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»Wolfsland – erlebe das Abenteuer deines Lebens«, steht auf dem Werbeprospekt des Schullandheims, in das die 14-jährige Lou mit ihrer Klasse fährt. Der Slogan verspricht nicht zu viel, wie sich bald erweist. Im Grenzland zu Polen wird aus einer harmlosen Exkursion zu Bildungszwecken unversehens ein Kampf gegen gewissenlose Machenschaften. Und Lou ist mittendrin. Die Ereignisse überstürzen sich, als die Waise sich gegen Mobbing zur Wehr setzt und vorzeitig nach Hause geschickt werden soll. Lou reißt aus. In den einsamen Wäldern trifft sie nicht nur auf Wölfe, sondern auch auf den rätselhaften Lupo, der sich hier versteckt hält. Plötzlich befinden sie sich beide auf der Flucht – vor den Suchtrupps auf der Spur der vermissten Schülerin und vor den Wilderern, die hinter den Wölfen her sind. Wenige Tage und Nächte stellen Lous Leben auf den Kopf. Am Ende erkennt sie: Ich bin nicht allein.
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Seitenzahl: 224
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UTAREICHARDT
IMWOLFSLAND
Roman für Jugendliche
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.dnb.de.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, Fellbach
Lektorat: Marion Voigt, Zirndorf
Umschlaggestaltung, Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-944788-49-4
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Meinen Eltern
Ich schob meinen Kopf ganz nah an das Foto. Bis die Wölfin mit den bernsteinfarbenen Augen verschwamm, zu einem graubraunen Fleck wurde, in den ich hineinkroch. Das Fell der Wölfin war warm und fest. Sie rieb ihre feuchte Schnauze an meiner Nasenspitze und hechelte. Ihr Atem roch nach Blut. Sie lief zu den Bäumen, von wo sie gekommen war, kehrte um und stieß mit dem Kopf gegen mein Knie. Ich folgte ihr durch das hohe Gras zum Waldrand.
Es klopfte an der Tür. Ich blinzelte, bis die Wölfin wieder ein Tier auf einem Foto war. Aber noch immer kam es mir vor, als würde sie mich ansehen und mir mit ihren Blicken folgen. Ich drehte den Prospekt auf die andere Seite. Jetzt reichte es aber! Die ganze Nacht hatte ich kein Auge zugemacht. Da war es ja kein Wunder, wenn ich mir irgendwann nur noch Blödsinn einbildete.
»Bist du so weit, Louisa?«, rief Karla, meine Pflegemutter.
»Nein!« Ich knipste das Licht aus. Ich war überhaupt nicht so weit. Eine Woche Schullandheim in der ostdeutschen Pampa mit unserer Biolehrerin Heide Missel versprach nichts Gutes, ganz im Gegenteil: In den letzten Wochen hatte sie ein Wald-, Wiesen- und Wanderprogramm aufgestellt, von dem mir schon beim Durchlesen die Füße schmerzten. Und zu allem Übel lag Manu, meine einzige Freundin in der 8 a, mit entzündetem Blinddarm im Krankenhaus und konnte nicht mitfahren. Ohne sie steuerte ich regelmäßig in die größten Katastrophen.
Die Digitalanzeige des Funkweckers sprang um auf 8:07. Um halb neun startete der Bus vom AMG, dem Albertus-Magnus-Gymnasium. Vielleicht fuhren die anderen ja ohne mich ab, wenn ich nur lange genug trödelte. Sollte ich mich krank stellen? Aber das würde mir Karla niemals abkaufen, gestern war ich noch topfit gewesen. Ich tastete meinen Bauch ab. Rechts unterhalb des Nabels zwickte es ein wenig. War Blinddarmentzündung ansteckend?
»Louisa, beeil dich! Wir sind spät dran!«
Das Klopfen wurde stärker und schneller. Mit einem Schwung ging die Zimmertür auf.
»Du liegst ja immer noch im Bett!« Karla verdrehte die Augen und griff nach meiner Decke. Aber ich hielt die Decke fest und wickelte mich darin ein bis zum Kinn, wie eine Schmetterlingspuppe in ihren Kokon.
