Ich will doch leben! - Marliese Arold - E-Book

Ich will doch leben! E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Für Leser ab 12 macht Marliese Arold in ihrem JugendromanIch will doch leben! verständnisvoll auf das Thema AIDS aufmerksam. Intensiv und einfühlsam zugleich schildert sie das eines HIV-positiven Mädchens, das nicht aufgibt, zu kämpfen.    Nadine kann es nicht fassen. Florian war ihre erste große Liebe, der erste Junge, mit dem sie geschlafen hat. Und nun die erschütternde Nachricht: Florian hat Aids. Nadine kann sich kaum noch auf etwas konzentrieren, denn ihre Gedanken kreisen immer wieder um dieselbe Frage: Was, wenn sie sich mit dem Virus infiziert hat? Nadine lässt einen Test machen und erhält kurz darauf den Befund: Sie ist ebenfalls HIV-positiv …

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Inhalt

Kapitel 1 – Die Sonne blendete …

Kapitel 2 – Ich stellte mein …

Kapitel 3 – Abends rief Marc …

Kapitel 4 – In der Nacht …

Kapitel 5 – „Mist!“ …

Kapitel 6 – Nachts kam die …

Kapitel 7 – Es wurde ein …

Kapitel 8 – Am Montagmorgen fühlte …

Kapitel 9 – Als mir Doktor …

Kapitel 10 – Meine Mutter hatte …

Kapitel 11 – In der Nacht …

Kapitel 12 – Meine Mutter stand …

Kapitel 13 – Am Mittwoch ging …

Kapitel 14 – Ich musste einfach …

Kapitel 15 – Am Montag besuchte …

Kapitel 16 – Evelyn war pünktlich. …

Kapitel 17 – Die Sonne stand …

1

Die Sonne blendete mich, als ich die Turnhalle verließ, und es roch schon richtig nach Frühling.

Nach dem Mief im Umkleideraum tat die frische Luft richtig gut. Vor uns trainierten immer die Kleinen, und dem Geruch nach wuschen die sich weder die Füße noch wechselten sie je die Socken.

Ich schulterte meine Sporttasche und hielt nach Marc Ausschau. Er hatte versprochen, mich nach dem Volleyballtraining abzuholen. Von dem kleinen Vorplatz aus konnte man die Straße rauf- und runterschauen. Marc war nicht zu sehen.

Vielleicht war er ja aufgehalten worden. Kein Grund, gleich ein Drama draus zu machen. Gestern Abend war ich jedenfalls eindeutig einen Schritt weitergekommen. Wir waren gestern zusammen im Kino und hatten anschließend beim Griechen Zaziki gegessen. Danach hatte Marc mich nach Hause gebracht. Vor der Haustür haben wir dann noch eine Weile rumgeknutscht. Aber gerade, als es so richtig toll wurde, quietschte die Tür, und Herr Kuhn, unser Hausmeister, kam raus, um seinen asthmatischen Dackel auszuführen. Das giftige kleine Biest sah uns und kläffte gleich los. Da war die Stimmung natürlich futsch – leider!

Noch immer kein Marc! Ob er es sich anders überlegt hatte? Er hatte inzwischen immerhin sechzehn Stunden Zeit dazu gehabt. Vielleicht mochte er mich ja doch nicht, oder er wollte nicht, dass ich glaubte, gestern Abend hätte irgendwie was Festeres zwischen uns angefangen.

Verdammt, Marc war eine harte Nuss. Es hatte eine ganze Weile gedauert, ehe ich seine Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Aber er war der einzige Junge, der mich interessierte.

Nach der Sache mit Florian hatte ich schon geglaubt, dass mich so schnell kein Typ mehr interessieren würde. Das herrliche Kribbeln im Bauch hatte ich abgeschrieben. Aber als ich auf Meikes Party Marc kennenlernte, hatte es dann doch gekribbelt. Und wie! Es war, als wäre ich aus einem langen Winterschlaf erwacht. Meine Sensoren funktionierten wieder, die Welt kam mir größer, schöner und bunter vor. Ich erlebte alle Gefühle mit neuer Intensität. Meike meinte, es sei auch höchste Zeit gewesen. Sie hätte schon befürchtet, ich würde im Kloster enden, und das sei doch wahrhaftig kein Junge wert.

