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Das Haus in der Kastanienallee.
Bonn, 1998: Seit Hartwig den alten Gutshof seiner Eltern an der Müritz zurückerworben hat, hängt bei den Bernows der Haussegen schief. Wie konnte er eine so wichtige Entscheidung über ihren Kopf hinweg treffen?, fragt sich Anja. Sie soll ihr geliebtes Rheinland, ihre Kinder und ihren alten Vater zurücklassen, um in einem Provinzkaff im Osten neu anzufangen? Damit nicht genug. Ihr fällt ein Brief in die Hände, der ihr die Augen öffnet. Über Gut Groß Bernow hängt der dunkle Schatten der Vergangenheit, und Helma, die ehemalige Küchenhilfe der Bernows, die immer noch dort lebt, will offenbar eine alte Rechnung begleichen …
Teil zwei der deutsch-deutschen Familiensaga im Land der tausend Seen – fesselnd und lebensecht.
Das Buch "Die Gutsherrin" beinhaltet die beiden E-Books "Die Jahre der Gutsherrin" und "Im Namen der Gutsherrin".
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Seitenzahl: 342
Bonn, 1998: Seit Hartwig den alten Gutshof seiner Eltern an der Müritz zurückerworben hat, hängt bei den Bernows der Haussegen schief. Wie konnte er eine so wichtige Entscheidung über ihren Kopf hinweg treffen?, fragt sich Anja. Sie soll ihr geliebtes Rheinland, ihre Kinder und ihren alten Vater zurücklassen, um in einem Provinzkaff im Osten neu anzufangen? Damit nicht genug. Ihr fällt ein Brief in die Hände, der ihr die Augen öffnet. Über Gut Groß Bernow hängt der dunkle Schatten der Vergangenheit, und Helma, die ehemalige Küchenhilfe der Bernows, die immer noch dort lebt, will offenbar eine alte Rechnung begleichen …
Teil zwei der deutsch-deutschen Familiensaga im Land der tausend Seen – fesselnd und lebensecht
Fabia Waldner steht für den deutschen Autor Michael Schulz. Im rheinischen Bonn geboren, brennt er bereits früh für Literatur, Philosophie und Musik. Zunächst entscheidet er sich für die Musik. Nach einem Studium am Mozarteum in Salzburg führt ihn sein Weg in die Welt der Oper. Doch dann entdeckt er das Schreiben für sich. Heute lebt und schreibt der Autor bei Goslar im Harz.
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Im Namen der Gutsherrin
Roman
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Widmung
Der Brief
1: Bad Godesberg, Ende April 1998
2: Ende Mai 1998
Kapitel 3
4: Rheinland, Anfang Juni 1998
5: Bonn-Beuel, Mitte Juni 1998
6: Wachtberg, Ende Juni
Kapitel 7
Kapitel 8
Im Gewitter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Gespenster
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
5: Fast ein Jahr später, 14. August 1999 am Abend
Von Herzen danksagen möchte ich:
Impressum
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Für Sonja und zur Erinnerung an Margarete Danke
1
»Erpressung nennt man das«, zischte Anja, auch wenn sie sich bewusst war, dass sie bereits verloren hatte, schließlich saßen sie im Wartezimmer des Notariats Teitelboom & Stegner. Imre Teitelboom, ein guter Freund von Hartwig, hatte sie vorab mit Umarmung begrüßt und ihr mit Nachdruck zum Kauf gratuliert. Familientradition sei etwas Wunderbares, dazu ein scheinheiliges Lächeln, als wüsste er nicht genau, dass es vor allem Hartwigs Projekt war.
»Warum nennst du es nicht einfach Schicksal?«, gab Hartwig zurück, ohne sie anzusehen.
Seit dem Überraschungsdinner mit der Familie und einigen ehemaligen Kollegen hatte sich alles zwischen ihnen geändert. Sie waren nicht mehr die eingeschworene Gemeinschaft von einst. Zwischen ihnen verlief ein Graben, der immer tiefer wurde. Hartwig zog sein Ding eisern durch. Nie hätte Anja geglaubt, dass sich seine Zielstrebigkeit, der er auch seine Karriere zu verdanken und die sie seit der Studentenzeit an ihm bewundert hatte, so krass gegen sie wenden könnte. An dem Abend im Dreesen hatte sie sich zusammenreißen müssen, um nicht aus der Haut zu fahren und Hartwig vor versammelter Mannschaft die Leviten zu lesen.
Jetzt verstand sie auch, warum er ihr nach der Rückkehr von seiner angeblichen Erfahrungstour in den Osten so verändert vorgekommen war. Sie hatte sich bereits vorher gewundert, dass er aus freien Stücken gefahren war, wo er doch jedes Mal stöhnte, wenn er dienstlich dort hinsollte. Und nach seiner Rückkehr machte er dann plötzlich unfassbare Dinge: reparierte den stotternden Rollladen im Wohnzimmer, fachsimpelte mit ihrem Nachbarn über englische Parkrosen und deckte sogar den Tisch fürs Abendbrot.
Angeblich sollte der Osten ja immer noch Wüste sein, auch zehn Jahre nach der Wende. Anja hatte daran gedacht, dass sich Hartwig vielleicht auf Spurensuche nach seiner Familie begeben wollte, seine Mutter stammte aus dem Osten. Gutsherrin von riesigen Ländereien sollte sie dort gewesen sein, die den Bernows vor dem Krieg gehörten. Anja hatte gehofft, dass sich Hartwig bei der Reise in die Vergangenheit selbst wiederfinden würde. Aber später folgten Geheimnistuerei, endlose Telefonate, und er ließ so eigenartige Bemerkungen los wie: »Es stimmt nicht, was im Westen erzählt wird, Dunkeldeutschland und so weiter. Du wirst sehen, dort gibt es landschaftlich unglaublich schöne Regionen.« Als ob sie die Absicht gehabt hätte, in nächster Zeit einen Fuß in diese Gegend zu setzen.