»Ich fahre nicht mit!«
»Natürlich fährst du, sei nicht albern«, sagte Karla lachend, klackerte in ihren Sandaletten über den Parkettboden bis zum Fenster und drückte den elektrischen Schalter für die Jalousie. Diese lackroten Schuhe … die hatte sie in den zwei Monaten, seit ich bei ihr und Elmar lebte, nur ein einziges Mal getragen: als die beiden in die Oper gegangen waren. Vielleicht konnten sie meine Abreise ja kaum erwarten und waren froh, mich los zu sein. Ich kniff die Augen zu und malte mir aus, wie es sein würde, wenn ich aus dem Schullandheim zurückkehrte. Wie ich an der Haustür Sturm klingeln würde und niemand öffnete. Und dann kam bestimmt Holdermann, der Leiter des Sankt-Anna-Heims, um die Ecke und machte ein betroffenes Gesicht: »Es tut mir leid, Louisa«, würde er sagen, »aber deine Pflegeeltern haben es sich anders überlegt. Du wirst ab jetzt wieder bei uns wohnen.« Ich wickelte mich noch fester ein in meine Decke und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich wollte alles, nur nicht zurück ins Heim. Die vergangenen Wochen bei Karla und Elmar waren das Beste, was mir seit Jahren passiert war. Wie sehr hatte ich mich immer nach einer Familie gesehnt. Als ich jünger gewesen war, hatte ich sogar heimlich fremde Familien beobachtet, sonntags im Freibad oder in der Eisdiele. Und wie neidisch war ich gewesen, wenn sie zusammen lachten, und sogar, wenn sie sich stritten.
Karla setzte sich zu mir. »Du wirst eine tolle Woche im Schullandheim haben und neue Freunde finden, bestimmt! Und vielleicht seht ihr ja tatsächlich Wölfe, so richtig in freier Natur!«
»Dann fahr du doch hin, wenn es da so toll wird«, murmelte ich und musste schlucken, weil sich mein Hals plötzlich anfühlte, als ob ich in einen viel zu engen Rollkragenpulli geschlüpft wäre, der mir die Luft abdrückte.
»Für die anderen bin ich ja doch bloß ›die aus dem Heim‹!«
»Ach was, sie werden dich endlich richtig kennenlernen und merken, was für ein klasse Mädchen du bist.« Karla strich mir über die Haare und stand auf. »In fünf Minuten unten, ja? Elmar sitzt schon seit einer halben Stunde im Auto. Du kennst ihn doch …«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln und quälte mich aus dem Bett. Vielleicht hatte Karla ja recht und das Schullandheim würde gar nicht so schlimm werden. Ich musste mich einfach zusammenreißen und durfte mich weder von Jonas noch von den Zimtzicken provozieren lassen. Fertig. Entschlossen angelte ich nach dem Prospekt des Schullandheims, der in die Ritze zwischen Matratze und Wand gerutscht war. Auf der Rückseite war eine Landkarte abgedruckt. Mit dem Finger umkreiste ich den roten Punkt, der das Schullandheim markierte. Es lag nahe der polnischen Grenze und war von nichts als Wald und Seen umgeben. Keine Stadt, noch nicht einmal ein Dorf. Was dachte sich die Missel bloß dabei, uns in diese Einöde zu schleifen?
Ich steckte den Prospekt in meine Umhängetasche. Nur wegen der schönen Wölfin nahm ich ihn mit. »Komm ins Wolfsland – erlebe das Abenteuer deines Lebens!«, stand unter dem Foto. »Erlebe den Ärger deines Lebens« passte besser. Ich liebte Abenteuer. Aber damit handelte ich mir auch regelmäßig Ärger ein. Lou Starks Gesetz.
Im Bad ließ ich mir Zeit beim Zähneputzen. Ich zog die löchrigste Jogginghose an, die ich finden konnte, steckte das Handy ein und warf einen letzten Blick auf den Wecker. 8:21. Das schafften wir nie! Erst an der Zimmertür fiel mir Mister X ein. Fast hätte ich ihn in dem ganzen Drama vergessen. Rasch öffnete ich den Käfig, in dem meine Ratte hockte und mir ihren braunen Rücken entgegenstreckte.