Aber anscheinend kam Marc jetzt tatsächlich nicht mehr. Ich beschloss, ihm noch fünf Minuten zu geben, und trödelte vor der Turnhalle herum. Es gibt nichts Blöderes, als zu warten, wenn man eigentlich längst weiß, dass der andere nicht mehr kommen wird.

Kim kam aus der Turnhalle.

„Hallo, Nadine, wartest du auf jemanden?“

„Messerscharf kombiniert!“

„Du machst so ein finsteres Gesicht. Kommt er etwa nicht?“

„Sieht so aus.“

Kim klemmte ihre Sporttasche auf den Gepäckträger und schloss ihr Fahrrad auf.

„Marc?“

Ich nickte. Ich war jetzt schon so sauer, dass ich mich nicht einmal darüber wunderte, woher sie das schon wieder wusste. Neuigkeiten machten in unserer Volleyballmannschaft immer blitzschnell die Runde, vor allem wer mit wem ging und wer in wen verschossen war.

„Ärger dich bloß nicht.“

Kim hockte abfahrbereit auf dem Sattel, die Beine links und rechts auf den Boden gestellt.

„Leicht gesagt“, brummte ich. Natürlich ärgerte ich mich. Wen wurmt es nicht, wenn er versetzt wird? Dabei hatte ich mich so gefreut. Beim Spielen war ich richtig in Hochform gewesen. Jeden Ball hatte ich gekriegt. Verliebt zu sein wirkt leistungsfördernd.

Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke. An den Unterarmen hatte ich rote Flecke. Beim Spielen hatte ich das gar nicht gespürt.

„Du warst toll heute“, sagte Kim, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich zuckte mit den Schultern. Was nützen sportliche Erfolge, wenn die Seele auf dem Boden hing? Marc, wo bleibst du? Was geht bloß in deinem Kopf vor? Erst küssen und dann kneifen?

„Ich kapier das nicht“, sagte ich laut. „Ehrlich! Warum verspricht er Sachen, die er nicht hält? Warum sagt er, dass er mich abholt, und tut es nicht? Scheiße!“

Kim warf mir einen mitfühlenden Blick zu. „Tut mir leid für dich.“

Die Fünfminutenfrist war um. Sorry, Marc, aber wenn du jetzt noch antanzt, ist es leider zu spät. Hoffentlich überlegst du dir einen guten Grund für dein Zuspätkommen.

Unwillig zerrte ich mein Fahrrad aus dem Ständer. Ich trat mit aller Kraft in die Pedale. Dabei hätte man wirklich meinen können, ich hätte mich heute schon beim Spielen genug ausgetobt.

Kim fuhr hinter mir. Wir hatten ungefähr denselben Heimweg. Am Ahornweg war meine größte Wut schon wieder verraucht. Die Straße wurde jetzt zu steil, selbst für ein Rad mit Gangschaltung. Ich sprang ab.

„Wer sein Rad liebt, der schiebt“, keuchte Kim.

„Richtig“, pflichtete ich ihr bei. „Und wer liebt …“, ich suchte nach einem passenden Reim, fand aber keinen, „der ist selbst dran schuld!“

„So schlimm?“, fragte Kim. Sie hatte ein hübsches Gesicht, braune Haut, dunkle Brauen, volle Lippen und schwarze Locken. Dazu eine tolle Figur, schlank und sehnig. Ihr Busen war weder zu klein noch zu groß, sondern gerade richtig. Alles stimmte. Ich beneidete Kim.

„Ziemlich schlimm.“ Wenn man so versetzt wird, kommt man sich selbst richtig doof vor, das ist ja das Gemeine daran.

„Liegt dir so viel an Marc?“, erkundigte sich Kim.

Klar, dass Kim sich dafür interessierte, wie es zwischen uns beiden stand. Würde mich andersrum auch interessieren. Ich führte mich ja auch blöd genug auf. Ich war selbst schuld, wenn andere neugierig wurden.

