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In der schönsten Stadt der Welt liegt das gefährlichste Pflaster. Am Badestrand eines Hamburger Sees wird eine Leiche gefunden: Anwältin Kristina Wolland hatte ihre Freundin Angie am Abend zuvor getroffen – die schien verängstigt, wollte aber nicht reden. Nun ist sie tot. Tags darauf meldet ein junger Mann das plötzliche Verschwinden seiner Verlobten: Die junge Alina aus der Ukraine, wohnhaft zuletzt bei Angie, glaubte verfolgt zu werden. Welche Verbindung bestand zwischen den beiden so ungleichen Frauen? Was versetzte sie in Angst und Schrecken? Kristina Wolland ist fest entschlossen, es herauszufinden …
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Seitenzahl: 317
Irene Stratenwerth
Im wilden Osten dieser Stadt
Kriminalroman
Ihr Verlagsname
In der schönsten Stadt der Welt liegt das gefährlichste Pflaster.
Am Badestrand eines Hamburger Sees wird eine Leiche gefunden: Anwältin Kristina Wolland hatte ihre Freundin Angie am Abend zuvor getroffen – die schien verängstigt, wollte aber nicht reden. Nun ist sie tot.
Tags darauf meldet ein junger Mann das plötzliche Verschwinden seiner Verlobten: Die junge Alina aus der Ukraine, wohnhaft zuletzt bei Angie, glaubte verfolgt zu werden.
Irene Stratenwerth, geboren 1954, ist freie Journalistin und Ausstellungskuratorin. Die Autorin lebt in Hamburg.
Seit wie vielen Stunden lag er jetzt wach – ja sogar hellwach – in seinem Bett, mitten in der Nacht? Er versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie lag neben ihm, reglos wie ein Stein. Wahrscheinlich hatte sie etwas genommen. Wie fast immer.
Er hätte jetzt auch gern ein Schlafmittel gehabt, aber eins, das ihn am nächsten Morgen wieder hellwach in den Tag entließ.
Er starrte an die Decke. Von draußen fiel fahl das Mondlicht herein. Sie lagen unter einer der Dachschrägen des kleinen Reihenhauses. Er hatte die Wände längst renovieren wollen. Aber sie konnten sich nicht einigen, ob mit Farbe oder Tapete. Und so hatte er irgendwie den richtigen Zeitpunkt dafür verpasst.
Er verbot sich, schon wieder aufzustehen. Zumindest eine halbe Stunde lang würde er noch liegen bleiben. Oder eine Viertelstunde. Nicht zu seiner Aktentasche gehen, in der ganz unten das flache, kleine Gerät verborgen war, das er sein Diensthandy nannte. Nicht nachsehen, ob eine SMS eingegangen war. Ob sie sich gemeldet hatte. Er hätte das feine «Klingklong», das die Ankunft einer neuen Nachricht vermeldete, ohnehin durch die dicksten Mauern hindurch sofort gehört.
Was erwartete er auch? Die Mitteilung, dass sie gut dort angekommen war? Oder einen Hilferuf? Besser nicht.
Er seufzte tief auf. Es war richtig gewesen. Es hatte keine andere Lösung gegeben. Er würde nie wieder von ihr hören. Er hatte es so gewollt. Und er würde sich daran gewöhnen.
Es war dort, wo sie jetzt war, ohnehin besser für sie. Dort hatte sie Leute. Die würden sich schon kümmern, wenn sie erst mal begriffen hatten.
Er drehte sich auf den Bauch. Hätte sie sich an die Spielregeln gehalten, hätte alles so weitergehen können. Noch lange. Aber das hatte sie ja nicht einsehen wollen. Jetzt war es zu spät.
Aber vielleicht würde sie ihm ja schon bald eine Nachricht schicken.
Verdammt. Verschlafen.
Kristina Wolland fuhr hoch und starrte verwirrt auf den Wecker neben ihrem Bett. Fünf vor neun. Es war Montag früh. Neben ihr ringelten sich Michels graublonde Locken auf dem Kopfkissen; der Mann atmete tief und fest. Wozu sollte er auch aufwachen? Seine Jeans und sein T-Shirt lagen, fein säuberlich zusammengefaltet, auf dem Rucksack, der, wie immer halb voll mit frischgewaschenen Sachen, an der Wand lehnte – als müsste Michel jederzeit darauf vorbereitet sein, sofort abreisen zu können.
Ist er wahrscheinlich auch, dachte Kristina mürrisch. Sie hätte nur gern gewusst, ob tatsächlich irgendjemand hinter dem Mann her war, mit dem sie seit drei Monaten ihr Bett teilte. Oder ob sie es war, deretwegen er sich stets zur Flucht bereithielt.
Erste Erinnerungen an die vergangene Nacht tauchten in ihr auf. Sie versuchte sie schnell wieder zu verjagen. Als sie aufstand, wurde ihr für einen Moment schwindelig. Sie musste sich an der Wand abstützen.
Drei vor neun. Hoffentlich war wenigstens Ceyda pünktlich im Büro. Noch immer benommen, tastete sich Kristina zum Telefon im Flur. Die Nummer kannte sie im Schlaf.
«Anwaltsbüro Kristina Wolland. Ceyda Ozgür am Apparat!» Ihre Stimme klang freundlich und aufgeräumt.
«Hallo, Ceyda, Kristina hier. Ich hab … Ach egal. Ist gestern spät geworden. Kannst du mal schnell in den Kalender gucken? Habe ich vormittags Termine?»
«Neun Uhr dreißig.» Ihre Anwaltsgehilfin hatte das natürlich im Kopf. «Schneider gegen Howaldt GmbH. Amtsgericht Altona.»
Kristina stöhnte auf.
«Ist doch bei dir um die Ecke», erklärte Ceyda aufmunternd. «Die Akte hab ich schon rausgesucht. Soll ich damit zum Gericht kommen?»
«Du bist ein Schatz! Wir treffen uns kurz vor halb zehn am Haupteingang!»
