Ich will heute nicht leben. - Diego Bernardini - E-Book

Ich will heute nicht leben. E-Book

Diego Bernardini

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Beschreibung

Diego Bernardini gibt nicht Informationen über das Leiden, er gibt Einblick in das Leiden; er schafft aus dem Leiden facettenreiche literarische Kunst und verweist damit auf die psychischen Gefahren der Gegenwart: Still, smart und schnell wollen und sollen wir funktionieren. Still, smart und schnell - und meistens einsam - kann sich aber ein Mensch auch in den Abgrund begeben. Der Autor plädiert mit seiner Kurzgeschichte für die Verlautbarung des Leidens, für die Entlastung der Seele. Denn die Seele braucht Ausdruck für das Unsmarte, das Brockige, Laute und Unverdauliche, das ihr so oft zugemutet wird.

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Seitenzahl: 44

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Inhaltsverzeichnis

Ich will heute nicht leben

Epilog

Nachwort

Ich will heute nicht leben.

23.30 Uhr. Nichts geht mehr beim Sex: Reiz, Erektion, Orgasmus. Auf Reiz folgt keine Erektion mehr. Das Mannesbild zerfällt. Und ich dachte noch jedes Mal, dass das doch alles nicht so schlimm sein kann. Doch: Das kann es. Das ist es. Und es tut weh. Es nagt. Jede Annäherung löst Panik aus: Ich fürchte mich vor jeder Berührung. Ich habe Angst, dass schon wieder nichts geht, und ich flüchte mich in dumme Ausreden. Ich will nur noch schlafen. Nur noch schlafen. Aber wo hat sich der Schlaf versteckt? Ganz bestimmt nicht im Kissen, in das ich mein Gesicht minutenlang drücke, bis die fehlende Luft meinem selbstmörderischen Getue einen Strich durch die Rechnung macht, und auch ganz sicher nicht an der Decke, die ich stundenlang monoton anstarren kann. Nicht einmal die Lichter der vorbeifahrenden Autos, welche durch die Rollladen musterförmig gebrochen werden, vermögen die Gedanken zu bremsen. Der Schlaf aber hat sich nicht versteckt – er ist gar nicht da, wo ich bin.

Ich bin verschoben.

Nicht dort, wo ich sein sollte. Ich quäle mich aus dem Bett und schlurfe ins Wohnzimmer. Jedem Idioten, der sich irgendwann anmasste, gute Tipps fürs Schlafen zu geben, möchte ich jeden Buchstaben seiner idiotischen Vorschläge auf Brezelgrösse wachsen lassen und ihm in den Rachen drücken. Soll er doch daran ersticken. Idiot. Und zum zweihundertfünfzigsten Mal nehme ich die Hitler-Biografie zur Hand, setze mich aufs Sofa und schlage das Kapitel über den Menschen Hitler – war er wirklich ein Mensch? – auf und lege es ein paar Minuten später wieder zu Boden. Morgen Nacht werde ich es erneut von derselben Stelle aufheben, es öffnen und nach wenigen Absätzen wieder hinlegen. Die ewig gleiche Qual – eine durchwachte Nacht ist eine einsame Angelegenheit. Wut kommt auf. Grosse Wut. Ich schlage mir mit der flachen Hand auf die Stirn: einmal, zweimal, dreimal … hundertmal. Dann kommen die Kopfschmerzen und noch mehr Gedanken schlagen von innen an die Stirn – als ob der Schädel in eine absurde Form gestanzt werden soll. Die Gedanken werden unerträglich, ändern alle zwei Millisekunden die Richtung und erhalten damit noch mehr Schwung, um mich zu quälen, zu analysieren, zu überdenken, zu skizzieren, zu spielen, zu fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen, fragen … Was für ein sinnloses Massaker der Nachtruhe.

Im Erdboden versinken möchte ich.