Zuerst vermutete sie, dass etwas anderes dahintersteckte: eine Frau. Es war das erste Mal gewesen, dass Anja ein solcher Verdacht kam, bislang hatte es nie einen Grund dafür gegeben. Es beruhigte sie dann auch vollkommen, als er verkündete: »Ich habe für Samstag ein Dinner im Dreesen bestellt.« Ein Dinner für zwanzig Personen in einem der renommiertesten Hotels am Rhein war doch etwas zu aufwendig, um eine Affäre zu entschuldigen. Was dann kam, übertraf allerdings alles, was sie befürchtet hatte. Hartwig hatte über ihren Kopf hinweg entschieden, und es blieb ihr nur übrig mitzuspielen. Sie saß in der Falle. Die Rolle der zuverlässigen, diplomatischen Ehefrau hatte sie sich selbst ausgesucht. Das war ihr mit einem Schlag bewusst geworden. Wie bereitwillig hatte sie Hartwig immer alle größeren Entscheidungen überlassen. Jetzt lautstark zu protestieren, hätte nichts als Peinlichkeit ausgelöst.
Und weil sie sich in der Vergangenheit immer Hartwigs Entscheidungen gefügt hatte und nie dagegen aufgestanden war, saß sie nun im Wartezimmer von Teitelboom & Stegner. Nicht etwa, dass Hartwig keine Diskussion zugelassen hätte, dazu war er zu schlau. Natürlich hatten sie diskutiert, bereits nach dem Dinner im Auto. Was ihm einfiele, sie bei einer so weitreichenden Entscheidung einfach außen vor zu lassen, hatte sie ihm an den Kopf geworfen. Doch wie üblich hatte er den Spieß umgedreht, ein solches Angebot könne man einfach nicht ablehnen, nur ein Dummkopf würde die Chance seines Lebens ungenutzt an sich vorüberziehen lassen.
Nicht das geringste Verständnis dafür, dass sie sich nicht von heute auf morgen in eine Gegend verpflanzen lassen wollte, wo sie niemanden kannte und niemand sie kannte. Das Rheinland war ihre Heimat, auch ihre gemeinsamen Kinder waren hier aufgewachsen: Sabrina, die an der Uni Bonn studierte, und Jan, der demnächst seinen Dienst bei der Bundeswehr antrat. Nicht zuletzt lebte ihr Vater hier und ihre Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig traf. War das alles nichts?
»Bitte bleib fair, Anja. Hast du nicht gesagt, dass du einen Tapetenwechsel brauchst, dass das Leben so nichtssagend dahinplätschert? Und jetzt, wo das Leben wieder etwas zu bieten hat und eine richtige Aufgabe ansteht, da passt dir plötzlich alles nicht.«
Aber Tapetenwechsel und ein völlig neues Leben waren schließlich nicht dasselbe. Außerdem bestand ein erhebliches Risiko. »Für dich ist alles so selbstverständlich. Als hättest du nie etwas anderes gemacht. Das ist doch auch Neuland für dich. Was ist, wenn die Touristen um dein Gutshaus und deine Ferienwohnungen einen großen Bogen machen und du auf den Kosten sitzenbleibst?«
»Natürlich habe ich daran gedacht. Mecklenburg-Vorpommern ist eine aufstrebende Region. Die Touristenzahlen steigen zuverlässig Jahr für Jahr, und Pferdepensionen sind der Renner.«
Seitdem ging es zwischen ihnen hin und her. Alles wusste er besser, nicht einen ihrer Einwände akzeptierte er. Meistens ließ er sie nicht einmal ausreden. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er habe alles im Griff, und wenn sie jetzt nicht zuschlagen würden, verpassten sie die Chance, größere Weideflächen hinzuzukaufen oder zu pachten. Schließlich seien sie nicht die einzigen Interessenten. Alles lief darauf hinaus, dass Hartwig seinen Willen bekam.
Gegenseitiges Vertrauen, das war die Basis ihrer Ehe gewesen. Und jetzt musste Anja erleben, dass es sich rächte, seit Beginn ihrer Ehe kein eigenes Konto zu haben, keinen Job und kein selbstverdientes Geld. Sie hatte sich sehenden Auges abhängig gemacht, weil es so bequem war. Wie dumm war sie nur gewesen?
Aber das war nicht alles: Hartwig hatte ihr unmissverständlich mitgeteilt, er würde das Gut auch ohne ihre Zustimmung kaufen, aber dann müsse ihr klar sein, dass sie in Zukunft kein Anrecht darauf habe. Und Hartwig hielt immer sein Wort. Gab es noch einen anderen Weg, als die Verträge zu unterschreiben, um wenigstens mitreden zu können?
Die Tür zum Büro des Notars öffnete sich, Imre Teitelboom kam mit einem Lächeln auf sie zu und sagte mit einladender Geste: »Darf ich bitten.«
*
Warum sah Anja nicht ein, dass er es nur gut meinte? Die Zeit war ideal, noch einmal neu anzufangen. Nicht nur er sagte das, alle seine Freunde sagten das.
Hartwig hatte nicht erwartet, dass Anja so voller Vorurteile steckte. Sie sei zu jung, um sich bis ans Ende ihrer Tage in der Provinz zu vergraben. Sie tat ja gerade so, als bedeutete es, aus der Weltgemeinschaft auszutreten, wenn sie ein paar Kilometer weiter in den Norden gingen. Es war auch nicht so, dass er sich ihren Argumenten verschloss, sie hatte nur kein einziges vorgebracht, das man als stichhaltig bezeichnen konnte. Stattdessen ritt sie darauf herum, dass er sie nicht vorher gefragt habe, und wollte nicht akzeptieren, dass schlichtweg keine Zeit zum Überlegen gewesen war. Er hatte voll und ganz damit gerechnet, dass sie sich darüber freuen würde. Was sonst? Über so viel Glück konnte man sich doch nur freuen!
Er hatte endlich das Gefühl, seinem Leben wieder einen Sinn zu geben, einen wirklichen Sinn. Insgesamt bedauerte er seine berufliche Laufbahn nicht. Schließlich war es viel Arbeit gewesen, in die Riege der Spitzenmanager eines internationalen Konzerns wie der CONTAC aufgenommen zu werden, und er war immer stolz darauf gewesen. Aber das, was er am Ende dort hatte tun müssen, hatte ihn vom Glauben abgebracht. Die Erfahrung, dass seine Arbeit nur Zerstörung hinterließ, wenn er die angeblich nicht überlebensfähigen Ostfirmen abwickelte, hatte seine Entscheidung endgültig gemacht, sich zurückzuziehen. Viele von diesen Betrieben hätten gerettet werden können. Doch es ging um die Sicherung der Absatzmärkte, und da hörte die Brüderlichkeit auf. Er hatte es schlichtweg nicht mehr ausgehalten, Existenzen auszulöschen und ganze Belegschaften auf die Straße zu setzen.