Kristina füllte den Wasserkocher halb voll, nahm Kaffee aus der Dose und häufte drei Löffel in die Durchdrück-Kanne. Sie hatte noch zwanzig Minuten, um zu duschen, sich anzuziehen, sich durchs Haar zu wuscheln und einen schwarzen Kaffee zu trinken. Das war gerade eben zu schaffen.
Mit der Akte unter dem Arm erwartete Ceyda Ozgür ihre Chefin im Treppenhaus des Gerichtsgebäudes an der Max-Brauer-Allee. Sie sah aus wie aus dem Ei gepellt. Ihrem dunklen Haar hatte sie vor kurzem einen neuen, raffinierten Schnitt verpassen lassen, es lag wie eine Haube um ihren Kopf. Die großen Augen waren dezent geschminkt, und für den Mund hatte Ceyda den auberginefarbenen Lippenstift benutzt, der zu ihr gehörte wie ihre kerzengerade Haltung. Sie trug einen kurzen Rock unter dem hellen Regenmantel. Alles an ihr wirkte perfekt. Die Anwaltsgehilfin war gut zehn Jahre jünger als Kristina, aber es war schon vorgekommen, dass man sie für die Chefin und die Anwältin für ihre Angestellte gehalten hatte.
Kristina hatte schnell eine Jeans und irgendein dunkles Oberteil aus dem Schrank gekramt. Im Amtsgericht kam es glücklicherweise nicht so darauf an. «Danke!» Mit einem erleichterten Seufzer schlüpfte sie in die Robe, die Ceyda bereithielt. Dann unter- schrieb sie das Schriftstück, das oben auf der Akte festgeklemmt war.
«Gern geschehen. Bis später!» Ceyda drehte sich auf dem Absatz um.
«Hey, warte doch einen Moment», bat die Anwältin. «Das wird hier, glaube ich, nur ein Austausch von Schriftsätzen. Ich hab noch nicht gefrühstückt. Lass uns gleich erst mal einen Kaffee trinken gehen. Schließlich hast du mich gerade gerettet.»
«Und das Büro?»
«Kann mal eine halbe Stunde ohne uns auskommen.»
«Einen Milchkaffee, einen frischgepressten Orangensaft, ein Croissant mit Käse und Schinken. Macht fünf Euro zwanzig», sagte die Angestellte in der Kaffeebar.
«Für meine Mitarbeiterin bitte dasselbe», erwiderte Kristina.
Ich sollte mir das hier häufiger gönnen, dachte sie, so eine kleine Auszeit zwischen Gericht und Büro. Zu Hause hatte sie den Kaffee nach dem ersten, viel zu heißen Schluck dann doch nicht getrunken. Stattdessen hatte sie ihn in eine Thermoskanne gekippt und für Michel stehen lassen.
Seit er so ganz plötzlich in ihr Leben zurückgekehrt und auch gleich zu ihr in die Wohnung gezogen war, frühstückte sie morgens zu Hause. Dabei schlief Michel um diese Zeit in der Regel noch. Sie wusste ohnehin nicht so recht, was er den ganzen Tag über tat, dachte sie missmutig. Wenn sie abends nach Hause kam, saß er meistens an ihrem Computer. Ein paarmal hatte sie ihn gefragt, womit er sich beschäftigen würde, aber er hatte nur ausweichend geantwortet und irgendwas von «Netzwerken» gemurmelt.
«Tut mir leid, diese Aktion heute Morgen», entschuldigte sie sich jetzt bei Ceyda. «Aber ich habe bis heute Nacht um halb drei in der Psychiatrie-Aufnahme rumgesessen.»
«Etwas mit Michel?», fragte Ceyda mitfühlend.
Kristina merkte, dass die Frage sie ärgerte. «Nein, nein», wehrte sie hastig ab. «Mit Angie. Sie hat mich gebeten, sie hinzubringen.»
«Okay, verstehe.»
Vielleicht bilde ich mir den sarkastischen Unterton ja nur ein, dachte sie. Aber sie wusste schon, was Ceyda über ihr Engagement für Leute wie Angie dachte: Sie fand, dass Kristina Wolland zu viel für andere tat und zu wenig für sich selbst. Und dass jemand wie Angie, die tagelang mit einem vollgepackten Einkaufswagen durch die Fußgängerzone in Altona zog, die Hilfe einer vielbeschäftigten Anwältin nicht gerade mitten in der Nacht in Anspruch nehmen musste.
Die beiden Frauen schwiegen für einen Moment.
«Ach, sorry», seufzte Kristina schließlich, «ist nicht so wirklich mein Tag heute.»
«Hör auf, dich zu entschuldigen, Chef», erklärte ihre Angestellte resolut und angelte sich eine der Tageszeitungen, die auf dem Tresen der kleinen Kaffeebar lagen.
Kristina leckte gedankenverloren den Milchschaum von ihrem Löffel – und begann, die Einzelheiten der vergangenen Nacht zu rekapitulieren.
Gegen Mitternacht hatten sie immer noch in der Küche zusammengesessen, an ihrem Lieblingsplatz, dem runden Tisch mit den beiden Korbstühlen. Sie hatten eine Flasche Wein geöffnet, eine Kerze angezündet und geredet, und eigentlich hätte alles sehr schön sein können. So wie damals, in ihren besten gemeinsamen Zeiten. Aber dann hatte sich ihr Gespräch an einer schon fast vertrauten Stelle festgehakt und von da an nur noch im Kreis gedreht.
Es hatte alles damit angefangen, dass sie Michel, wenn auch etwas verklausuliert, gefragt hatte, was er denn nun vorhabe mit diesem Leben, das ihn nach einer langen Zeit in Südamerika wieder nach Hamburg zurückgeführt hatte. Sie hätte es eigentlich wissen können: Michel hatte sofort gereizt reagiert. Vermutlich hatte er gespürt, dass dahinter die Frage stand, was aus ihnen beiden werden sollte. Er hatte zu einer Brandrede gegen die deutsche Gründlichkeit und Planungswut angesetzt, die ihn schließlich schon einmal, vor zwanzig Jahren, aus diesem Land getrieben hatten. Sie hätte ihn einfach fragen sollen, ob dies auch als Kritik an ihrem Leben gemeint war, dachte Kristina jetzt. Denn ohne Planung und Gründlichkeit hätte sie nichts von dem, worauf sie stolz war, erreichen können. Wie zum Beispiel, dass sie ihr Jurastudium durchgezogen hatte und Anwältin geworden war. Dass ihre kleine Kanzlei in Altona sich über die Jahre einen guten Ruf erarbeitet hatte und sie und Ceyda zuverlässig ernährte. Und dass sie ihre Selbständigkeit immer hatte verteidigen können, auch gegen die verlockenden Angebote einiger Großkanzleien, die Kristina Wolland als begabte Juristin vor ein paar Jahren entdeckt und umworben hatten.
