Im Visier des Vampirherrschers - Anya Moon - E-Book

Im Visier des Vampirherrschers E-Book

Anya Moon

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Beschreibung

Vampire: unsere schlimmsten Feinde - oder unsere Rettung? Bleibt sein Herz stehen, so tut es auch Lilians... Inmitten des Krieges, der zu Beginn des 22. Jahrhunderts durch die Vampire ausgelöst wird, durchläuft Lilian die Hölle auf Erden. Seit sie sich aus einem Leichensack befreit hat, ohne Erinnerung an ihre Vergangenheit, kämpft Lilian allein ums nackte Überleben. Bis sie Vladimir Drouklean, dem Vampirherrscher, ausgeliefert wird, um ihm ein Leben lang treu zu dienen. Lilian muss sich eingestehen, dass sie auf Vladimirs Schutz angewiesen ist. Denn ein noch mächtigerer Feind hat es auf sie abgesehen. Das Schlimmste: er kennt Lilians Vergangenheit und ihr dunkelstes Geheimnis, das nicht einmal sie selbst kennt. Denn der Ursprung allen Übels liegt weit vor Beginn des nächsten Jahrhunderts.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Triggerwarnung

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass du dich für mein Buch entschieden hast. Zuvor möchte ich dich auf potenziell triggernde Themen hinweisen, die in meiner Geschichte auftauchen: Blut, Freiheitsberaubung, Geburt, Schwangerschaft, Tod, (sexuelle) Gewalt, erotische Szenen.

KAPITEL 1

Erster April 2115, circa fünfte Stunde

Schreie, Granateneinschläge, einstürzende Gebäude, Schüsse. Das waren Lilians alltägliche Begleiter seit einigen Jahren. Doch am meisten gingen ihr die Schreie der Menschen auf die Nerven. Sie ertrug diese Frequenzen nicht. Sie glichen ihren Eltern, wenn sie ihre Ausraster gehabt hatten.

Warum dieser Krieg sich abspielte, wusste Lilian nicht. Die Vampire waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und vernichteten alles, was ihnen im Wege stand, seitdem Lilian damals aus dem Leichensack herausgeklettert war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen Filmriss – wie ihre Mutter, wenn sie zu viel getrunken hatte.

Allein der Gedanke daran, in völliger Finsternis aufzuwachen, sich nicht bewegen zu können, mit dem Gefühl, gleich zu ersticken, sandte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken.

Seit dem sechzehnten Lebensjahr lebte Lilian auf der Straße. Nacht für Nacht suchte sie lebensgefährliche Verstecke wie einsturzgefährdete Häuser auf. Und das nur, um für wenige Stunden oder gar Minuten zu schlafen. Immer wieder wurde sie durch Angriffe oder Schreie aufgeschreckt und musste weiterziehen.

Oft hielt sie sich an der Amalfiküste auf, um sich hinter den gewaltigen Felsen zu verstecken. Es war pures Glück, dass man sie bis heute nicht gefunden hatte. Vampire nutzten jeden Vorteil, um Menschen zu töten oder gefangen zu nehmen. Sie griffen immer dann an, wenn man sie am wenigsten erwartete. Besonders die Nächte waren lebensgefährlich. Man durfte sich nicht auf den Straßen aufhalten, es sei denn, es ging nicht anders. Es gab keinen Strom mehr und damit kein Licht. Und wer eine Lichtquelle benutzte, sei es nur ein Feuerzeug, war dem Tode geweiht. Denn die tiefroten Augen dieser Wesen sahen alles. Sobald Lilian diese erblickte, ging sie in Deckung. Wie oft hatte ihr wild schlagendes Herz sie beinahe verraten? Wie oft hatte die lähmende Angst in ihr sie fast ohnmächtig werden lassen? Und trotzdem war nie etwas passiert. War es ein Wunder, ihre gute Kondition oder der Wille, weiterzukämpfen und nicht aufzugeben?

Denn trotz alledem überkam Lilian immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Vampire waren lautlose Jäger. Sie hatten Spitzenreflexe und waren fünfmal schneller als ein Mensch.

An einem verregneten, finsteren Tag hatte Lilian beobachtet, wie einer dieser Vampire eine Gruppe von vier Menschen innerhalb weniger Sekunden kaltgemacht hatte. Zerfetzt hatte er sie. Lilian hatte diese schnellen Bewegungen nicht einmal ansatzweise mit ihren Augen verfolgen können. Er hatte scheinbar regungslos dagestanden, während seine Opfer um ihm herum in tausend Stücke zerfielen, als wenn Blicke töten könnten.

Der Vampir war zu abgelenkt, um Lilian zu bemerken. Sie zielte mit dem Gewehr, das sie einem toten Soldaten abgenommen hatte, und drückte ab. Sie traf ihn mehrmals, bis er von einem Augenschlag zum nächsten verschwand. Sie hatte ihn nicht wieder gesehen. Bis heute.

Die Morgendämmerung brach an. Doch das Tageslicht blieb fern, denn Lilian war von Feuer und Rauch umgeben. Die Welt von damals existierte nicht mehr. Sie stand in Flammen. Und alles war in sich zusammengefallen. Asphalt und Geröll lagen überall verteilt. Die Krater der Granateneinschläge waren so tief, dass sich ein Mensch beim Sturz hinein die Beine brechen konnte.

Warum war es urplötzlich so ruhig? Bis auf dumpfes Grollen in einiger Entfernung, das an Gewitter erinnerte, war nichts zu hören. Seit Lilian sich vor einigen Jahren aus dem Leichensack befreit hatte, war es zum ersten Mal verhältnismäßig ruhig. Das machte ihr Angst.

War die Zeit der Kapitulation angerückt? War all diese Zerstörung vorbei?

Lilian war planlos. Sie hielt das schwere Gewehr an sich gedrückt. Es zerrte an ihren Armen und an Stellen, an denen sie nie Muskeln vermutet hätte.

Sie drehte sich mit dem Gewehr in alle Richtungen. Es waren keine glutroten Augen zu sehen. Dafür Rauchwolken, die überall hochquollen. Die Hitze fühlte sich unerträglich auf ihrer Haut an.

Lilian musste an die Küste. Ihr Körper und die Sachen, die sie am Leib trug, benötigten dringend einen Waschgang. Ersatzkleider lagen am Strand, gut bei den Felsen versteckt. Das war ihr einziger Besitz. Manchmal sprang sie gleich mit den Sachen ins Meer, zog sich danach bis auf die Unterwäsche aus, um Hosen und Oberteile auf Felsen zu legen und trocknen zu lassen. Das Salzwasser war alles andere als ideal. Es machte ihr Haar spröde und trocken. Ihre Haut fühlte sich wie Sandpapier an und war oft entzündet. Ihre Kleidung behielt Salzrückstände, war mittlerweile ausgeblichen und löchrig.

An der Küste hatte sie nie eine Menschenseele gesehen. Es gab keine Fluchtmöglichkeiten und dieser Ort war schwer zugänglich. Genau das Richtige für Lilian, um unentdeckt zu bleiben.

Beim Gedanken, die Klippen hinunterzufallen, lief Lilian erneut ein Schauer über den Rücken. Er sollte sie davor abschrecken, jemals wieder den Strand aufzusuchen. Aber da war sie am sichersten und nur dadurch konnte sie überleben. Der Krieg war vermutlich der schlimmste in der Geschichte, schlimmer als alle vorhergehenden Kriege zusammen, die die Welt je erlebt hatte. Lilian tat allerdings lediglich ihre Zerstörung leid, nicht die Menschen. Trauer hatte sie für niemanden verspürt. Nicht mal für Ravia, seitdem diese Männer ...

