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Die 26 Geschichten spielen im Dorf Waabs und auf der Halbinsel Schwansen. Sie handeln von der Veränderung der Landwirtschaft, von Gutsbesitzern, von Pastoren, vom Dorfleben, von Schriftstellern, von der Nazizeit, von der Liebe, der Landschaft und einzelnen Menschen. Oder wie der Rock'n Roll in den Norden kam, wie Wind und Wetter spielen und wie die Energiewende Einfluss nimmt. Vom Meer und der Weite des Meeres. "Wir sollten uns erinnern, wir sollten die Geschichten ausfindig machen und uns erzählen, um zu verstehen. Geschichten weitergeben, darüber sprechen und aus der Vergangenheit lernen. Wir sollten offen sein, auch wenn das Erinnern schmerzt. Aber wir sollten es tun. Wir sollten Kapitäne unserer Erinnerungsfahrt werden, das Steuer in die Hand nehmen, sonst werden wir instrumentalisiert und von falschen Geschichtswächtern überrannt. Meine Geschichten sind aus dem Augenblick des Beobachtens geboren, Geschichten, die oft eine lange Herkunft haben. Geschichten, wie ein Gemälde mit Musik, ein Stück mit einem Motiv oder nur Eingebung. Ich durchlebe die Geschichten inmitten des Dorfes. Ich begebe mich auf eine gemeinsame Wanderung mit Freunden, mit Verwandten, mit Kumpeln, Bekannten - mit realen und erfundenen Charakteren. Das reale Leben hat sich oft anders abgespielt. Wir wissen nicht alles über das Leben in der kleinen Gemeinde. Es handelt sich um Geschichten, es ist kein Portrait und noch weniger eine Seelenschau, aber Stücke, die sich zum Ganzen fügen, und manchmal decke ich etwas für mich auf. Ich schreibe die Dorfgeschichten für mich und für die Menschen, mit denen ich verbunden bin. Die Orte sind real, es gibt sie, sie sind die Haltepunkte, an denen sich die Geschichten aus Waabs und Schwansen abspielen. Es liegt an uns auszusprechen. Namen und Geschichten sind erfunden, jedenfalls manchmal." (Aus dem Nachwort).
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Seitenzahl: 113
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Im Dorf
So nah
Land
Gesichter
Vergessen
Sturm
Wiede Sicht
Dixie
Rauschen
Absturz
Zeugnisse
Liebespaare
Ankommen
Braun
Musik
Feiern
Pott
Kohlen
Mary
Rockn‘ Roll
November
Wilhelm
Tapete
Joséphine
Windräder
Speckstein
Nachwort
Der Autor
Anmerkungen
Schon wieder ist die Kirche voll. Steffen ist gestorben. Letzte Woche Loi, davor Franz und Käthe. Im Dorf sterben sehr viele Freunde und Nachbarn, alle sterben, alle suchen den Trost. Ich stehe ganz hinten. Die Orgel spielt. Ein feste Burg ist unser Gott. Alle können die Texte singen. Die Pastorin stimmt sich ein. Am Grab weinen viele Menschen, so wie ich damals am Grab meiner Eltern. Till spielte die Trompete. Il Silencio.
Auf der Landstraße nebenan rauschen die schwarzen Autos vorbei. Ohne Auto geht fast nichts. Es sei denn du bist jung und kannst dich mit dem Fahrrad oder Elektrorad bewegen. Zum Arzt sind es sechs km, zum Supermarkt ebenfalls sechs, zur Apotheke genauso weit. Wer nicht mehr Auto fahren kann, ist auf Hilfe von Verwandten oder professionellen Pflegediensten angewiesen. Beim Bäcker stehen sie schon wieder Schlange, morgens um 7 Uhr. Brötchen, Brot und Kuchen. Die Lastwagenfahrer, die Handwerker und einige ältere Touristen trinken ihren Kaffee. Manchmal liegt der Hund vor der Seitentür. Einen Bäcker gibt es im Dorf, Handwerksbetriebe, Restaurants, Campingplätze und auch einen Friseurladen, in dem zwei Frauen arbeiten, rund um die Uhr. Die Nachfrage ist gut, die beiden Frauen reden nicht so viel und schneiden, föhnen und färben gut. Zum nächsten Friseur in der Kreisstadt sind es 12 km. Der Dorffriseur ist billiger, in der Stadt haben die Friseure nach der Pandemie ordentlich zugelangt.