„Ich mag ihn schon ziemlich“, gestand ich.

Kim und ich waren zwar nicht so eng befreundet, dass ich ihr auf die Nase gebunden hätte, dass Marc seit längerer Zeit der einzige Junge war, den ich mehr als einfach nur nett fand. Es war natürlich nicht so, dass ich mich damals nach der Sache mit Florian total zurückgezogen hätte. Im Gegenteil, ich ging häufig auf Partys und lernte dort jede Menge gutaussehender Jungs kennen. Ich tanzte mit ihnen, wir unterhielten uns nett, gingen auch mal zusammen ins Kino, küssten uns auch mal, aber das war’s dann auch schon. Es war einfach keiner dabei, mit dem ich mir mehr vorstellen konnte als eine lose Bekanntschaft. Bis auf Marc.

„Ich verknall mich auch immer in die falschen Jungs“, sagte Kim mit einem Stoßseufzer. „Die, die sich in mich verlieben, interessieren mich nicht. Und an denen, die ich toll finde, beiße ich mir die Zähne aus. Entweder sind sie schon in festen Händen, oder sie haben nur Computer oder Autos im Kopf.“

Dass ein so attraktives Mädchen wie Kim solche Probleme haben könnte, war mir noch nie in den Sinn gekommen.

Gut, und ich war nicht wirklich dick. Es ärgerte mich nur, wenn ich mich in eine Hose Größe vierzig zwängen musste, während an anderen schon Größe sechsunddreißig schlabberte. Und meine Höhe von einsfünfundsiebzig gab mir wenigstens meinem Mathelehrer gegenüber manchmal ein Gefühl der Überlegenheit. Er war nur einsneunundsechzig groß. Mit meinen Pickeln war es zum Glück schon besser geworden. Sie machten mir hauptsächlich an den Tagen vor meiner Periode zu schaffen. Was mich ganz und gar wahnsinnig machte, waren meine hellblonden Wimpern. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass einer meiner zahlreichen Cousins einmal behauptet hatte, bei einem Urlaub auf dem Bauernhof habe er auf einer Weide Kühe entdeckt, die hätten ebensolche Wimpern gehabt wie ich, lang und hellblond. Ein neuer Verwandtschaftswitz war geboren. Nadine mit den Kuhaugen! Ich hätte meinen lieben Cousin erwürgen können!

Ach ja, es gab noch etwas, das mich störte: meine Blinddarmnarbe. Sie sah so aus, als sei den Ärzten dabei das Skalpell abgerutscht, aber glücklicherweise war der Schnitt nicht einmal im Bikini zu bemerken. Die Narbe sah man nur, wenn ich nackt war, und außer Florian hatte sie noch kein Junge gesehen.

Florian! Die Narbe würde mich immer daran erinnern, wie wir uns kennengelernt hatten: nämlich im Krankenhaus. Während ich auf dem Operationstisch lag und die Ärzte an meinem Blinddarm herumschnippelten, wurde Florian gerade von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt. Er war endlich überm Berg. Es hätte nicht viel gefehlt, und sein Mopedunfall wäre tödlich verlaufen.

Es gab mir noch immer einen Stich, wenn ich daran dachte. Wie sehr hatte ich Florian geliebt! Und wie oft hatten wir uns gestritten! Manchmal waren wir miteinander unheimlich glücklich gewesen. An anderen Tagen hätten wir uns beinahe die Augen ausgekratzt. Es war wie Himmel und Hölle. Florian konnte so zärtlich und einfühlsam sein, doch dann hatte er Phasen, in denen er mir unerträglich arrogant vorkam. Ich war tagelang nur mit Florian zusammen. Aber dann sehnte ich mich wieder nach meiner Clique, nach lauter Musik und Fröhlichkeit. Florian hasste Tanzen. Wenn ich ihn trotzdem mitschleppte, konnte es passieren, dass er den ganzen Abend lang kein einziges Wort sagte. Hinterher knallten wir uns gegenseitig die schlimmsten Vorwürfe an den Kopf. Wir sind eben total verschieden.