Aber sie hatte ihn nicht gefragt. Stattdessen hatte sie ein paar kritische Anmerkungen über Leute fallenlassen, die um jeden Preis eine Freiheit verteidigten, die man auch ganz einfach «Unverbindlichkeit» nennen könnte. Damit hatte sie Michel erst recht auf die Palme gebracht. «Meinst du mich damit?», hatte er wütend gefragt, war aufgesprungen und auf den Balkon gegangen, um erst mal eine Zigarette zu rauchen. Kristina war ein bisschen erschrocken in der Küche sitzen geblieben. Aber auch nach diesem Intermezzo hatten sie keinen Ausgang aus der unseligen Debatte gefunden.
Kurz nachdem sie gegen Mitternacht müde und resigniert erklärt hatte, sie gehe jetzt ins Bett, klingelte das Telefon. Es war Angie. Dass sie um diese Zeit anrief, war noch nie vorgekommen. Angie besaß weder ein Handy, noch hatte sie einen Festnetzanschluss in ihrer Wohnung. Es klang so, als riefe sie von irgendeiner der wenigen öffentlichen Fernsprechsäulen an, die am Straßenrand standen. Selbst zu dieser späten Stunde hatte sie Mühe, den Lärm der vorbeifahrenden Autos zu übertönen, als sie erklärte: «Sie meinen es ernst. Sie sind hinter mir her. Der einzige Ort, an dem ich jetzt noch sicher sein kann – halbwegs sicher, sage ich dir, halbwegs sicher –, das ist die Klapse. Ich wollte dich fragen, ob du mich hinbringen kannst.»
Kristina ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. «Jetzt sofort?», fragte sie nur. Und als Angie diese Frage bejahte, versprach sie: «Ich bin gleich da, wenn du mir sagst, wo ich dich finde.»
«Lass uns am Bahnhof treffen», antwortete Angie ausweichend und beendete das Telefonat.
Kristina legte auf und sah Michel etwas ratlos an. «Soll ich mitkommen?», fragte er. Angie hatte so laut gesprochen, dass er wohl das meiste verstanden hatte.
«Lass mal», wehrte Kristina ab. «Auto fahren kannst du ja sowieso nicht mehr.» Sie warf einen langen Blick auf die Rotweinflasche, die sie gekauft und die er fast alleine geleert hatte.
«War ja nur ein Angebot», brummelte der Freund ein bisschen gekränkt.
Dann war sie auch schon aus der Tür.
Sie traf Angie vor dem Bahnhof Altona. Allein und sehr aufrecht stand die dürre Gestalt vor dem hellen Eingang der Passage, die zu den Gleisen führte. Kristina fuhr ihr Auto rechts heran, stieg aus und ging auf sie zu. Erleichtert registrierte sie, dass Angie ihren Einkaufswagen nicht dabeihatte. Sie hatte sich schon gefragt, wie sie das sperrige Gefährt in ihrem Fiat verstauen und wie sie es in der Psychiatrie wieder loswerden sollte.
Angie trug eine bauschige Winterjacke, die ursprünglich einem Mann gehört haben musste und ihr viel zu groß war. Obwohl es eine ungewöhnlich warme Oktobernacht war, hatte sie sich tief in das Kleidungsstück verkrochen, die Arme eng um den Oberkörper geschlungen. Sie sah aus, als würde sie frieren.
Etwas linkisch begrüßten sich die Frauen und gaben sich steif die Hand. Kein Außenstehender wäre auf die Idee gekommen, dass die beiden einmal Studentinnen im selben Semester gewesen waren. Sie sahen aus wie das, was sie in diesem Moment waren: eine chronisch psychisch Kranke und ihre gesetzliche Betreuerin.
«Steig ein», sagte Kristina. «Unterwegs können wir reden. Bis nach Ochsenzoll ist es ja noch ein ganzes Stück.»
Doch es wurde eine ungewöhnlich schweigsame Fahrt. Angie wollte offenbar nicht erzählen, was ihr Angst machte, und Kristina fragte sie nicht danach. Sie wusste, es kostete Angie unendlich viel Überwindung, freiwillig in die Klinik zu gehen. Wenn sie ihr jetzt nur eine einzige falsche Frage stellte, könnte die Stimmung schnell umschlagen.
Max-Brauer-Allee, Doormannsweg, Gärtnerstraße, Alsterkrugchaussee. Eigentlich hasste Kristina diese breiten und tagsüber immer verstopften Verkehrsschneisen durch die Stadt. Immerhin kamen sie jetzt auf diesen Straßen schnell voran.
Gegen Viertel nach eins betraten sie die in seltsam falbes Licht getauchte Eingangshalle der zentralen Notaufnahme im Klinikum Nord. Ein großer Mann im weißen Kittel steuerte auf sie zu – kein Arzt, sondern ein Pfleger, wie Kristina sofort erkannte.
«Was kann ich für Sie tun?», fragte er laut und dröhnend.
«Wir würden gerne einen Arzt …», setzte Kristina an.
«Name?»
«Wolland», antwortete Kristina leise. Ihr war schon klar, dass Angie nicht gern ihren Namen nennen würde.
«Die Diensthabende kümmert sich so bald wie möglich um Sie!», verkündete der Pfleger. «Nehmen Sie Platz!» Er deutete mit der Hand auf das Ende des Raumes.