An den Bäumen hängen noch die Pflaumen, sie sind besonders lecker zu dieser Zeit. Leider sind die Bäume so hoch, dass ich sie nicht mehr einfach pflücken kann. Oben sind sie am besten. Ich benötige die Leiter. No risk no fun. Die Apfelernte in diesem Jahr ist besonders gut. Volle Äste, nur die Augustäpfel sind schon abgeerntet. Manch ein Apfel ist schon etwas verfault. Im September hat es wieder geregnet, aber er ist sehr schön gewesen, sogar noch im Oktober und November fand die Sonne zur Kraft zurück. Ich sitze vor der Haustür und lasse die Sonne in mein Gesicht scheinen. Die Haut freut sich über die angenehme Wärme.
Ich laufe durchs Dorf. Kaum ein Mensch ist unterwegs. An der Gabelung gehe ich heute nach rechts. Nicht zur Kirche, die suche ich später auf. Rechts geht es weiter, an der Feuerwehr vorbei und dann endlich kommt die kleine Straße mit den zwei Spuren. Ich gehe flott, am frühen Morgen möchte ich wenigstens schon Zehntausend Schritte schaffen. Ein Pärchen mit Hund ist unterwegs, überhaupt gibt es viele Hunde. Ich glaube, ich habe noch nie so viele gesehen. Hat wohl mit der Pandemie zu tun. Oder ist es die größere Bereitschaft, sich durch Gehen und Laufen mit dem Hund gesund zu halten. Ich weiß nicht, aber ich freue mich, wenn die Leute mich grüßen. Fast alle sagen Moin. Die Jugendlichen sagen Hallo. Moin, ist was für die Alten und die Alteingesessenen. Der Weg geht schnurstracks auf eine Lichtung, von der aus das Meer schon zu sehen ist. Die frische Brise öffnet die Nasen. Durchatmen, bereits am Morgen. Am Strand, am Wasser, der leichte Wellenschlag. Es plätschert dahin und so kann sich der Tag einstimmen. Ich schaue aufs Meer, es sieht gut aus. Kein Segelboot, kein Schiff und keine Fähre.
Auf der Steilküste weht ein leichter Wind, die Schlehen hängen noch an den Büschen. Sie ziehen den Mund zusammen. Viele Vitamine. Das tut gut. Ein Walnussbaum lädt zum Öffnen der Nüsse ein. Die schwarze Schale muss weg, dann kommt die braune Nuss hervor. Ich knacke zwei gegeneinander. Die Nuss ist frisch, fast weiß. Herrlich wie sie schmeckt, noch nicht nussig.
Bald schon zeigt sich die Steilküste von ihrer besten Seite. Der Blick geht nach unten. Sind es zehn oder fünfzehn Meter. Mir ist das eh schon zu hoch und so lasse ich den Blick lieber in die Weite schweifen. Zwei Joggerinnen ziehen ihre Bahn. Sie sind schnell und schlank. Sie reden in einer Tour.
Vor mir der Reitplatz. Hier werden die Turniere geritten. Die lokalen Reiterinnen und Reiter springen oft auf die besten Plätze. Sie können auf den schön gelegenen Parcours üben und den Blick aufs Meer schweifen lassen, wenn sie vom Pferd absteigen. Die Kinder gehen nach Langholz zum Reiten. Dort überlassen die Pferde ihre Spuren im Sand. Mit dem Pferd am Meer. Muss genial sein. Ich kann nicht reiten, nicht mehr reiten. Früher ja, aber das ist lange her. Die Enkelkinder lieben die Pferde und das Reiten, bis sie 12 oder 13 Jahre alt sind, dann ist Schluss.
Auf dem Sportplatz kämpft wieder die erste Mannschaft. Sie kann punkten. Sie haben offenbar eine leistungsstarke Truppe. Die zweite Mannschaft weiß sich ebenfalls gut zu schlagen. Wir gehen zur Vereinsversammlung. Der Trainer ist heute schlecht drauf, hatte die Mannschaft gerade einen Sieg verspielt. Nur ein Unentschieden. Aber alle anderen sind guter Laune. Am Tresen ist nicht viel los, die Leute trinken weniger. Meine Schwester wird mit einem großen Korb voller Geschenke geehrt. Sie ist stolz, sechzig Jahre Vereinsmitgliedschaft. Alle kennen sich, alle grüßen sich kurz mit Handschlag. Manch einer schimpft, ein anderer lobt den Sportsgeist. Die Altherrenmannschaft kickt auch noch. Nicht einmal im Winter ist Pause. Irgendwie ist im Verein wieder mehr los, seitdem die erste Mannschaft so gut spielt.
Der Weg zurück nach Hause ist nicht weit.