Ich bin ziemlich gesellig, während Florian etwas zum Eigenbrötlertum neigt, was er jedoch immer heftig bestritt.

Vielleicht lag es daran, dass sein Vater von Beruf Ägyptologe ist. Deswegen hielt sich die Familie sehr oft im Ausland auf, und Florian hatte schon unheimlich viele Schulen besucht. Auch der Aufenthalt in Deutschland war von vornherein zeitlich begrenzt. Florians Vater war einige Semester lang Gastdozent an der hiesigen Uni. Seit einem halben Jahr waren alle wieder in Ägypten, und Florian ging auf ein Internat in Kairo. Doch wir hatten uns schon eine Zeit lang vor seiner Abreise getrennt. Es funktionierte einfach nicht mehr mit uns, wir stritten uns zu oft. Wir hatten beschlossen, nur noch gute Freunde zu sein. Aber eine Liebesbeziehung in eine Freundschaft umzuwandeln ist theoretisch leichter als in der Praxis. Ich litt in der ersten Zeit unserer Trennung sehr. Vermutlich ging es Florian ähnlich – auf seine Weise. Er sprach ja nur selten über das, was er fühlte. Das war auch immer so ein Streitpunkt.

Seit Tausende von Kilometern zwischen uns lagen, wurden die Traurigkeitspikser in meinem Bauch seltener, aber manchmal kamen sie eben doch. Wie jetzt. Ich schob den Gedanken an Florian schnell weg. Man muss ja nicht unbedingt an alten Wunden rühren.

„Richtig tolles Wetter heute“, meinte Kim und riss mich aus meinen Gedanken. Sie blinzelte. „Hast du heute Abend schon was vor? Im Palastgarten läuft ein toller Film.“

„Weiß ich.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Ich war gestern schon drin. Mit Marc.“

Das war die andere Wunde.

„Taugt er denn was?“, wollte Kim wissen.

„Meinst du Marc oder den Film?“

Kim warf den Kopf zurück und lachte. Sie hatte ein total süßes Lachen, das richtig ansteckend war. Wenn ich ein Junge wäre, würde ich mich schon allein wegen des Lachens in Kim verlieben. Ich lachte mit. Vor lauter Japsen konnte ich nicht antworten.

„An Marc hab ich kein Interesse.“ Kim wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. „Momentan jedenfalls nicht.“ Sie gluckste noch immer.

„Kannst ihn aber gerne haben. Ich verschenk ihn.“

„Ich mag ihn trotzdem nicht.“ Kim sah mich an. „Vielleicht solltest du ihm noch eine Chance geben.“

Ich zuckte unschlüssig mit den Achseln. „Vielleicht.“ Ich wusste noch nicht, was ich tun würde. Im Moment war ich einfach zu enttäuscht.

„Wenn ich verliebt bin, lasse ich mich immer viel zu leicht ausnützen“, erklärte Kim dumpf.

„Das ist verkehrt. Dadurch wirst du bloß untergebuttert.“

„Ich weiß.“ Kim schaute auf ihre Schuhspitzen. „Aber das steckt bei mir so drin. Ist Erziehungssache. Ich denke immer, ich muss es ihm so nett wie möglich machen.“

„Auf deine Kosten?“, fragte ich ungläubig. „Kommt gar nicht infrage! Ab sofort lässt du dir nichts mehr gefallen!“

„Ach, Nadine.“ Kim lachte wieder und schüttelte den Kopf. „Im Moment ist bei mir sowieso nichts akut. Wie war eigentlich der Film?“

„Beknackt. Das Beste daran ist, dass er nach siebenundachtzig Minuten zu Ende ist.“

Die Handlung war ziemlich verworren gewesen. Irgendwann in der Mitte des Films hatte ich den Überblick verloren. Vermutlich, weil ich mich so sehr auf Marc konzentrierte. Unsere Arme lagen dicht nebeneinander, ohne sich zu berühren. Die Luft zwischen uns knisterte regelrecht. Es würde mich mal interessieren, welche chemischen Prozesse sich in solchen Momenten abspielen. Leider steht so etwas nicht in unserem Lehrplan.