»Hey, du brauchst nicht beleidigt sein. Ohne dich fahr ich doch nicht!«
Ich hob Mister X aus dem Käfig und hielt die Tasche auf. Mit einem Satz hopste er hinein. Für ein Weilchen machte er es sich gerne darin gemütlich, und ich hatte die Tasche gestern Abend schon mit extra viel Trockenfutter und Möhren ausgepolstert.
Unten wartete Karla bereits an der Haustür. Sie streckte mir ein belegtes Brötchen und eine Flasche Wasser entgegen und winkte mich durch zum Auto. Noch hoffte ich auf ein Wunder: ein Gewitterguss mit hühnereigroßen Hagelkörnern, die den Weg zum AMG für Stunden unpassierbar machten. Oder ein Marder, der die Autokabel durchgebissen hatte. Aber der Wagen sprang ohne Probleme an und ein tiefblauer Himmel ohne eine einzige Wolke leuchtete mir entgegen.
Auf der Fahrt zur Schule pfiff Elmar die Melodie von »Diamonds« mit, obwohl er sonst immer behauptete, er sei zu alt für SWR3. Dass er überhaupt mitfuhr, grenzte an ein Wunder. Normalerweise lehnte er es ab, »Teil des Benzinschleudersystems« zu sein, und nahm das Fahrrad. Er besaß nicht einmal den Führerschein.
Karla suchte alle paar Sekunden meinen Blick im Rückspiegel und lächelte mir aufmunternd zu, während ich auf meinem Brötchen herumkaute und immer nervöser wurde. In meiner Umhängetasche zappelte Mister X. Wenn er jetzt schon durchdrehte, wie sollte das erst im Bus werden?
Mit einem Ruck drehte sich Elmar zu mir um. »Du hast Mister X dabei?«
Hatte Elmar jetzt schon hinten Augen?
»Das ist nicht wahr, Louisa!«, rief Karla. Jetzt lächelte sie nicht mehr.
»Wieso? Die Missel hat uns eine ellenlange Liste ausgeteilt, was wir alles nicht mitnehmen dürfen: Laptop, MP3, Tablet, Energydrinks … Von Ratten stand nichts drauf!« Von Handys schon. Doch das behielt ich lieber für mich.
Karla trat stärker als sonst auf die Bremse. »Das gibt nur Ärger, und das weißt du auch!« Sie trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und ließ den Blick nicht von der Ampel. »Komm schon … komm schon … Werde grün!«
»Ohne Mister X geh ich nicht!«
»Das entscheidest nicht du, junge Dame«, sagte Elmar. Ich hasste es, wenn er mich »junge Dame« nannte. Karla warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Es ist grün«, sagte Elmar. Dann sagte keiner mehr was für den Rest des Wegs, außer dem Radiosprecher. »Bis zu dreißig Grad heute … zu heiß und trocken für die Eisheiligen … gegen Abend einzelne Wärmegewitter … Überschwemmungen möglich …«
Mein letztes bisschen Hoffnung verflog. Gegen Abend nützten mir die Überschwemmungen nichts mehr.
Als wir kurz darauf in die Einfahrt zum Schulparkplatz bogen, waren wir vierzehn Minuten über der Zeit. Spät, aber nicht spät genug: Der Reisebus stand noch da.
Die Missel und Hänlein, unser Mathe-Referendar, liefen hektisch zwischen den Eltern auf und ab.
»Gerade wollte ich bei Ihnen anrufen«, begrüßte die Missel uns frostig und zog Karla auf die Seite. Ich drückte mich rasch an den beiden vorbei. Sicher erzählte die Missel ihr jetzt, dass ich gestern mit dem Stuhl nach Jonas Holdermann geworfen und ihn nur knapp verfehlt hatte. Und dass ich von der Schule fliegen würde, wenn auch nur eine Klitzekleinigkeit in den nächsten Tagen vorfiel. Dabei war es Jonas, der mich ständig mobbte. Seit ich nicht mehr im Sankt-Anna-Heim lebte, das sein Vater leitete, legte er es nur noch mehr darauf an, mich zu provozieren. »Weil er eigentlich auf dich steht, das weiß er nur selbst noch nicht«, behauptete Manu immer. Aber das glaubte ich ihr nicht. Ach, Manu – wie es ihr wohl ging? Ich konnte ihr nicht einmal eine Nachricht an ihr Handy schicken, weil sie heute operiert wurde.