Im Dunkeln liegt die Kirche, ich werde morgen vorbeigehen, auf einer Bank sitzen und die Stille über mich ergehen lassen. Stille – doch es mischt sich die Musik in meine Gedanken. Bach. Ich höre die Kantaten, und schließ die Augen. Ich erinnere mich. Damals als ich zur Schule und mit den Eltern am Sonntag zur Kirche ging. Mutter konnte bis ins hohe Alter alle Lieder auswendig singen. Sie hatte keine Strophe vergessen. Ich hörte gerne ihre schöne Altstimme. Und ich summe bis heute mit. Die Musik in der Kirche hat mir gutgetan. Ich weile eine Zeitlang auf der hölzernen Bank und sehe die neu gestalteten Kirchenräume. Der Verein der Marienkirche hat in den letzten Jahren alles getan, um die Kirche zu renovieren. Sie erstrahlt nun in vollem Glanz und man kann sich sogar eine Kirchenführung online organisieren. Darüber freue ich mich. Aber die Kirchenbesucher werden immer weniger, nur Weihnachten und bei Taufen und Beerdigungen ist die Kirche voll.
Ich gehe zum Grab der Eltern. Stehe andächtig davor und bin ganz gerührt, dass die Enkelkinder Kastanien auf die Grabsteine gelegt haben. Eine schöne Sitte, haben sie von Hazel gelernt, sie legt Steine auf das Grab ihrer Eltern. So soll es bleiben. Im Wind fallen die Kastanien herunter. Überall liegen sie herum, sie gehören zum Friedhof wie das Leben. Der Friedhof ist gepflegt, aber immer mehr Gräber werden aufgegeben. Wir werden das Grab unserer Großeltern und Eltern bewahren. Sie sollen zu uns sprechen, wenn wir am Grab stehen.
Im Dorf ist fast nie jemand zu sehen. Alle fahren mit ihren Autos, manchmal hält einer an und sagt: „Moin, wie geit die dat denn, büsst du wedder dor?“ Gerd hat immer eine Geschichte zu erzählen, er weiß vieles, sogar vom Ende der Leibeigenschaft. Er kann auch berichten, dass viele der Adligen immer noch auf ihr Vorrecht pochen und sich über das gemeine Volk stellen. So auch Karl.
Karl war ein Kumpel, er hatte Humor, er war freundlich, alles sehr positiv. Manchmal besuchte er den Friedhof. Er konnte auf die Menschen zugehen. Und er hatte anderes Blut in seinen Adern. Man sagt, es sei blau. Große Namen – von Bismarck, Merck, Geld- und Erbadel. Ein Klassenkamerad schrieb lapidar: Auf diversen Eckernförder Schulen lernte man den Schwansener Flachadel kennen. Wir, die anderen, waren Kinder von Küstern, Bauern, Arbeitern und Handwerkern. Doch unseren Stolz hatten wir. Wir unterwarfen uns nicht, aber wir fühlten uns unsicher, wenn die akademischen Eliten, der Geldadel und die Grundbesitzeradligen mit uns zusammentrafen. Das passierte nicht oft, aber gelegentlich kamen sie in die Kirche oder sie schauten an ihrem Wohnbesitz in den Dörfern vorbei. Wir schwiegen.
Wir stammten aus einer anderen Klasse, unser Bewusstsein war an die Scholle gebunden. Uns fehlten die Schlösser und das Land, der einzige Unterschied, oder? Aber seien wir nicht naiv. Wir blieben unter uns, nahmen unsere Wege, die so anders waren als die des Flachadels. Ihre Lebensgeschichten konnten wir nicht mehr verfolgen. Früher noch weniger als heute. Nah kommen wir ihnen nicht. Wenn sie unter uns waren, konnten wir sie riechen und ihre Einstecktücher blinken und ihre Pferde dampfen sehen. Wir schauten auf ihre Schuhe und wussten Bescheid. Wir waren mit ihrer distanzierenden Art nicht vertraut. Sie gaben uns die Hand, die sie von uns wegdrückten.
In der Ring- und Mühlenstraße sind die Häuser herausgeputzt, an vielen Stellen werden Häuser renoviert. Investitionen in die Zukunft. Das Dorf sieht immer gepflegter aus, und es gibt wieder viel mehr junge Menschen, denn es hat sich herumgesprochen, dass es guttut, in meinem Dorf zu wohnen. Das Meer ist nah, die Menschen sind nicht so aufdringlich, es gibt einen Kindergarten und eine Mittelpunktschule. Wer auf die weiterführenden Schulen möchte, muss den Bus nehmen. 6.35 oder 7.05 oder 7.35 Uhr. Jeden Morgen fährt der Bus pünktlich los. Es geht schnell bis nach Eckernförde und zurück ebenso. Ich erinnere mich an meine Schulzeit, jeden Morgen los, nachmittags zurück. Die Strecke war uneben, ich kann noch heute das Schaukeln des Busses spüren.