Um ihre Eltern hatte sie nie geweint. Denn ihr Inneres hatte ihr immer gesagt, dass sie nie gewollt, seit der Geburt immer das fünfte Rad am Wagen gewesen war. Hass, Gewalt, Hoffnungslosigkeit bestimmten ihr Leben. Liebe kannte sie nicht.

Ihr Vater war ein Fremder gewesen. Er hatte Textilindustrien in Südamerika und Süditalien geführt, während ihre alkoholkranke, kaufsüchtige Mutter zu Hause geblieben und vor dem PC versauert war.

Zweimal im Monat war Lilians Vater zu Hause gewesen. Und das nur, um nachts zu ihr ins Bett zu kommen. Nicht, um etwa mit ihr zu kuscheln, sondern um seine Männlichkeit an ihren Unterbauch zu reiben und sie zu berühren. Ihre Mutter hatte ihn angewidert, mit ihrem fülligen, aufgeschwemmten Körper.

Eines Tages hatte Lilian im zugemüllten Keller eine alte, stinkende Pappschachtel mit Fotos gefunden. Sie mussten sehr lange da unten gelegen haben, denn der modrige Kellergeruch haftete selbst an den Fotos.

Es waren Hochzeitsfotos und Grillfotos. Und auf keinem Bild war ihre Mutter schlank. Sie schien schon immer kräftig gewesen zu sein. Daher stellte sich die Frage, warum Vater sie dann überhaupt geheiratet hatte, wenn er doch so angewidert war? Warum war Lilian überhaupt entstanden?

Die Antwort schoss wie ein Blitz durch ihren Kopf: Damit Vater sich an ihr vergnügen konnte! Ganz sicher! Ob er sie schon als Baby … O Gott!

Lilian schlug die Hände vor die Augen, um die Tränen zu unterdrücken. Als Kind hatte sie oft geweint, wenn ihre Mutter sturzbesoffen ins Bett – oder knapp daneben – gefallen war und Nacht für Nacht den Teppich vollgekotzt hatte. Das gute Töchterchen hatte alles feinsäuberlich gereinigt und hätte sich bei dem Gestank beinahe selbst in den Wischeimer übergeben. Womit hatte sie solche Eltern verdient gehabt? Eine Säuferin und ein alter, lüsterner Drecksack.

Lilian fiel auf die Knie und zitterte am ganzen Leib, fing an sich heftig zu kratzen, weil sie immer noch Vaters besitzergreifenden, kräftigen Hände spürte. Sie fühlte sich schmutzig und musste sofort ins Meer! Seine dreckigen Hände mussten weggeschrubbt werden! Ihre Arme waren blutig gekratzt und brannten.

Dann meldete sich ihre Wade wieder zu Wort, weil irgendein kranker Irrer sie vor zwei Tagen angeschossen hatte. Vermutlich hatte er sie für eine Vampirin gehalten oder war so vom Krieg gezeichnet, dass er Gut und Böse nicht mehr unterscheiden konnte.

Den Irren hatte Lilian mit einem Kopfschuss erlöst. Der Anblick war grauenhaft gewesen. Noch grauenhafter war aber ihr Schmerz. Sie hatte sich etwas Stoff von ihrer Hose abgerissen, um es um die Wade zu wickeln.

Lilian scheute nicht einmal davor, ihre Mitmenschen zu töten. Es war ja Notwehr. Genau, Notwehr. Denn jeder Tag war eine Prüfung. Und diese hatte sie bestanden.

Als sie sich den Stoff von der Wade schob, um nachzusehen, war keine Wunde mehr zu sehen. Was zur Hölle…? Es war nur ein Streifschuss gewesen, aber jetzt war die Wunde verschlossen! Es klebte lediglich noch Blut an ihrem Bein und am Stoff.

Das war ihr sehr oft aufgefallen. All ihre Verletzungen waren stets innerhalb kürzester Zeit verheilt. Das Gefühl war befremdlich. Lilian fand keine Worte, um es zu beschreiben. Denn es kam ihr immer wieder der Gedanke, dass etwas nicht stimmte. Aber was? Wie war sie in den Leichensack gelangt? Wo war sie vorher gewesen?

Mit ihrem dreckigen Handrücken wischte sich Lilian die Tränen weg. Der Schmutz brannte in ihren feuchten Augen. Sie nahm einen Zipfel ihres zerfetzten T-Shirts und tupfte sie vorsichtig trocken.

Sie musste an die Küste. Aber ihr sonst einwandfreier Orientierungssinn ließ sie im Stich, nicht zuletzt aufgrund der Dunkelheit und des Rauchs. Vermutlich hatte sie sich zu weit weg von der Küste gewagt.

Sie lief irgendwohin. Nach Süden. Wo war Süden? Verdammt, sie hatte keine Ahnung. Zunächst kraxelte sie über hohe Schuttberge und eine Menge zerstörter Betonplatten, um die Richtung beizubehalten. Sie riskierte Knochenbrüche, wich Kratern aus, um sich schließlich auf irgendeinen größeren Stein zu setzen und durchzuatmen. Sollte sie warten, bis die Sonne sichtbar war, und das Risiko eingehen, entdeckt zu werden? Denn selbst Sonnenstrahlen hielten Vampire nicht davon ab, anzugreifen. Im Mythos hieß es, dass die Sonne der Tod für sie sei, dass sie regelrecht unter ihrer intensiven Einstrahlung verbrennen würden. Offenbar war der Mythos falsch. Denn Lilian hatte vor einigen Wochen zwei Frauen belauscht und diese Information aufgeschnappt. In diesem Moment – es war Tag gewesen und der Glutball hatte hoch am Himmel gestanden – hatte ein Vampir ihren Diskussionen ein Ende bereitet.

Lilian irrte weiter herum und hoffte, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. Die vielen Brandherde um sie herum nährten sich von allem, was vom Krieg noch übrig geblieben war.

Der quellende Rauch wurde immer mehr. Lilian atmete ihn wieder und wieder ein und hustete ununterbrochen. Beim Versuch, den Husten zu unterdrücken, um nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, wurde der Reiz unerträglich und sie drohte zu ersticken. Sie zog ihr Shirt nach oben, um es sich vor den Mund zu halten und rannte ein Stück, um den Rauchschwaden zu entkommen, bis sie vor einer Kreuzung stand, die nicht mehr wie eine aussah.

Das erste Mal fühlte Lilian sich verloren und wusste nicht, wohin. Sie hatte sich noch nie zuvor so weit weg von der Küste gewagt. Immer nur so weit, dass sie diese mit Sicherheit wiederfinden würde.

Nach einer weiteren Pause lief sie weiter. Ihr Bauchgefühl sagte, dass es die falsche Richtung war. Sie ignorierte es und ging ins Nirgendwo.

Vladimir Drouklean war außer sich, rasend vor Wut. Sein Adrenalinpegel befand sich jenseits von Gut und Böse. Wenn er jetzt ein Hochhaus klitzeklein schlüge, würde es nicht mal wehtun. Er wusste schon immer, dass Harry nicht viel taugte.

„Ich habe das Mädchen wirklich nicht bemerkt!“, verteidigte sich Harry, wobei er sich eher lächerlich machte. Vladimir lief kopfschüttelnd hin und her.