Das Dinner in dem alten Rheinhotel hatte er in der Überzeugung arrangiert, dass es sein Abend werden würde. Die Kollegen sollten vor Neid erblassen, allein das Bild von einem Leben auf den eigenen Ländereien, einem Pferdegut im Land der tausend Seen, sollte ihnen den Mund wässrig machen. Alles, was sie sich erträumten, würde er haben, er, der nach seiner Kündigung von manchen sogar bemitleidet worden war, weil er sich angeblich selbst ruiniert hatte. Aber jetzt hatte die eigene Familie ihm den Spaß verdorben.
Er war nicht schuldlos daran, dass es zwischen Anja und ihm nicht mehr so gut funktionierte wie früher, das wusste er auch. Mit der Liebe hatte es aber nichts zu tun, jedenfalls nicht mit seiner. Er liebte Anja immer noch wie am ersten Tag. Er sah auch ein, dass es nicht richtig gewesen war, bei der CONTAC alles hinzuschmeißen, ohne vorher mit ihr geredet zu haben. Letztlich musste jedoch er allein wissen, ob er noch die Verantwortung für das übernehmen wollte, wozu man ihn zwang. Er wollte Anja nur die seelische Berg- und Talfahrt ersparen, die ihn selbst so schwer gebeutelt hatte. Er wollte doch nur das Beste für sie und ihn, für sie beide. Warum vertraute sie ihm nicht mehr?
Noch war genügend Zeit, alles wieder geradezurücken, und am Ende würde Anja sicherlich so glücklich über die Entscheidung sein, in den Osten zu gehen, wie er. Sie war eben nicht der Typ für schnelle Entschlüsse, und der Makler hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Umso besser, dass Verlass auf seinen alten Freund Imre Teitelboom war. Die Kaufverträge waren wasserdicht, und Imre hatte auf sein ausdrückliches Bitten hin strikt darauf geachtet, dass Anjas Interessen gewahrt wurden.
Hartwig hatte seiner Mutter versprochen, nach dem Notartermin mit Anja auf eine Tasse Kaffee vorbeizuschauen. Aber auch Margot verhielt sich so eigenartig reserviert seit dem Dinner. Was war nur los mit den Frauen? Als Hartwig nach seiner Ansprache im Dreesen mit ihr anstoßen wollte, hatte sie fast verängstigt gewirkt: »Ich gratuliere dir, mein Sohn, aber es wird nicht einfach werden.«
Natürlich würde es nicht einfach werden, was war schon einfach? Aber so, wie sie es gesagt hatte, klang es, als würde Unheil über ihren Köpfen schweben. Gerade von seiner Mutter aber hatte er uneingeschränkte Unterstützung erwartet. »Freust du dich denn nicht?«
»Es ist alles schon so lange her«, hatte sie erwidert und wirkte plötzlich wie erschlagen, als hätte sie eine Hiobsbotschaft erhalten. Nicht viel später hatte sie sich wegen Schwindelgefühlen entschuldigt und von einem Taxi zurück in die Rheinresidenz bringen lassen. Vielleicht war die Überraschung einfach zu viel für sie gewesen. Immerhin zählte sie mittlerweile vierundachtzig Lenze, und in letzter Zeit fühlte sie sich oft schwach und hatte Probleme mit dem Kreislauf.
In seiner Jacketttasche steckten ein paar Fotos, die er bei seiner Erkundungstour an der Seenplatte aufgenommen hatte, natürlich auch vom Gut. Beim Kaffee würde er sie Mutter zeigen. Er wollte auch einige der alten Geschichten hören, die sie ihm als Kind erzählt hatte, von dem Aufruhr, wenn die Gesellschaft zur Jagd aufbrach oder wenn die Gutsbesitzer der Umgebung wie die Könige mit ihren Limousinen zum großen Ball vorfuhren. Hartwig liebte diese Geschichten nach wie vor. Er hatte seinen Vater immer vermisst, auch wenn Mutter alles versucht hatte, ihn zu ersetzen. So erklärte er sich auch, warum sie ihn manchmal hart angegangen war, wenn er als Schüler Zensuren heimbrachte, die nach ihren Worten nicht seinen Fähigkeiten entsprachen. Fuchsteufelswild konnte sie dann werden. Aber es war ja nicht oft vorgekommen.
»Grüß bitte deine Mutter von mir«, riss Anja ihn aus den Gedanken. Wenigstens sprach sie wieder mit ihm. Die ganze Fahrt auf der B9 über, von Teitelbooms Kanzlei in Godesberg bis kurz vor der Bonner Innenstadt, hatte sie geschmollt. »Ich kann beim Kaffee leider nicht dabei sein. Mir ist etwas dazwischengekommen.«
»Und was, wenn ich fragen darf?«
»Ich hatte ganz vergessen, dass ich heute mit Evi und Linda verabredet bin.«
Natürlich, die Waffenschwestern versammelten sich wieder, um ihre Eisen gegen die Männerwelt zu schmieden. Nur immer Öl ins Feuer.
»Wo darf ich dich absetzen?«
»Am Alten Zoll, wenn es dir nichts ausmacht.«
Von Mutter würde er sich dann anhören müssen, dass Anja sie nie respektiert habe und es nur ihre Schuld sei, dass sie sich nicht verstehen würden. Nicht zum Aushalten. Vielleicht sollte Hartwig sich einfach aus dem Staub machen und nach Groß Bernow fahren. Wegen der Renovierungen war eine Unmenge zu besprechen, und schließlich wollte er ein Auge auf alles haben, was auf seinem Grund und Boden geschah.
*
Unweit vom Alten Zoll befand sich der Anleger der Rheinnixe, der kleinen Fähre, die zwischen der Bonner Seite und den Beueler Rheinterrassen verkehrte. Nach einer sanften Schaukelpartie über den Fluss hatten sich Anjas Nerven gesehnt. Ein oder zwei falsche Worte von Seiten ihrer Schwiegermutter hingegen, und der kalte Krieg zwischen ihnen wäre offen ausgebrochen.
Der Bauch der Rheinnixe füllte sich mit Touristen und Menschen, die genug Zeit für eine gemütliche Überfahrt hatten. Anja setzte sich ans Fenster und spürte plötzlich, dass der Notartermin etwas mit ihr gemacht hatte. Fast unmerklich löste sich die Nixe vom Ufer, driftete allmählich in die Mitte des Flusses, und das vollständige Panorama der Oper und der Kennedybrücke eröffnete sich. Der Postturm an den Rheinauen kam in Sicht, das ergrünende Ufer wurde immer länger. Mitte Mai würde es dort anfangen zu blühen. Sie musste nicht lange warten, bis ihr die Tränen kamen.
