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»Eines der grandiosesten Prosastücke nicht nur des 19. Jahrhunderts.« (Martin Walser)
Das E-Book Im Strudel des Malstroms wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Seefahrerliteratur, Färöer Inseln, Schiffsunglück, Norwegen, Schifffahrt
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Seitenzahl: 30
»Gottes Wege und Gottes Weisheit sind anders als Menschenwege und Menschenweisheit. Unser Verstand ist zu arm, um seine Größe und Herrlichkeit auch nur zu ahnen. Seine Werke sind unergründlicher als der Brunnen des Demokritos.«
Joseph Glanville
Endlich hatten wir den Gipfel der höchsten Klippe erreicht. Es dauerte ein paar Minuten, bis der erschöpfte Alte wieder reden konnte.
»Es ist noch gar nicht lange her«, sagte er endlich, »da hätte ich Sie noch ebenso gut führen können wie mein jüngster Sohn. Vor etwa drei Jahren indessen passierte mir etwas, was nie einem Sterblichen vorher begegnete, was jedenfalls keiner bisher überlebt hat, um davon erzählen zu können. Die sechs Stunden Todesangst, die ich durchmachen musste, haben mich an Leib und Seele gebrochen. Sie halten mich sicher für hochbetagt, aber ich bin’s nicht. In weniger als Tagesfrist sind diese einst kohlrabenschwarzen Haare weiß geworden und meine Glieder und Nerven so schwach, dass ich bei der geringsten Anstrengung zittere und mich vor einem Schatten fürchte. Ich kann kaum noch von dieser kleinen Klippe hinunterschauen, ohne schwindlig zu werden.«
Die »kleine Klippe«, an deren äußerstem, obendrein schlüpfrigem Rande er sich so leichtsinnig hingestreckt hatte, dass nur die aufgestützten Ellbogen den großenteils überhängenden Körper vor dem Absturz bewahrten ‒ diese »kleine Klippe« ragte als steiler, glänzend schwarzer Felsen etwa fünfzehn- bis sechzehnhundert Fuß hoch aus einer Welt von Zacken und Spitzen herauf. Um keinen Preis hätte ich mich dem Abhang auf weniger als ein halb Dutzend Schritte zu nähern gewagt. Die gefahrvolle Lage, die mein Begleiter sich ausgesucht hatte, machte mich dermaßen schwindlig, dass ich mich platt auf den Boden warf, mit beiden Händen das Gestrüpp neben mir packte und nicht einmal zum Himmel aufzublicken wagte. Geraume Zeit vermochte ich den Gedanken nicht loszuwerden, der fürchterliche Sturm könne die Grundfesten des Berges erschüttern; es dauerte lange, bis ich mich aufrichten und umherspähen konnte.
»Solche Schwachheiten müssen Sie sich abgewöhnen«, sagte der Führer; »ich habe Sie ja gerade hierher gebracht, damit Sie den Schauplatz des Ereignisses, von dem ich Ihnen erzählen will, nach Möglichkeit vor Augen haben. Wir befinden uns unter dem achtundsechzigsten Breitengrad, unweit der norwegischen Küste«, fuhr er in seiner umständlichen Art zu berichten fort, »in der großen Provinz Nordland, im Gebiet der Lofoten. Der Berg, auf dessen Gipfel wir sitzen, heißt Helseggen, der Bewölkte. Richten Sie sich einmal ein bisschen auf ‒ halten Sie sich am Grase fest, wenn Sie schwindlig werden ‒ so ‒ , und nun blicken Sie einmal über den Dunstgürtel unter uns weg auf die See.«
Schwindelnd schaute ich hin und sah den weiten Ozean tiefschwarz wie Tinte vor mir liegen, dass mir sofort der Bericht des nubischen Geographen vom Mare Tenebrarum einfiel. Ein trostloseres, öderes Bild war gar nicht denkbar. Zur Rechten und zur Linken, so weit der Blick in die Ferne schweifte, war die Welt gleichsam verriegelt durch lange Ketten unheimlich schwarzer und nackter Berge, in ihrer Düsterkeit noch bestärkt durch die Brandung, die heulend und tosend ihre weißen Schaumkämme gegen sie schleuderte. Gerade gegenüber dem Vorgebirge, auf dessen Gipfel wir uns befanden, erkannte man fünf oder sechs Meilen weiter in See eine kleine schwärzliche Insel, und zwei Meilen näher dem Festlande zu erhob sich ‒ noch kleiner dem Umfange nach ‒ ein anderes wildzerklüftetes Felseneiland, von einem regelmäßigen Kranz schwarzer Klippen umgeben.