„Und da willst du dich Vampir nennen? Mann! Da möchte ich weinen! Einen Feind bemerkst du nicht. Den fühlst du! Du spürst die Gefahr in dir, bevor sie überhaupt entstanden ist! Kaum vorstellbar, dass du zuvor vier Schwachköpfe gleichzeitig auseinandergerissen haben sollst! Das hätte ich gern gesehen!“, brüllte Vladimir, dass die Hütte vibrierte. Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Er bekam einen kleinen Blutbeutel zugeworfen, damit er seine Schusswunden schließen konnte. Die Kugeln hatte er sich bereits herausziehen lassen.

„Die Frau muss ja echt ein Riesentalent haben, wenn du dir noch ihre Kugeln einfangen konntest. Du suchst dir ein paar unserer Männer und findest sie! Lebend! Das dürfte doch nicht allzu schwer für dich sein.“

Harry nickte.

„Befehl verstanden!“, bestätigte Harry und salutierte.

„Wenn du die Sache gut machst, darfst du dir einen Gefangenen aussuchen. Aber das Mädchen gehört mir!“, warnte der Anführer und gab ihm ohne weiteren Kommentar eine kleine Flasche Chloroform und ein Baumwolltuch.

„Jawohl!“, befürwortete Harry und rannte mit zwei weiteren Vampiren hinaus in die Morgendämmerung. Vladimir ließ den Rest seiner Truppe menschliche Überlebende aufsuchen, um sie in Verliese zu werfen. Sie brauchten jetzt jede Menge Arbeiter und vor allem das Blut.

KAPITEL 2

Lilian hatte geahnt, dass sie sich verirren würde. Trotzdem war sie diesen Weg gegangen. Zum zweiten Mal war sie auf eine Kreuzung gestoßen, die genauso aussah, wie die davor. Als sie die Küste verlassen hatte, war sie nicht einer einzigen begegnet.

Einige Zeit war sie dem Rauch entgegen gegangen. Aber der Wind wechselte oft die Richtung.

Es wurde Tag, doch die Sonne war nicht zu sehen. Dafür Regenwolken, die sich farblich nicht von den Rauchwolken unterschieden. Lilian lief wie auf eine Wand zu, durch die sie nicht hindurchschauen konnte.

Ihr fiel jetzt erst auf, dass sie seit Längerem keine Seele mehr gesichtet hatte. Sie hörte nichts, bis auf das Knistern und Knacken des Feuers, das Züngeln, bis die Nahrung verschwand. Es war ruhig. Zu ruhig. Nicht mal eine Explosion war zu hören. Die Stille war nicht alltäglich, sondern unerträglich und flößte ihr Angst ein. War sie allein?

Ein kurzes, tiefes, männliches Lachen und Lilian schreckte hoch. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals wie ein Presslufthammer. Sie ging ihre eigene Taktik gedanklich durch: In die Hocke gehen, tief Luft holen und anhalten, Muskeln anspannen und schießen. Nur wohin schießen, wenn sie nichts sah? Ihre Atmung war lauter als die Geräusche der Umgebung, oder war es das durchrauschende Adrenalin in ihr? Ihre Zellen arbeiteten auf Hochtouren. Lilian konnte nicht einordnen, woher das Lachen kam. Sie war noch zu sehr auf den Gedanken fixiert, es überhaupt gehört zu haben.

Sie drehte sich nach links und erstarrte. Eine finstere Silhouette eines Mannes mit gestähltem Körper war zu sehen. Aber kein Mensch besaß solche durchdringenden roten Augen. Immer wieder umhüllte dunkler Rauch seinen Körper, ließ ihn wie eine geisterhafte Figur erscheinen.

Sein Oberkörper war frei. An den Gürtelschlaufen seiner zerfetzten Hose hatte er seine Daumen durchgesteckt. Seine Haut war dunkelgrau, seine schwarzen Haare streng nach hinten gekämmt.

„Hallo“, grüßte er finster und zeigte mit einem fiesen Lächeln seine blendend weißen Zähne. Lilian drückte ab. Klick. Munition verbraucht. Lilian ließ das Gewehr zu Boden fallen. Ihre Lunge brannte, als wäre sie einen Marathon gelaufen.

„Das war’s dann wohl“, flüsterte sie und durchforstete in ihrem Kopf die Fähigkeiten der Vampire, nur um festzustellen, dass sie keine Chance hatte lebend davonzukommen. Sie hätte sich jetzt am liebsten die letzte Kugel, die sie für den Irren verschwendet hatte, in den Schädel geschossen. Ihr blieb nur eine Wahl.

„Mich kriegt ihr nicht“, zischte sie leise, aber noch so laut, dass er sie verstehen konnte. Dann rannte sie los, weg von ihm. Und einem anderen Vampir in die Arme. Ein kurzer Schreckensschrei und dann ein feuchtes Tuch auf ihrem Gesicht.

„Doch, wir kriegen dich“, flüsterte der andere Vampir und Lilian sackte in seinen Armen zusammen.

Lilian erwachte mit nie dagewesenen, dröhnenden Kopfschmerzen, als schlüge ihr jemand einen Nagel in den Kopf.

Ewig dauerte es, bis sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnten. Dieser Raum war so fremd, so kalt und begann sich im Kreis zu drehen. Ihr wurde übel. Ein stechender Geruch zwang sie den Kopf zur Seite zu drehen und den sauren Mageninhalt zu erbrechen. Ihren Körper konnte sie nicht bewegen, denn sie war von oben bis unten fixiert. Schweiß brach aus, die Hitze stieg ihr zu Kopf. Sie hustete den Rest heraus, der im Hals verblieben war.

„Der kurzzeitige Schlaf bekam dir wohl nicht. Schlechte Nachrichten, wir müssen dich noch einmal damit belasten“, sagte eine raue, dunkle Stimme. Lilian riss viel zu schnell den Kopf herum, sodass die Kopfschmerzen wieder schlimmer wurden. Die Stimme gehörte einem sehr jung aussehenden Vampir. Er nahm Zellstoff von einem Tablett neben ihr, wischte ihr den Mund ab und warf den Zellstoff in einen Eimer, ohne seine Augen von ihr zu wenden. Seine Augäpfel waren genauso rot wie seine Iris, die schwarz umringt war. Er nahm nochmals Zellstoff und trocknete ihre nasse Stirn ab.

„Bevor du unserem Anführer zugeordnet wirst, untersuchen wir dich gründlich. Wer weiß, welche Seuchen du mit dir herumträgst“, sagte er schroff. Was zur Hölle redete er? Welcher Anführer und was für Untersuchungen? Was für Seuchen?

„Fresse!“, schnaubte sie. Der Vampir wirkte überrascht. Für einige Sekunden schaute er sie nur an, ohne sich zu rühren. Einen Augenschlag später war er wieder bei sich, als hätte er so lange für eine Antwort gebraucht.

„Nicht ganz, ich heiße Harry.“ Er lief zur Tür und drehte an einem Knopf. Der Raum wurde dunkler. Jetzt erkannte sie diesen vampirischen Mistkerl wieder. Sie hatte ihn vor wenigen Tagen angeschossen, bevor er urplötzlich verschwunden war. Sie war sich sicher, ihn mehrfach getroffen zu haben. Er lief oberkörperfrei herum, was vermutlich Trend unter diesen vampirischen Männern war, und es war kein Verband zu sehen. Wo waren seine Wunden?

Lilian betrachtete fasziniert jeden einzelnen seiner ausgeprägten Muskeln und verstand immer noch nicht, warum er keine Verletzungen hatte.