Wie konnte Hartwig nur annehmen, dass sie ihrer Heimat so einfach den Rücken kehren würde? Er war eben kein echter Rheinländer, andernfalls wäre er nicht im Traum darauf gekommen, das von ihr zu verlangen. Das Schlimmste aber war, dass sie immer nachgab. Sie beschwerte sich, aber am Ende machte sie genau das, was sie eigentlich nicht wollte. Und Hartwig baute darauf, dass sich nichts daran änderte. Auch heute war es wieder so abgelaufen. Sie hatte diese Kaufverträge unterschrieben, war jetzt zur Hälfte Mitbesitzerin eines modrigen alten Kastens samt Stallungen und Koppeln, wovon sie bisher nur trostlose Fotos gesehen hatte. Gratulation, Anja!
Hartwig schien es kaum erwarten zu können, die Zelte hier abzubrechen. Einfach herzlos, dieser Mann. Anscheinend machte es ihm nicht einmal etwas aus, dass er Sabrina und Jan quasi vor die Tür setzte, wenn er seinen Plan umsetzen und ihr Heim in Wachtberg tatsächlich verkaufen würde. Und da sollte man nicht heulen? Sie zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und putzte sich die Nase. Aber in der Angelegenheit war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Auch wenn es seiner Meinung nach keinen Sinn machte, eine 300-Quadratmeter-Villa mit großem Garten leer stehen zu lassen, weil sie nur Unkosten verursachte und man das Geld besser dort oben in den Pensionsbetrieb investierte.
Gar nicht zu reden von Papa, ihrem Paps, der sie jetzt dringend brauchte. Auch wenn er ihr versicherte, sie müsse sich keine Sorgen um ihn machen, es sei alles nur halb so wild, war es doch unübersehbar: Seit Mamas Tod vor drei Jahren baute er ab, sein Gedächtnis war nicht mehr zuverlässig, an schlechten Tagen hörte seine rechte Hand nicht auf zu zittern, und neuerdings schlurfte er beim Gehen. Wie lange würde er seinen eigenen Haushalt noch führen können? Jemand musste ein-, zweimal in der Woche nach dem Rechten sehen, und sie war es ihm schuldig.
Die Nixe hatte sich gedreht und näherte sich Zentimeter für Zentimeter dem Anleger auf der Beueler Seite. Als Anja ausstieg, fühlte sich die Luft nasskalt an, und der Wind zerzauste ihre Haare. Jetzt könnte sie ein Bier vertragen, vielleicht auch zwei. Eine willkommene Abwechslung von dem ewigen Rotwein, den Hartwig bei jeder Gelegenheit auftischte. Ihre Freundin Evi würde ihr bestimmt dabei Gesellschaft leisten, während Linda strikt gegen Alkohol war, ihren Durst lieber mit Saftschorle löschte und meistens Rohkost aß, als könnte sie damit die Welt retten. Oft genug hatten Evi und Anja sie damit aufgezogen, wenn sie sich in den Rheinterrassen trafen. Aber das änderte nichts an ihrer unverbrüchlichen Freundschaft, die sie seit ihrer gemeinsamen Zeit in der Schule verband.
»Du siehst aus, als hätte dich Dracula zum Lunch vernascht«, begrüßte Evi sie mit einem kurzen spitzen Lacher. Linda musterte sie ausführlich, ohne die Miene zu verziehen, und streckte ihr dann stumm die Hand entgegen.
»Ein Bier, bitte«, mehr sagte Anja dazu nicht, und der Kellner machte gleich wieder kehrt in Richtung Tresen, um die Bestellung aufzugeben.
»So durstig?«, fragte Evi. »Stimmt etwas nicht?«
Eigentlich hatte sich Anja nach den beiden gesehnt, nach Verbündeten, denen sie ihr Herz ausschütten konnte, aber plötzlich war das nicht mehr so einfach, es war sogar ziemlich kompliziert.
»Eheprobleme?« Offenbar konnte Evi ihre Neugierde kaum bremsen, und Linda schloss sich mit schadenfrohem Unterton an. »Wirst doch nicht auf einmal menschlich werden?«
Evi war das zweite Mal unglücklich verheiratet, Linda hatte nie einen gefunden, für den sie sich zur Ehe hätte durchringen können, und beide waren kinderlos. Jahrelang hatte Anja es genossen, die beneidete Henne im Glück zu sein, verheiratet mit einem blendend aussehenden, erfolgreichen Mann, der noch dazu ein guter Familienvater war, mit zwei Bilderbuchkindern, die in der Schule keine Probleme machten. Und jetzt: willkommen im Club? Wollte sie wirklich zu den frustrierten Zaungästen gehören?
»Ist wohl fremdgegangen, der Göttergatte?«, bohrte Evi, und weil Anja nicht sofort antwortete, fühlte sie sich bestätigt. »Immer dasselbe.«
»Ich dachte, es wäre so«, nahm Anja ihr die Luft aus den Segeln. Sie erzählte, dass sich Hartwig auf den Spuren seiner Familie zwei Wochen lang in den Osten abgesetzt habe und sie in den Glauben verfallen sei, er ginge fremd. »Aber das war natürlich völliger Blödsinn. Auch wenn wir uns zugegeben in letzter Zeit öfter in den Haaren liegen. Hartwig leidet im Augenblick ziemlich darunter, dass er beruflich nicht so ausgelastet ist wie früher.«
Es war nicht das, was sie eigentlich loswerden wollte, doch in letzter Sekunde hatte sie die Kurve gekratzt. Den Spott und die Genugtuung in den Gesichtern, dass sie in einer waschechten Ehekrise steckte und sie am Ende nicht besser dastand als die meisten Frauen ihrer Generation, wäre unerträglich gewesen. Als Evi das Thema wechselte und die Sprache auf das beste Wellnesshotel auf Madeira brachte, in dem sie ein Doppelzimmer für sich allein gebucht habe, atmete Anja auf.
*
»Schade, dass Anja nicht mitgekommen ist«, hatte Mutter zu ihm gesagt, »aber auf meine Gesellschaft hat sie ja nie besonderen Wert gelegt.«
Hartwig schwieg seit Jahren zu den Sticheleien zwischen ihr und Anja, was sollte er sich den Mund verbrennen? Sie schenkten sich nichts, und das würde sich wohl kaum noch ändern. Aber Mutter schien seinen Besuch wie immer genossen zu haben. Jedes Mal berührte es ihn, wie sie sich bemühte und ihn bewirtete, wenn er für eine Stunde zu ihr kam. Sie zeigte ihm dann, wie sehr sie das zu schätzen wusste, kaufte Kuchen und machte Kaffee.