Karla sah vorwurfsvoll und besorgt zugleich in meine Richtung und ich machte, dass ich in den Bus kam, bevor sie oder die Missel mich noch zu sich hinwinkten.
»Auch schon da, Rattenfrau!«
»Coole Jogginghose, kann ich auch mal ein Loch reinschneiden?«
»Pass auf, ich schneid dir gleich ein Loch wo rein!« Ich stieg über Jonas’ ausgestrecktes Bein und ignorierte die Jogginghose-geht-gar-nicht-Blicke von Feli, Lara und der »süßen Sophie«, die nicht halb so süß war, wie sie immer tat. Spätestens auf der ersten Wanderung mit der Missel durchs Gestrüpp würde ich mit dem Minirock-geht-gar-nicht-Blick zurückschießen. Wie ich die drei Zimtzicken kannte, hatten sie nicht mal Sportsachen mit.
Ich setzte mich in die vorletzte Reihe neben Ferdinand. Auch wenn mir weiter hinten im Bus immer schlecht wurde und Ferdi-Nerdi ziemlich anstrengend sein konnte – Hauptsache, niemand bekam mit, dass ich Mister X dabei hatte.
Die Missel und Hänlein stiegen kurz nach mir ein. Ich umklammerte meine Tasche. Und wenn Karla der Missel von Mister X erzählt hatte, weil sie sich über mich geärgert hatte?
»Vergewissern Sie sich bitte, ob jetzt endlich alle an Bord sind, Herr Hänlein«, stöhnte die Missel und setzte sich vorn neben den Busfahrer. Ich atmete auf. Hänlein war keine Gefahr für meinen blinden Passagier. Er hatte schon Mühe, uns durchzuzählen, und brauchte vier Anläufe dafür, weil Jonas und Tobi wie die Gestörten zwischen den Sitzreihen hin und her turnten.
»Rotbäckchen ist so süß!«, zwitscherte Feli laut genug, dass es jeder hören musste, auch Hänlein. Er sah aus wie ein Feuerlöscher. Gewiss würde er der Missel keine Hilfe sein die nächsten Tage. Sein erstes Jahr als Referendar, und gleich mit der 8 a ins Schullandheim. Da hatte er doch schon verloren. Fast tat er mir ein bisschen leid.
Karla und Elmar liefen mit den anderen Eltern vor den getönten Fensterscheiben auf und ab, suchten mich und winkten. Ich beugte mich an Ferdi vorbei zum Fenster, klopfte gegen das dicke Glas und winkte zurück. Aber sie entdeckten mich nicht. Der Bus rollte langsam aus der Einfahrt und ich fühlte mich elend, weil ich den beiden nicht einmal Tschüss gesagt hatte.
Je weiter ich den Kopf zur Seite drehte, umso schneller flogen die Bäume vorüber – Licht, Schatten, Licht, Schatten, Licht. Seit der Bus von der Autobahn abgefahren war, kurvten wir über endlose Landstraßen durch endlose Wälder. Mir war speiübel und ich suchte schon mal nach einer Tüte. Die mit dem angebissenen Hamburger sah wenigstens reißfest aus. Ich presste die Lippen zusammen. Jetzt bloß nicht an die andere Hamburgerhälfte in meinem Magen denken, sonst musste ich mich auf der Stelle übergeben.
Ferdi-Nerdi rückte so weit wie möglich in Richtung Fenster, nur weg von mir. Sicher war ich schon grün im Gesicht. Er griff in seinen Rucksack und zog eine Rolle Küchenpapier heraus, von der er vier Tücher abriss. Aber er gab sie nicht mir, sondern deckte damit sorgfältig die Sitzfläche zwischen uns ab. Sein Sauberkeitsfimmel hatte eindeutig einen neuen Höhepunkt erreicht.
»Wickel dich doch gleich von Kopf bis Fuß damit ein!«, sagte ich und schloss die Augen. Vielleicht half das ja gegen die Übelkeit.