Dann musterte sie den Raum. Sie lag genau in der Mitte, auf einer Pritsche. Um sie herum standen noch weitere. An den Wänden hingen Regale mit unzähligen Ordnern, die mit je einem Buchstaben auf dem Rücken beschriftet und alphabetisch sortiert waren.

Sie blickte an sich herab und lief vor Scham rot an. Bis auf ein durchsichtiges, locker zwei Kleidergrößen zu großes Hemd war sie vollkommen nackt. Ein Teil ihrer mickrigen Brust lag frei. Ihre Beine waren so gefesselt, dass sie leicht gespreizt waren.

Die Tür ging mit einem metallischen Schaben auf und ein weiterer Vampir betrat den Raum. Er hatte blassgraue Haut, schwarze kurze Haare und er trug einen weißen langen Kittel, der noch mehr hervorstach als seine roten Augen. In seinen Händen hielt er Unterlagen. Stifte und Notizblock schauten aus der Kitteltasche hervor.

„Hallo, Sergon. Ich habe dir fünf kleine Blutproben auf den Tisch dort drüben gelegt“, sagte dieser Harry. Lilian sah zu den fünf kleinen Ampullen hinüber. Dann fiel ihr Blick auf ihre Armbeugen. An der linken fand sie tatsächlich einen mit Heftpflaster befestigten Mulltupfer. Jetzt, wo sie die Stelle des Einstiches sah, schmerzte es.

„Danke, Harry. Darf ich fragen, was das für Hinterlassenschaften auf dem Boden neben der Pritsche sein sollen?“

„Ja, ihr ging es nicht so gut“, meinte Harry und grinste frech.

„Ach und du dachtest wohl, ich soll mir das noch anschauen, bevor du es entfernst? Du weißt, dass ich anfällig für Derartiges bin!“

Geschieht ihm recht, dachte Lilian.

„Ja, bin dabei.“ Harry nahm blitzartig einen Eimer und Einwegtücher, griff nach einer Sprühflasche mit Lösemittel, um Lilians Hinterlassenschaften wegzuwischen.

„Das Blut sieht vollkommen in Ordnung aus.“ Sergon hielt eine Ampulle gegen das schwache Licht und schwenkte sie hin und her, als könnte er daraus schon erste Schlüsse ziehen.

„Hurensöhne“, flüsterte Lilian, aber dennoch hörten die Vampire sie und Harry stand im nächsten Augenblick neben ihr, sodass sie zusammenzuckte. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und beugte sich zu ihr herab.

„Verzeihung, ich hab’s nicht verstanden. Was sagtest du?“, murmelte er leise in ihr Ohr.

„Lass sie doch, Harry. Gönnen wir ihr den Spaß. Sie hat früh genug nichts mehr zu lachen.“

„Oh ja, wenn ich sie haben könnte, würde ich so einiges mit ihr anstellen“, sagte Harry voller Euphorie.

„Das geht leider nicht. Aber du darfst mir jetzt bei den Untersuchungen helfen. Fangen wir an?“, fragte dieser Sergon und zog blaue Einweghandschuhe an.

Harry nickte eifrig. Er eilte zu einem Glasschrank an der Wand, nahm eine Flasche heraus und ein frisches Tuch, durchtränkte es mit der Flüssigkeit und kam mit einem breiten Grinsen auf Lilian zu. Sie fing an, sich wild hin und her zu bewegen.

„Lasst mich, ihr verdammten …!“, schrie sie hoffnungslos und bekam erneut das Tuch ins Gesicht gedrückt.

„Träume süß“, flüsterte Harry.

Lilian, Lilian, dachte Vladimir. Du gehörst mir, einzig und allein mir. Ich werde dich besitzen und dir zeigen, wo mein Hammer hängt.

Er lächelte in sich hinein. Er konnte nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Einmal war er ins Labor zu ihr gegangen, als sie betäubt auf dem Tisch gelegen hatte und seine beiden Männer die Operation durchgeführt hatten. Ihr Körper war reizend, wenn auch ein wenig abgemagert. Er würde sie umsorgen mit allem, was sie brauchte, damit er sie und gleichzeitig sich selbst regelmäßig stärken konnte. Er würde ihr Blut langsam in seine Kehle fließen lassen, sanft an ihrer Vene saugen, dass es sie erregen würde. Sie sollte nach mehr betteln. Bei der bildlichen Vorstellung wurde er ganz spitz, sein Schwanz erwachte zum Leben.

Sie war sein, genau wie die Amalfiküste. Er war der Herrscher dieser Region. Von Salerno bis Sorrento, von da an bis Neapel, dazu die Insel Capri. Das war sein Gebiet und das seiner knapp zehntausend vampirischen Männer. Sehr klein, aber küstenreich, wie er es wollte. Er hatte sich mit den Anführern der Nachbargebiete abgesprochen. Grenzmauern sollten errichtet werden. Nicht allzu hoch, einige Meter vielleicht, sodass sie unüberwindbar für Menschen waren. Sie sollten keine Gelegenheit bekommen zu fliehen. Dafür mussten sie schon nach Sizilien schwimmen. Entweder sie endeten vorher als Haifischfutter oder schwammen einem weiteren vampirischen Anführer in die Arme: Nämlich Antonio Fidola – seinem Cousin. Ihre italienischen Mütter waren Schwestern gewesen. Vladimir hatte leider einen russischen Vater gehabt, Antonio einen italienischen. Auch wenn die Staaten keine Rolle mehr spielten, da sie vor fünfzehn Jahren zu Kriegsbeginn aufgehört hatten zu existieren, fühlte Vladimir sich nach wie vor unrein und minderwertig. Heimisch fühlte er sich nie, auch wenn seine Anhänger es ihn nicht spüren ließen. Doch wenn es jemand noch weniger war, dann die Menschen.

Die Vampire verabscheuten diese global Verblödeten. Sie waren nur noch fremdgesteuerte, Social Media süchtige Individuen, die sich massenhaft vermehrten, widersprüchliches Verhalten an den Tag legten und sich selbst betrogen. Vladimir war von der Menschheit so angewidert, dass es gut tat, sie mit dem Krieg einzudämmen. Während Hunger und Durst Afrika beherrschten, wurde der Rest der Welt immer fetter. Es gab Nahrung im Überfluss, die weltweit ungleich verteilt war. Die Lebensmittelindustrien machten diese willenlosen Menschen krank und erfreuten die Pharmaindustrien, die sich an ihnen wiederum eine goldene Nase verdienten. Weltweite Unruhen, Kriege und terroristische Anschläge trieben die Menschen dazu, sich weltweit zu verstreuen. Klar wünschte sich jeder ein besseres Leben und nahm lebensgefährliche Wege in Kauf. Doch nirgendwo waren Flüchtlinge willkommen. Große Teile der Gesellschaft waren in Aufruhr, fürchteten um ihr Land, ihr Zuhause und ihre Familien und verbreiteten wiederum Hass und Gewalt.

Bei dem Gedanken an die frühere kranke Welt bekam Vladimir beinahe Gänsehaut. Zum Glück hatte der Krieg ihm dazu verholfen, seine russisch-italienischen Wurzeln ein wenig in den Hintergrund zu schieben. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, nirgendwo willkommen zu sein. Ein Vampir war ein Vampir. Egal, aus welchem Staat er kam. Denn sie waren eine Rasse, allesamt Brüder. Sie lebten vom menschlichen Blut, konnten sich einige Zeit der Sonne aussetzen, waren blitzschnell, lautlos, und das Beste kam zum Schluss: sie wurden nicht krank, auch nach dem Verzehr kranken Blutes nicht. Denn die Vampire waren untot und hatten kein Immunsystem, das auf Krankheitserreger ansprechen konnte.