Am Abend gehe ich auf den Aschenberg. Wieder diese Stille, niemand zu sehen und zu hören, nur der Wind. Gelegentlich huscht ein Tier über die Straße, manchmal auch Rehe und Damwild. Sie sind überall zu sehen, sie laufen in Rudeln und manchmal stehen sie im Garten und stibitzen die Rosenblüten. Ich schaue auf die Pforte. Sie gibt den Weg frei zum Meer und schützt. Die Pforte ist zum Haltepunkt geworden. Ich glaube ich schaue pro Tag mehr als einhundertmal auf sie, habe gerade eine neue bekommen, die alte war nach fünfzig Jahren morsch geworden. Nun ist sie wieder glänzender Schutz vor der Landstraße. Noch einmal ein Blick aus dem Fenster. Die Nacht kommt, der Wind legt sich und die Gedanken konzentrieren sich auf das Innere.
Die schwarzen Wolken rasen über die Halbinsel, die Bäume ducken sich nach Nordost und versuchen dem Wind auszuweichen. In Hökholz lehnen wir uns an die schrägen Weißdornbüsche, Schlehen, Buchen und Eichen. Siegfried Lenz sagt, die Flensburger Förde sei eine langweilige Landschaft. Das trifft vielleicht auch für die Eckernförder Bucht zu. Aber es mag täuschen. Von oben sieht sie nämlich wie ein Gefäß mit vielen kleinen Seen, Hügeln und mäandernden Dörfern aus. Entdecken wir sie von unten.
Vom Haus aus sind es nur fünfzehn km nach Sieseby und sechs km nach Söby, eine Strecke, die ich immer wieder fahre, denn aus den beiden Dörfern kommen die Vorfahren mütterlicherseits. Ein Ururur-Vorvater war im 17. Jahrhundert sogar Küster und spielte die Orgel. Die weiße Kirche in Sieseby ist ein Monument des lutheranischen Kirchenbaus, während die Waabser Kirche viel älter ist. Sie hatte sich hier bereits im 14. Jahrhundert aufgestellt. Die Kirchen sind heute leer und die Kirchengemeinden reich. Sie besitzen Land und trotz ihres schwindenden Einflusses, ragen ihre Türme über alles Weltliche hinaus. Soll es so sein - Jauchzet im Himmel und von oben?
Söby macht Pause, das Haus der Großeltern verwaist. Eine Bank sucht nach Verweilenden. Doch das Tor ist verschlossen. Ich merke mir das Baujahr. Von Söby braucht man mit dem Fahrrad zwanzig Minuten nach Waabs und nach Sieseby nochmal vierzig Minuten, an Marienhof vorbei. Helene Voigt-Diedrichs wurde hier geboren und hat sich mit ihren Romanen vom bäuerlichen Leben ein Denkmal gesetzt, wie bspw. durch Auf Marienhoff. Vom Leben und von der Wärme einer Mutter.i Sie preist die ländliche Welt der Klein- und Großbauern, wo sie Ursprünglichkeit, Anstand und Moral verortet. Später ist dann alles dumm gelaufen, denn sie wurde auch ein Stern am braunen Himmel und Mitglied im Eutiner Dichterkreis. Ganz im Sinne der NS-Ideologie sollte hier eine Gemeinschaft von Schriftstellern entstehen, „die ihr Wort aus dem bluthaften und geistigen Erlebnis des norddeutschen Raumes schöpfen.“
Hazel trat einen Schritt vor und rezitierte aus Unterstrom:
Wie Frühlingsgedanken linde
Durch wanderndes Träumen gleiten
Wälzen sich wispernd Maiwinde
Über grünschaukelnde Breiten.ii
Vom Meer aus, wenn man mit dem Schiff rausfährt, sieht die Landschaft wie eine Art Farbklecks aus. Übergestülpte Jahreszeiten. Im Winter verstecken wir uns und lassen die Welt draußen vor. Im Herbst der Schwansener Indian Summer, im Sommer alles ockergelb bis braun, im Frühjahr das satte Grün, das Lindgrün der Linden, der Sauerampfer versteckt sich an der Seitenline, die Buchen sprießen rötlich und die Weidenkätzchen verlieren ihren gelblichen Staub. Im Mai gab es schon lange keine weiße Pracht mehr, der Klimawandel zeigte sein Gesicht schon seit mehr als vier Jahrzehnten. Wenn früher am 8. Mai – dem Tag der Befreiung für die Familie – noch der letzte Schnee auf die Felder fiel, konnte ein langer und warmer Sommer alle dunklen Tage vergessen machen. Am 1. September – dem Tag des Überfalls – verurteilten wir die Verbrecher, gedachten wir den Opfern des Holocaust und den Millionen Toten des deutschen Krieges gegen die Menschheit. Deutsches Genesenwesen.