Zwischen uns war eine Spannung, ungefähr so wie vor einem Gewitter. Ich konnte es fast nicht mehr aushalten. Und Marc tat nichts, um diesen Zustand zu beenden! Schließlich fasste ich mir ein Herz und legte meine Hand auf seine. Es fuhr mir durch und durch, von der Stirn bis zu den Zehenspitzen. So muss es sein, wenn man eine Starkstromleitung berührt.

Vom Rest des Films bekam ich nicht mehr allzu viel mit, aber das bedauerte ich auch nicht. Dass Marc endlich den Arm um mich legte und mich an sich zog, war mir viel wichtiger. Und jetzt diese Schlappe! Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. War die Sache für ihn erledigt, bevor sie richtig begonnen hatte? Verliebte ich mich auch in die falschen Jungs – genau wie Kim? „Willst du noch auf einen Sprung mit zu mir kommen?“, fragte ich, als wir an der Kreuzung angelangt waren, an der sich unsere Wege trennten.

Kim schüttelte den Kopf. „Ein andermal gerne. Heute muss ich noch Vokabeln lernen. Wir schreiben eine Arbeit. Drück mir morgen ab zehn Uhr mal die Daumen!“

„Mach ich“, versprach ich. Kim ging in meine Parallelklasse, in die 11c.

„Tschüss, Nadine.“ Kim schwang sich auf ihr Fahrrad, drehte sich noch einmal um und hob die Hand. „Und ärgere dich nicht mehr über Marc!“

2

Ich stellte mein Fahrrad in die Garage. Sie war leer. Anscheinend machte meine Mutter wieder einmal Überstunden in der Bank. Vater kam ohnehin immer erst später. Ich suchte den Schlüssel aus meiner Sporttasche. Unsere Wohnung lag im zweiten Stock. Sie war hell und groß, und vom Balkon aus hatte man einen entzückenden Ausblick auf eine lange Garagenfront und die Mülltonnenboxen. Meine Eltern sprachen oft von einem Häuschen im Grünen.

Ich ging zunächst in die Küche und sah nach, was der Kühlschrank zu bieten hatte. Nach dem Training war ich immer schrecklich durstig. Im Kühlschrank stand nur Mineralwasser und eine angebrochene Flasche von dem Vitamintrunk, nach dem meine Mutter seit einigen Wochen regelrecht süchtig war. Ich entschied mich für Sprudel und machte mir gar nicht erst die Mühe, ein Glas zu benutzen. Dann zog ich meine Sportschuhe aus und stellte verärgert fest, dass sich beim rechten Schuh die Sohle löste. Es waren also wieder einmal neue fällig. Ich verzog das Gesicht. Na bitte. Es passte alles fabelhaft zusammen. Kaputter Schuh, kaputte Liebe!

Doch als mein Blick auf die Pinnwand fiel, machte mein Herz einen Hüpfer. Dort hing ein Brief für mich mit großen bunten, ägyptischen Briefmarken!

Florian hatte geschrieben!

Einen unsinnigen Augenblick lang war ich überzeugt, Florian werde mir mitteilen, dass er aus Ägypten zurückkehrte und dass wir es noch einmal miteinander probieren sollten.

Mir wurde ganz heiß. Dann schüttelte ich den Kopf. Wie albern von mir. Das hätte ja überhaupt keinen Sinn. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass zwischen uns sehr bald wieder die Fetzen fliegen würden. Wir waren einfach zu verschieden. So verschieden wie Feuer und Wasser.

Komisch, wie man rückblickend eine Sache oft verklärt. Aber Florian war meine erste große Liebe, und die erste Liebe ist eben was Besonderes.

Oh Mann, war ich siebzehn oder siebzig? Ich wurde ja richtig sentimental beim Anblick von Florians Brief.