Vladimir lachte erneut in sich hinein. Es war ein unvorstellbar hochwertiges Geschenk, ein Vampir zu sein, auch wenn er sich zunächst nicht damit abfinden wollte. Doch der Gedanke war kurz nach seiner Wandlung schnell vergessen gewesen. Denn jetzt war seine Spezies am Ball. Es herrschten neue Gesetze.

Die Schandtaten, die die Menschenmassen Jahrhunderte, sogar Jahrtausende lang mit der Natur und Tierwelt angerichtet hatten, wollten die Vampire wieder richten. Zuerst mit Krieg. Dem schlimmsten aller Zeiten. Die Menschen mussten besonders in ihrer Zahl eingedämmt werden. Nun sollten sie das aufbauen, was sie zerstört hatten.

Überglücklich und mit Zukunftsideen unterschrieb Vladimir die Urkunde, um Lilian als lebenslanges Eigentum zu beanspruchen. Dafür schnitt er sich mit seiner Machete in die Zeigefingerkuppe und signierte mit seinem vollständigen Namen.

„Dein Schicksal ist besiegelt, meine Süße“, sagte er abschließend.

16. April 2115, circa Mittagszeit

Zwei mal zwei Meter. So groß war Lilians Zelle ungefähr. Wieder und wieder hatte sie mit ihren Beinen gemessen, ohne genau zu wissen, was ein Meter war. Einfach ein großer Schritt und noch einer. Sie saß in diesem verdreckten, stinkenden Loch. Sie konnte nie ruhig schlafen, wachte immer wieder im Minutentakt auf. Ihre Geschäfte musste sie in einem Eimer verrichten, so wie all die anderen Gefangenen.

Einmal am Tag wurden diese Eimer von einem der Vampire entleert. Mittlerweile hatte sich Lilians Nase auch an den Gestank der Exkremente gewöhnt, sodass sie ihn gar nicht mehr wahrnahm.

Ihre Zelle war in einer Ecke gelegen. So konnte sie geradewegs in den finsteren, schier endlosen Gang starren. An der Decke hingen einfache Glühbirnen. Sie leuchteten so schwach, man hätte auch ganz auf sie verzichten können. Sie flackerten und dienten lediglich dazu, sämtliche Insekten anzulocken.

Lilians Augen folgten jeder einzelnen Birne, die den Gang entlang mit größerer Entfernung immer kleiner wurden. Zur Mitte ihres Blickfelds wurde es gänzlich dunkel, als führte der Gang direkt in ein schwarzes Loch. Und aus diesem Loch erkannte man nur rote Augen, bis der dazugehörige Vampir direkt vor einem stand.

Gerade kam ein vampirischer Wächter von rechts angeschlichen, sodass Lilian kurz zusammenzuckte. Er drehte seit geraumer Zeit seine Runden und blickte wieder und wieder in jede einzelne Zelle.

Mit Lilian tauschte er nur einen einzigen Blick aus. Dann lief er weiter, schaute abwechselnd links und rechts in die Zellen. Ein Gefangener fuchtelte wild mit den Armen herum und versuchte nach dem Wächter zu greifen. Er griff blitzartig nach seiner Machete, die am Bein befestigt war, und verpasste dem Gefangenen einen tiefen Schnitt durch beide Arme.

Das Brüllen des Mannes ließ die anderen Insassen verstummen. Der Wächter war bis an die Zähne bewaffnet. Ein Gewehr auf dem Rücken, zwei Pistolen in den Halftern, zwei Macheten.

Lilian passte nicht hierher. Sie war gefangen zusammen mit jammernden Irren, die stöhnende Laute und unverständliche Worte von sich gaben und nicht damit aufhörten. Manche Gefangenen drehten so durch, dass sie sich hemmungslos gegen die Gitter warfen oder sich die Köpfe an den Steinmauern einschlugen, bis die Stirn aufplatzte oder sie bewusstlos zusammenbrachen. Der Krieg musste ihren Verstand so beeinträchtigt haben, dass sie nicht einmal mehr Schmerzen verspürten oder wussten, was sie überhaupt taten. Sie waren allesamt psychische Wracks.

Neben Lilians Zelle saß eine rothaarige, junge Frau, die mit ihr Kontakt aufnehmen wollte. Aber es war verboten, mit anderen Gefangenen zu reden. Zu hoch war das Risiko, erwischt zu werden. Lilian war eine unauffällige, ruhige Gefangene. So sollte es bleiben. Sie hatte seit Jahren mit keinem Menschen geredet. Also tat sie es auch jetzt nicht.

Wenn es draußen dunkel wurde und die kühle Nachtluft über das mickrige Fenster zu ihr in die Zelle wehte und sich über ihren dünnen Körper legte, hörte sie die Frau winseln. Sie selbst lag einfach nur auf der harten Pritsche und starrte an die Decke.

Die ziehenden Schmerzen in ihrem Unterleib kehrten zurück. Die Wirkung des Schmerzmittels ließ schon wieder nach. Lilian bekam zweimal täglich eine Tablette vom Arzt Sergon persönlich, die sie mit einem Glas Wasser schlucken musste. Er hatte ihr mitgeteilt, dass ihr sämtliche Fortpflanzungsorgane entnommen worden waren. Seitdem hatte sie diese hässliche senkrechte Naht auf ihrem Unterbauch, die ihr diese Schmerzen bereitete.

Die Operation hatte offenbar schnell gehen müssen, denn der ach so nette Arzt hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Wunde ordnungsgemäß zu vernähen.

Gottlose Hurensöhne, dachte Lilian und starrte weiterhin an die Decke. Sie wusste nicht, an welchen Ort man sie und die anderen Gefangenen gebracht hatte. Waren sie überhaupt noch in Italien? Oder auf irgendeiner einsamen Insel, von der niemand mehr entkommen konnte? Wie lange sollte sie noch hier verbringen? Für wen hielten sich die Vampire überhaupt? Wollten die Sklavenhandel betreiben? Nicht mit Lilian! Lieber jagte sie sich eine Kugel in den Kopf, als irgendeinem Blutsauger zu gehören! Zudem fragte sie sich, was die Vampire wohl mit Kindern, alten und kranken Menschen angestellt hatten? In den Zellen befanden sich nur junge und Menschen mittleren Alters. Sie vermutete, dass die Kinder und Alten den Vampiren unnötig im Wege standen und beiseitegeschafft wurden. Vielleicht war an dieser Befürchtung etwas dran.

Die Lichter gingen aus. Erschreckende Stille folgte, sodass man eine Feder hätte fallen hören. Lilians Puls raste. In dem ohnehin düsteren Verlies war es jetzt stockfinster. Da kamen sie wieder. Es folgte der nächste Gefangene, dessen Schicksalsweg seinen weiteren Lauf nehmen sollte.

Da erblickte Lilian diese roten Augen, die einen zu durchbohren schienen. Nein, sie durchbohrten sie!

Die Augen wurden größer, die Schritte lauter. Sie kamen direkt auf sie zu. War sie als nächstes fällig? Wie würde ihr Herrscher aussehen? Würde er sie foltern?

Ein kurzes Rascheln, dann ein funkendes Zischen. Eine Fackel wurde angezündet und vor Lilian standen vier Gestalten: Der Wächter, der Arzt Sergon, Harry und ... Ach du Schande, nein! Bitte nicht! Lass DAS nicht meinen zukünftigen Herrscher sein, betete Lilian.