«Dann kann ich ja erst mal eine rauchen gehen», beschloss Angie und stapfte auf die große, gläserne Drehtür zu. Kristina folgte ihr nicht. Es sollte nicht aussehen, als bräuchte ihr Schützling eine Aufpasserin. Stattdessen nahm die Anwältin auf einem der braunen Plastikstühle Platz, die an der Stirnseite der Eingangshalle zu einer Reihe aneinandermontiert waren. Früher hatte es dort noch einen Aschenbecher gegeben, der stets ein geselliger Treffpunkt gewesen war. Jetzt verkündete ein Schild, dass das Rauchen überall in der Klinik verboten sei, und Kristina saß ganz alleine hier. Auf einem Tischchen lagen ein paar zerfledderte Illustrierte, aber die rührte sie nicht an.
Und während sie nichts anderes zu tun hatte, als zu beobachten, wie der Zeiger an der Wanduhr langsam vorrückte, begann sie sich an die Zeiten zu erinnern, in denen sie regelmäßig im Klinikum Nord ein und aus gegangen war.
Niemand außer ihr hatte damals noch daran geglaubt, dass es für Angie eine andere Perspektive gab als das Leben in einem psychiatrischen Wohnheim. «Diese Leute versanden eben», hatte ein freundlicher Oberarzt Kristina erklärt, als sie fragte, wie es denn nun mit seiner Patientin weitergehe. Er hatte dabei bedauernd mit den Schultern gezuckt. Angie hatte dumpf danebengesessen und vor sich hin gestarrt.
Der Psychiater hatte registriert, wie sehr diese Formulierung seine Gesprächspartnerin verstörte, und mit einem kurzen Blick auf die Patientin hinzugefügt: «Das muss nicht bedeuten, dass sie mit ihrem Leben weniger glücklich ist, als Sie oder ich es sind.»
Nein, hatte Kristina damals gedacht, das muss es nicht heißen. Aber wir beide können jedenfalls noch selbst entscheiden, womit wir uns unglücklich machen.
Erst nach und nach hatte sie begriffen, dass es nicht nur die Medikamente waren, die ihre ehemalige Kommilitonin in diesem dichten, grauen Nebel von Gleichgültigkeit hatten verschwinden lassen. Angie hatte einfach aufgegeben und sich abgefunden mit einem Leben, in dem scheinbar alles geregelt war: ein Dach über dem Kopf, ein Bett und immer genug Zigaretten. Und sie wollte von dem, was Kristina ihr vorschlug, am Anfang auch gar nichts wissen: von der Möglichkeit, sich um einen Platz in einem ambulanten Betreuungsprogramm zu bewerben, in eine eigene Wohnung zu ziehen und sogar über ein bisschen Geld selbst zu bestimmen. Es hatte Monate gedauert, bis Kristina zum ersten Mal wieder dieses kurze, rebellische Blitzen in den Augen ihrer Freundin sah, das ihr von früher so vertraut war. Von da an wusste sie, dass Angie auf dem richtigen Weg war.
Wie lange würde man sie hier warten lassen? Durch die Glasscheibe neben der Drehtür war ein Grüppchen von Leuten zu erkennen, die draußen standen und rauchten. Angie bewegte sich wild gestikulierend mitten unter ihnen. Schließlich schob sie sich genau in dem Moment wieder in die Eingangshalle, als eine blasse Frau im weißen Kittel auf Kristina zusteuerte.
«Sind Sie Frau Wolland?», fragte die Ärztin. Ihr Haar war etwas zu blond, die Lippen ein bisschen zu rot. Beides zusammen ließ ihr Gesicht maskenhaft starr erscheinen.
Kristina nickte.
«Wie kann ich helfen?» Die Frau sprach mit einem leichten Akzent, den Kristina nicht einordnen konnte.
«Ich bin die gesetzliche Betreuerin. Aber worum es geht, erklärt Ihnen … die Patientin am besten selbst.» Diese hatte sich inzwischen neben die beiden anderen Frauen gestellt, als ginge sie das Ganze nichts an. Nach den ersten Worten der Ärztin hatte sich ihre Miene sichtbar verdüstert.
«Gut!», erklärte die Ärztin freundlich und wandte sich jetzt direkt an Angie. «Dann Sie folgen mir am besten in mein Sprechzimmer. Mit oder ohne Frau Wolland, ganz wie Sie es wünschen!» Sie wies zu einer Tür am anderen Ende des Flurs und setzte sich in Bewegung.
Angie packte Kristinas Arm mit ungewohnter Heftigkeit. «Lass uns hier abhauen», zischte sie ihr ins Ohr.
«Wieso das denn? Du bist freiwillig … Es ist mitten in der Nacht! Und wir haben hier extra gewartet!»
«Weg hier!», flüsterte Angie eindringlich. «Bevor es zu spät ist. Sonst geh ich allein!»
Eigentlich wäre es ein Gebot der Höflichkeit gewesen, sich von der Ärztin zumindest mit ein paar entschuldigenden Worten zu verabschieden. Aber Angie hielt Kristinas Arm fest umklammert und drängte in Richtung Ausgang.
«Tut uns leid … wir melden uns noch mal!», rief Kristina halbherzig über die Schulter und blickte kurz zur Psychiaterin zurück. Diese zuckte nur müde mit den Schultern. Wahrscheinlich war sie froh, dass sie einen Moment Ruhe bekam.
«Fahr mich nach Hause!», befahl Angie.
Die Rückfahrt nach Altona verlief wieder schweigsam.
«Sie sind überall, überall!!», brachte Angie als einzige Erklärung vor.
Kristina hatte keine Lust, darauf einzugehen. Das nächste Mal schicke ich ihr den psychiatrischen Notdienst, schwor sie sich im Stillen.
Vor Angies Haustür verabschiedeten sie sich knapp. «Wir sprechen uns morgen!»
«Frau Wolland, Rechtsanwältin?» Der Mann am Telefon klang jung und sehr amtlich.
Ceyda hatte ihn durchgestellt und nur knapp bemerkt: «Polizei. Irgendwas wegen Angie.» Kristina war sofort alarmiert gewesen.