Diesmal war Hartwig nicht mit leeren Händen gekommen. Er brachte seiner Mutter die Nachricht, dass sie die Kaufverträge unterschrieben hatten. Nicht zuletzt, weil er ihr etwas von dem zurückgeben wollte, was sie für ihn getan hatte. Der Kauf des Gutes war auch ein Geschenk an sie. Doch der heruntergekommene Eindruck, den die alten Mauern im Augenblick noch machten, schien ihr ans Herz zu gehen. Sie konnte sich nicht richtig freuen. Ihr waren die Tränen gekommen, als er ihr seine Fotos von dem Gut gezeigt hatte. Sie hatte sie sogar zurückgewiesen, als er sie ihr schenken wollte.
Offenbar hatte sie auch Angst vor dem Umzug. Das Rheinland war immerhin ihre zweite Heimat geworden, sie hatte es nie mehr verlassen seit ihrer Flucht damals kurz nach dem Krieg. Und im Seniorenstift musste sie auf nichts verzichten, Service und Ärzteversorgung inbegriffen. Er hatte sie beruhigt, dass sie nichts vermissen würde dort oben, und ihr noch einmal versichert, dass er sich persönlich um ihr Wohl kümmere. Sie war ganz gerührt gewesen, hatte seinen Arm gestreichelt und erwidert, sie wisse, dass sie sich auf ihn verlassen könne.
Lange hatte er sich mit dem schlechten Gewissen herumgeschlagen, seine Mutter nicht zu sich nach Wachtberg genommen zu haben, auch wenn er jeden Monat einen großzügigen Betrag auf ihr Konto überwies, damit es ihr an nichts fehlte. Aber da sich Anja und sie von Anfang an nicht verstanden hatten, hätte es nur Unfrieden gebracht, und Anja und die Kinder waren nun einmal der Mittelpunkt seines Lebens.
Der Umzug nach Mecklenburg war die ideale Lösung. Das Gut bot genug Platz für alle, und man konnte sich leicht aus dem Weg gehen, wenn man wollte. Alles würde sich einrenken. Als Hartwig in die Auffahrt seines Hauses in Wachtberg abbog, war er sogar davon überzeugt, dass sich Anja und seine Mutter eines Tages doch noch versöhnten.
2
Vor ihrer ersten gemeinsamen Fahrt in den Osten hatte Anja sich gefürchtet, denn mittlerweile gerieten Hartwig und sie wegen jeder Kleinigkeit in Streit. Jetzt fuhren sie seit fünf Stunden in Richtung Norden und schwiegen sich an. Schweigen war auf Dauer auch keine Lösung, aber allemal besser als der ständige Kleinkrieg. Offenbar hatte Hartwig verstanden, dass er mit seinen permanenten Lobeshymnen auf den Osten bei ihr keine Begeisterung, sondern eher Misstrauen auslöste. Sie brauchte seine belehrenden Tiraden nicht, um sich ihre eigene Meinung zu bilden. Auch sie wusste, dass die Menschen im Westen voller Vorurteile steckten. Ihr eigener Vater nannte die ehemalige DDR immer noch »die Zone« mit einer gewissen Herablassung, obwohl er nie da gewesen war. »Zone« klang wie »Straflager«. Als hätten alle, die dort lebten, Schuld auf sich geladen. Jedenfalls musste es einen Grund geben, dass es »die da im Osten« schlechter getroffen hatten, und einen dafür, dass es ihnen im Westen besser ging. Aber den schien niemand genau zu kennen, bis heute nicht.
Sie hatte sich immer für eine aufgeschlossene Person gehalten. Aber als damals der Beschluss gefallen war, die Hauptstadt vom Rhein an die Spree zu verlegen, hatte sie auch zu denjenigen gehört, die die Welt nicht mehr verstanden. Einem Haufen Verlierer sollte die Hauptstadtwürde anvertraut werden? Ausgerechnet Berlin musste es werden, die Stadt der Mauer und des Schießbefehls. Dazu dieser großkotzige Dialekt, der bei Anja die Toleranzgrenze rot aufleuchten ließ.
Das war zehn Jahre her. Längst waren andere Zeiten angebrochen, wenn Anja Hartwigs Worten Glauben schenken durfte. Aber wer kannte schon Neustrelitz und Neubrandenburg? Von diesem Flecken namens Groß Bernow gar nicht zu reden, den man mit der Lupe auf der Landkarte suchen musste. Allein der Name brachte einen zum Lachen – oder zum Weinen.
Nicht weit hinter Lüchow-Dannenberg ließen sie den Westen endgültig hinter sich. Doch das Bild änderte sich nicht, nach wie vor flog eine grüne Landschaft aus Wiesen und Wäldern an ihrem Fenster vorbei. Ihr Bäcker in Wachtberg hatte einmal behauptet, man könne es riechen, wenn man die Grenze hinter sich gelassen habe, im Osten würde eine ganz andere Luft wehen. Wer wollte schon in eine Gegend, die unangenehm riecht? Anja hatte damals laut gelacht, aber jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie schnupperte, ob von dem Geruch vielleicht etwas in den Wagen drang.
Vor ihnen blitzte auf einmal eine silbrige Fläche auf. »Das wird die Müritz sein«, fand Hartwig zur Sprache zurück. »Bald sind wir da. Du wirst sehen, dass ich dir nicht zu viel versprochen habe, die Landschaft ist einzigartig. Es gibt hier sogar Fischotter und Seeadler.«
Seine Begeisterung schien echt. Sollte sie ihren Widerstand aufgeben? Schließlich war es nicht zu ändern: Sie war die neue Gutsherrin von Groß Bernow.
*
»Die meisten Wessis haben ja keine Ahnung von den Schätzen, die man hier im Osten heben kann.« Hartwig blieb nicht mehr viel Zeit, Anja die Gegend schmackhaft zu machen. »Ich gebe gern zu, dass hier noch einiges im Argen liegt, Schatz«, fuhr er fort. Selbst auf den letzten Metern musste er es noch versuchen in der Hoffnung, dass sie seine Erklärungen zugänglicher machten. »Du darfst aber die anderen Umstände nicht vergessen. In der DDR musste oft jeder Sack Zement, jeder Eimer Farbe unter der Hand organisiert werden. An Renovieren war kaum zu denken. Erst seitdem die Mauer gefallen ist, ändert sich das.« Anja tat so, als hätte sie nicht zugehört. Er musste also damit rechnen, dass sie ihm kurz nach dem Ortsschild von Groß Bernow an die Gurgel gehen würde.