„Endlich, nach langem Warten“, grinste dieser breit. Der Mann trug eine schwarze Hose und ein sehr eng anliegendes gleichfarbiges T-Shirt. Jeder einzelne Muskel seines Oberkörpers trat hervor. Sein rechter Arm und seine rechte Gesichtshälfte glänzten im Lichte der Fackel neben ihm. Sämtliche Blutgefäße waren angespannt, als wären sie kurz vorm Platzen. Seine dunklen Haare waren vielleicht fünf Zentimeter lang. Sein Scheitel war mittig, sein Pony verlief seitlich entlang seines Gesichtes, sodass sein Auge etwas bedeckt war.

„Gut, Sergon. Gehen wir dein ärztliches Protokoll und das zusammengetragene Gedankengut durch“, sagte der Muskelprotz. Auf dem ersten Blick wirkte er wie ein furchteinflößender Bodyguard mit mehr Muskeln als Hirn. Das behielt Lilian natürlich für sich.

„Lilian, italienische Nummer 7.253.556, Nachname unbekannt, einundzwanzig Jahre alt, kommt ursprünglich aus Quarto“, setzte dieser Arzt an und der Muskelprotz schürzte die Lippen.

„Hm, Frischfleisch“, stöhnte er.

„Ihr Blut ist rein und frei von sämtlichen Krankheiten. Ich habe lediglich gegen Tetanus und Diphtherie aufgefrischt. Gegen alle anderen Erkrankungen hat sie genügend Antikörper. Woher auch immer. Hier hast du den Impfpass für sie, Vlad.“

Vlad, dachte Lilian. Etwa Vladimir? Ein Russe??? Ich soll einem dämlichen Russen zugewiesen werden? Hätte es, wenn schon, nicht wenigstens ein Italiener sein können?

„Gut. Wie geht’s weiter?“, forderte dieser Vlad.

„Die Operation verlief ohne Komplikationen. Damit es gesundheitlich so bleibt, solltest du bei ihrer Ernährung auf Fleisch achten, um dem Eisenmangel etwas entgegenzutreten“, sagte der Arzt und schaute kurz auf die Rückseite des ersten Blattes. Dann legte er es hinter das andere.

„Sehr gut. Was hast du noch über Lilian herausgefunden?“

„Nun ja, ihre Eltern sind verstorben. Weitere Verwandte sind keine bekannt. Und Schwerstverbrechen in der Vorkriegszeit sind ausgeschlossen.“

„Prima. Sonst noch was?“, drängte Vlad.

Sergon lächelte.

„Jungfrau …“, setzte er an.

„Schnauze!“, schoss es aus Lilian heraus. Sogleich zuckte ein Schmerz durch ihren Unterleib.

„Und die große Fresse“, ergänzte der Arzt entspannt.

„Gleich nicht mehr. Sie wird sich noch wünschen, tot zu sein. Aber diesen Wunsch werde ich ihr nicht erfüllen. Sonst wäre es ja langweilig“, sagte Vlad, ohne den Blick von Lilian abzuwenden. Dann wandte er sich dem Wächter zu: „In Ketten legen.“

Lilian schnaubte verächtlich, krallte ihre Hände an die Pritschenkante. Ein zweiter Wächter mit langen schwarzen Haaren kam mit einem Riemen in der Hand hinzu.

„Eine falsche Bewegung und du gehst mit roten Streifen nach Hause“, warnte er mit hoher Stimme.

Nach Hause, wiederholte Lilian gedanklich. Der erste Wächter kam mit metallischen Fesseln auf sie zu. Sie wehrte sich zunächst und trat mit ihren Füßen nach ihm. Sofort bekam sie den ersten Riemenschlag an der Wange zu spüren. Dann klickten die Fesseln an ihren Füßen. Ihre OP-Naht schmerzte immer mehr. Es war nicht mehr auszuhalten. Es brannte wie Säure. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wollte aber keine Schwäche zeigen.

Der Wächter schloss die nächsten Fesseln um ihre Handgelenke. Sie hatte verloren. Sie war zu schwach. Und das nur, weil der verdammte Kotzbrocken von Arzt sie nach der Operation nicht ordentlich behandelt hatte! Sonst hätte sie sich besser zur Wehr setzen können. Ihr dumpfes, schmerzerfülltes Stöhnen wurde durch Klebeband unterdrückt.

Vlad packte sie an der Kette zwischen ihren Handgelenken und zerrte sie so hinter sich her, dass sie mit ihrem Hintern und ihren Beinen Spuren auf dem erdigen Boden hinterließ. Sie winselte, weil es so wehtat. Vlad schenkte ihr keine weitere Beachtung. Er schleifte sie hinter sich her wie einen schweren Kartoffelsack.

Lilian konnte nur die Zellen an sich vorbeiziehen sehen und den Kopf in den Nacken fallen lassen. Plötzlich hielt Vlad an.

„Ach, Harry. Du hast sehr gute Arbeit geleistet. Suche dir irgendeinen Insassen aus.“

„Geil, ich nehme die Rothaarige! Mit ihr werde ich machen, was ich will!“, sagte er wie ein quietschvergnügtes Kind. Danach warf Vladimir Lilian einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte und eilte mit ihr Richtung Ausgang. Sie sah in ihm und in Harry nur hirnlose, perverse Schweine.

Jahrelang hatte sie gekämpft und durchgehalten, nur um sich jetzt geschlagen geben zu müssen. Innerhalb einer Sekunde hatte sich das Blatt gewendet, weil sie in das Visier dieser elenden Blutsauger geraten war. Wofür hatte sie die letzten Jahre überlebt und gekämpft? Für nichts?

Sie würde sich die nächste Suizidmöglichkeit suchen, wenn eine Flucht aussichtslos war. Sie sah sich nur noch in der Badewanne ersaufen oder von der Decke herunterhängen.

KAPITEL 3

Vlad schlurfte gemütlich auf zerstörtem Asphalt herum und zog zwischendurch ruckartig an der Kette. Endlich hatten sie dieses Verlies voller jammernder, winselnder Wracks hinter sich gelassen. Er hatte ihre Angst gerochen wie den scharfen Urin in den Ecken. Jetzt, dachte Vlad, jetzt winselt ihr alle um Gnade, aber das hättet ihr euch ein paar Jahrzehnte eher überlegen sollen. Doch nun waren die Vampire an der Macht.

Vlad erinnerte sich heute noch bestens an den Tag seiner Geburt als Vampir. Von Wissenschaftlern als Mensch zu lange gefoltert, wollte er nur noch sterben. Irgend so ein Bastard hatte sich den Spaß erlaubt, das Gerücht zu verbreiten, Vladimir hätte dem russischen Umweltminister Dimitri Aloschkorowsky wortwörtlich den Hals umgedreht. Liebend gern hätte er diesen Part übernommen. Dieser Mistkerl war nach außen hin der liebste Politiker, den sich die Umwelt wünschen konnte. Doch Vladimir war er von Anfang an ein Dorn im Auge. Spätestens, nachdem er die Menschen dazu verpflichtet hatte, alle Fahrzeuge auf Elektrobetrieb umrüsten zu lassen, um die gesundheitsgefährdenden Treibhausgase zu minimieren. Ohne finanzielle Unterstützung.

China, die vereinigten Staaten und Indien antworteten auf weltweit notwendige Maßnahmen zur Senkung von Smog und Treibhausgasen mit Gleichgültigkeit, obwohl man dort vor lauter Schmutz nicht mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Selbst die alarmierende Anzahl an Atemwegserkrankungen und die vollgestopften Straßen änderten nichts. Es wurde immer schlimmer. Die Fahrten entwickelten sich zum Überlebenskampf. Tödliche Unfälle waren an der Tagesordnung.