«Ich bin Markus Wagner vom Polizeikommissariat Bergedorf. Sagt Ihnen der Name Angelika Gelterkind etwas? Ist die Dame Ihre Mandantin?»
Kristina seufzte ärgerlich: «Herr Wagner, Sie sind Polizist. Sie wissen, dass ich Ihnen darüber keine Auskunft geben darf.» Sie registrierte sofort, wie unwirsch sie klang. «Ich werde Sie jetzt nicht fragen, worum es überhaupt geht», fuhr sie etwas freundlicher fort. «Wenn Frau Gelterkind anwaltliche Unterstützung braucht, dann sollte ich das schon von ihr selbst erfahren.»
«Ist leider nicht möglich», erklärte der Polizist geschäftsmäßig. «Ich habe hier eine Todesermittlungssache. Zum Nachteil von Angelika Gelterkind.»
Unter Kristina tat sich ein großes schwarzes Loch auf. «Was sagen Sie da? Sie ist tot?»
«Ich fürchte schon.» Die Stimme des Kriminalbeamten war eine Spur weicher geworden. «Heute Vormittag haben spielende Kinder am Boberger See eine weibliche Leiche gefunden. Sie lag direkt am Badestrand. Portemonnaie, Personalausweis … Sie hatte alles dabei. Auch eine Ihrer Visitenkarten; deshalb rufe ich Sie jetzt an.»
«Das kann doch überhaupt nicht sein.» Kristina strich sich verwirrt eine ihrer dicken blonden Strähnen aus dem Gesicht. «Sind Sie sicher? Hat diese Person vielleicht ihre Papiere …»
«Möglich ist alles. Ich hab hier nur ein paar Angaben. Die Leiche ist einen Meter zweiundsiebzig groß. Dunkle Haare. Alter: Anfang bis Mitte vierzig. Die Frau war vollständig bekleidet. Sie trug eine graue, lange Hose und einen Daunenanorak. Meine Kollegen haben ein Foto gemacht, das kann ich Ihnen faxen. Wir geben es morgen früh an die Presse raus, wenn wir keine Angehörigen ermitteln können.»
«Ich bin ihre gesetzliche Betreuerin», erklärte Kristina leise.
«Sehr gut!», sagte Wagner. «Meine Kollegen hatten bereits vermutet, dass es sich um jemand aus dem Personenkreis der Obdachlosen handelt, dass Alkohol im Spiel war oder so.»
«Frau Gelterkind hat eine eigene Wohnung. Und mit Alkohol hat sie auch nichts zu tun», stellte Kristina wütend klar. Noch weigerte sie sich, von Angie in der Vergangenheitsform zu sprechen.
«Auf jeden Fall», fuhr der Beamte ungerührt fort, «werden Sie die Frau dann ja identifizieren können.»
Kristina sah aus dem Fenster. Sie bemerkte, wie etwas tief in ihr zu zittern begann. Am liebsten hätte sie einfach aufgelegt. «Weiß man schon, was passiert ist?», fragte sie stattdessen.
«Die Leiche ist unterwegs in die Gerichtsmedizin. Heute läuft da vermutlich nichts mehr.»
Hätte ich doch nur mit ihr noch gesprochen, dachte Kristina. Jetzt ist sie tot, und ich weiß nicht einmal, wovor sie Angst gehabt hat.
«Kannten Sie Frau Gelterkind gut?», erkundigte sich der Polizeibeamte. Zum ersten Mal klang er ein wenig teilnahmsvoll.
«Ich bin … war, wie gesagt, ihre gesetzliche Betreuerin. Seit elf Jahren. Aber privat kennen wir uns schon sehr viel länger.» Kristina schluckte.
«War sie behindert? Psychisch krank?»
«Im juristischen Sinne schon», erklärte Kristina. Sie hatte sich wieder etwas gefangen. «Mehr möchte ich dazu im Moment nicht sagen. Sie war jedenfalls nicht so verwirrt, dass sie freiwillig nachts am Boberger See herumlaufen würde. Schon gar nicht in der letzten Nacht …»
«Immer mit der Ruhe», beschwichtigte der Polizist. «Die Gerichtsmedizin wird zur Todesursache noch Feststellungen treffen. Wissen Sie, ob Angehörige verständigt werden müssen?»
«Ihre Mutter. Sie lebt auf der Straße. Eine Anschrift hat sie, soviel ich weiß, nicht.» Kristina wusste, dass sich die beiden Frauen ab und zu in einer der Suppenküchen getroffen hatten, die kostenlos Essen verteilten. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob es Angie deshalb immer wieder zum Leben auf der Straße zog, weil das der Ort war, an dem sie aufgewachsen war. «Eventuell steht etwas in der Akte», fuhr Kristina fort. «Eine Adresse von jemandem aus der Familie. Ich glaube, es gibt da einen Cousin. Meine Mitarbeiterin kann die Angaben für Sie heraussuchen, wenn das bis morgen Zeit hat.»
«Ich denke, es besteht heute kein Handlungsbedarf mehr», stellte der Beamte förmlich fest. «Ich möchte Sie aber bitten, sich morgen früh mit mir in der Gerichtsmedizin zu treffen und die Identifizierung vorzunehmen. Sagen wir um zehn? Sie kennen die Anschrift?»
Kristina sah mechanisch in ihren Terminkalender und antwortete: «In Ordnung.» Dann gab ihr der Polizist noch das Aktenzeichen der Todesermittlungssache durch und legte auf.
Sie sah auf ihre Uhr. Halb sechs. Seit mindestens einer halben Stunde saß sie wie gelähmt an ihrem Schreibtisch.
Für einen kurzen Moment hatte sie einen seltsam unpassenden Anflug von Euphorie durchlebt. Ihr Körper bereitete sich darauf vor, einen schmerzhaften Schlag einzustecken, indem er ihr noch schnell ein paar Glückshormone schenkte. Doch gleichzeitig nahm vor ihren Augen ein Bild immer deutlicher Gestalt an: Angie in ihrer viel zu großen, völlig durchnässten Winterjacke, mit weit aufgerissenen Augen am Ufer eines Sees.
