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Brecht und wir? Brecht heute? Kritische Nachfragen in literarischen Phantasien »Ändere die Welt: sie braucht es!« Schlagender hat kein deutschsprachiger Autor den revolutionären Appell formuliert als Bertolt Brecht. Die Welt umzukrempeln und die kommunistische Utopie zu verwirklichen – daran hielt er bis zu seinem Tod eisern fest. In sein Inneres aber konnte niemand blicken, vielleicht noch nicht einmal er selbst. Christa Wolf war irritiert über »diese konstante Weigerung, über sich zu reflektieren«. Und Max Frisch stellt in seinen Erinnerungen an Brecht fest: »Wir kannten ihn nicht«. Das ist der Ausgangspunkt für die literarischen Phantasien dieser vier Nachtstücke aus den letzten Monaten des Stückeschreibers Frühjahr und Sommer 1956: als ihm in der Berliner Charité klar wird, dass sein Herz nicht mehr lange mitmachen wird und seine politische Weltsicht vielleicht genauso wackelig ist; als der Besuch seines Verlegers dazu führt, dass er in maßlosem Hass auf Thomas Mann versinkt; als die junge, hübsche, kluge Praktikantin seine meisterhaften Gedichte widerborstig vom Kopf auf die Füße stellt; als schließlich ein Interview für das Time Magazine im Desaster endet. In der Figur des Stückeschreibers steckt einiges, das von Bertolt Brecht geborgt ist. Trotzdem ist der Stückeschreiber eine Phantasiegestalt. »Im Dickicht« ist eine Fiktion. Sie dreht sich um eine Frage: Warum eigentlich konnte Brecht seinem Dämon nicht mit der gleichen Energie widerstehen, mit der er Gegner bekämpfte? Warum versteckte er sich und schwieg hartnäckig, um sich mehr und mehr in die Rolle des linkisch-listigen Freundlichen, gleichwohl immer Überlegenen zurückzuziehen?
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Seitenzahl: 331
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Matthias Richter
Im Dickicht
Aus den letzten Monaten des Stückeschreibers
Vier Nachtstücke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2024
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Günter Karl Bose / lmn-berlin.de
Foto: Arbeitsplatz des Stückeschreibers
ISBN (Print) 978-3-8353-5745-7
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8738-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8739-3
1 Charité. Mitte Mai
2 Das Reptil kommt zum Scheusal. Mitte Juli
3 Sabine Rehberg. Ende Juli
4 »Playwright of the Century?« Anfang August
EpilogDer Stückeschreiber, Brecht, und ich
Nachweise
Diese Erzählungen sind inspiriert von Details aus dem Leben und den Schriften Bertolt Brechts. Doch ist alles verwandelt und eingeschmolzen in eine erfundene, fiktionale Darstellung.
»Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.«
Der 4. Psalm
»Ich wußte nie, und weiß es auch heute noch nicht,
ob er glaubte, was er sagte.«
Eric Bentley
»Er hat mich gekannt ! Und zwar sehr gut. –
Ihn konnte man nicht kennen.«
Regine Lutz
»Ich bin Stückeschreiber.«
um 1936
»Mein Leben ist hart.«
um 1955, nach Erwin Strittmatter
Wieder eine schlechte Nacht. Unruhe, kalter Schweiß, schwarze Gedanken, trübe Ahnungen in der Wolfsstunde. Er war aufgestanden, als es eben hell zu werden schien. Das weiße Krankenzimmer in der Charité war noch in Grau getaucht. Er holte sich ein Glas Wasser und trank langsam, in kleinen Schlucken – wie gut das tat ! Es gefiel ihm, dass es das allereinfachste aller Getränke war (Labsal der Unteren, formulierte es in ihm). Noch einmal drehte er den schweren gusseisernen Hahn auf – der war offensichtlich auch noch aus der Vorkriegszeit, wie das ganze Klinikgebäude. Er lauschte dem Strahl und sah zu, wie das abfließende Wasser kleine Strudel im Ausguss bildete, sich stetig verändernde, unberechenbare (schon dies Winzige also unberechenbar ?).
Er sah in den Spiegel, in dem nur wenig Genaueres als die dunklen Umrisse seines Kopfes zu sehen waren. Einen Augenblick verharrte er, gab sich einen Ruck und drehte am schwarzen Bakelitschalter: Die Lampe über dem Spiegel ging an. Trübes Zwielicht der schwachen Birne. Weißlich fahl blickte ihn ein alter Mann an. Gewohnheitsmäßig drehte er den Kopf ein wenig nach rechts, dann wieder nach links; immer wollte er den Fotografen die vorteilhaftere Seite zeigen (nicht nur den Fotografen). Er lächelte darüber und drehte den Kopf wieder zurück, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen (heikles Wort, hatte er es vorsichtig genug benutzt ? Nicht immer, ganz bestimmt nicht).
Er ging mit tappenden kleinen Schritten eines alten Mannes ans Fenster und sah hinaus. Noch alles farblos. Lange vor Hahnenschrei, Dämmerung füllte den Garten, erinnerte er sich. Schönes Gedicht ! War das schon in Schweden oder noch in Dänemark ? Doch wohl Svendborg, 1937 oder 38. Der junge Mann, der die Kirschen in seinem Garten stahl, jetzt fiel ihm auch der Titel wieder ein, »Der Kirschdieb«. Der stopfte sich einfach die Kirschen in die Taschen (wurden die da nicht zerdrückt ?) und pfiff ungeniert ein Lied dazu, und als er den Stückeschreiber sah, hörte der Bursche nicht etwa auf, sondern winkte ihm fröhlich zu. Natürlich hatte er nicht die Polizei geholt; die Kirschen denen, die sie nutzen; außerdem mochte er keine – die Maden, und wenn man auf den Kern biss … Er hatte sich wieder ins Bett gelegt, aus dem im Gedicht eine ›Bettstatt‹ wurde. Was ein einziges Wort ausmacht ! Eine Verfremdung ins Zeitlose. Aber darum ging ’s nicht. Nein, da hatte sich etwas Beunruhigendes verborgen. Noch lange hatte der Stückeschreiber den jungen Mann sein lustiges kleines Lied pfeifen hören … (übrigens hatte der die geflickten Hosen nur im Gedicht an, in der Dämmerung konnte er das damals gar nicht genau sehen); der Stückeschreiber machte das wie der Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum: gab seinem Bettler jenes Aussehen, das zu den immer verstockteren Herzen sprach. Der Kirschdieb pfiff ein lustiges kleines Lied, während er selbst sich schlaflos im Bett wälzte – das machte dem Stückeschreiber zu schaffen, damals. Und morgens, wenn er sich erhob ? Musste er mit dem Finger auf diejenigen deuten, die einen Krieg vorbereiteten, der alles vertilgen würde, im Frühling 1938. Wie hatte er den Kirschdieb beneidet ! Nicht um die Freiheit, einfach die Kirschen zu klauen (der klaute Kirschen, er selbst klaute Verse, also ?), sondern weil er dieses lustige kleine Lied pfiff. Wie konnte er nur ! Lebten sie nicht alle in finsteren Zeiten ? Hatte der lustig Pfeifende die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen ? Pfeif weiter, bitte, wie schön, dass du so unbesorgt wirkst – durfte man das sagen ? Er seufzte. Natürlich hatte er recht, natürlich war sein Gedicht an die Nachgeborenen ein Jahrhundertgedicht, und natürlich konnte es gar nicht anders gemacht werden. Schwere Worte in finsteren Zeiten, alle zutiefst berechtigt und richtig. Aber es hatte ihm sehr gefallen, das Pfeifen des lustigen kleinen Liedes. Und wohlgetan.