»Eine gute Idee prinzipiell, aber dafür würde ich mindestens dreißig der achtzig Tücher benötigen. Ich habe aber bei zehn Tagen Schullandheim einen täglichen Bedarf von acht Tüchern errechnet. Vier sind jetzt schon weg …«
»Entspann dich, Ferdi! Ich übergebe mich immer nach vorn!«
Er sah mich zweifelnd an, begnügte sich aber immerhin damit, ein weiteres Tuch an die Rückenlehne meines Vordersitzes zu klemmen. Der Bus bog auf einen unbefestigten Weg. Ich atmete dreimal tief durch. Vielleicht half das ja gegen die Übelkeit.
»Canis lupus lupus. Lateinisch für Wolf. Gehört zur Familie der Canidae oder auch Hundeartigen. Siedelte sich in der sächsischen Lausitz während der letzten Jahre wieder an, nachdem er zuvor rund 150 Jahre nicht mehr in Deutschland anzutreffen war. Eine relativ junge Population lebt im militärischen Sperrgebiet, das unweit unseres Schullandheims beginnt …«
»Mann, halt doch mal den Mund!«, stöhnte ich. Ferdi kapierte nie, wann er anderen auf die Nerven fiel. Er war der extremste Nerd an unserer Schule. Aus seinem Rucksack ragten statt Chipstüten Fachbücher über Wölfe, und schon seit Wochen quasselte er nur noch von Canis lupus lupus.
Ich öffnete den Reißverschluss meiner Tasche. Hoffentlich war mit Mister X alles in Ordnung. Seit der Bus am AMG abgefahren war, hatte er sich nicht mehr bewegt.
»Herrschaften, wir sind da! Lasst nichts liegen, packt euren Müll ein!« Die Missel klatschte in die Hände. Wie eine Stewardess schritt sie den Mittelgang ab. Adlerblick nach rechts, Adlerblick nach links. Ausgerechnet neben mir blieb sie stehen und hielt sich an der Lehne fest. Die Tasthaare von Mister X kitzelten mich an der Hand und ich drückte ihn rasch tiefer zurück in die Tasche.
»Und in dem Betonkasten da draußen sollen wir wohnen? Sieht ja aus wie ein Gefängnis!«, sagte ich extralaut zu Ferdi-Nerdi, nur um die Missel von Mister X’ Gezappel abzulenken. Aber Ferdi reagierte nicht. Er machte sich Notizen. Sicher über den Lebensraum der Wölfe. Oder über ihr Jagdverhalten.
»Hört, hört, die kennt sich mit Gefängnissen aus«, krakeelte Jonas von schräg vorn.
»Immer noch besser als mit Bräunungsstudios«, konterte ich und spielte auf unsere zufällige Begegnung vor dem »Fun with Sun« vergangene Woche an. Jonas warf mir einen hasserfüllten Blick zu.
»Du wirst die Unterbringung in diesem Betonkasten ganz bestimmt überleben, Louisa«, schaltete sich die Missel ein und atmete hörbar aus.
Was sollte das denn heißen? Dass ich sowieso nichts Besseres gewohnt war? Dass ich dankbar sein sollte, wenn ich nicht unter einer Brücke pennen musste? Fast wäre mir eine bissige Antwort herausgerutscht. Aber Mister X knirschte mittlerweile mit den Zähnen. Und wenn er damit erst einmal anfing, dauerte es nicht lange, bis er lautstark und ganz und gar nicht wie eine Ratte fauchte. Also lächelte ich die Missel an und nickte noch dazu, als ob ich ihr zustimmte. Sie zögerte einen Moment und musterte mich misstrauisch, aber schließlich eilte sie zwei Reihen weiter nach vorn und zog Jonas die Stöpsel aus den Ohren.
»Jonas Holdermann!«
»Aber ich hab doch nur …«
»Erster Strich. Keine MP3-Player.«
»Sie woll’n ja nur selber mal gute Musik hören! Aber Cro ist garantiert nicht Ihr Geschmack!«
Ungerührt packte sie den MP3-Player in ihr verschließbares Konfiszier-Kästchen, das sie schon den ganzen Morgen demonstrativ mit sich herumtrug. Tröstend griff die »süße Sophie« nach Jonas’ Hand. Aber der zog seinen Arm nur weg und redete mit Tobi auf der anderen Seite des Gangs. Offensichtlich neigte sich der dreitägige Traumpaar-Status der beiden bereits dem Ende zu.