Beinahe lautlos betrat Ceyda den Raum. Sie schien zu ahnen, dass etwas Schlimmes passiert war.
«Alles in Ordnung bei dir? Ich wollte jetzt mal Schluss machen!»
Kristina fuhr hoch. «Nein, es ist keineswegs alles in Ordnung. Angie … sie ist heute Nacht gestorben.»
Ceyda starrte sie bestürzt an. «Was für ein Tag!» Im selben Moment schien sie zu bemerken, dass diese Reaktion nicht wirklich angemessen war. «Tut mir leid … Ach Mist, was ist denn passiert?»
Kristina warf ihr einen seltsamen Blick zu. «Keine Ahnung. Vielleicht erfahre ich morgen mehr. Tu mir den Gefallen – lass mich jetzt einfach in Ruhe.»
«Klar», erwiderte Ceyda betont sachlich. «Ich wünsche dir einen schönen … Kristina, pass einfach auf dich auf.» Dann zog sie die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Nur wenig später verließ auch die Anwältin ihre Kanzlei. Einfach nur raus, dachte sie, ein bisschen laufen. Manchmal half das, ihre Gedanken zu ordnen. Im Grunde genommen aber wusste sie schon, wo sie hinwollte.
Das schmucklose, sechsstöckige Gebäude lag nur ein paar Schritte vom Altonaer Bahnhof entfernt. Wie froh sie damals gewesen war, als die Städtische Wohnungsbaugesellschaft nach langem Drängeln und Bitten dieses Apartment herausgerückt hatte! Angie war sofort einverstanden gewesen, ohne sich die Wohnung auch nur anzusehen.
Kristina griff unschlüssig in ihre Jackentasche. Sie hatte einen Schlüssel zu der Wohnung, schon seitdem Angie dort eingezogen war, doch sie hatte ihn noch nie benutzt. Ein einziges Mal war sie dort gewesen, nachdem Angie die vierzig Quadratmeter vom Verwalter übernommen hatte: um ein paar Teile, die sie mit ihrem Fiat aus dem Gebrauchtmöbelladen abtransportiert hatte, dort abzustellen. Damals hatte Angie ihr unmissverständlich erklärt, den Rest schaffe sie schon allein. Und Kristina hatte sofort verstanden, dass hier eine Art von Privatsphäre begann, die Angie gegen jeden Eindringling verteidigte, weil sie so etwas noch nie zuvor in ihrem Leben besessen hatte.
Ein Mann kam aus dem Haus und hielt Kristina höflich die Tür auf. Das war ein Zeichen. Sie trat ein und stieg die fünf Stockwerke zu Fuß hinauf. Oben angekommen, sah sie sich etwas atemlos um. Von den sechs Eingängen auf dieser Etage kam aber nur einer in Frage: Es stand kein Name daran.
Sie kramte den Schlüssel heraus, schloss auf und betrat den winzigen Flur. Licht brauchte sie nicht. Zwar war es draußen mittlerweile fast dunkel, aber die Leuchtreklamen der Großen Bergstraße spendeten hier oben genügend Helligkeit.
Der winzige Flur mündete unmittelbar in das einzige Zimmer der Wohnung. Es verfügte über alles, was ein Mensch unbedingt brauchte: ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, einen Schrank und ein Regal. Eine Kochnische schloss sich direkt daran an.
Kristina schaute sich um. Auf dem Tisch lag kein Krümel. Das Bett war akkurat mit einer Tagesdecke abgedeckt. Es sah nicht so aus, als ob hier überhaupt jemand wohnte. Sie öffnete den Schrank: Pullover, T-Shirts, Unterwäsche – alles lag da in sauberen Stapeln geordnet.
Irgendwie passte diese ordentliche Kargheit überhaupt nicht zu der Vorstellung, die sie von Angies Wohnung gehabt hatte. Sie hätte sich nicht darüber gewundert, wenn die Wände mit chinesischen Schriftzeichen, Fotos von Haifischen oder Schokoladenverpackungen tapeziert gewesen wären. Wenn sich hier alte Zeitungen oder Kisten voll mit seltsamem Krimskrams gestapelt hätten. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass Angie in ihrer Wohnung ein geheimes und verrücktes Leben führte, zu dem niemand Zutritt hatte. Aber das hier sah eher so aus wie das Zimmer im Wohnheim, aus dem Kristina sie vor elf Jahren herausgeholt hatte.
Es roch nach Altkleidersammlung und billigen Putzmitteln. Aber da war noch etwas anderes. Irritiert zog Kristina die Luft ein. Woher kam dieser zarte Duft von Zimt und frischen Blumen? Pflanzen waren nirgendwo zu entdecken. Sie öffnete die Tür zum Duschbad. Es war ein Parfum, wurde ihr plötzlich klar, und zwar nicht das billigste. Sie sah sich um. Die wenigen, preiswerten Pflegeprodukte, die auf dem Waschtisch standen, verströmten diesen Duft ganz bestimmt nicht.
Ein Telefon klingelte laut. Kristina fuhr erschrocken zusammen, fühlte sich plötzlich ertappt. Es dauerte einen Moment, bis sie realisiert hatte, dass es ihr eigenes Handy war. Rasch nahm sie es in die Hand und drückte die Rufannahmetaste.
«Wolland!», meldete sie sich in einem strengen Tonfall, um ihre eigene Beklommenheit zu überspielen.
«Michel hier.» Seine Stimme klang warm und freundschaftlich. «Wo steckst du denn die ganze Zeit? Ich hab es schon ein paarmal im Büro versucht!»
«Ich bin … Ach egal, erklär ich dir später.» Kristina sprach leise, als könnte jemand sie belauschen.
«Ich hab gedacht, du kommst mal ein bisschen früher nach Hause; ich habe nämlich gekocht», erklärte Michel fröhlich.
Sie starrte in den Spiegel über dem Waschtisch. Sich selbst konnte sie nur in Umrissen erkennen, als Schattenspiel vor dem fahlblauen Licht, in das die Wohnung getaucht war. An der unteren Ecke des Spiegels sah sie eine kleine, viereckige Aussparung. Sie trat näher an den Spiegel. Eine Visitenkarte war dort in den Rahmen gesteckt. Ohne nachzudenken, griff sie nach dem kleinen Stück Pappe und steckte es in ihre Jackentasche.