Hatte er eigentlich ›lustig‹ oft benutzt oder waren seine Sachen ›lustig‹ ? Scharfer Spott, böser Spott, provozierendes Verlachen der Gegner, ätzende Häme, das ja, das bergeweise, und es verschaffte ihm tiefe Lust – immer nur her mit euch, hirntote Tuis, impotente Dichter, Ausbeutergeschmeiß, Sozialfaschisten, Hitler-Idioten, jedem seine Watsche rechts, Watsche links. Aber lustig ?
Auch ! Sei nicht so griesgrämig ! Natürlich lachte er gern, am meisten, wenn er in seinem Theater war, bei den Proben, besonders wenn der Cas dabei war, Salut Caspar Neher, größter Bühnenbildner des Jahrhunderts ! Auch wenn du dich wieder nach Österreich verdrückt und deinen ältesten Freund hier im kalten Osten gelassen hast.
Er verscheuchte die Erinnerungen und blickte wieder nach draußen.
Nein, kein Garten, aber die schönen alten Backsteingebäude der Charité – müsste man nicht alle Gebäude der neuen, besseren, sozialistischen Zeit so bauen wie diese Häuser aus früherer kapitalistischer Umgebung ? Mit großen, hohen Räumen, so hell dank der großen Fenster, vielgegliedert die Fassade, schöne Zierrate alter Maurerkunst – die dem Gebäude das elende Einerlei der modernen Zweckbauten ersparten und den Menschen das Gefühl erlaubten, hier nicht nur winziges Teil eines gleichgültig rotierenden Apparates zu sein. Und so viel Grün mit alten Bäumen und Büschen drumherum, kein Garten, aber fast ein Park.
Wieder in der Charité ! Wann war er das erste Mal hier ? 1923 ? 24 ? Nein, nein, 22 schon, im Winter, Februar, auch damals schon drei endlose Wochen !
Grad war er nach Berlin gekommen, um die Welt aus den Angeln zu heben und seinen künftigen Weltruhm zu organisieren. Vierzig Jahre und sein Werk wäre der Abgesang des Jahrtausends !
Er musste lächeln. Ganz schön frech ! Nein: schön frech; groß und respektlos und gut. Und so wahr ! Er erinnerte sich, dass ihm nicht ganz klar war, was Abgesang genau bedeutete, aber es klang gut. Ach, Berlin ! Immer unterwegs, rasieren, frieren, mittagessen, Telefon, Geschwätz. Visite. Straßen. Kein Tag ohne Theater, andauernd neue Leute, Fäden ziehen, Kontakte knüpfen, in einem Loch hausen, ungern ohne eine Frau im Bett. (Wenn die doch bloß nicht andauernd schwanger wurden, natürlich auch noch gleichzeitig, die Bi und die M und die H und dann die Helli. Stachlige Erinnerung, bloß weg damit.)
Kein Wunder, dass er zusammengeklappt war.
Auch damals war was mit der Niere und der Blase, auf einmal Blut geschifft und dann haben sie ihn hierher geschleppt, halbverhungert, der Bronnen und der Warschauer und die H und die M. Die Niere, die Blase waren immer schon angegriffen. Auch jetzt wieder. Dabei hatte er erst vor kurzem bei Dr. Herfurth diese entsetzlich (entsetzlich !) schmerzhafte Blasenspülung gemacht. Immer war er ein Strich in der Landschaft gewesen, appetitlos, viel zu mager, das Herz nicht in Ordnung, diese Panikattacken in Augsburg. Einmal wurde er halb ohnmächtig, als er die Matthäuspassion hörte. Seitdem hatte er sich Abhärtung verschrieben, kalte Bäder – ein kühler Kopf und vor allem ein kaltes Herz ! Aber dieser Satz über Delacroix, der ihn damals so beeindruckt hatte, der ging doch anders ? Ein heißes Herz in einem kalten Menschen, richtig, so herum. Warum hatte ihn das so fasziniert ? War er das ? Nun ja, es ging immer (nur ? Nur ? Hoffentlich nicht !) um das Werk. Um sein Werk. Dafür schlug sein heißes Herz. Und alles andere – und alle anderen – war das etwa egal ?
Er wusste es nicht. Immerhin wusste er, welcher Diät er sich unbedingt unterwerfen musste – das hatte er 35 sogar mal in einer der extrem seltenen persönlichen Notizen festgehalten: Er musste sich gegen eine Beeinflussung von der emotionellen Seite her stark immunisieren ! Kalt werden. (Kalte Bäder halfen dabei, nicht lachen, bitte.)
Ihm wäre das Wort Panzerung nie eingefallen, und er hätte es wohl auch zurückgewiesen. Aber traf es nicht ziemlich gut ?
Wieder so ein Erinnerungsfunken: Er lag mit G im Bett, vielleicht so Helsinki, 1940 ?, und die fand das da noch ganz lustig, als er sagte, er habe das Gewissen eines Eisklumpens. (Was kümmerten ihn denn die versteinerte Miene der Helli, wenn er aus den Betten der anderen zu ihr zurückkehrte, oder die Tränen der RB ?)
Ja, Berlin, damals. Ein Vierteljahrhundert war das her. Tausend Jahre und so viele untergegangene Reiche und Städte. Diese hier zum Beispiel, steinernes Meer aus Ruinen.
Wie konnte einer mit 58 Jahren so alt sein ! Ein künstliches Gebiss hatte er schon seit Jahren, seit er sich die verfaulten Zähne alle auf einmal ziehen ließ. (Scheußlich. Sprach nie darüber.)