Wie auch immer, jedenfalls freute ich mich über seine Post. Es war schon eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal etwas von ihm gehört hatte. Zuerst waren ziemlich regelmäßig Briefe von ihm gekommen, in denen er berichtete, wie toll es in Ägypten war, was sein Vater entdeckt hatte, wie es im Internat zuging und so weiter. Kulturgeschichtlicher Hintergrund sozusagen, weniger persönliche Eindrücke. Aber so war Florian eben. Dann herrschte auf einmal Funkstille. Ich hatte ihm noch zweimal geschrieben, ohne Antwort zu erhalten. Zuletzt zu Weihnachten. Bloß eine kurze Karte. Er sollte nicht denken, dass ich ihm hinterherlief. Er sollte aber durchaus merken, dass ich unsere Freundschaft noch nicht vergessen hatte – im Gegensatz zu ihm! – Jetzt war es Anfang März.

Als ich den Brief aufriss, hatte ich ein blödes Gefühl im Magen. Vielleicht war es schon eine Art Vorahnung.

Mir fiel auf, wie zitterig und fahrig seine Handschrift aussah. Dabei hatte er sonst eine so regelmäßige Schrift. Beneidenswert ordentlich, so wie ich es nie schaffte, selbst wenn ich mich höllisch anstrengte. Auch die Anrede machte mich stutzig. Sonst schrieb er immer „Hallo Nadine!“ oder „Hey Nad!“, aber diesmal begann er richtig förmlich.

Liebe Nadine!

Entschuldige! Ich hätte mich früher melden müssen. Ich konnte nicht! Ich wollte nicht! Ich habe mich verkrochen!

Hoppla, dachte ich, er ist wieder mal in einem gefährlichen Stimmungstief. Ich hatte Florian schon einmal so erlebt. Damals hatte mir sein düsterer Gemütszustand richtig Angst gemacht. Nach einem Streit mit seinem Vater war Florian zwei Wochen lang ungeheuer deprimiert gewesen. Er hatte sich abgeschottet und keinen mehr an sich rangelassen, selbst mich nicht. Man hatte überhaupt nicht richtig mit ihm reden können. All meine Versuche, ihn aufzuheitern, waren vergeblich gewesen. Irgendwann hatte er sich dann wieder mit seinem Vater versöhnt, und von da an ist es wieder besser geworden. Ich hatte nie herausfinden können, weswegen sich die beiden so gestritten hatten. Immer wenn das Thema zur Sprache kam, wurde Florian verstockt wie ein Fisch. Es war zum Wahnsinnigwerden!

Nadine, ich weiß gar nicht, wie ich es Dir schreiben soll. Ich hab schon so oft angefangen und dann den Stift wieder weggelegt. Ich hatte schon so oft Deine Nummer gewählt und habe dann wieder aufgelegt, weil mich der Mut verlassen hat. Aber ich kann es nicht länger aufschieben. Du musst es wissen.

Erinnerst Du Dich an meinen Unfall mit dem Moped? Damals muss es passiert sein.

Alle hielten es für ein Wunder, dass ich diesen Unfall überhaupt überlebt hatte. Doch die Ärzte, die damals mein Leben gerettet haben, sind schuld daran, dass es mir jetzt so schlecht geht. Die Zeit seit dem Unfall war nur ein Aufschub. Ich denke manchmal, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich damals gleich gestorben wäre.

Das klang ja wirklich dramatisch. Das war ganz untypisch für Florian. Er ist eher ein nüchterner Mensch ohne Hang zum Theatralischen oder zu gefühlvoller Romantik.

Ich las weiter.

Zuerst habe ich nur gedacht, dass ich das Klima hier einfach nicht vertrage. Schließlich habe ich alles Mögliche in Erwägung gezogen, eine langwierige Magen- und Darmgrippe, ja, sogar Krebs. Aber niemals das: Nadine, ich habe Aids!

Ich muss damals eine Bluttransfusion mit infiziertem Blut bekommen haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Du bist die einzige Frau, mit der ich bisher geschlafen habe.

Und für Männer interessiere ich mich in dieser Beziehung überhaupt nicht. Man kriegt Aids nicht einfach so, es wird nur auf bestimmten Wegen übertragen. Deswegen schreibe ich Dir.