Wer hier investierte, musste Mut haben, das war unbestreitbar. Aber gerade deshalb hatte ihn die Aufgabe so gereizt. Ohne Vision ging gar nichts. Um sein Ziel zu erreichen, blieb einem nur übrig, die Hindernisse auf dem Weg kurzfristig auszublenden. Zugegeben, in Groß Bernow gab es zurzeit noch jede Menge davon.
Die im Osten gaben sich alle Mühe, aus dem Tran zu kommen. Jedenfalls hatte Hartwig diesen Eindruck gewonnen. Es verstand sich von selbst, dass es mit der Entwicklung nicht so schnell ging. Über vierzig Jahre Fremdbestimmung war an den Menschen nicht spurlos vorübergegangen. Und als Wessi tat man gut daran, Geduld aufzubringen, sonst brachte man alle gegen sich auf und erreichte am Ende das Gegenteil.
Laut Schildknecht, seinem Bauleiter und Helfer in allen Belangen, sollte die Bernower Landstraße aufgerissen und neue Leitungen verlegt werden. Bei der Gelegenheit würden auch alle Anwohner endlich ein Telefon bekommen. Das war doch ein echter Fortschritt. Hoffentlich hatten die Arbeiten begonnen, dann könnte er Anja wenigstens beweisen, dass sich etwas bewegte. Doch sicher war wieder irgendwo Sand im Getriebe des Gemeindeamts. Das verstand sich besonders darauf, wie man vielversprechende Projekte möglichst effektiv blockierte.
Wenigstens gab es im Dorf eine Übernachtungsmöglichkeit. Die Bernower Tränke, wo er reserviert hatte, war definitiv kein Sternehotel, aber das Herrenhaus war von dort aus mit wenigen Schritten erreichbar.
Hartwig hatte Schildknecht gedrängt, die Arbeiten voranzutreiben, und an der Außenfassade waren die Fortschritte bereits sichtbar. Anders sah es mit dem Innenausbau aus. »Warte noch«, hatte er versucht, Anja davon abzubringen, ihn bereits diesmal zu begleiten. »In zwei, drei Wochen können wir in unserem neuen Zuhause übernachten.« Aber sie hatte darauf bestanden mitzufahren. »Ich will mich so früh wie möglich dem Anblick aussetzen, um dagegen immun zu werden.« Sie konnte es einfach nicht lassen, zu provozieren, und beinahe hätte es wieder Streit gegeben.
Der Zirkus mit den Umleitungen begann. Daran würde sich vermutlich so schnell nichts ändern. In jeder Ortschaft gab es mindestens eine, und seit seinem letzten Besuch schien sich ihre Zahl verdoppelt zu haben.
»Wir müssen unser Haus in Wachtberg nicht verkaufen, wir könnten es vermieten«, meinte Anja, als er nach einer Irrfahrt plötzlich auf offenem Feld landete.
Ein erstes gutes Zeichen, dachte er, endlich war sie bereit, sich vernünftig mit ihrem neuen Leben auseinanderzusetzen.
»… und die Räume im Souterrain als Ferienwohnung ausbauen, wenn ich mal Sehnsucht nach dem Rhein habe und Papa besuchen will.«
»Ja, warum nicht?«
Es war nicht ehrlich von ihm, aber auch der falsche Zeitpunkt, ihr zu eröffnen, dass er längst einen Käufer gefunden hatte, der bereit war, einen absoluten Spitzenpreis für das Anwesen zu zahlen. Er würde es Anja später in aller Ruhe erklären, auch die Angelegenheit mit der alten Frau, die sich mit Händen und Füßen sträubte, aus ihrem Häuschen in der Allee auszuziehen. Nicht Geld, nicht einmal der Tausch mit einer komfortablen Neubauwohnung ohne Mehrkosten hatten die Querulantin dazu bewegen können. Der juristische Weg, sie loszuwerden, war denkbar: Kündigung wegen Eigenbedarf. Und wenn das nicht zum Erfolg führte, gab es noch den Räumungsbefehl. Fragte sich nur, ob es angemessen war, als Wessi eine Einheimische, dazu eine mittellose alte Frau, mit aller Gewalt aus ihrem Haus zu werfen, in dem sie seit ewigen Zeiten lebte. Aber darin sollten nun einmal Ferienwohnungen entstehen, um Geld zu verdienen.
*
Immerhin hatte Hartwig nicht gleich Nein gesagt, dachte Anja, auch wenn sie aus Erfahrung wusste, dass er – wenn überhaupt – seine Meinung nie schnell änderte. Aber diesmal würde er sich damit auseinandersetzen müssen, ob es ihm passte oder nicht.
Wieder holperten sie über einen dieser Mondkrater. Die Allee, die sie jetzt befuhren, war gespickt davon. Der Wagen schaukelte hin und her, und Hartwig musste in den zweiten Gang zurückschalten, um in der Spur zu bleiben. Links und rechts säumten alte Linden und Eichen die unbefestigte Fahrbahn.
»Wir sind gleich da, Schatz«, meldete sich Hartwig wieder. Sie wollte etwas erwidern wie: »Schade, gerade wo sich mein Rücken an die Schlaglöcher gewöhnt hat.« Aber dann schwieg sie, blickte hoch in das Blätterdach der Baumkronen, durch die eine heitere Nachmittagssonne flimmerte.
Es gab dieses Dorf also wirklich. Bis zu diesem Moment hatte sie gehofft, dass alles nur ein böser Traum war. Aber auf dem verbeulten Schild, das mit einem der letzten Alleebäume verwachsen war, entzifferte sie den Namen der Häuseransammlung: Groß Bernow.
Zumindest war die Straße jetzt gepflastert. Als auf der linken Seite die Umrisse des ersten Hauses auftauchten, traute Anja allerdings ihren Augen nicht. Das Dach musste schon vor Jahren, vielleicht Jahrzehnten, eingebrochen sein, aus den Fensterhöhlen wuchsen Sträucher. Die benachbarten Häuser, auch nicht höher als ein Stockwerk und ebenso aus roten Ziegeln, befanden sich kaum in besserem Zustand. Ihre Fenster waren mit Brettern vernagelt, Gestrüpp überwucherte die Vorgärten. Die Löcher in dem Gemäuer schienen tatsächlich noch Einschüsse aus dem letzten Krieg zu sein, über fünfzig Jahre war das jetzt her. Auf einer Fensterbank stand ein einzelner Blumentopf, in dem eine Erika elendig vertrocknet war.