Andersherum: Eigentlich war es fast ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hatte, mit dem Körper und bei den Strapazen ! Die Berliner Jahre, das war ja ein einziger Wirbel. »Trommeln in der Nacht« in München, gleich der Kleist-Preis, der »Baal« gedruckt, der Kurs seiner Marke stieg wie eine Rakete bis zum grandiosen Feuerwerk der »Dreigroschenoper«. Er war schon da schlau genug, einen Teil der Tantieme ins Ausland zu schaffen. Er war erfolgreich und alles andere als unpraktisch und hatte die irre Plackerei des Exils eigentlich gut bewältigt, mit all den Menschen und komplizierten Beziehungen und Tausenden Seiten seiner Manuskripte und dem wirklich gefährlichen Weg von Finnland durch die Schlünde der Moskauer Todesfalle nach Amerika, die unendlich mühsame Eroberung des Theaters nach der Rückkehr, die Gründung des Berliner Ensembles, die langen Jahre des demütigenden Untermieterverhältnisses in Langhoffs Deutschem Theater, verdrossen, bisweilen fast feindselig geduldet, bis er vor zwei Jahren endlich das Theater am Schiffbauerdamm bekam. Und wie die Helli das geschafft hatte, für die neue Drehbühne die Räder eines ausrangierten russischen Panzers zu ergattern. Ein echtes Friedenswerk. Danke, Helli !
Er ahnte übrigens, dass es als Danaergeschenk gedacht war, das Theater am Schiffbauerdamm, auch wenn er Girnus ’, des Kulturbonzen, Memorandum nicht gekannt hatte: dass man ihm ein richtiges Theater geben solle, keine Quetsche, damit die Mühe, es zu füllen, klar werden ließe, wie wenig Anklang sein intellektuell unterkühltes, volksfernes Verfremdungstheater fände.
Na wartet ! Bisher hatte der Riesenerfolg – nicht so sehr beim normalen Publikum, aber bei den Kunstverständigen und den Intellektuellen – dafür gesorgt, dass sie stillhielten, lauernd. Er lächelte. Dafür, dass er sogar abwaschen, Boden fegen, Abfall wegschaffen, Rühreier machen erst lernen musste, hatte er sein Schiffchen erstaunlich gut durch alle Klippen gesteuert. Das Finanzielle übrigens nicht zu vergessen. Aber so oft hatte er das Gefühl, er kenne sich im Leben nicht aus. War das eigentlich schlimm ?
Grad mal ein Jahr war ’s ihm gutgegangen in ›seinem‹ Theater, ein Jahr, dann kam die Erschöpfung und kam die erhöhte Temperatur, mal fast unauffällig, mal 37,5, mal auch 38 und höher, dann wieder runter, immer ging das so.
Jetzt lag er hier, vier Wochen schon.
Und eigentlich – mochte der Professor sagen, was er wollte – wurde es nicht besser. Oder ?
Er öffnete das alte, doppelte Fenster, das auch im Winter die Kälte abhält, und atmete die frühe Morgenluft. Mit dem ersten Licht begannen die Vögel sich zu rühren, und lieblich war die freundliche Melodie der Amsel zu hören, ganz schwarz mit dem gelben Schnabel, nicht zu klein und ganz und gar alltäglich, keine exotische Berühmtheit, sondern tausendfach hier zu Hause, ganz nach seinem Geschmack. Und ja, singen konnte sie auch, die Amsel, und so schön ! Aber es war ja das Männchen, immer der Amselmann, der so schön sang, nicht nur in den Parks der Oberen, sondern auch in den kleinen Gärten der Niederen. Guten Morgen, lieber Kollege !
Ein Krankenhaus schläft nie. Aber um diese Stunde hörte er von den Menschen nichts. Nur Natur.
Hatte Helli recht, dass er eigentlich gar kein Verhältnis zur Natur hatte ?
Vor ein paar Jahren, 1951, war er zwei Wochen in Ahrenshoop an der Ostsee gewesen, Künstlerkolonie, jetzt Parteirefugium; hatte er eigentlich ein einziges Mal den Strand der Ostsee gesehen, steil abfallend gleich hinter dem Wald am Künstlerhaus ? Die anderen fanden ’s großartig, wunderbar, herrlich schön, trieben sich da stundenlang rum, auch seine jungen Assistenten. Doch ! Er war mal hingestapft. Einmal. Und hatte festgestellt: ihm hatte nichts gefehlt; die halbe Stunde war vergeudet. Was Meer, was Strand, was Herumtollen im weißen Sand ! Das große Werk über seine Theaterarbeit musste fertigwerden. Musste. (Unwirsch hatten die Oberen den Druck erlaubt, griesgrämig hatten sie es angesehen, wie eine Fischgräte hatte es ihnen quergelegen, den sozialistischen Kunstwächtern. Übrigens, das hatte ihn gefreut.)
Ein Baum als Baum, eine Blume als Blume, eine Landschaft als Landschaft: sprach nicht zu ihm. Und Natur als Stimmungskulisse und Seelenspiegel und Gottesoffenbarung erst recht nicht – was für dämliche Vokabeln, fauler Zauber, bürgerliche Romantik, verdächtiges Geschwiemel ! Natur musste nützlich sein. Das Nützliche war das Gute. Da brauchte er keine Mystik. Die Landschaft wurde nützlich, wenn man Kanäle graben konnte (gern auch mit ein paar hunderttausend Zwangsarbeitern wie beim Bau von Stalins obskurem Ostsee-Eismeer-Kanal, oder ?), Flüsse, wenn man darin schwamm (ach, Augsburger Jugendzeit; lange her), die Wolga, wenn die Sowjetmenschen, die sie lieben (O Großer Oktober der Arbeiterklasse !), sie bezwangen zur Bewässerung oder für die Stauseen und Kraftwerke des sozialistischen Aufbaus; die Hirse, wenn sie unter Stalins freundlichem Verhör (des Sowjetvolkes großer Ernteleiter. Hm, sollte er wohl mal ändern) zu höheren Erträgen sich erziehen ließ; die schönbaumigen Wälder der finnischen Landschaft mit Birken- und Beerenduft und milder Luft, die nach frischer Milch roch, wenn sie dem verzagten Flüchtling sein schwieriges Handwerk des Hoffens erleichterten, die Stämme der Flöße, wenn … wenn … jetzt sauste der Schrecken, den keine Naturschönheit aufwiegen konnte, doch wieder hinein …, denn das Holz der starken Stämme, war ’s nicht auch das Holz, ohne das kein Holzbein wäre ? Das für Kriegskrüppel der mickrigste Ersatz für das amputierte Bein sein würde ? Damals in Finnland, 1941 … Moment, dann waren es ja Soldaten der Roten Armee, die dem finnischen Arbeiter die Beine wegschossen ? Er musste würgen.
Aber die Bäume in Buckow, wenn er in ihrem Schatten ausruhen konnte von den Anstrengungen zur Bewohnbarmachung der Welt ! Ah, raus aus der erfrischend-erschöpfenden Betriebsamkeit der Chausseestraße und seines Theaters ! (Das mit dem Motorbootfahren auf dem See musste aber jetzt endlich aufhören, hatte er es nicht deutlich genug vom Bürgermeister verlangt ?)