Ich lockerte meinen Griff um die Tasche und Mister X zappelte sofort wieder. Aber wenigstens gab er keine komischen Geräusche mehr von sich.
Als die Bustür sich endlich öffnete, stimmten die Jungs ihr Wolfsgeheul an und alle drängelten gleichzeitig nach vorn und drückten sich nach draußen. Jeder wollte sich das beste Zimmer sichern, klar. Aber weil ich ohnehin nicht wusste, mit wem ich mir ein Zimmer teilen sollte, ließ ich Ferdi-Nerdi an mir vorbei und wartete, bis sich der Rummel gelegt hatte. Nebenbei fächelte ich Mister X eine Ladung Frischluft zu. Zum Dank zwickte er mich in den Finger.
»Hast ganz recht. Magst nicht den ganzen Tag in der stickigen, dunklen Tasche verbringen.«
»Wird’s heute noch?«, rief der Busfahrer von draussen.
Ich zog den Reißverschluss zu und stieg aus. Der Busfahrer trippelte ungeduldig neben den geöffneten Gepäckklappen auf und ab. »So, haben wir’s jetzt auch geschafft?«, fragte er giftig. Er drückte mir den speckigen Lederkoffer in die Hand und sprang zurück in den Bus. Fast im gleichen Moment startete er schon den Motor und fuhr hupend davon.
Eine Stechmücke summte an meinem Ohr vorbei. Vermutlich war sie der Kundschafter und zog los, um ihren Milliarden Kollegen Bescheid zu geben, dass frisches Blut eingetroffen war. Eine Weile blieb ich noch stehen, unschlüssig, ob ich den anderen schon ins Haus folgen sollte. Der Parkplatz lag wie ausgestorben da. Dennoch hatte ich das merkwürdige Gefühl, nicht allein zu sein. Ich stellte meinen Koffer ab und blickte mich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Mit einem Mal raschelte es in den Büschen am anderen Ende des Parkplatzes und die Blätter bewegten sich. Versteckte sich dort jemand und beobachtete mich? Ich verscheuchte den Gedanken an die Wölfin auf dem Werbeprospekt und ging zögernd auf das Gebüsch zu. Plötzlich knackten Äste und ich glaubte, einen Schatten zu sehen, der in den Wald huschte. Ich rannte los, vorbei an den Büschen und ein paar Meter weiter zwischen die ersten Bäume. Aber auch hier entdeckte ich nichts. Wahrscheinlich war es doch nur ein Vogel gewesen oder ein Hase.
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Manu, wie öde es hier war und dass ich sie schrecklich vermisste. In diesem Augenblick tippte mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich fuhr herum. Nase, eigentlich Ann-Marie, stand direkt hinter mir.
»Handys sind verboten im Schullandheim!«
»Und wenn schon! Musst du dich deshalb so anschleichen und mich erschrecken?«
»Die Missel hat mir aufgetragen, nach dir zu sehen. Und als ich aus dem Fenster geschaut hab, bist du gerade in den Wald gerannt. Und … hast du was gesehen?« Nase reckte den Kopf vor. Ihre Neugier war legendär, genau wie ihre sehr lange schmale Nase, und beides zusammen hatte ihr am AMG diesen nicht gerade schmeichelhaften Spitznamen eingebracht.
»Bestimmt war das ein Wolf«, flüsterte sie atemlos.
»Keine Ahnung. Vielleicht lauert ja ein ganzes Rudel in den Büschen, und die losen jetzt aus, wer dich und wer mich zum Abendessen kriegt«, sagte ich. Aber sie reagierte gar nicht auf mein Frotzeln.
»Ich hab gegoogelt. Aus der Gegend hier ist vor einem halben Jahr ein Junge verschwunden. Bis heute ist der nicht mehr aufgetaucht. Es gibt Gerüchte, dass er von Wölfen gefressen worden ist! Also bisher konnte das keiner beweisen, aber …« Sie sah mich mit funkelnden Augen an. Dann ließ sie die Schultern hängen. »Du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
Stimmte genau. Weil Nase eine blühende Fantasie hatte und jede noch so poplige Geschichte sensationsmäßig aufhübschte.