Ich kann es nicht fassen, dass ich Aids habe. Nadine, ich habe Angst, dass ich Dich angesteckt haben könnte. Damals trug ich dieses verdammte Virus schon in mir, ohne es zu wissen. Wir haben ja nie Kondome benutzt, wenn wir miteinander geschlafen haben, und die Pille schützt nur vor Schwangerschaft, nicht vor dem Virus!

Ach, Nadine! Auch wenn wir uns zum Schluss viel gestritten haben, war es so schön mit uns.

Es darf einfach nicht sein, dass ich so ein Unglück über Dich gebracht habe!

Aber es muss ja nicht sein, dass ich Dich angesteckt habe. Hoffentlich nicht.

Bitte lass Dich testen, Nadine. Und schreib mir bald!

Florian

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich glaube, ich konnte zunächst gar nicht fassen, was ich eben gelesen hatte.

Wie kam Florian bloß auf Aids?

Natürlich erinnerte ich mich noch an den Skandal, der vor einiger Zeit durch die Presse gegangen war: Mit dem Aidsvirus infizierte Blutkonserven waren Patienten verabreicht worden. Verschiedene Firmen hatten die notwendigen Tests nur nachlässig durchgeführt. Angeblich waren etliche Patienten bei Operationen in Krankenhäusern mit dem HI-Virus angesteckt worden. Ich weiß noch, dass ich mich damals über die Skrupellosigkeit der verantwortlichen Leute aufgeregt hatte.

Aber gleichzeitig war in der Presse auch vor unnötiger Panikmache gewarnt worden. Die meisten Blutkonserven waren in Ordnung. Warum sollte ausgerechnet Florian eine von den verseuchten erwischt haben? Die Chancen waren doch wirklich so gering!

Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass sich Florian die Krankheit nur einbildete. Wahrscheinlich hatte er wirklich irgendeine harmlose Virusinfektion, oder er fühlte sich momentan einfach mies. Im Internat schien es ihm ohnehin nicht besonders zu gefallen. Vielleicht hatte er auch wieder Krach mit seinem Vater. Da flüchtete er eben ins Kranksein – ganz nach dem Vorbild seiner Mutter!

Es ärgerte mich jetzt schon fast, dass er mich da mit reinzog. Florian hatte – genauso wenig wie seine Mutter – nie Strategien erlernt, mit Problemen fertig zu werden. Er konnte nicht darüber reden, er konnte sie nicht anpacken, er zog sich immer total in sich zurück oder verlagerte die Probleme einfach auf etwas ganz anderes. Ich kannte das ja.

Aber sich gleich einzureden, er hätte Aids … Das war schon ein starkes Stück. Der Junge sollte sich mal einen guten Psychiater suchen. Er hatte ihn offenbar nötig.

Ich stopfte den Brief zurück in den Umschlag und ging in mein Zimmer.

Ich musste noch ein Referat vorbereiten.

3

Abends rief Marc an.

Ich lag gerade in der Badewanne, Schaum bis zum Hals, als meine Mutter an die Tür pochte.

„Telefon für dich, Nadine.“

Ich knurrte eine Verwünschung, hauptsächlich deswegen, weil wir kein tragbares Telefon hatten.

„Wer ist es?“

„Marc.“

Mein Herz setzte zwei Schläge lang aus. Mir war es gerade gelungen, diesen Namen für eine Weile zu vergessen! Na fein. Nach Stunden geruhte der Typ, sich an mich zu erinnern. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt mit ihm sprechen wollte.

„Ich kann jetzt nicht.“

„Soll ich ihm ausrichten, dass du ihn zurückrufst?“, fragte meine Mutter.

„Sag ihm, dass er in einer halben Stunde noch einmal anrufen soll. Oder besser in einer Stunde, ich will mir noch die Haare fönen“, antwortete ich. Ich fand, dass er sich ruhig etwas anstrengen konnte. Schließlich hatte er mich versetzt.

Meine Mutter gab die Botschaft weiter.