Erst im Nutzen für die Menschen gewann Natur ihren Wert wie die Pappel vom Karlsplatz. Das kleine Haus unter Bäumen am See … Vom Dach steigt Rauch … fehlte der Rauch, wie trostlos wären dann Haus, Bäume und See. (Trostlos ? Manchmal wusste er es nicht.)
Und jetzt ?
Die wohltuend kühle Luft floss in das weiße Zimmer der Charité.
Die Amsel sang.
Für einen langen Augenblick vermochte er es, dem Gesang zuzuhören, ohne etwas zu denken.
Einen ganzen Monat war er nun hier gewesen, morgen wurde er entlassen.
Die Virusgrippe, sagte der Professor, sei soweit (»soweit«) auskuriert. Das Herz sei offenbar in »erfreulichem Zustand«, nun ja, da sei die Insuffizienz der linken Herzklappe, die Pumpleistung behindernd. Das Röntgenbild sei zwar schon älter (von 1951 !), aber, sagte der alte Gelehrte (war nicht mehr ganz auf der Höhe der medizinischen Erkenntnis, flüsterten manche), das neue, höher auflösende Gerät sei eben noch nicht da, man müsse sich behelfen (und, davon mochte Professor Behrens erst gar nicht reden, das ganz neu auf den Markt gekommene, fabelhaft handliche amerikanische EKG-Gerät von Cambridge Instruments, Ossining, New York, stand zwar im Regierungskrankenhaus in der Scharnhorststraße, aber noch nicht in der Charité (nicht in der Charité !), könne zwar geholt werden, aber.
Warum, hatte Behrens sich gefragt, war der weltberühmte Dichter und Stalinpreisträger nicht sowieso im Regierungskrankenhaus ? Er gehörte doch wohl zur Nomenklatura ?
Er würde also morgen entlassen werden. Ja, zwei Stunden Probenarbeit am Vormittag seien in Ordnung (der »Galilei«, sein wichtigstes, sein persönlichstes Stück, musste fertig werden, und zwar perfekt; aber alles dauerte so lange, jede Szene wurde Satz für Satz noch mal neu diskutiert und dann in endlosen Varianten probiert, die Gewichte immer wieder neu austariert, ob der Busch den Galilei wirklich genügend scharf als moralisch zweifelhafte Figur würde gestalten können, hatte sich der Stückeschreiber immer wieder gefragt. Erich Engel, ausgerechnet der so erfahrene, lebenskluge und mit so großer Autorität begabte Erich Engel, der die Proben in der Zeit des Krankenhausaufenthaltes leiten sollte, hatte sie einfach ausgesetzt, er könne das nicht). Aber Schonung, Schonung. Und Diät, ja, Diät !
Hätten sie im Regierungskrankenhaus nicht mehr für ihn tun können – wenigstens eine präzisere Diagnose stellen mit der Abklärung des systemischen Zusammenhangs der Harnleiterinfektion und der Endocarditis und sie vor allem mit den neuesten Antibiotika bekämpfen ?
Müßige Fragen.
Er lag in der Charité, nicht im Regierungskrankenhaus.
Hätte er überhaupt gewollt ?
Ja, das Herz, Professor Behrens: in »erfreulichem Zustand« ?
Als er heute aufwachte gegen Morgen zu und die Amsel hörte, wusste er es besser.
Er würde sterben, bald.
Er spürte, wie sich ein Gedicht formte, fast konnte er sich selbst dabei belauschen. Schnell nahm er das Blatt, das auf seinem Nachttisch lag (ach, nur der Diätplan) und kritzelte die Verse drauf. »Keine Todesfurcht mehr … Jetzt gelang es mir, mich zu freuen alles Amselgesanges nach mir auch.«
Gut !
Er trank noch ein Schlückchen Wasser.
(Keine Todesfurcht mehr ? Er glaubte es sich, als er das schrieb. Aber peinigend war jedenfalls die Vorstellung, lebendig begraben zu werden. Deshalb hatte er ja schriftlich verlangt, ihm nach dem Ableben mit einem Stilett ins Herz zu stechen, dass er auch wirklich tot wäre – die verblüfften Ärzte haben dann dem Toten die Arteria femoralis im Oberschenkel durchtrennt, das mit dem Stilett war doch zu theatralisch, und sie hatten auch keins. Und in einem Stahlsarg wollte er begraben werden. Da staunten sie. Wir haben ihn nicht gekannt, sagte später jemand. Gut so.)
Vor dem Fenster, in Steinwurfnähe, lag der Humboldthafen. Er sah auf das Wasser, fast ein schwarzes Loch – in jeder Hinsicht, dachte er. Denn dahinter lagen die westlichen Sektoren, lag Westberlin.
Die kühle Luft, die durch das geöffnete Fenster strömte, tat gut. Er hörte das quietschende Schleifgeräusch der ersten S-Bahn-Züge auf der Humboldthafenbrücke. Er hatte das Geräusch immer gemocht. Die erleuchteten Wagen. Von Ost nach West, von West nach Ost. Das ging immer noch. Aber war Berlin nicht längst eine geteilte Stadt, auch wenn Tausende noch diesseits der Sektorengrenze wohnten und jenseits arbeiteten ? Besonders wer eine billige Wohnung im Ostsektor hatte und im Westen arbeitete, kam gut über die Runden, aber auch alle, die mit Westgeld im Osten die heruntersubventionierten Lebensmittel kauften. Und dann die vielen, die der sozialistischen Republik den Rücken kehrten – aus Dummheit, wie er immer wütend rief. Tausende, jeden Monat. Obwohl er für die Wiedervereinigung einzutreten schien – auch hier wusste er nicht, was er sich darunter vorstellen sollte –, fand er es richtig, leider richtig, dass die Staatsgrenze seit 1952 abgeriegelt war, misslich für die Bewohner im Grenzgebiet, aber notwendig, ja, das fand seine stumme Billigung. Und das Schlupfloch Berlin ? Über lang oder kurz musste auch die Grenze nach Westberlin abgeriegelt werden. Der Aderlass war nicht länger hinzunehmen. Sahen das nicht selbst die Amis so ? Die Republik blutete aus, gerade die technische Intelligenz, Ingenieure, Ärzte rannten davon. Waren sie als bürgerliche Intelligenz auch immer verdächtig, so waren sie trotzdem unentbehrlich, solange die marxistisch-leninistisch gefestigten jungen Ärzte, Ingenieure und Wirtschaftsfachleute noch nicht in genügender Zahl zur Verfügung standen. Wie so eine Abriegelung genau aussehen würde, wusste noch niemand. Sie würde schmerzhaft werden, sehr schmerzhaft, da durfte man sich keinen Illusionen hingeben, eine Mauer vielleicht ? Ihn schauderte.