»Also, du kannst dich ja mit Ferdi zusammentun. Der steht auch auf Wölfe«, schlug ich ihr vor, um die Detektiv-Nummer abzukürzen. »Komm, wir müssen uns beeilen – bevor die Missel ein Suchkommando nach uns losschickt!«
Das Stichwort »Missel« schien Nase wieder in die Realität zu beamen. Ich griff nach meinem Koffer, den ich mit einem Expander gesichert hatte, weil nur noch ein Verschluss funktionierte. Karla hatte mir für die Klassenfahrt einen neuen kaufen wollen. Einen Hochglanztrolley mit Blümchenmuster, wie ihn die »süße Sophie« und ihre Zimtzickenfreundinnen hinter sich herzogen. Aber ich wollte nicht. Der Koffer hatte Mam und Pap gehört und war mein einziges Erinnerungsstück an sie und an die Zeit vor dem Autounfall, bei dem sie gestorben waren. Deshalb hütete ich den Koffer wie einen Schatz.
»Nehmen wir ein Zimmer zusammen?«, fragte Nase auf dem Weg zum Klassenknast. Sie klang hoffnungsvoll, was mich nicht weiter wunderte. Bei mir rechnete sie sich Chancen aus, jetzt, wo Manu nicht dabei war.
»Such dir besser jemand anders. Ich schnarche nämlich ganz grässlich, krumme Nasenscheidewand, weißt du.« Ich hoffte, dass sie mir glaubte. Auf keinen Fall würde ich ihr ständiges Fragen und Nachbohren ertragen.
»Oh je, du Ärmste«, sagte sie teilnahmsvoll. »Aber es gibt keine Einzelzimmer und keine Extrawürste. Hat die Missel gesagt.«
Ich hatte es befürchtet: So schnell gab Nase nicht auf.
»Dann frag doch Jonas!«, schlug ich ihr halb im Spaß vor.
Nases Blick verklärte sich augenblicklich. »Ach, das wäre schön!«, seufzte sie. »Aber das erlaubt die Missel nie, mit einem Jungen ins Zimmer! Und ich weiß auch gar nicht … der Jonas, der ist doch mit der Sophie …«
»Och, der ist da nicht festgelegt. Der nimmt, was er kriegt!«
»Du bist gemein, Lou!«
»Und du bist bescheuert! Ausgerechnet der!«
Vor dem Eingangstor blieb Nase stehen. »›Bitte das Tor stets geschlossen halten‹«, las sie laut vor.
»Ist ja fast wie bei Peter und der Wolf, mit dem Gartentürchen …«
Nase nickte ernst und prüfte nach, ob das Tor hinter uns auch wirklich zu war. »Denk an den verschwundenen Jungen!« Sie drehte sich zurück zum Parkplatz. »Was auch immer da eben war im Wald – es wird wiederkommen«, orakelte sie.
Wir überquerten den Vorplatz und stiegen die Steinstufen zur Eingangstür hinauf. Im Hausflur war es kühl und dunkel nach dem grellen Sonnenlicht draußen.
»Treppengebühr für die Assi aus dem Heim: fünf Euro! Und für deinen oberhässlichen Koffer noch einen drauf!«
Jonas stand grinsend und mit ausgestreckter Hand auf der ersten Treppenstufe. Aus der anderen Ecke tauchte Tobi auf und stellte sich mit verschränkten Armen neben ihn.
»Lass mich vorbei, Idiot!«
»Schlag doch zu, wenn du dich traust!«
Nase musste meinen Gesichtsausdruck gesehen haben, denn sie griff blitzschnell nach meinem Arm und hielt ihn fest. »Lasst sie in Ruhe«, piepste sie. »Ich sage es sonst Frau Missel!«
»Ich sag es sonst Frau Missel, ich sag es sonst Frau Missel!«, äffte Jonas sie nach und Tobi lachte. Aber sie gingen zur Seite.
Ich schüttelte Nases Arm ab, quetschte mich zwischen Jonas und Tobi durch und schoss die Treppe hoch. Da war er wieder, der Ärger, auf den ich so gut verzichten konnte. Und wäre Nase nicht gewesen … Die Zimtzicken lehnten über dem Geländer der Empore und tuschelten. Auf dem Gang öffnete sich eine Tür und Hänlein trat heraus.