«Krizzy?», fragte Michel leicht irritiert. «Bist du noch dran? Alles in Ordnung?»
Sie hatte ihn beinahe vergessen. «Ich bin gleich da!», sagte sie schnell und legte auf, bevor er weiter nachfragen konnte.
Sie hatte es plötzlich eilig, Angies Wohnung zu verlassen. Vielleicht würde es ihr für diesen Abend noch gelingen, gegen die Niedergeschlagenheit anzukämpfen, die begann, sich wie Mehltau auf ihre Seele zu legen.
Als Kristina die Treppen zu ihrer Wohnung im vierten Stock hinaufstieg, war sie froh, dass sie heute Abend dort oben erwartet wurde. Michel war bestimmt nicht der Lebenspartner, den sie sich erträumt hatte; er trank eindeutig zu viel Rotwein und machte sich zu wenig Gedanken über seine Zukunft. Er war dort stehen geblieben, wo sie sich vor zwanzig Jahren getrennt hatten: ein ewiger Endzwanziger, dem angeblich noch alles offen stand. Aber heute hatte er intuitiv gespürt, was sie brauchte.
Sie war noch nicht oben angekommen, da riss er bereits die Tür auf. «Komm rein», begrüßte er Kristina und strahlte sie an. «Großes Festessen! Ich hab uns einen Gumbo gekocht!»
Er musste den halben Tag damit verbracht haben, Okraschoten, Meeresfrüchte, geräucherte Würste und kreolische Gewürze aufzutreiben. Um dann eine Bouillon zu kochen, eine braune Mehlschwitze herzustellen, alle Zutaten dazuzugeben, den Südstaaten-Eintopf mehrere Stunden lang sanft vor sich hin köcheln zu lassen und die Küche tadellos aufzuräumen. Was zu einem klassischen Gumbo gehörte und wie aufwendig seine Zubereitung war, hatte er Kristina schon einmal erzählt. Eine Flasche Wein hatte er auch besorgt. Es roch in der ganzen Wohnung nach Huhn und Meeresfrüchten, nach Fett und einer fremden Schärfe.
«Hab mir gedacht, du hast einfach zu viel Stress. Und ich kann ja auch mal was machen, wo ich hier schon ständig in deiner Wohnung rumhänge», erklärte er.
Erschöpft und unglücklich ließ sie sich in seine Arme sinken. «Es ist was passiert.»
Der Freund drückte sie einfach an sich. «Erzähl!»
Kristina rückte ein wenig von ihm ab. «Angie», sagte sie. «Du weißt ja: Gestern Nacht, als sie angerufen hat, bin ich noch mit ihr in die Klinik gefahren. Dann wollte sie dort aber doch nicht bleiben. Und jetzt ist sie tot – man hat sie am Boberger See gefunden. Es ist total unklar, wie sie dort hingekommen ist. Und warum …» Sie begann wieder zu zittern.
«O Mann», sagte Michel nur und strich ihr zärtlich übers Haar.
«Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen. Sie hat mich sogar darum gebeten», klagte Kristina sich selbst an. Dann wand sie sich aus seinen Armen und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
«Hey!», rief Michel ihr aufmunternd zu und machte sich am Herd zu schaffen. «Du musst dir echt nicht jeden Schuh anziehen. Du hast so viel für sie getan. Du hast sie mitten in der Nacht noch durch die Gegend gefahren; das hätte bestimmt kein anderer gemacht. Wenn sie dann … Du weißt doch noch gar nicht, was passiert ist, oder?»
Kristina zuckte müde mit den Schultern.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte er weiter. «Bist du nicht ihre Anwältin oder so?»
«Ich war ihre Betreuerin, nicht die Anwältin. Morgen früh fahr ich in die Gerichtsmedizin … Vielleicht sagen sie mir dort mehr.»
«Dann verspeisen wir jetzt diesen Gumbo zu Ehren von Angie», erklärte er feierlich.
Sie merkte plötzlich, wie hungrig sie war, und langte sofort zu, als Michel das Essen servierte. Es schmeckte. Und sie beide redeten. So, als hätten sie das in den ganzen drei Monaten noch nicht ein einziges Mal getan.
«Erzähl mir was aus Brasilien», bat Kristina. «Irgendwas, was mich heute Abend ein bisschen ablenkt.»
Michels Augen leuchteten, als er über die Straßenkinder sprach, mit denen er in São Paulo gearbeitet hatte. Jungen und Mädchen, die erst fünf oder sechs Jahre alt und schon ganz auf sich allein gestellt waren. Die Kinder hatten ihn anfangs oft ausgetrickst, aber sie waren auch herzzerreißend in ihrem Zusammenhalt und ihrer Fürsorge füreinander. Michel hatte mit ein paar anderen Freiwilligen nach und nach ein kleines Zentrum für sie aufgebaut, in einem der ärmsten Stadtteile von São Paulo. Manchmal hatten sie dort mit allen Nachbarn Feste gefeiert, getanzt und Musik gemacht.
Kristina spürte, wie ihr durch die sanfte Schärfe des kreolischen Eintopfes langsam behaglich und warm wurde. Nachdem sie ihren dritten Teller geleert hatte, fragte sie: «Dieser Gumbo ist aber eigentlich kein brasilianisches Gericht, oder?»
«Nein, das Rezept stammt aus den amerikanischen Südstaaten. Aber ich hab’s in São Paulo öfter für meine Familiy gekocht. Und die Chicas haben mir dabei geholfen.»
Irgendwas gefiel ihr nicht an dem Tonfall, in dem er das sagte. «Warum bist du eigentlich zurückgekommen?», wollte sie auf einmal wissen. Ihre Stimme klang plötzlich dünn.
Michel legte ihr einen Finger auf die Lippen. «Nicht heute Abend! Erzähl mir lieber noch ein bisschen von Angie. Du kriegst sie ja heute doch nicht aus dem Kopf.»