Aber eine neuerliche Blockade wie 48/49 kam ja wohl nicht infrage. Zwei Millionen von allem abschneiden ? War das noch gute Lenin ’sche Politik ? Er war da mal zu einer Diskussion im Westteil der Stadt – in der Blockade-Frage sei man deutlich in der Defensive, notierte er in seinem Journal. Mehr nicht. Auch hier also: Schweigen. Der sonst so Beredte: schwieg beredt. Oder ratlos ? Fühlte er sich wenigstens unwohl ? Er mochte nicht daran denken.
Gutgelaunt aber war er dann wieder mit seinem Spottgedicht auf die Ammiflieger dabei, die Kartoffelkäfer über der demokratischen Republik abgeworfen hätten (hatten sie ? Wer hatte ihm gesagt, das sei Unsinn, die verfluchten Käfer wüteten im Westen genauso und diese dämliche Saboteure-Agenten-Hysterie erschwere nur die wirksame Bekämpfung der Plage. Ach, gäbe es in der Wirklichkeit doch die klaren Wahrheiten seiner Ideologie und Dramen ! Auch über dieses blöde Gedicht schwieg er lieber).
Also besser eine Mauer quer durch die Stadt ?
Schauderhaft notwendig.
Wenn er es noch erleben würde (nein, würde er nicht. War da eine Spur Erleichterung ?): Sollte er abermals schweigen, wie zur Blockade ? Nein, nein, das war rhetorisch viel einfacher, lagen die Phrasen nicht schon längst im Depot ? (Es wäre der Westen, der die innere Mauer zum demokratischen Sektor im Osten längst errichtet hatte; alle Gesprächsangebote zur Wiedervereinigung zurückgewiesen; die Stalin-Note barsch abgelehnt; lockte die Ostberliner unentwegt in die Westsektoren; fortwährende Bedrohung, die abgewehrt werden musste; antifaschistischer Schutzwall … Ja, so würde es gehen. Zerfiel ihm aber im Mund wie modrige Pilze.)
Westberlin ! Natürlich fuhren sie da manchmal hin, auch zum Einkaufen, es gab nun mal nicht alles – vieles nicht – in ihrer Republik. Er war jedes Mal entsetzt, wie schnell sich die westlichen Sektoren in den letzten Jahren wandelten, wie viel da gebaut wurde, wie viele Autos da fuhren, wie sich die Kleidung der Menschen veränderte, ihr Gang gelöster wurde; die hellen Farben, die Leuchtreklame … Gefährliche Lockmittel des amerikanischen Imperialismus, gewiss, bei schamloser Beschweigung der Nazi-Greuel und noch schamloserer Wiederzulassung der Nazi-Täter zu Amt und Würden, das gewiss – aber leider wirksam bei den vielen, die noch nicht dialektisch geschult waren …
Er spürte ein Ziehen in der Brust. Ja, das waren nun seit zwanzig Jahren seine täglichen Begleiter, diese Worte, diese Gedanken. Es war sich seiner Sache sicher. Aber so ganz und gar ? Was war da ?
Er war unruhig. Sollte er den Bademantel anziehen und auf dem Gang ein paar Schritte machen ?
Er verharrte einen Augenblick unschlüssig, verwarf den Gedanken dann aber. Das Glas war leer. Er sah zur Decke. Hoch die Räume hier ! In der Mitte hing die Lampe, an der Decke befestigt eine vernickelte Stange, ziemlich lang, die eine Milchglaskugel hielt. Das Licht ein bisschen funzelig, aber die Lampe zeitlos schlicht. Sie gefiel ihm.
Vorige Woche war die Glühbirne kaputt. Es kam ein Handwerker im grauen Kittel mit einer Klappleiter aus Holz. Der Stückeschreiber hatte das mit großem Interesse verfolgt. Es war ihm ein Vergnügen, bei solchen Verrichtungen einem Fachmann zuzusehen: Wie machte der das wohl ?
Ruhig war der Mann auf die Leiter gestiegen, bis die Glaskugel ungefähr auf Kopfhöhe war. Festhalten konnte sich der Mann nicht. Wie würde er die Glaskugel abbekommen ? Aha, mit der linken Hand hielt er sie fest, mit der rechten drehte er mit behutsam regulierter Kraft drei Rändelschrauben los, mit der die Kugel befestigt war (die hatte der Stückeschreiber nie wahrgenommen). Der Mann im grauen Kittel nahm die Kugel vorsichtig nach unten ab und hielt sie mit der linken Hand fest, immer noch mit beiden Beinen auf der Leiter balancierend, und versuchte die Glühbirne zu lösen. Was, wenn sie festsaß ? (Er hatte das mal in der Wohnung erlebt. So was machte immer die Helli. Oder einer der jungen Leute.) Der Stückeschreiber hielt die Luft an. Er sah förmlich wieder diese sanft dosierte Kraft in den Fingern des Handwerkers. Wie spannend ! Der Handwerker blieb ganz ruhig. Ja, so ging es – die Glühbirne ließ sich herausschrauben. Der Mann steckte sie in die rechte Tasche seines Kittels, holte die neue Birne aus derselben Tasche und schraubte sie ein, die fußballgroße Milchglaskugel immer noch in der linken Hand, immer noch auf der hohen Leiter ruhig das Gleichgewicht haltend. Die Glühbirne flackerte auf, ohne dass sich der Mann erschreckte. »Mehr als vierzig Watt gibt ’s leider nicht bei uns«, sagte er entschuldigend zum Stückeschreiber, »könnten Sie bitte mal das Licht ausschalten. Blendet.« Dann setzte er die Glaskugel behutsam wieder an und drehte die Halterungsschrauben fest. Er prüfte deren Andruck und Sitz noch einmal und stieg die Leiter wieder hinab. »Hoffe, die hält ’ne Weile. Die Lampen aus ’m Westen sind besser, aber zu teuer. Schönen Tach noch !«
Der Stückeschreiber hätte das nicht gekonnt – hatte es nie gekonnt, hätte überhaupt nicht gewusst, wie die Milchglaskugel loszubekommen wäre, und das auf der hohen Leiter ! Wollte er nicht mal Tischler werden ? Ach was, war auch nur so ein Ausprobieren von Gedanken und Worten … Ja, Autofahren, das konnte er, immerhin. Aber Werkzeug, Handwerkern, Haushalt ? Als er Anfang 46 in New York war (ach, die RB da in der Klinik ! Ihr gemeinsames Kind tot, sie selbst psychisch im Abgrund, schrecklich, aber er konnte doch nichts dafür, oder ?), da fiel ihm plötzlich auf, wie die Helli das so lange gemacht hatte, weil er das jetzt selber machen musste, sogar das Kochen, also kochen war zu viel gesagt, Rühreier und Suppen (Dosensuppen natürlich). Stolz wie ein Zehnjähriger hat er das der Helli geschrieben, »ich lerne: Gläser + Tassen spülen, Boden fegen, Abfall wegschaffen«. Ja, das war gewaltig. Für ihn. So was machen wie dieser Handwerker ? Außerhalb aller Möglichkeiten.