»Ach, Louisa, du hast wohl deinen Platz noch nicht gefunden?«, fragte er, als würde ich im Kino nach der richtigen Sitznummer suchen. »Vielleicht teilst du dir mit Ann-Marie das Zimmer!«
Nase neben mir nickte begeistert. »Zimmernummer 08, ganz hinten!«
Die »süße Sophie« kicherte.
»Was ist? Gibt es ein Problem?« Ich machte ein paar schnelle Schritte auf sie zu.
»Herr Hänlein! Die Lou…«, kreischte sie.
Ich drehte auf dem Absatz um, bevor Hänlein den Mund aufbekam. Diese Woche hatte kaum begonnen und übertraf schon jetzt meine schlimmsten Befürchtungen.
Nach dem Abendessen im Speisesaal stand die Missel auf und klopfte mit dem Löffel gegen ihr Glas.
»Alle mal zuhören. Das hier ist unser Herbergsvater, Herr Kosvik. Er will euch ein paar Worte zur Begrüßung sagen.«
»Will ich nicht, muss ich«, näselte eine Stimme, und erst da bemerkte ich den Mann, der im Halbdunkel an der Wand lehnte. Sein Gesicht war bleich und ausgezehrt, und er hatte schwarze glatte Haare, die so strähnig waren, dass er sie sicher einen Monat nicht gewaschen hatte.
»Schließzeit 21 Uhr. Wer später reinwill, hat Pech und muss bei mir klingeln«, raunzte er, »und dann kommt es ganz auf meine Laune an, ob ich öffne oder euch den Wölfen überlasse!«
Er verzog seine strichdünnen Lippen zu einem Grinsen, und mir war sofort klar, dass er uns hasste. Nase zuckte zusammen. Sonst gab sich keiner die Blöße, obwohl ich hätte wetten können, dass die meisten Bammel vor Wölfen hatten – und vor diesem seltsamen Kosvik. Nur Ferdi-Nerdi ging die Situation wissenschaftlich an.
»Können Sie uns etwas über die Wölfe hier in der Gegend berichten? Wie viele sind es derzeit? Wie setzt sich das Rudel aktuell zusammen? Ich habe auch in der neuesten Ausgabe des National Animal Magazine gelesen, dass die Menschen sich wünschten, die Wölfe wären nie hierher zurückgekehrt, weil sie Weidetiere reißen …«
Jonas pfiff durch die Zähne. »Alle Achtung, unser Einstein will Eindruck schinden!«
Kosvik stand der Mund offen und er starrte Ferdi an wie einen Außerirdischen. »Ranhalten jetzt, nicht quatschen! Wer bis in zehn Minuten seine Bettwäsche nicht bei mir abgeholt hat, schläft auf der blanken Matratze.«
Die Missel klatschte in die Hände. »Herrschaften, wenn Herr Kowalsch… äh … Herr Ko…«
»Kosvik, einfach Kosvik«, zischte er.
»… ja, natürlich, Kosvik – also wenn Herr Kosvik zehn Minuten sagt …«
»… meint er auch zehn Minuten«, beendete ich ihren Standardspruch, bevor sie es tun konnte. Im selben Moment bereute ich es schon. Zu spät.
»Louisa, du bleibst hier und übernimmst den ersten Küchendienst … Und ihr anderen geht jetzt bitte. Jeder kommt dran, keine Sorge! Herr Hänlein hängt nachher noch den Plan für die nächsten Tage aus.«
Allgemeines Stühlerücken setzte ein. Jonas streifte mich im Vorbeigehen. »Du bist eben besonders geübt im Spülen und Tischabwischen, ich habe es früher oft genug beobachtet: Von meinem Zimmer aus hab ich einen Top-Blick in die Heimküche«, raunte er.
»Und du verwöhntes Papasöhnchen kannst dir noch nicht mal selbst den Hintern abwischen! Das habe ich auch oft genug beobachtet«, rief ich ihm nach.
»Ich hab wenigstens noch einen Vater«, feixte er.
Ich griff den nächsten Teller und warf ihn nach Jonas. Doch der war schon um die Ecke verschwunden und der Teller zersprang mit einem lauten Klirren auf den Fliesen.
»Erster gaaanz dicker Strich, Louisa«, bellte die Missel hinter mir.