Durch das Fenster neben dem Sofa schaue ich zum Sternenhimmel hoch, der erstaunlicherweise wolkenfrei schimmert, und ich fluche wie ein Berserker: Ist das alles, was du zu bieten hast? Wie wär’s mit einem Scheissherzinfarkt? Ein verdammtes Erdbeben? Ein Unfall? Die Sterne aber geben keine Antwort. Gott antwortet nie. Er schaut nur herunter, erbarmt sich nicht, macht gar nichts. Er weint manchmal vielleicht über die Barbareien, die wir tagein, tagaus uns und allen anderen antun. Zugeschaut hat er, als wir uns vor hundert Jahren in den Ersten Weltkrieg gefeiert haben: Mit Jubelschreien, Fahnen und Fanfaren sind wir im französischen und belgischen Schlamm stecken geblieben, haben ganze Berge in Norditalien gesprengt und dabei mit flächendeckendem Bombardement ein paar Menschen getötet. Nicht viele. Der Auftakt zum grossen Drama wird lächerliche sechs Millionen Menschen vernichten. Die grosse Party – im zweiten Teil, nach der nötigen Planungs- und Aufrüstungsphase – wird mit der industriellen Kriegsführung neunmal mehr Menschen pulverisieren. Ich versuche mir die Zahl vorzustellen: 56‘000‘000. Die Anzahl der Toten multipliziere ich mit den Eltern, danach mit mindestens drei oder vier Freunden und zwei Bekannten. Verdammt. Im Handy finde ich einen Taschenrechner und tippe ein: 56‘000‘000 x 7. Das Ergebnis lässt sich nicht komplett auf dem Bildschirm anzeigen; ich muss mit dem Finger wischen: Da steht die Zahl von 392 Millionen Menschen, die mindestens eine Träne vergossen haben, einmal traurig waren und einmal den irgendwo vermodernden, durchschossenen, verbrannten Toten vermisst haben.

Jaja – natürlich ist diese Rechnung absurd: Einerseits sind nicht alle Eltern, Freunde und Bekannten der Toten am Leben geblieben, und dadurch würde sich die Zahl der Trauernden reduzieren, andererseits sind zwei Freunde pro Mensch wohl zu wenig. Und ja, verdammt – ich hasse diese Gedankenspiele –, wahrscheinlich gab’s auch Einsame, Verlassene oder Alleinstehende und Arschlöcher, die niemand so richtig vermisst hat. Aber die Zahl bleibt: dreihundertundzweiundneunzig Millionen! Wie lange fliesst eine Träne, bis sie von der Wange fällt? Wie lange trägt man Trauer? Wann hört man auf, einen Menschen zu vermissen? Angenommen, man vermisst einen Menschen zehn Sekunden lang und in diesen zehn Sekunden sind keine schönen, lustigen, guten oder kreativen Gedanken möglich …? Dann sind das … Wo ist das Telefon: Verdammt noch mal! Eine Träne mal zehn Sekunden mal 392‘000‘000 ergibt drei Milliarden neunhundertzwanzig Millionen Sekunden, was fünfundsechzig Millionen Minuten, was eine Million achtundachtzigtausend Stunden, was fünfundvierzigtausenddreihundertundsiebzig Tage, was einhundertsechsundzwanzig Jahre der Trauer bedeuten würden. Und dies bei einer einzigen Träne. Kann ein Mensch eine einzige Träne weinen, nur einmal traurig sein und nur einmal vermissen? Mein Gott. Die Welt hat Jahrhunderte geweint und alles, was wir geerbt haben, ist ein eiskalter Krieg und Dutzende von lokalen Folgekriegen: Indochinakrieg, Koreakrieg, Suezkrieg, Vietnamkrieg, Sechstagekrieg, Afghanistankrieg, Erster Golfkrieg, Falklandkrieg, Zweiter Golfkrieg, Jugoslawienkrieg, noch mal Afghanistankrieg, Scheisskrieg … Und das sind tatsächlich nur die, an die ich mich erinnern kann.