Er aber konnte schreiben. Wie keiner sonst.
Er hatte sich alles gemerkt und würde es vielleicht in sein Notizbuch schreiben; er wusste jetzt vor allem, wie das im Theater zu spielen wäre; die Szene dazu würde sich finden. Wirklichkeit und Literatur: zwei Welten, immer wieder musste er daran denken. Er hatte beobachtet, darauf kam es an. Das Artistische, wiederholte er sich, das jedenfalls war ihm ernst, ganz und gar ernst.
(Dann, leider, noch eine Stimme, grämlich, verbraucht: Mach noch eine Keunergeschichte daraus, erzieh sie, immer erzieh sie … Herr Keuner wurde gefragt, ob der Aufbau der Sozialismus nicht viel zu schwierig sei und viele Menschen überfordere … und er erzählte die Geschichte vom Handwerker, der die Birne wechselt … Brauche dein nützliches Können wie ehedem, du musst gar nichts neu lernen, außer es jetzt für die Große Ordnung zu verwenden. Es ist so einfach. – Nun ja. Seine gute Laune war weg.)
Die Glühbirne war noch in Ordnung. Das mit dem Funzeligen stimmte aber. So, so, die Birnen aus dem Westen … Ärgerlich. So lange es nur Glühbirnen wären. (Waren es aber nicht ! Lieber an was anderes denken.)
Er betrachtete die weißen glasierten Kacheln neben dem Spiegel über dem Waschbecken. (In den Spiegel mochte er nicht schon wieder kucken, er sah den verbrauchten alten Mann nicht übermäßig gern.) Er fuhr mit den Fingern über die Kacheln. Wie glatt, wie kühl, wie angenehm. Alles alt, aber wie lange hatte es gehalten und sogar die Feuerstürme der Bombennächte überstanden. Die Finger ertasteten eine winzige Unebenheit, mit einer ganz leichten Schärfe, fast konnte man sich daran schneiden. Wie gut die Fingerkuppen lesen konnten. Zu sehen war nichts – doch ! In der Glasur sah er jetzt einen feinen Riss, der sich durch zwei, drei Kacheln zog. Einen Haarriss.
Das war es: ein Haarriss – in seinen Gedanken. Eine stumme Frage, ganz fein, schwer zu sehen, kaum zu ertasten. Er bekam sie nicht zu fassen, aber sie war beunruhigend. Etwas war nicht ganz in Ordnung. Was wäre, glaubte er jetzt die Stimme hinter der türlosen Wand in seinem Inneren zu hören, wenn sich im Westen ein brauchbares Gemeinwesen entwickelte, das … Er musste abbrechen. Ihm wurde fast übel.
Ein Haarriss, ja. Ihm fiel der Brief ein, den Max Frisch vor ein paar Tagen geschickt hatte. Er hatte die freundlichen Worte gern gelesen, die Beilage aber nur überflogen; es schienen noch mal Erinnerungen an die Monate in Zürich damals zu sein, 1947, 48, als sie sich oft dort getroffen hatten. Auch schon wieder fast zehn Jahre her ! Aber hatte er das nicht schon in Frischs »Tagebuch« gelesen, warum denn jetzt noch mehr ?
Der Haarriss, irgendeine Bagatelle aus der Zürcher Zeit ?
Er tastete sich heran. Zürich, vor sieben, acht Jahren. Es war Sommer, alles grün, die eigenen Aussichten ziemlich kümmerlich, die meisten Schauspieler vorsintflutlich spielend, die Schweizer Fremdenpolizei kalt abweisend, von den Amerikanern mit feindseligen Dossiers über den Stückeschreiber gefüttert – aber die Gespräche mit Frisch waren eine mehr als angenehme Abwechslung. Frisch (wie alt war der da ? Grad dreißig wohl) hatte einen Architekten-Wettbewerb für ein Schwimmbad gewonnen und konnte es jetzt bauen. Das war gut: Der Stückeschreiber konnte weg vom Schreibtisch und auf die Baustelle. Wie plante man so ein großes Freibad, wie wurde es gebaut, welche praktischen Probleme ergaben sich dabei, wie wurden sie gelöst ? Würden sich die Arbeiter den Eintritt leisten können ? Ungeheuer interessant ! (Leider hatte sich der Frisch dann immer stärker seinen schriftstellerischen Ambitionen hingegeben und jetzt auch noch einen dicken Roman geschrieben – musste das sein ? Gelesen hatte er »Stiller« natürlich nicht, wozu ?)
Für Frischs Bericht über die Begegnungen mit ihm hatte der Stückeschreiber sich freundlich bedankt. Er hatte die Beschreibung nach einigem Fremdeln »mit Spaß« gelesen – »wie die eines Menschen, den ich selber flüchtig kenne«. Jetzt gefiel ihm die Formulierung nicht mehr besonders. Hatte er das so gemeint, oder war es ihm nur unterlaufen ? Kannte er sich selbst denn nur flüchtig ?
Die H hatte ihm sein Arbeitstagebuch gebracht (irgendwann musste es ja veröffentlicht werden, und jetzt hatte er die Zeit, es mal durchzusehen), ah, der Teil über die Zürcher Zeit war tatsächlich dabei. 11. Juni 48: mit Frisch große Neubausiedlungen besichtigt, Drei- und Vierzimmerwohnungen, Häuserfronten nach Süden, ja, ein bisschen grün, ja, sogenannter moderner Komfort, also Wohnungen mit Bad und Küche mit Elektroherd … Ah, hier: »aber alles winzig, Gefängniszellen, Räumchen zur Wiederherstellung der Ware Arbeitskraft, verbesserte Slums«.
Er blickte hoch. Natürlich, der Blick geschult an den Klassikern, war dem Stückeschreiber in wenigen dialektisch brillanten Zeilen eine Entlarvung kapitalistischer Machenschaften gelungen, keine Gefühlsaufwallung, keine Moral, einfach eine knappe, harte Wahrheit markiert. Verbesserte Slums, was sonst.
Er nahm die Brille ab und kaute sanft am Bügel.
Alles wahr. Trotzdem, der Haarriss.
Etwas beunruhigt, ohne sagen zu können, warum, kramte er Frischs Brief hervor. Bei dem trüben Licht – draußen Halbdunkel, drinnen die funzelige Glühbirne. Er holte die Lesebrille und setzte sich direkt unter die Lampe. Na, so halbwegs; immerhin war alles getippt; schrieb wohl auch nicht so gern mit der Hand. Er lächelte: eine Gemeinsamkeit.