Und jetzt begann Kristina zu reden. Über die juristischen Seminare, in denen sie sich kennengelernt hatten: Angie, die jedes Mal brillierte, weil sie so viel wusste, und Kristina, die schüchterne Studienanfängerin. Über die scharfen Wortgefechte, die Angie sich mit ihren Dozenten geliefert hatte, während Kristina Mühe hatte zu verstehen, worum es überhaupt ging! Irgendwann war ihr klargeworden, dass diese hochbegabte, klarsichtige, stets in Schwarz gekleidete Kommilitonin auch deshalb so viel Zeit in den Bibliotheken verbrachte, weil sie kein anderes Zuhause hatte. Sie hatte angefangen, Angie ab und zu ganz selbstverständlich einen Kaffee und ein Franzbrötchen zu spendieren, immer unter dem Vorwand, dass sie ihre Hilfe brauchte, um irgendeine juristische Spitzfindigkeit zu verstehen. Und so hatte sich eine vorsichtige Freundschaft zwischen den beiden entwickelt.
Ganz beiläufig hatte Angie ihr eines Tages mitgeteilt, dass sie «für kurze Zeit» in der staatlichen Wohnunterkunft für obdachlose Frauen in der Notkestraße lebe. Und dass das auch nicht so schlecht sei, weil man dort gar nicht erst in Versuchung kommen würde, sich mit irgendwelchem überflüssigem Konsumkram zu belasten, mit Möbeln oder Kleidungsstücken und dem ganzen anderen Tand.
Angie war nach und nach immer radikaler in ihrer Kritik am Justizsystem geworden und hatte begonnen, selbst in den geduldigsten Dozenten nichts als persönliche Feinde und Verfolger zu sehen. Irgendwann war sie dann einfach von der Uni verschwunden. Kristina war in die Notkestraße gefahren und hatte nach ihr gefragt. Dort bekam sie die Auskunft, eine Angelika Gelterkind wohne hier schon lange nicht mehr.
Erst Jahre später sollte sie erfahren, was aus Angie geworden war. Kristina hatte ihr Büro als Anwältin in Altona gerade eröffnet, als der Sozialdienst des Klinikums Nord bei ihr anrief. Eine Patientin brauche anwaltliche Hilfe und habe ihren Namen genannt. Ob sie bereit sei vorbeizukommen?
Sie fuhr noch am selben Tag hin. Im Büro des Sozialarbeiters sagte man ihr, dass die Patientin, die nach ihr gefragt hatte, eine gewisse Angelika Gelterkind sei.
«Und dann hast du dich sehr für sie eingesetzt», stellte Michel fest. «Ich meine, du hast ja viel mehr für sie getan, als nur ihre gesetzliche Betreuung zu übernehmen. Weil du mal mit ihr befreundet warst? Oder weil sie zu deinen ersten Fällen gehörte?»
«Richtig, ich hab sie damals aus der Psychiatrie geholt», erzählte Kristina. «Und in dem Zusammenhang ist es auch ganz nützlich gewesen, dass ich Anwältin bin. Aber sie hat mich nicht darum gebeten. Ich konnte es einfach nicht akzeptieren, dass sie aufgegeben hatte … ausgerechnet sie! Sie war für mich im Studium so wichtig. Sie hat mir geholfen, dieses juristische Denken zu verstehen und es trotzdem kritisch zu sehen. Und später …» Sie brach den Satz ab und hing ihren Gedanken nach.
«Und später?», fragte Michel.
«Sie hat mir auch später immer das Gefühl vermittelt, dass es okay ist, was ich mache. Obwohl sie das Jurastudium geschmissen hat und ich brav alle Examen absolviert habe. Obwohl ich angefangen habe, Geld zu verdienen, und sie von Sozialhilfe lebte. Obwohl sie die radikalste Kritikerin der Justiz war und ich als Anwältin quasi dazugehöre. Trotz alldem hat sie mir immer signalisiert: Was du machst, ist okay. Weil es mein Weg war.»
«Ihr habt oft darüber gesprochen?»
«Nein, fast nie. Ich hab das einfach so empfunden. Und wenn ich wirklich mal Probleme hatte, war Angie da. Sie hatte einen siebten Sinn … Wir haben uns manchmal monatelang nicht getroffen, und plötzlich lief sie mir über den Weg und hat etwas gesagt, was haargenau zu meiner Situation passte. Manchmal habe ich das erst sehr viel später richtig verstanden.»
«Dann war sie so was wie eine Schutzpatronin?», fragte Michel. «Für dich als Anwältin?» Er drückte sich manchmal übertrieben pathetisch aus. Aber er hatte es ziemlich genau getroffen.
Noch immer roch es überall in der Wohnung intensiv nach dem Essen vom Abend zuvor. Jetzt fand Kristina diese Mischung aus tierischem Fett und scharfen Gewürzen unerträglich. Ihr war flau, und das lag nicht nur daran, dass sie ein bisschen zu viel getrunken hatte. Sie würde gleich ins gerichtsmedizinische Institut fahren müssen, um Angie zu identifizieren. Ceyda wusste Bescheid.
Kristina leerte ihren Kaffeebecher und kramte nach ihrem Autoschlüssel. Zur Universitätsklinik könnte sie zwar genauso gut mit dem Bus fahren. Aber sie wollte allein sein auf diesem Weg, geschützt durch das bisschen Privatsphäre, das der klapprige Fiat ihr bot. Michel war noch im Bad. Ohne sich von ihm zu verabschieden, zog sie die Wohnungstür hinter sich zu.
Das gerichtsmedizinische Institut lag auf der Rückseite des riesigen Geländes der Eppendorfer Klinik. Sie stellte ihr Auto direkt neben dem Krankenhausgelände ab. Beschauliche Einfamilienhäuser säumten die Wohnstraße, durch die täglich Leichenwagen fuhren. Auch das Institut für Rechtsmedizin hatte eine Art Vorgarten. Ein Plattenweg führte zum Eingang.
Sie klingelte. Die Tür sprang sogleich auf.
«Kommen Sie rein; Herr Wagner ist auch schon da!»