Jasmin«, ruft Haru hinter mir.

Ich blicke zu ihm und dann wieder auf die Blüten. »Ja, so heißt meine Schwester«, sage ich. Als ich eine passende Stelle entdeckt habe, knüpfe ich meinen Wunsch an eine weiße Dolde. Ein paar Blütenblätter lösen sich und schweben herab. Dann drehe ich mich zu Haru.

»Schöne Stelle dafür«, sagt er.

»Ja, find ich auch.«

Wir schauen uns beide an. Mir fällt auf, dass er etwas in der Hand hält.

»Was hast du da?«

»Nichts.« Haru schüttelt den Kopf und steckt die Hand hastig in die Hosentasche.

Ich schaue ihn fragend an.

Bei mir vibriert das Handy. Neue Nachrichten von Daniel, gleich mehrere hintereinander.

Wo bist du???Wird höchste Zeit, dass du zurückkommst.Wir verpassen noch die Fähre.

Ich gucke auf die Uhr. Dann drehe ich mich zu Haru, gebe ihm zu verstehen, dass ich jetzt wirklich zum Hotel muss. Haru nickt, zieht sein Handy heraus. Als er die Abfahrtszeiten checkt, runzelt er die Stirn. »Merkwürdig, das ist sonst nie so«, sagt er. »Sieht so aus, als ob es irgendein Problem mit der Chūō-Linie gibt. Der letzte Zug, der angezeigt wird, kommt in sechs Minuten.«

»Passiert so was öfters?«

»Bei uns? Nie.«

Eine Sekunde lang glaube ich, dass das Universum sich einmischt. Hier und jetzt. Vielleicht will es die Vorsehung, dass ich mehr Zeit mit Haru verbringe. Damit wir uns besser kennenlernen können. Aber die Erinnerung an den Kuss zwischen Daniel und mir steigt in mir auf, und ich verspüre ein schlechtes Gewissen. Ich darf ihn nicht länger warten lassen. »Mein Freund bringt mich um«, sage ich.

Haru steckt das Handy weg. »Du kannst es noch schaffen.«

»Aber wie soll ich –«

Da hat Haru schon nach meiner Hand gegriffen und zieht mich mit sich fort. Fast wäre ich gestolpert. Danach rennen wir durch die Straßen zurück, bahnen uns den Weg durch die Menschenmenge. »Pass auf die Radfahrer auf«, ruft er mir zu, als wir die Straße vor dem Bahnhof überqueren. Erst bei den Drehkreuzen halten wir an. Vergebens fingere ich in den Hosentaschen nach meiner Fahrkarte. Da hat Haru bereits seine Chipkarte herausgezogen, drängt sich direkt hinter mir hindurch.