Da stand allerlei, auch was der Stückeschreiber gar nicht wissen wollte (warum sah der Frisch auch so genau hin ? Der Stückeschreiber erlaubte niemandem, hinter den Vorhang zu sehen; da sei nichts, behauptete er immer, und glaubte es auch wohl selbst).
Er staunte: dieselbe Episode, aber mit einer bösen Pointe, sieh an !
Sie fahren also da herum in Zürich, Neubausiedlungen am Stadtrand samt Krankenhäusern und Schulen (ach, so was auch ?), dann die Wohnungen … Der Stückeschreiber »anfänglich verwundert über so viel Komfort, der Grundfragen nicht zu lösen gedenkt – plötzlich: sämtliche Zimmer zu klein, viel zu klein, menschenunwürdig; brach ungeduldig die Besichtigungsfahrt ab – wollte an die Arbeit – zornig.« (War er das tatsächlich: zornig ? Ja, natürlich, und wie ! Sein Wutschock, wie er ihn häufig befiel, seit er sich erinnern konnte, und ihm fast die Besinnung raubte. Jetzt fiel ’s ihm wieder ein.) »Daß eine Arbeiterschaft auf diesen fortschreitenden Schwindel reinfällt – hoffte, das sei nur in dieser Schweiz möglich, Sozialismus zu ersticken durch Komfort für alle«.
Das war es also.
Er setzte sich kraftlos auf die Bettkante und fühlte sich alt und traurig.
Er erinnerte sich wieder: Zorn. Und Angst … Was steckte da noch drin in diesem Gebräu ? Gefühle, dachte er erbittert. Er wusste schon, warum er sie verdächtigte, unklares, schmieriges Zeugs … Und nicht auszurotten ! Jetzt ploppte Zorn nach oben.
Dass Frisch das so genau beobachtet hatte, wie ärgerlich !
Er sah wieder aus dem Fenster. Die schummrige Silhouette Westberlins. Die Neubauten dort. Würde auch da die Arbeiterschaft auf diesen Schwindel reinfallen ? Komfort, der Grundfragen nicht zu lösen gedenkt.
Ja. Die Grundfragen. Aber wieso denn Plural ? Es gab ja nur eine. Die Gretchenfrage. Der gordische Knoten. Der archimedische Punkt. Die Klassiker hatten die Lösung gefunden, die eine Lösung, ohne die alle anderen Lösungen nur betrügerische Scheinlösungen waren, und er wiederholte es nun seit Jahrzehnten: »Sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen !«
Der Schleier lichtete sich. Die Erregung flaute ab. Der Stückeschreiber sah wieder auf die Papiere, die er in der Hand hielt.
Ach so, das hatte Frisch auch noch geschrieben, dass der Stückeschreiber zornig auf ihn sei. Ja, natürlich, Zorn, die grell aufschießende Lohe des Zorns, der Wut, des Hasses, die sich an der Vernunftpolizei vorbeigestohlen hatte, er kannte das doch nur zu gut ! Frisch war unverkennbar Sozialdemokrat, linker Sozialdemokrat, kritischer Sozialdemokrat oder was auch immer, aber Sozialdemokrat. Gab es denn eine Entschuldigung für ihn, dass er blind war für die Wahrheit ? Die Wahrheit der Klassiker lag griffbereit vor ihm, gerade in Zürich, wo Lenin im Exil gewesen war und bahnbrechende Schriften verfasst hatte, und dieser junge Architekt-Schriftsteller weigerte sich, die Wahrheit zu sehen ? Hatte er sich denn die Augen ausgerissen ?
Neun Schritte zum Fenster, neun Schritte zur Wand gegenüber, neun Schritte … Die rote Wolke hob sich … Natürlich war Frisch eine Art Verbündeter, blind für die Lösung, oder nur ungläubig ? Könnte vielleicht den Durchbruch noch schaffen ? Sein Damaskus erleben ?
Der Zorn ebbte ab. Aber was puckerte denn immer noch weiter ? War da etwa noch was ?
Sozialismus ersticken durch Komfort für alle …
Es war Angst ! Wie eine faulige Blase tauchte vom Grunde des Gefühltümpels die Angst auf.
Aber wovor ?
Der Stückeschreiber strengte sich an. Es war so ungewohnt, nach Gefühlen zu stöbern, so unbehaglich, so überaus lästig. Er bekam es nicht gleich heraus.
Vielleicht so: Was wäre, wenn es nicht nur in der Schweiz, sondern auch in diesem offenbar unrettbar verdorbenen Westdeutschland gelänge, die Arbeiter zu bestechen ?
Er wartete.
Nein, das war ’s nicht. Das wäre schrecklich, ja, aber warum sollte ihm das Angst machen ?
Woher also dann die Angst ?
Der Abgrund, dem er vorhin schon einmal nahegekommen war. Da war es wieder: Was wäre, wenn es doch noch einen anderen Weg zu einer halbwegs menschenwürdigen oder wenigstens erträglichen Gesellschaftsordnung gäbe ? Jenseits oder diesseits oder neben der kommunistischen, deren Aufbau seit fast dreißig Jahren alle seine Hoffnungen galten und der er seine gesamte Arbeit widmete ? (Das war doch so, oder ?)
Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen ! Hoch Lenin ! Unser Lehrer ! O Großer Oktober der Arbeiterklasse !
Er hielt sich am Bett fest und holte tief Luft.
Was wäre, wenn.
Der Haarriss. Er durfte sich nicht vergrößern ! (Oder ?)
Er kaute auf der Unterlippe.
Die Brühe der Verwirrung war noch nicht abgelaufen. Aber der Stückeschreiber sah jetzt: Auf dem Boden, da hockte er selbst. Und ganz, ganz leise hörte er eine (seine ?) Stimme: Bist du denn richtig abgebogen, damals ? Es geht um dich selbst, mein Lieber.
Vor seinen Augen entrollte sich das chinesische Wandbild, das jetzt in seinem Schlafzimmer hing; morgens das Erste, was er sah, jeden Morgen – und sein großartiges Gedicht vom Lob des Zweifels, das er vor zwanzig Jahren geschrieben hatte. Wie hatten sich die Klügsten vor ihm verbeugt, seht, der Weise, er selbst ruft uns auf zum Zweifeln ! – Aber nein, aber nein, ob ihr die richtigen Schritte im Klassenkampf ergriffen habt, nur daran solltet ihr zweifeln, aber an der ewigen, unverrückbaren, das Universum tragenden, die Geschichte aller Menschengeschlechter umspannenden Wahrheit der Klassiker, daran sollt ihr nicht zweifeln, ihr Idioten ! Was glaubt ihr eigentlich, rief er ihnen zu, weshalb ich, der ich sonst keine einzige Fotografie eines menschlichen Antlitzes in meiner Werkstatt dulde, diese drei täglich vor Augen zu haben wünsche ? Guten Morgen, Karl Marx, guten Morgen, Friedrich Engels, guten Morgen, geliebter Wladimir Iljitsch, der du dich Lenin nennest !