Rechter Hand folgten offenbar bewohnte Häuser. Hinter den Fensterscheiben hingen Gardinen, und an den Fassaden waren Satellitenschüsseln montiert. Vor einem der Eingänge spielten zwei Jungen mit einem kleinen Hund. Als der Hund sie kommen sah, begann er, hysterisch zu kläffen, und zog drohend die Lefzen hoch. Die Begrüßung hatte sich Anja anders vorgestellt.
»Da geht es zur Kirche«, versuchte Hartwig abzulenken. Ein einspuriger Weg zweigte von der Dorfstraße ab. Groß Bernow hatte also auch eine Kirche. Vermutlich war dort seine Mutter getraut worden war, dachte Anja. Margot hatte ihr einmal von ihrer unvergesslichen Hochzeit erzählt mit weißer Kutsche und allem Drum und Dran. Allerdings brauchte es jetzt reichlich Phantasie, um sich vorstellen zu können, dass hier einmal rauschende Feste stattgefunden hatten. Anja erinnerte sich an das Dinner im Hotel Dreesen. Vielleicht hatte Margot deshalb so zurückhaltend reagiert – sie war ja regelrecht erschrocken –, als Hartwig seine Überraschung verkündet hatte. Vielleicht ahnte sie bereits, wie es derzeit in Groß Bernow aussah. Und was war das? Plötzlich legte sich eine dichte Staubwolke auf die Windschutzscheibe und nahm ihnen die Sicht.
»Siehst du«, kam es von Hartwig direkt erleichtert, »die Arbeiten an den Versorgungsleitungen sind schon voll im Gang. Auf die Gemeinde ist Verlass. Man muss nur etwas Geduld haben.«
Er erwartete doch nicht etwa, dass sie ihm vor Freude um den Hals fiel? Aus der gelben Wolke schälte sich eine Dorfkneipe, die einmal einen weißen Anstrich gehabt haben musste. Mittlerweile löste er sich allerdings in Streifen von der Fassade. Nur die Leuchtreklame schien nagelneu zu sein und war eingeschaltet – am helllichten Tag.
»Die Bernower Tränke«, verkündete Hartwig. »Wir sind da.«
Der Wirt kam ihnen in Schürze entgegen und begrüßte sie mit Handschlag. Er sprach ganz ohne Akzent, was Anja verwunderte. Sie hatte mit einem unverständlichen Dialekt gerechnet, der ihr so fremd sein würde wie Swahili. Er bot sich an, ihr Gepäck auf das Zimmer zu tragen, aber Hartwig hielt die kaum bepackten Sporttaschen bereits in der Hand. Was sie betraf, blieben sie keinen Tag länger als nötig hier.
Vom Hausflur führte eine knarzende Holztreppe bis ins Dachgeschoss. »Toilette und Dusche sind auf dem Gang«, erklärte der Wirt. »Ich bitte um Verständnis, wir sind mit dem Umbau noch nicht so weit.«
Das Doppelzimmer hatte Schrägen und war mit Möbeln eingerichtet, die man bei ihnen zu Hause auf den Sperrmüll warf.
»Du willst dich sicher duschen«, bot Hartwig ihr an, als der Wirt gegangen war.
»Du zuerst, du hast es dir verdient«, erwiderte sie kleinlaut. Sie trat an das Fenster und öffnete es. Hartwig sollte ihre Tränen nicht sehen.
Er habe noch eine Besprechung in Neustrelitz, sagte Hartwig, nachdem er geduscht und das Hemd gewechselt hatte. Es gehe um rechtliche Details wegen der Pachtverträge. Währenddessen könne sie sich das Gut ansehen. Es sei gar nicht zu verfehlen, die Dorfstraße würde dort enden. Nachdem er gefahren war, machte sich Anja auf den Weg.
Die Staubwolke vor der Gaststätte hatte sich unterdessen verzogen. Ein Bauloch war sichtbar geworden, rot-weiß markiert und in jeder Richtung mit einer blinkenden Lampe gesichert. Allmählich begann die Sonne ihren Sinkflug. Vor Anja lag ein Stück Allee mit hohen alten Kastanien, die so dicht beieinanderstanden, dass ihre Kronen zusammenwuchsen und einen Tunnel ins Nirgendwo bildeten. Kein Mensch, niemand, nicht einmal ein alter Mann auf einem Fahrrad, war zu sehen. Während sie durch die Allee schritt, beschlich Anja das Gefühl, jemand würde sich hinter den Baumstämmen verstecken und sie belauern. Zu hören waren aber nur die Abendrufe der Vögel.
Vor einer Biegung erreichte sie eine kleine Siedlung, links und rechts der Allee jeweils vier schmale Ziegelhäuser in Reihe gebaut. Nach den Plänen des Gutsgeländes mussten es die ehemaligen Arbeiterhäuser sein, die ein ähnliches Bild abgaben wie die unten im Dorf. Vernagelte Fenster, verwilderte Vorgärten, zwischen den Stufen der Eingangstüren wuchsen Büsche und Unkraut. Die erste Fassade war übersät mit kleinen und größeren Löchern, Einschüsse. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
Doch nicht alle Häuser schienen verlassen zu sein. In dem dritten auf der linken Seite wohnte offenbar jemand. Die beiden kleinen Fenster zur Straße waren mit Gardinen verhängt, und innen brannte Licht. Mieter hatte Hartwig nicht erwähnt. Sollten nicht alle Häuser zu Ferienwohnungen umgebaut werden?
Ein plötzlicher Lichteinfall überraschte Anja, der Tunnel endete und gab die Sicht auf eine breite Einfahrt und ein niedergetrampeltes Rosenbeet frei, das zur Hälfte mit Bauholz bedeckt war. Ihr fiel ein, wie verwundert sie gewesen war, als Hartwig mit ihrem Nachbarn in Wachtberg, den er eigentlich nicht leiden konnte, plötzlich über Rosen fachsimpelte.
Und jetzt das Herrenhaus von Groß Bernow. Eingerüstet, aber imposant, das konnte man nicht leugnen, viel größer als in ihrer Vorstellung. Mit den beiden Türmchen und dem säulengestützten Portal erschien es durchaus wie ein Schloss. Die Fassade war noch nicht fertig renoviert, aber das makellose Weiß überwog, und einzelne Stuckaturen gaben bereits einen Eindruck von dem, was zu erwarten war.