Dimitri Aloschkorowskys Maßnahmen waren weder zu Ende gedacht, noch brachten sie Erfolg. Millionen Menschen konnten den Umbau ihrer Fahrzeuge nicht bezahlen und kamen nicht mehr zur Arbeit. Denn die öffentlichen Verkehrsmittel waren nicht für diese unvorhergesehenen Menschenmassen, die keinen fahrbaren Untersatz mehr besaßen, ausgelegt.

Der Bau neuer Gleise und Züge, die ohne Lokführer mit künstlicher Intelligenz bedient werden konnten, dauerte Jahre. Die Verzweiflung des russischen Volkes wuchs ins Unermessliche. Viele litten Hunger und landeten auf der Straße. Trotzdem genossen die Ideen des Umweltministers vermehrt Ansehen bei den Grünverseuchten, was Vladimir überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Sie waren nahezu besessen darauf, dass sich alles radikal ändern musste, und vernachlässigten die neu entstandenen, gravierenderen Probleme, die auch sie selbst betrafen.

Vladimir konnte nicht weiter gnadenlos zusehen. Er musste ein Zeichen setzen.

Eines Tages war es ihm gelungen, in Dimitris Palast hinein zu schleichen. Er wollte ihn lediglich um einen seiner vierzehn Luxuswagen erleichtern – die natürlich umweltschonend waren – und musste dazu unbemerkt in die Tiefgarage gelangen. Sie war direkt unter dem Palast gelegen. Das Grundstück wurde streng bewacht, seitdem schon einmal ein Attentat auf den Minister verübt worden war.

Vlad war in einem günstigen Moment in ein offenes Fenster geklettert und fand sich im Büro des Ministers wieder. Auf dem Schreibtisch lagen Pläne, die selbst Terrororganisationen erschrecken würden. Der Bau einer gigantischen Atombombe, die so groß werden sollte, dass sie drei Planeten zerstören konnte.

„So, so. Umweltminister, ja?“, war Vlads Kommentar gewesen. In dem Moment, als er die Pläne an sich reißen wollte, brach das Chaos aus. Eine Frau schrie sich im Flur die Seele aus dem Leib. „Dimitri ist tot! Dimitri ist tot! Hilfe!“

Vlad dachte nur daran, die Fliege zu machen und kletterte wieder aus demselben Fenster hinaus, rannte in die finstere Nacht.

Weit war er nicht gekommen. Schon einen Tag später schnappte man ihn und verurteilte ihn zu lebenslangen Untersuchungszwecken im Geheimlabor unterhalb Moskaus – natürlich inoffiziell. Die Richter und Staatsanwälte waren korrupt. Durch die Medien erfuhr das Volk nur das Nötigste, nämlich, dass er lebenslang hinter Gitter kam. Doch die Realität sah anders aus.

Vladimir hatte die Lage so sicher durchdacht, den Umriss dieses Grundstücks und sämtliche Kameras gezeichnet. Selbst die Routen der Wachen hatte er bedacht, zu welcher Zeit sie an welchem Ort gewesen waren oder ob sie irgendwo hinliefen. Der Plan schien perfekt, doch eine Stelle hatte er übersehen. In der Krone einer alten Stieleiche außerhalb der Schutzmauern war eine Kamera positioniert gewesen. Die Aufnahmen hatte man vor Gericht gegen ihn verwendet.

Vlad konnte nichts abstreiten. Das Video hatte eindeutig ihn gezeigt. Das Schlimmste war aber, dass die Kamera nicht zu Dimitris Schutz gehörte. Mithilfe der Fingerabdrücke konnte die Kripo den Besitzer schnell ausfindig machen, weil er selbst wegen Drogendelikten und Hehlerei aktenkundig war. Und ihm wurde geglaubt!

„Mir ist der Mann vermehrt aufgefallen“, sagte er. Lüge. „Er spioniert schon einige Wochen um das Grundstück des Ministers herum.“ Lüge. „Also beschloss ich, im Baum meine Kamera zu installieren und die Sache zu beobachten. Das Ergebnis haben wir nun.“ Das waren die Worte dieses Rotzbengels, der angeblich mal Journalist werden wollte. Siebzehn Jahre, Vorstrafen ohne Ende, dumm und hässlich. Wie nur, wie konnte Vlad nur so unachtsam sein? Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Damit war er der Täter. Niemand sonst hatte das Grundstück betreten oder verlassen. Dass Vladimir in Wirklichkeit nur eines von Dimitris ach so schönen Fortbewegungsmitteln in die Luft jagen wollte, rettete ihn am Ende auch nicht mehr. Und die Tatsache, dass Dimitri eine Atombombe bauen wollte, wurde als völliger Blödsinn abgestempelt. Denn die Dokumente wurden nie gefunden. In Wirklichkeit hatten sie nie danach gesucht.

Zum Dank war Vladimir ins Labor gesteckt worden. Sie missbrauchten ihn für diverse Arzneimitteluntersuchungen, quälten ihn beinahe zu Tode. Mit letzter Kraft befreite er sich mit einer Hand aus dem Lederriemen und ergriff das Skalpell auf dem Tablett neben sich. Er war drauf und dran, sich die Adern aufzuschneiden, als eine unsichtbare Hand ihm die scharfe Waffe wegschlug. Ein zwei Meter großer Mann mit glutroten Augen, blasser Haut, dunkelroten Haaren und in komplett schwarzer Kleidung stand neben ihm. Vladimir war zu schwach, um Angst zu haben. Der Mann biss ihm in den Hals.

Heute war Vladimirs Glückstag. Lilian war sein Eigentum und er konnte mit ihr machen, was er wollte. Zuerst würde er ihre Wunde lecken, ihr Blut kosten. Er konnte es schon riechen und auf seiner Zunge schmecken.

Hastig zog er Lilian hinter sich her, zu seinem Bunker, der am Rande der Stadt gelegen war. Alle Bunker hier standen mehrreihig auf der einen Straßenseite. Auf der anderen Seite sollte die Flora wieder zum Leben erweckt werden. Darum hatten sich die menschlichen Arbeiter zu kümmern. Neue Samen säen, Bäume einpflanzen und Felder beackern. Ein paar italienische Erlen hatten die Angriffe überstanden und spendeten für Vladimirs Männer ein wenig Schatten in der sengenden Hitze. Die Menschen hingegen hatten zu arbeiten. Leiden sollten sie, so wie sie es verdient hatten. Aus den Ruinen dieser Straßen sollte Neues errichtet werden.

Fünfzehn Minuten – zumindest kam es Lilian so lang vor – waren sie und dieses Ekelpaket Vladimir unterwegs, bis sie am letzten Bunker direkt an der Straße ankamen. Dahinter standen noch mindestens fünf oder sechs weitere Reihen. Sie waren alle einstöckig und etwa vier Meter hoch, mit Solarzellen auf den Dächern.

Auffällig war, dass die Bunker keine Fenster besaßen. Das bedeutete, kein Licht und keine frische Luft und das bei der Wärme. Es waren nur ganz einfache Stahlkisten, vermutlich, um die Menschen darin zu rösten.

Lilian betrachtete die andere Seite. Die weiten Felder mit vereinzelten Bäumen ließen die Gegend trostlos und öde wirken. Es war eine trockene, heiße und tote Landschaft. Die Spuren des Krieges waren hier deutlich zu sehen. Einige Gefangene harkten unter Aufsicht ihrer vampirischen Wächter den Boden.