Er schloss die Augen und rollte das Bild des Zweiflers wieder zusammen. Ein kleiner Gedanke blieb noch kleben: Nein, nein, schau hin, lies genau: Das Lob des Zweifels darf auch von den neuen Herren, den Sachwaltern des sozialistischen Aufbaus in der nagelneuen Republik nicht haltmachen, nicht wahr ? Und vor den Erzvätern, deren Fotografien er am Morgen begrüßte ? Na bitte, da ist er doch schon, der Zweifel, oder ?
Er lächelte. War ’s bitter ? Neugierig ? Fast erleichtert ? (Nein, erst mal nicht.)
Ah, die Charité ! Er betastete die Wände. Gemauert, verputzt, getüncht. Hundert geübte Arbeiter hatten das gemacht, nach den Regeln ihrer Kunst. So und so die Ziegel, den Mörtel mit gekonntem Schwung der Kelle, grad richtig die Menge, abgestrichen, den nächsten Ziegel schon in der rauen Hand, die Hornhaut ist gut für die Arbeit, aber auch die Haut der Geliebten zu streicheln ? Und ein Krankenhaus habt ihr gebaut ! Hier liege ich, die Heilkundigen können mir nicht mehr helfen; ich wünsche euch, ihr Maurer, dass sie euch helfen können, wenn ihr einmal hierher müsst.
Ja, Zürich … das gute, menschenwürdige Bauen …
Henselmann, sein Freund, der Ostberliner Baudirektor, baute die prachtvollen Häuser an der Stalinallee. Der hatte auch schon mit seinem Hochhaus an der Weberwiese den Arbeitern im Auftrag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (und der Russen, klar) demonstriert, wie großartig sie im entwickelten Sozialismus wohnen würden (aber wann denn nur ?). Henselmann erklärte dem Stückeschreiber lachend, dass diese Vorzeigebauten – Weberwiese, Stalinallee – gesellschaftlich zwingend notwendig, aber natürlich vollkommen unwirtschaftlich waren, gute, optimistische Propaganda, was für die Wochenschau, Augenwischerei, na ja – hier wurde Henselmann ein bisschen betreten – Lüge fast. Sechsundneunzig Quadratmeter für die Dreizimmerwohnung ! Das Parkett, die Bäder, die Küche, die herrliche Fassade, die Henselmann seinem ersten Entwurf verpasst hatte, nachdem die sowjetischen Genossen angedeutet hatten, dass nackte Moderne nun gar nicht erwünscht sei und man – bitteschön – Elemente der progressiven bürgerlichen Tradition aufzunehmen habe (Schinkel, das sei Schinkel, hatte der Architekt den Genossen dann eifrig dargetan und weisgemacht). Neunzigtausend Mark Baukosten für eine Wohnung ! Das konnte sich der junge sozialistische Staat, chronisch unterfinanziert, gar nicht leisten (die Sowjetunion übrigens auch nicht; der Stückeschreiber hatte schlucken müssen), und es würde Jahrzehnte dauern, bis er es sich – vielleicht, vielleicht auch nicht – würde leisten können. (Aber es musste schneller gehen !)
Wie freudig – und wirklich: aus vollster Überzeugung ! – hatte sich der Stückeschreiber an die Inschrift gemacht, die an diesem Palast des neuen, sozialistischen Wohnens an der Weberwiese angebracht werden sollte, … dass sie den gut behause, der sie gebauet hat ! (Gebauet hat; eigentlich hasste er diese metrischen Silbenergänzungen, war doch bürgerlich-pathetisch, oder ?)
(Wohnten da eigentlich Arbeiter ?)
Was dann finanzierbar war – Entwürfe waren in der Diskussion –, sah natürlich ganz anders aus. Der Stückeschreiber hörte von wirtschaftlichen Grundsätzen, von Kubaturen, von Einheitsgrundrissen, von vorgefertigten Betonplatten, von Problemen der Materialbeschaffung und Fertigungsqualität. Riesige Blöcke in großen Ballungen und langen Fluchten, die ihm schauderhaft schienen und ziemlich ohne die von ihm beschworene Weisheit des Volkes entworfen wurden. (Würde der Stückeschreiber sie trotzdem besingen ?)
Er war unangenehm berührt, als er erfuhr, dass eine Dreiraumwohnung dann nur noch zehntausend Mark kosten durfte und nur noch 60, 65 Quadratmeter groß sein würde (lichtlose Küche, lichtloses Bad, o Jammer, und die Planer nannten das ganz arglos ›gefangenes Bad‹). Ja, und das waren dann leider ziemlich genau die Maße der westdeutschen Sozialwohnungen, die der Klassenfeind schon in großem Stil neu errichtete. Und es war ziemlich genau das, worüber er damals, in Zürich, so außer sich vor Zorn geraten war.
Trotzdem – er würde immer dabei bleiben, öffentlich jedenfalls, mit wieviel knirschendem Sand zwischen den Zähnen auch immer: Eine Fünfundsechzigquadratmeterwohnung in der Deutschen Demokratischen Republik – hui ! – ohne Rücksicht auf Gewinn und zum Behagen der Bewohner gebauet; im Westen – pfui ! – eine Gefängniszelle, verbesserte Slums. Denn schließlich wohnte man nicht nur in Wohnungen, sondern auch in Eigentumsverhältnissen.
So, das hätte er repariert.
Er war erschöpft. Solche Sachen häuften sich, leider.
Nach den Mühen der Berge kamen die Mühen der Ebenen. Lange hatte er sich mit diesem unsagbar schönen Satz selbst beruhigen können. Nur noch die Mühen der Ebenen. Und wenn neue Gebirge auftauchten ? Das ginge vielleicht noch – obwohl, eigentlich gab es in seiner Weltkarte nur dieses eine einzige Gebirge der Eigentumsverhältnisse, und wenn das einmal … Aber wenn er eine falsche Karte hatte ?
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Nicht schon wieder !
Der Haarriss.
Eigentlich durfte er Max Frisch nicht böse sein. Es war schon richtig, was der herausgespürt hatte, leider, blöd war der nicht, und würde das, noch schlimmer, auch so veröffentlichen. (Hoffentlich erst post mortem. Und vor allem würde sich der Stückeschreiber das witzlose Witzwort von den Arbeiterschließfächern nicht mehr anhören müssen, das später angesichts der riesenhaften Betonballungen am Rande der ostdeutschen Städte aufkam, und erst recht nicht die Gemeinheiten dieses Heiner Müller: Fickzellen mit Fernheizung von Rostock bis Johanngeorgenstadt …)