»Sie müssen Frau von Bernow sein.«
Neben ihr stand plötzlich ein Arbeiter in staubigem Blaumann, seine Augen funkelten sie freundlich an. »Oh, entschuldigen Sie«, sagte er, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ronald Schildknecht mein Name, ich bin der Bauleiter hier.«
»Freut mich«, entgegnete Anja, mehr wusste sie in dem Augenblick nicht zu sagen. Aber ihn schien ihre Verlegenheit keineswegs zu bremsen. »Herzlich willkommen in Groß Bernow.« Mit ausgestrecktem rechtem Arm wies er stolz auf den Bau, als wäre er der Besitzer. »Es ist noch einiges zu tun, aber keine Sorge, in ein paar Wochen glänzt das Schmuckstück wieder wie in alten Zeiten.«
Diese naive Begeisterung der Männer, dachte Anja. Wie spielende Kinder kamen sie ihr manchmal vor.
»Wenn alles nach Plan läuft, können Sie in ein, zwei Monaten einziehen. Bestimmt haben Sie bereits jetzt alle Hände voll zu tun. So ein Neuanfang ist nicht leicht. Ich bewundere Sie aufrichtig dafür.«
»Ich würde mich gern im Haus umsehen, darf ich?«, fragte sie, und seit sie diesen Ort betreten hatte, fand sie das erste Mal zu einem Lächeln.
*
Die Besprechung mit seinen Anwälten Scheller und Pratsch in Neustrelitz war nicht gerade erfreulich gewesen. Die Kleinbauern aus Groß Bernow, die, laut Makler, angeblich nur darauf gewartet hatten, ihre Wiesengrundstücke an ihn zu verpachten, stellten sich auf einmal quer. Für den einen war es ein Problem, dass die Pferde vom Gut später ihre Köpfe direkt in seinen Ziergarten hängen könnten, der andere verlangte plötzlich das Doppelte der ursprünglich vereinbarten Pachtsumme. Hartwig hatte sich einen Kommentar verkniffen und das Spiel mitgespielt. Es ging diesen Leuten nicht nur um die Pacht, es ging ihnen auch darum, den Wessi in die Knie zu zwingen.
Das Bier mit Schildknecht in der Tränke hatte er sich jetzt redlich verdient. Seit dem Beginn der Sanierung war sein Bauleiter unentbehrlich, ein angenehmer Zeitgenosse, der mit sich reden ließ. Vielleicht verstanden sie sich auch so gut, weil sie gegen denselben Feind kämpften: die ständigen Verzögerungen der Genehmigungen und Unregelmäßigkeiten bei den Materiallieferungen.
Als Hartwig in die Dorfstraße von Groß Bernow einbog, verabschiedete sich die Sonne am Horizont. Vom Kirchturm her tönten sieben Glockenschläge durch das offene Seitenfenster seines Wagens. Ihr blecherner trostloser Klang ging ihm durch und durch. Nach den demütigenden Verhandlungen meldeten sich bei ihm Zweifel. War die ganze Unternehmung nicht doch unkalkulierbar? Hatte er sich zu einem Abenteuer hinreißen lassen, dem er nicht gewachsen war? Und Anja stand nicht voll hinter ihm, auch das war anders gedacht.
»Hey, alter Junge, was ist los mit dir?«, fiel plötzlich eine Stimme in seine Gedanken ein, die Stimme von Linus, seinem ehemaligen Kollegen, dem einzigen, mit dem er ab und zu ein ehrliches Wort hatte reden können. »Du wirst dich doch von ein paar Kleinigkeiten nicht mürbe machen lassen. Ganz vergessen, dass man zu seinen Entscheidungen stehen muss?«
»Danke, Linus!«, antwortete Hartwig laut und schaltete in den zweiten Gang zurück. Wenn er sich jetzt umsah, war er nicht allein in diesem Dorf; hinter den Gardinen brannte Licht, und vor einigen der Häuser standen Autos, nicht nur Trabis und Wartburgs. Er parkte den Mercedes vor der Tränke und stieg aus. Drinnen am Tresen wartete bereits Schildknecht. »Alles unter Dach und Fach?«, begrüßte ihn sein Bauleiter.
»Mehr oder weniger«, erwiderte Hartwig, »Aber jetzt brauche ich erst mal ein Bier.«
»Schreib’s auf mich, Peter«, rief Schildknecht dem Wirt zu.
»Haben Sie meine Frau gesehen?«
»Ja, vorhin am Bau. Ich habe ihr einen kurzen Einblick gegeben. Sie ist an allem interessiert, wird eine ideale Gutsherrin abgeben, die Frau Gemahlin. Das sagt mir mein Bauchgefühl.«
Hartwig hatte sich darauf gefreut, Anja selbst durch die Räume zu führen, aber die Gelegenheit hatte er nun verpasst. »Und? Was hat sie gesagt?«
»Sie war erstaunt.«
»Wieso?«
»Weil alles so groß sei, meinte sie.«
»Haben Sie auch darauf hingewiesen, dass die Salons erst richtig zur Geltung kommen werden, wenn das Parkett geschliffen ist?«
»Nein, das nicht. Ich wollte Ihnen auch noch etwas überlassen.«
Schildknecht zwinkerte ihm zu. Hartwig lachte. Ein Kumpeltyp, dachte er. Vielleicht hatte er sogar einen ersten Freund hier gefunden. Der Wirt stellte zwei Gläser Bier vor sie auf den Tresen, als sich die Tür zum Schankraum öffnete. Drei junge Männer in Leder erschienen: unbewegte Gesichter, glatt rasierte Schädel, muskulöse Oberarme.
»Flipper frei?«, fragte der erste, ohne zu grüßen.
»Klar, Jungs«, erwiderte der Wirt. »Bierchen wie immer?«
»Was sonst.«
Die Kerle verzogen sich in einen angeschlossenen Raum. Hartwig blickte ihnen nach.
»Beängstigend diese Typen«, sagte er zu Schildknecht.
»An den Anblick werden Sie sich gewöhnen müssen, es sind Einheimische. Die jungen Leute auf dem Land haben es schwer, meistens sind sie arbeitslos. Der Große hat beim Gerüstbau am Gut ausgeholfen, als Not am Mann war. Man muss diese Jungs nur zu nehmen wissen, dann kommt man mit ihnen aus.«
*