Einige Meter vor Lilian und Vladimir standen größere Fahrzeuge mit Ladeflächen herum, die viele Jungbäume transportierten. Hier sollte neue Flora entstehen. Nahrungsmittel standen ebenso auf dem Plan, denn die Menschen mussten ja von etwas leben. Andere Gefangene trugen Geröll durch die Gegend und warfen es auf mehrere große Schutthaufen, um Platz für Baumaßnahmen zu schaffen.

Mehr bekam Lilian nicht zu sehen, denn sie wurde von ihrem Herrscher in den Bunker gezerrt. Mit einem lauten Scharren schloss er die Metalltür und es herrschten gnadenlose Dunkelheit und Hitze.

„So, dann schaffen wir mal Licht ins Dunkel“, meinte der Vampir. Ein kurzes Klicken und der mittelgroße Raum wurde von einer Nachttischlampe auf der dunklen Kommode schwach erhellt. Wenigstens gab es den Strom seit einigen Wochen wieder. Die Kraftwerke und Solarzellen wurden nach und nach wieder in Betrieb genommen. Da die Menschen momentan geistig und körperlich kaum in der Lage waren, überhaupt etwas zu schaffen, hatten sich die Vampire selbst darum gekümmert. Aber vermutlich nur, weil sie genauso vom Strom abhängig waren.

Vlad warf Lilian achtlos auf den kreisrunden, tiefroten Teppich. Sie krümmte sich vor Schmerzen, wollte nicht schon wieder weinen und Schwäche zeigen, aber schluchzte kurz.

„Hör auf zu heulen. Du bist doch sonst keine Memme.“ Seine Stimme war leise, klang eher besorgt als streng. Lilian blickte ihn wütend an.

„Die Folgen der Operation behandle ich auf meine Art. Ich zeige dir, welche“, sagte er und drehte Lilian auf den Rücken. Er setzte sich auf ihre Knie, die unter seinem Gewicht durchzubrechen drohten. Doch sie blieb standhaft und machte keine Anstalten, sich zu wehren. Es war zwecklos, sich mit diesem Gegner anzulegen, gefesselt erst recht.

Er schob das Hemd, das sie seit der Operation immer noch trug, nach oben, und legte ihre schwarze Unterhose frei. Wenigstens war der Arzt so gnädig gewesen, ihr überhaupt Unterwäsche zu geben. Vlad zog sie ein Stück nach unten, sodass Lilians Flaum sichtbar wurde. Vor Scham blieb ihr die Luft weg.

Der Vampir nahm aus dem Nachttisch Schere und Pinzette, zog ein wenig an Lilians OP-Naht und … schnitt sie auf! Lilian presste die Beine so fest zusammen, wie sie konnte, als Vladimir begann, senkrecht ihren Unterbauch zu lecken. Es brannte, aber es war aushaltbar, beinahe angenehm, wenn sie nicht plötzlich ihren Vater vor sich gesehen hätte. Sie kniff die Augen zu, um die Tränen zu unterdrücken. Auch wenn der Schmerz der Wunde vergessen war, in der Seele hatte er sich festgefressen. Genau an der Stelle, die Vladimirs Zunge soeben berührte, hatte Vater sein Geschlecht gerieben. Im Hinterkopf hörte Lilian immer noch dieses lusterfüllte Stöhnen.

„Du schmeckst köstlich“, schnurrte der Vampir und riss, ohne es zu wissen, Lilian aus ihren Gedanken. Ihre Muskeln entspannten wieder, auch ihre Atmung normalisierte sich. Der Vampir wischte sich mit dem Handrücken den Mund sauber.

„Tat’s etwa weh?“, fragte er unberührt. Automatisch schüttelte sie den Kopf, obwohl sie gar nicht reagieren wollte.

„Gut, hätte mich auch gewundert. Ich werde dir gleich das Halsband anlegen.“

Oh, bin ich jetzt auch noch dein Schoßhündchen, dachte Lilian. Der Vampir schlich zur dunklen Kommode, öffnete den obersten der drei Schieber und holte ein rotes, steifes Band heraus. An einem Ende war etwas Schwarzes befestigt, das Lilian nicht definieren konnte.

„Mit diesem Halsband wirst du offiziell als Eigentum eines Herrn angesehen, dessen Initialen hier eingraviert sind. In dem Fall sind es meine. Aber das kannst du dir ja denken. Alle Menschen, die du fortan hier in der Gegend siehst, gehören irgendjemandem. Einige Vampire haben zwei oder mehr Menschen in ihrem Besitz. Ohne Zugehörigkeit kommen die Gefangenen auch nicht aus den Verliesen heraus. Diese Bänder gibt es in blau und rot. Blau tragen die Arbeiter, rot diejenigen, die von privatem Nutzen sind“, erklärte er. Lilian konnte nichts anderes tun als zuhören. Wie sollte dieser „private Nutzen“ aussehen? Nacht für Nacht die Adern hinhalten?

„Sollte ich mal einen kleinen Moment unachtsam sein und du versuchst zu fliehen, kann ich dich jederzeit mithilfe des Mikrochips im Band und dieses Ortungsgerätes ausfindig machen.“

Er griff im gleichen Schieber nach einem länglichen, dunklen Gegenstand, zog die Antenne heraus und schaltete es am seitlich gelegenen Knopf ein. Das Gesicht des Vampirs leuchtete durch das Display grün. Er lächelte fies und schaute kurz zu Lilian hinab. Dann war das Gerät wieder im Schieber verschwunden.

„Ortungsradius fünfundzwanzig Kilometer. Weiter kommst du sowieso nicht. Wenn du ganz weit wegrennen willst, musst du schon über die unüberwindbare Grenzmauerklettern oder dich als Haifischfutter anbieten“, lachte er bitter.

Wenn Lilian könnte, hätte sie längst ihr Desinteresse ausgedrückt, aber ihr Mund war immer noch zugeklebt. Stattdessen lag sie einfach da und starrte den furchteinflößenden Muskelprotz an. Sie konnte sich ja nicht mal die Ohren zuhalten, um wegzuhören. Ihre Hände waren immer noch festgebunden. Doch Vladimir sorgte für Abhilfe, packte sie grob an den Haaren und zwang sie in die Sitzposition. Er machte es sich hinter ihr bequem, drückte ihren Kopf nach vorne und schob die störenden Haare zur Seite. Von vorne legte er das Band an, während er die Fessel ein Stück hochschob. Dann folgte ein kurzes Schnippen und das Band war fest. Beinahe zu fest. Lilian konnte den Hals nicht mehr anspannen. Es würde ihr sonst die Luft abdrücken.

„Ach“, betonte der Vampir hinter ihr, „dann kommt noch das Wichtigste: Versuchst du das Band irgendwie zu entfernen, was dir sowieso nicht gelingen wird, werde ich persönlich drastische Maßnahmen einleiten, um dich zur Vernunft zu bringen. Glaub mir. Das willst du nicht.“ Den letzten Satz hatte er ihr ins Ohr geflüstert, sodass sie zusammenzuckte, als wäre es ohrenbetäubend.

Dann saß sie regungslos da, überfordert von all diesen Informationen, die sie nicht kümmerten. Freitod, dachte sie. Freitod! Freitod!

„Und jetzt“, meinte er in zischendem Ton, der seine Auserwählte erneut zusammenschrecken ließ, „wirst du geduscht, Fräulein.“

KAPITEL 4